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Der Schreiber

»Wer ist der Mieter dieser Wohnung?« fragte der erste der drei Sergeanten. – »Hier, Herr, hier, der alte Mann da!« hieß es. – »Wie heißen Sie?« – »Es ist Jean-Baptiste Levasseur, ehemaliger Weinbauer in Grenoble, Vater hier seiner Tochter Therese.« – »Wer sind Sie?« – »Die Mutter hier meiner Tochter Therese.« – »Wer ist der junge Mensch da?« – »Herr, das ist Pierre Levasseur, der Bruder seiner Schwester Therese, und das ist Fanchon, auch meine Tochter, wie die Schwarze da, die Therese, die Fanchons Schwester ist.« – »Wem gehören die kleinen Kinder da drinnen?« – »Das sind meine Enkel, Herr, die Kinder meiner Tochter Therese!« – »Ja, Herr, das sind meine Kinder! Ich bin ihre Mutter und heiße Therese Levasseur, wie Sie schon gehört haben werden, mein Herr!« –»Wer ist der Vater ...?«

Alles schwieg.

Es war eine Pause, die einem jener dunkeln Kapitel der Weltgeschichte gleichkam, über welche die Philosophie und Kritik Folianten geschrieben haben. Die ganze soziale Verfassung Europas lag schmerzlich beredsam im Schweigen, das sich von selbst beantwortete.

»Wovon nähren Sie sich?« – »Ich nähe, Herr ...« – »Und ich habe einen Handel mit alten Lappen und Kleidern ..., Herr ...« – »Und der junge Mensch da? Sie da, Herr Pierre?« – »Ich war in Sèvres. Ich bin Töpfer, Herr ...« – »Warum arbeiten Sie nicht?« – »Es ist Krieg, Herr! In Sèvres gehen die Geschäfte nicht.« – »Wer ernährt Sie alle? Wovon leben Sie? Wer bezahlt die Miete?«

»Ich, Herr!« sagte der Schreiber Jean-Jacques, mit Schüchternheit hervortretend.

»Sie sind der Vater dieser Kinder?«

»Ich bin es, ich bin der Vater!« war die Antwort, die aus dem Munde eines Fürsten zu kommen schien, aber aus dem Geiste eines Bedienten. Denn der Vortrag war ebenso befangen wie die Aussprache fein und gewählt.

»Sie sind nicht kirchlich eingesegnet ...?«

Herr Jean-Jacques, wie man sah, die Verlegenheit selbst, schwieg wieder und hatte auch nicht zu reden nötig, denn Therese Levasseur ergriff sogleich für ihn das Wort und sprach mit der ihr eigenen nachdrücklichen Geläufigkeit: »Nein, mein Herr, das sind wir freilich nicht; allein das hindert gar nicht, daß wir uns lieben!«

Die Kommissare der Polizei fanden solche Verhältnisse so häufig vor, daß ihnen diese Versicherung, die von dem jungen Wesen mit mehr Keckheit als Treuherzigkeit gegeben wurde, kein Lächeln abgewann. Auch der Mutter schnitten sie ihre Auseinandersetzungen ab, die darauf hinausliefen, daß sie sämtlich ihrer Tochter hierher gefolgt seien, als diese beim Servieren in einer Garküche, wo Herr Jean-Jacques sich in die Kost gegeben hätte, das Interesse des letztern erregt, sein Herz, seine Liebe gewonnen hätte, zu ihm gezogen wäre als die Führerin eines kleinen Hausstandes, der arm, aber reinlich, sauber, aber kostspielig u. s. w., u. s. w. wäre.

Die Kommissare wünschten von den geschwätzigen Leuten jetzt nur noch einige Details über diesen Herrn Jean-Jacques selbst zu wissen. »Sie heißen?« fragten sie. – »Jean-Jacques Rousseau.« – »Sind von Paris ...?« – »Nein, mein Herr, ich bin von Genf. Ich bin ein Schweizer.« – »Was führt Sie hieher?« – »Ich war Sekretär der Königlichen Gesandtschaft in Venedig.« – »Und beschäftigen sich jetzt ...?« – »Mit Notenschreiben.« – »Sehen Sie, da!« fügte schon wieder das lebhafte Temperament aller Familienmitglieder und das sichere Gefühl, Michel Labrousse säße zwar physisch sehr bedenklich im Regen, moralisch aber im Trocknen, in schnatterndem Durcheinander hinzu. »Sehen Sie, da! Das sind hier die Noten, welche die höchsten Herrschaften von ihm abschreiben lassen. So schreibt niemand in Paris, und Noten nun schon gar nicht. Und eine solche Handschrift hat in ganz Frankreich kein Kupferstecher. Und dieser Herr Jean-Jacques ist ein Schweizer, aber darum doch ein so guter Franzose und ein so guter Christ wie hier jeder andere und versteht mehr Sprachen der Welt, als worin manche Leute ihn examinieren möchten!« – Diese letztere Bemerkung kam von Theresen selbst, die sich schon wieder fühlte und mit ihren hölzernen Hackenschuhen eine Musik zu treten anfing, die das Tempo der sich steigernden Ungeduld annahm und in der Tat die Kommissare einschüchterte. Sie gingen, begleitet von einer erst beflissenen und im Gefühl der Sicherheit höhnend stark aufgetragenen Höflichkeit, dann von schallendem Gelächter, von Spott und dem nun wieder in ganzer Macht und Stärke zurückkehrenden Erstaunen da draußen über Michel Labrousse auf dem Dache.

