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Das Café des Arts

Therese hatte ihrem Jean-Jacques auch heute wieder verboten, in ein Kaffeehaus zu treten und sich durch ein Frühstück die bessere Würdigung ihres Mittagsmahls zu verderben. Dennoch lockte ihn das Kaffeehaus des Arts am Ende der Richelieustraße. Die wenigen Zeitungen, die es in jener glücklichen Zeit erst gab, sah er durch die Fenster ungelesen. Er fühlte das Bedürfnis, sich zu zerstreuen und zu erfrischen. Jean-Jacques trat ein und forderte Schokolade, die er von Venedig her liebte. Die Partitur des Dilettanten lag neben ihm, er stützte das Haupt auf und brachte den »Merkur«, die Pariser Hauptzeitung, an sein kurzsichtiges Auge.

Wer ihn so lesen sah, mußte Mühe haben, Jean-Jacques unterzubringen. Es war kein Dorfschulmeister, der da abwechselnd las, abwechselnd trank; kein Pastor vom Lande, aber auch kein Advokat; kein Professor, kein Abbé. Die Gestalt war nicht groß, der Wuchs schmächtig, der Kopf nicht unschön, doch ohne einen besonderen Ausdruck, nur die Augen hatten etwas Scharfes, Suchendes, dem Körper Voranleuchtendes, dabei eine gewisse Unsicherheit und Unruhe. Das Benehmen war schüchtern und wiederum reizbar. Wer eine Analyse des Innern von dem Äußern abzuleiten die Gabe besessen hätte, würde, den Mann so von fern beobachtend, gefunden haben, daß hier eine ganz vom Augenblick beherrschte, willenlose und nur zuweilen von Prinzipien ausgehende, dann aber darin auch heftige Natur sichtbar wurde. Entschluß und Reue, Mut und Verzagen, Glaube und Mißtrauen, Bedürfnis nach Liebe und scheinbar wieder Kälte, Zynismus im Äußern, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, ja sogar sich noch einbildend, der braune Rock, den er trug, wäre noch lange nicht so fadenscheinig, wie er war, die Schnallen an den Schuhen wären geputzter, als sie blinkten, das Halstuch wäre noch lange nicht so verbraucht und zerknittert, wie es in Wirklichkeit war, und das kurzgeschnittene natürliche Haar schien nicht einmal die Folge der Bequemlichkeit zu sein, sondern eine mit Bewußtsein und Prinzip behauptete Mode; kurz, ein gelehrter Fabrikant, ein Seidenspinner aus Lyon oder richtiger noch ein kalvinistischer Uhrmacher aus Genf (der vielleicht, wenn er betete, phantastische Visionen wie ein Katholik hatte, während er mit einem Lutheraner wie der kälteste Verstandesmensch über Buchstaben streiten konnte), dies war der Charakter, der in Jean-Jacques Gesichtszügen und Haltung ausgeprägt lag.

Der »Merkur« bot des Interessanten genug. Krieg und gelehrte Streitigkeiten. Jean-Jacques las alles mit Aufmerksamkeit, allem nachempfindend und doch darüber urteilend wie über etwas ihm völlig Fremdes. Er hatte über vielerlei Gedanken, aber seine Gedanken stammten sozusagen nicht aus Paris. Bei jedem Satz fast stockte er, überall hätte er fast ein Fragezeichen machen mögen; aber er hatte den Mut nicht, diesen Fragezeichen eine geistige Form zu geben. Im Gegenteil, er hielt seine abweichende Ansicht für einen Mangel an Einsicht und jener notwendigen Schule, die man eben haben müsse, um in diesem eingebildeten Paris mitreden zu dürfen. Das Theater besuchte er nicht, nicht nur weil ihm die Mittel fehlten, sondern auch deshalb, weil ihn jedes Stück anreizte, ein ähnliches zu schreiben, und er gegründete Ursache hatte, seinen Fähigkeiten in diesem Punkte zu mißtrauen.

