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Das jüdische Volk ist nicht aus eigener Kraft zu philosophischem Denken gelangt. Es hat die Philosophie von außen her empfangen, und die Geschichte der jüdischen Philosophie ist eine Geschichte von Rezeptionen fremden Gedankenguts, das dann freilich unter eigenen und neuen Gesichtspunkten verarbeitet wird. Die erste dieser Rezeptionen fand im hellenistischen Zeitalter statt. Ihr Ergebnis, die jüdisch-hellenistische Philosophie, hat da, wo sie wirklich Philosophie ist, ganz griechischen Charakter und kann unter philosophiegeschichtlichem Gesichtspunkt wesentlich als ein Teil der griechischen Philosophie betrachtet werden. Nachdem sie, ohne im Judentum bleibende Spuren zu hinterlassen, schnell erloschen war, drang im Mittelalter die Philosophie zum zweiten Male in das jüdische Geistesleben ein. Diese neue Rezeption erfolgte innerhalb des islamischen Kulturkreises und war gleichsam eine Rezeption zweiten Grades, da schon die islamische Philosophie, der die jüdische folgt, auf einer Verarbeitung der griechischen Systeme beruht. Trotzdem sich die jüdische Philosophie diesmal ungleich lebenskräftiger erweist als in der Antike und sich vom 9. Jahrhundert bis zum Ausgange des Mittelalters erstreckt, ja in ihren Nachwirkungen bis ins 17. Jahrhundert hinein reicht, bleibt sie bis zu ihrem Ausgange im Zusammenhange mit den außerjüdischen Quellen, aus denen sie entsprungen ist. In gleicher Weise steht die nach dem Eintritt des Judentums in die moderne europäische Kulturwelt entstandene moderne jüdische Philosophie unter dem Einfluß der gleichzeitigen philosophischen Entwicklung der europäischen Völker. Dabei ist nicht an die Beteiligung jüdischer Denker an der philosophischen Arbeit der verschiedenen europäischen Völker gedacht, die nicht in die Geschichte der jüdischen Philosophie, sondern in die allgemeine Geschichte der neueren Philosophie hineingehört. Auch das aber, was allein als jüdische Philosophie in der Neuzeit bezeichnet werden kann, die philosophische Deutung und Rechtfertigung der jüdischen Religion, arbeitet in genau der gleichen Weise wie die analogen Versuche zu philosophischer Interpretation des Christentums vollkommen mit dem Methoden- und Begriffsapparat der neuzeitlichen Philosophie.
Der Diasporacharakter der jüdischen Gemeinschaft schloß es aus, daß diese Entlehnungen jemals zur Bildung einer jüdischen Philosophie in nationalem Sinne führten. Es hat niemals eine jüdische Philosophie in dem Sinne gegeben, in dem es eine griechische oder römische, eine deutsche oder französische gibt. Die jüdische Philosophie ist seit der Antike ihrem Wesen nach Philosophie des Judentums, wenn sie auch im Mittelalter, das auf religiöser Grundlage Ansätze zu einer jüdischen Gesamtkultur erzeugt, zeitweise über ihr religiöses Zentrum hinausgreift. Ihre Selbständigkeit und Eigenart liegt ganz in dieser religiösen Richtung, mag sie nun das überkommene Gedankengut zur Begründung des religiösen Ideengehaltes des Judentums verwenden oder die Gegensätze wissenschaftlicher und religiöser Wahrheit auszugleichen suchen. Sie ist Religionsphilosophie in dem spezifischen Sinne, der durch die Eigenart der monotheistischen Offenbarungsreligionen gegeben ist, die sich durch die Energie ihres Wahrheitsanspruches wie durch die Tiefe ihres geistigen Gehaltes der Philosophie als eine eigene Macht gegenüberstellen. Auf die Offenbarungsautorität gestützt tritt hier die Religion als Träger einer eigenen unbedingten Wahrheit auf und wird damit für die Philosophie zu einem selbständigen Problem. Das letzte Ergebnis der Arbeit, die dem Verhältnis dieser beiden Wahrheitsgebiete gewidmet ist, sind die modernen Versuche, den methodischen Eigenwert der Religion zu bestimmen. Zunächst aber sollen Religion und Philosophie nicht methodisch voneinander gesondert, sondern inhaltlich miteinander ausgeglichen werden. Das Ganze der philosophischen Arbeit wird damit unter den religiösen Gesichtspunkt gestellt und der von außen her übernommene Stoff von ihm aus gestaltet und geformt. Ihren Grundzügen nach ist diese Betrachtungsweise der jüdischen Philosophie mit der christlichen und der islamischen gemeinsam, so sehr sie sich auch in jeder dieser Offenbarungsreligionen der Besonderheit ihres Lehrgehalts und ihres Autoritätsbegriffs anpaßt. Sie ist zum erstenmal in der jüdisch-hellenistischen Philosophie aufgetreten, und so gering deren inhaltliche Originalität sein mag, so groß ist ihre geschichtliche Bedeutung und Wirksamkeit durch die erstmalige Herausarbeitung dieses gedanklichen Typus, der von hier aus in die altchristliche und durch deren Vermittlung in die islamische Philosophie übergegangen ist, um von dort aus wieder in das mittelalterliche Judentum zurückzukehren. Bei diesem Charakter der jüdischen Philosophie wird es gerechtfertigt erscheinen, wenn wir ihrer Darstellung eine kurze Charakteristik ihrer biblischen und talmudischen Voraussetzungen voranschicken. Dabei heben wir unter Verzicht auf eine Würdigung ihrer letzten religiösen Motive nur die gedanklichen Elemente des biblischen und talmudischen Judentums heraus, die für das Verständnis der jüdischen Philosophie von Bedeutung sind. In Verbindung damit soll über die Stellung der jüdisch-hellenistischen Philosophie in der jüdischen Geistesgeschichte das Nötigste gesagt werden. Ihre eingehendere philosophiegeschichtliche Darstellung findet sie in einem anderen Bande dieser Sammlung.