Sein Wagstück war so kühn gewesen, daß es die Veranlassung einer polizeilichen Jagd auf ihn fast vergessen ließ. Man öffnete behutsam das Fenster, spähte überall umher. Der Regen hatte aufgehört, aber Michel war, wie man sagte, »leider« nicht mehr zu finden. »Wenn er sich nur nicht den Hals gebrochen hat«, sagte Pierre, der Porzellantöpfer von Sèvres, sein intimer Freund. – »Ach was«, rief Therese, »der klettert jetzt aufs Luxembourg hinüber und macht da der Herzogin durch einen Schornstein die Morgenvisite! Ha, ha! Schade, daß er ein Sattler, kein Friseur ist. Jetzt könnt er ihr durchs Kaminloch zurufen: ›Frau Herzogin von Luxembourg! Soll ich Ihnen die Papilloten brennen?‹ Ha, ha! Hier ist die Kneipzange dazu!« – Alles lachte durcheinander, die jüngeren Schwestern jubelten, Therese trällerte. Die Mutter rannte in die Küche, um die Suppe zu beaufsichtigen, die vielleicht inzwischen angebrannt war, der Alte wurde auf die Straße geschickt, Holzkohlen zu kaufen, Zwiebeln vom Gemüsehändler, Wurst vom Fleischselcher, Milch für die Kinder aus irgendeinem Keller.

Nur Jean-Jacques legte die Brille ab, die er, da er sehr kurzsichtig war, beim Arbeiten trug. Gerade an diese Herzogin von Luxembourg hatte er die Noten zu bringen, die da eben auf seinem Schreibpulte lagen. Und auch er lachte und sagte: »Der Spitzbube kann ja zu den Papilloten meine Noten nehmen, welche die Herzogin doch ins Kamin wirft, weil sie nach meinem System geschrieben sind, das sie auslachen wird und das sie auch wohl nur deshalb vom Musikmeister bestellen ließ!«

Diese Bemerkung veranlaßte keine andere Entgegnung als die: »Nein, nein, der Michel ist ein Sattler!« Und die Familie blieb nur bei seinem Mute stehen, wie der Franzose einmal ist, wenn er an sich irgend etwas Außerordentliches zu bewundern hat, das seiner Nation im allgemeinen und ihm im besondern zur Ehre gereicht.

Jean-Jacques zog sich an, bat Theresen, die Kassenführerin, um etwas Geld und versprach, zur Mittagszeit rechtzeitig einzutreffen, versprach auch, kein Kaffeehaus zu besuchen, weil er in solchen Fällen schon nicht selten ihr Mahl verschmäht hatte. Wie er sich seines Kamisols entledigt, sich gewaschen, sein Haar, das er auch auf der Straße im natürlichen Wuchse trug, etwas geordnet, sein bestes Kleid angezogen, einen Mantel übergeworfen und sich mit dem Regenschirm versehen hatte, stieg er mit den zusammengerollten Noten die Treppen nieder.

Unterwegs begegnete ihm ein Bedienter, weißgepudert, in langem, bis zu den Füßen gehendem Mantel und ein schlankes Bambusrohr in der Hand mit goldenem Knopfe. Er fragte nach Herrn Jean-Jacques Rousseau. »Der bin ich!« – »Sie kennen Herrn Baron von Grimm?« – »Nein!« – »Herrn Diderot?« – »Seine Schriften, nicht ihn selbst.« »Die Marquise von Epinay wünscht Sie wegen ...« Der Bediente stockte und zeigte eine Karte. Jean-Jacques nahm sie und las: »Die Marquise von Epinay wünscht die Notenschrift kennenzulernen, die Herr Jean-Jacques erfunden hat und von welcher die Herzogin von Luxembourg zu den Herren Grimm und Diderot gesprochen, die bereits die Ehre haben, Herrn Jean-Jacques zu kennen. Morgen um zwei Uhr.«

Noch war die düstere Wolke, die sich auf des Notenschreibers Stirn sogleich bei Nennung der Namen Grimm und Diderot gelegt hatte, nicht verzogen. Er hatte des Eindrucks gedacht, den es ihm gemacht, als er kürzlich, nach Hause kommend, von einem Besuche vernommen, den der berühmte Schriftsteller Diderot in Begleitung eines andern ihm abgestattet hatte in seiner Abwesenheit. Diderot, den plötzlich, wie man aus den Zeitungen ersah, wegen seiner Schriften polizeiliche Verfolgung bedrohte, war nicht wiedergekommen. Der Schreiber konnte sagen, zu seiner Freude, denn der Gedanke, daß ihn Diderot mit Theresen, ihren Eltern, ihren Brüdern hätte antreffen können, hatte ihn mit Schrecken erfüllt.

Nun wurde er sogar zu einer Dame gerufen, die ohne Zweifel schon die Verhältnisse kannte, in denen er lebte. Er hätte gern erwidert: Man schicke mir, was man abgeschrieben wünscht – doch drängte der Bediente zu einer bestimmten Antwort. So sagte er denn zu, daß er morgen um zwei Uhr zur Frau von Epinay kommen würde. Er ließ den Bedienten vorangehen und trat auf die Straße, erfüllt von dem Gedanken, ob der bezeichnete Diderot sein von ihm schon preisgegebenes Notensystem wohl billigen könnte.

Die Vorfälle mit dem Besuch eines Diebes und mit dem Examen der Polizei vergaß er schon; Szenen solcher Verwilderung war er in der Lage, in die er sich einmal seit Jahren begeben hatte, gewohnt. Sie störten mehr sein Behagen, als sie sein sittliches Gefühl aufregten.


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