Schon hatte er die Tasse geleert, schon bezahlt, schon wollte er sich erheben, als ihn auf der letzten Seite des »Merkur« eine Preisaufgabe reizte, welche die Akademie von Dijon aufstellte. Sie lautete: Ob das Wiederaufleben der Wissenschaften und Künste zur Veredlung der Sitten beigetragen hätte? Die Abhandlungen, die sich um den von der Akademie ausgeschriebenen Preis einer goldenen Medaille bewerben sollten, mußten binnen sechs Monaten mit einem Motto und dem versiegelten Namen des Verfassers versehen eingereicht werden.

Der Eindruck, den diese Frage auf Jean-Jacques machte, war erst gering, steigerte sich aber bei längerem Überdenken und wurde zuletzt so gewaltig, daß er das Freie suchen mußte. Er schlug den Weg über die Boulevards ein nach Vincennes zu, nach welcher Festung – er hatte auch das Gerücht gelesen, Diderot würde nächstens auf ein Jahr hier zur Haft sitzen müssen wegen einiger kühnen Behauptungen in einer seiner letzten Schriften – eine Allee führte.

Diderot in Vincennes, ein Denker im Gefängnisse und die Frage der Akademie in Dijon: Was die Sittenreinheit den Wissenschaften, der Mensch überhaupt der sogenannten Bildung verdankte? Der Kontrast war auffallend genug.

Es war ein klarer, frischer Herbsttag. Das Laub der Lindenbäume lag am Wege und bedeckte hier und da eine Bank, die zur Ruhe einlud. Jean-Jacques blickte auf die halbentlaubten Bäume, auf die neugepflügten Felder, auf die sich in grünen Wellen hinziehenden Pflanzungen noch nicht geernteter Gemüse und sah doch nichts von alledem. Sein Auge starrte. Seine Gedanken waren in sich selbst versunken. Seine Blicke suchten nach innen einen Halt gegen die drängende Gewalt der Ahnungen. Eine Offenbarung redete mit ihm. Sie kam aus weiter Ferne, tief unten her aus seinen begrabenen Erinnerungen. Was er einst war, was er zu werden gehofft hatte und was er geworden, das stand in so heller Beleuchtung vor seiner Seele, daß er sich oft an den Bäumen festhalten mußte, um nicht unter dem Druck seiner Empfindungen zusammenzubrechen.

Haben die Künste und Wissenschaften der Menschheit genützt? Hatte sein dreißigjähriges Streben ihm genützt? In zwei Hälften ging ihm sein Ich auseinander; die eine, sah er, paßte nicht mehr zur andern, eine mußte siegen, und beide vereinigt, waren der Tod, die Unbedeutendheit, die Leere, das Nichts. Oder war auch er nicht ein Opfer der hergebrachten Begriffe über Kunst und Wissenschaft? Sprach aus den Weisen und Schriftgelehrten seiner Zeit, zu denen ihn nichts mehr, seitdem sie ihn früher verstießen, zu ziehen vermochte, mehr als die Mode? Was sind sie denn, die Namen des Tages, die dem Götzen des Publikums opfern? Was ist denn noch wahr und rein in dieser Welt der Lüge und des Hasses? Ist diese Zivilisation mehr als eine glänzende Verführung der Unschuld und Natur? Kann es in einem Geiste, der auf den Altären der Wissenschaft und Kunst allein opfern will, einen Augenblick der Ruhe, des Glücks, der Zufriedenheit oder Wahrheit geben? Reißt nicht Entdeckung zu Entdeckung, Neubegierde zu Neubegierde, der kaum gesättigte Durst zum ewig lechzenden Verlangen?

Wie anders dagegen erschien dem Träumenden die begnügte Welt des Gemüts! Er brauchte nur zurückzudenken an seine eigene Vergangenheit, wo ihm die Quelle der Wissenschaft dicht an der wirklichen Quelle sprudelte, die von der Felswand sprang. Er brauchte nur der Schauer zu gedenken, die ihn im Anblick einer majestätischen Natur, der sanften Entzückungen, die ihn ergriffen hatten, wenn er mit seiner Pflanzentrommel auf dem Rücken auf die Höhen stieg, die sich von Vevey empordachten zur Alpenregion. Er hatte die Musik geliebt wie den einzigen reinen Akkord, den im ewigen Widerstreit ihrer Zwecke die Natur uns liebevoll nicht versagen wollte, und nun, was war die einfache, mit Saiten überspannte Muschel Apollos geworden in der Hand des Menschen, der sich Künstler nennt! Die rauschenden Harmonien der Orchester schlugen an das Ohr entweihter Menschen, und die, welche sie schufen, waren niedrige Seelen, voll Eifersucht und Rache. Wo er hinblickte, sah er, was an seinem Leben genagt hatte, den Fluch, der sich an die Bildung heftet. Die Sehnsucht zur Wahrheit und zum Natürlichen hatte sich bei ihm nicht einigen können mit den Anforderungen, die das wissenschaftliche und künstlerische Leben an eine Lebenskunst machte, die er nur kennengelernt hatte, um sie zu verachten. Wehmut erfüllte ihn, wenn er gedachte, daß er dem Bösen nur entfernt geblieben war, weil er zu träge geworden, ihm nachzugehen. Er unterließ es, die Erbärmlichkeiten dieses Lebens mitzumachen, nur weil ihm der Entschluß und die Ausführung Mühe gekostet hätte. So verwirrte das wenige, was ihm das Studium gegeben, schon seine sittliche Kraft. Der Ehrgeiz war ihm nur erstickt durch Trägheit.

In einem Briefe an Malesherbes sagte zwölf Jahre später Jean-Jacques, daß ihm auf jener Wanderung durch die Allee von Vincennes seine Brust mit Tränen benetzt gewesen war, von denen er nicht bemerkt gehabt hätte, daß er sie weinte. Er weinte sie vor Schmerz und vor Wonne. Das Grau des Himmels, das ihm jahrelang den Mut des Lebens genommen, verklärte sich zum lichten Blau. Er sah Engel aus den Wolken sich ihm neigen, hörte ihre Sprache, ihren Trost, ihre Ermutigung. »Kehre den Weg, den du bisher wandeltest, um und gehe nach der entgegengesetzten Richtung!« Das sprachen die Stimmen mit einer Beredsamkeit, die ihn rührte, weil sie ihn noch begrüßten wie das Kind, das einst von einer wunderbaren Welt und Zukunft geträumt hatte und, von diesem Traume angezogen, das dumpfe Genf verließ und zu den südlichen Bergen sich schlich, wo die Feige am Wege blüht und der Ölbaum die grünen Gelände der Berge mit sanftern Tinten übermalt! Fest stand ihm bald wie ein Evangelium, daß die Welt nicht glücklicher geworden durch das, was sie weiß! Die Wissenschaften haben den Verstand bereichert und ließen das Herz verarmen, die Künste verfeinerten die Sitten nur durch eine geschickte Handhabung der Lüge, durch den Luxus wurden die Völker entartet und die Staaten um ihre Größe und Freiheit gebracht; die Statuen vernichteten den Glauben an die Begriffe, die sie darstellten; die Tempel wurden nicht die Wiege der Religion, sondern ihr letztes Asyl, und bald ragte der Palast des Reichen über den Tempel der Gottheit empor; die Goten hatten recht, die Bibliotheken Griechenlands nicht zu zerstören, denn diesen verdankten sie, daß die unterjochten Völker nimmermehr die Kraft erhielten, sich wieder aufzuraffen und durch männliche Tapferkeit das Joch der Fremden abzuschütteln; die Flüchtlinge des vor lauter Bildung und nichts als Bildung zugrunde gegangenen byzantinischen Reichs waren die Sendboten jener sogenannten Wiederherstellung der Künste und Wissenschaften in jenem Europa gewesen, das damals noch die schlechte Sitte nur als Ausnahme von der Regel brandmarkte und nur zu bald jetzt an Quellen sich berauschte, die so viele Geister tollkühn, die Gemüter gottlos, die Herzen kalt und unbarmherzig machten. Und die Gelehrtesten, gerade diese dienten dem Papst! Wie einst sich Nero im Blute badete und doch in der Tat ein Recht hatte, bei seinem Tode auszurufen: »Es geht ein Künstler an mir zugrunde!«, so ist die Bildung nie, und seit dem 16. Jahrhundert am wenigsten, eine Bürgschaft der Sitte und der Tugend gewesen. – So wenigstens gestalteten sich die Antworten, die Jean-Jacques auf die Frage von Dijon geben wollte.

Als er an den Heimweg dachte und nun die ungeheure Einsamkeit, die ihn umfing, mit dem Gewühl der Stadt verglich, mußte ihm bange werden, Sätze zu behaupten, die so in grellstem Widerspruch zu allem standen, was auf dem Antlitz jedes nur einigermaßen gut gekleideten Menschen stand. Jeder von ihnen würde die Frage von Dijon in dem Sinne beantwortet haben, wie sie vielleicht, wenn auch ungeschickt, gestellt war. Jeder von ihnen würde auf die goldenen Inschriften verwiesen haben, die an den öffentlichen Gebäuden prangten, auf Kirche, Universität, Schule, Verwaltung. Jean-Jacques behielt seinen Gesichtspunkt und verteidigte ihn gegen die furchtbare Gewalt gegebener Tatsächlichkeit, die in einem solchen Chaos wie Paris liegen mußte. Robe des Priesters, Uniform des Soldaten, Barett des Richters, nichts konnte ihn in dem Enthusiasmus für die gewonnene Überzeugung, daß dem Zeitalter die Unschuld fehle, irremachen.

Wie ein Seher ging er an dem Hotel der Frau von Epinay vorüber. Mitleid erfüllte jetzt seine Seele, nicht mehr Haß oder Furcht. In wenig Stunden war er ein Riese an Kraft und Selbstvertrauen geworden.

Hatte er nicht eine Bestätigung dieser neuen Weltauffassung, die er gewonnen, an den Widersprüchen, in welche die Zeit, in der er lebte, mit sich selbst geriet? Standen nicht die Menschen an allen Ecken in Gruppen zusammen? War nicht das allgemeine Gespräch, das sie sich entgegenflüsterten, die schon erfolgte Verhaftung Diderots und seine Abführung nach demselben Gefängnisse von Vincennes, wo Jean-Jacques eben über das größere Glück der Menschheit geträumt hatte?

Diderots »Philosophische Gedanken« wurden nur vom Scharfrichter verbrannt. Seine »Briefe über Blinde zum Frommen der Sehenden« führten ihn auf ein Jahr ins Gefängnis. Jean-Jacques nahm nicht Partei für Diderot und nicht gegen ihn. Er hatte Mitleid mit allen und Haß oder Liebe für alle.

Die Partitur irgendeines dilettantischen Stümpers unterm Arm, betrat er seine Wohnung, hörte nicht die Vorwürfe, womit er seiner Verspätung wegen empfangen wurde, sah nicht den Wirrwarr der Familie, in der er lebte; nur die Fensternische suchte er, wo er gewohnt war zu arbeiten. Er hatte nicht Ruhe mehr; die Gedanken, die in ihm auf und ab wogten, mußte er festhalten und niederschreiben. Die nächste Außenwelt gewann ihm keine Teilnahme mehr ab, und nur mit einer Art dumpfen Gleichmuts nahm er die Mitteilung Theresens entgegen, daß sich in kurzer Zeit die Zahl ihrer Kinder vermehren würde.

Bei solchen denkenden und überwiegend sensuellen Menschen ist es mit dem, was auf sie Eindruck machen soll, ganz wie mit der Sonne und dem Tierkreis. Die Sonne ist immer da, immer wärmend und erleuchtend, aber in ihrer Erdenwirkung hängt sie von dem Zeichen ab, in das sie tritt. Das herzlichste und sanfteste Gemüt ist elfmal kalt, wenn es glüht im zwölften Zeichen. Ein Gedanke, der es ausschließlich beherrscht, erfüllt es so, daß für die Proben, wo es sich auch sonst zu bewähren hätte und in einem vom Verstande geregelten Herzen sich auch bewähren würde, immer erst die gute Stunde kommen muß.


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