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Anna ist gerade fertig zum Ausgehen, da klopft es. Mama Schauers Spitzenkapuze guckt durch die Tür. »Kommen Sie heute ein wenig später in Ihren Kurs, ich muß eine halbe Stunde im Volksgarten Bewegung machen, sagt der Arzt, und da sind Sie bei mir!«
An Annas Arm spaziert die alte Dame unter dem dichten Blätterdach der alten Kastanienallee. Plötzlich bleibt Mama Schauer stehen und sagt lustig:
»Ich freu' mich, daß Sie nicht traurig sind über diesen Filou.«
»Das ist er nicht, gnädige Frau.«
»Wenn Sie mir noch einmal gnädige Frau sagen . . .«
Anna lächelt: »Mama – das bin ich nicht gewohnt, wir haben Mutter gesagt.«
»Sagen Sie nicht Mutter zu mir und nicht Mama, wenn's Ihnen so schwer wird, aber du . . . für mich bist du nun einmal so was wie eine Tochter, und daß du jetzt nicht raunzig und weinerlich bist, gefällt mir erst recht.«
Die lange Kastanienallee ist leer. Mama Schauer denkt: vielleicht ist sie noch wund, ich hätte nicht so herausplatzen sollen.
»Alle sehen das alles ganz falsch,« sagt Anna endlich, »Sie werden . . .«
143 »Du wirst . . .«
». . . es mir nicht glauben, aber ich hab' jetzt eher ein Gefühl der Erleichterung. Jetzt! Aber bis ich so weit kam, das hat monatelang gedauert, denn er ist nicht der erste beste.«
Mama Schauer hängt sich enger an Annas Arm: »Früher warst du rundlicher.«
»Ja, das war keine leichte Zeit, die letzten Monate.«
»Das hab' ich schon an dem Abend der Wahl gesehen. Wenn zwei Eheleute an einem solchen Tag nicht zueinanderlaufen, dann ist was in Unordnung . . . Wissen Sie, wann mein glücklichster Tag war? Der Tag, an dem mein Mann Konkurs ansagte! Da kam er zu mir gerannt wie ein gehetzter Hund, nicht zu besänftigen, wie wund am ganzen Leib, man durfte nichts reden und durfte nicht still sein. Nun, und . . . und . . . an diesem Glückstag sind wir spätnachts auf den Kahlenberg gegangen, und da sind wir die Nacht über gesessen, ich werde dir einmal die Bank zeigen, und zuletzt haben wir gesungen und . . . so ist der Karl auf die Welt gekommen.«
Die Blätter rauschen über den zwei flüsternden Frauen.
Annas Hände halten die alte faltige Hand fest umschlungen.
»Aber solche Männer sind rar, wie mein Simon war . . . ich hab' ihm dann oft gesagt: Geh' doch noch einmal in Konkurs, dann kommen wir vielleicht zu einem Mädel! . . . Aber Gott hat's nicht wollen, das Mädel mein' ich, und ich hätte doch einer Tochter so viel gescheite Ratschläge zu geben! Diese dummen Weiber, keine hatte Talent zu meiner Tochter. 144 Das will nur immer Männer riechen, Männer bezaubern, Männer in Rage bringen, Männer foppen. Und diese dummen Mannsbilder lassen sich wirklich von solchen kleinen Biestern verrückt machen, vergessen Frau und Ziel und Nebenmensch und fliegen wie die Motten ums Kerzenlicht, diese Esel.«
»Nicht schimpfen . . .
»Soll ich sie loben? Diese . . .
»Es sind arme Menschen, Mama – jetzt hab' ich's richtig herausgebracht – weißt du, ich glaub', es gibt Männer, die das Talent haben, uns ruhig und klar und gut zu machen, und andere, die müssen uns fortwährend beunruhigen und uns quälen und uns unsicher machen. O, die nützen uns auch, aber man kann beim besten Willen nicht neben ihnen aushalten, es ist zu kalt bei ihnen . . . Soll ich dir was sagen? Ich weiß heute, daß es gut ist, daß Gustav von mir fort ist! Er hat mir nur Gutes getan, ja, schüttel' nur den Kopf, nur Gutes, du weißt ja nicht, was für ein dummes Mädel ich war, die richtige dumme Gouvernante, er hat mir erst die Augen aufgemacht, und daß er zuletzt von mir weg ist, jetzt, wo ich darüber reden kann, spür' ich's, das war sein Bestes. Ich war schon ebenso reizbar wie er. Oft, wenn wir in der Straßenbahn fuhren, hat er mich plötzlich gestoßen und mir ins Ohr gesagt: ›Schau dir diese Fratzen an, Gesicht für Gesicht, lauter schreckhafte Karikaturen.‹ Und dann hab' ich wirklich überall nur entsetzlich häßliche und gemeine Gesichter gesehen. Sie sitzen jetzt vielleicht auch da drüben, aber niemand stößt mich, ich seh' sie von selber nicht, und das ist doch 145 das Richtige. In ihm ist aber ein Trieb, sich und andere zu quälen. Er ist nicht gemein, nicht einen Moment war er das.«
Nach einer Pause sagte die alte Dame: »Ich kenn' ihn schon. Ich habe einmal Karl gefragt: Was ist das für ein Mensch, dieser Schiller? Darauf hat er mir geantwortet: ›Das ist nicht leicht zu sagen, er hat nicht viel Freunde, wahrscheinlich, weil er von den Menschen zu viel verlangt, aber er verlangt so unbarmherzig viel von ihnen, weil er sie eben nicht genug liebhat, den einzelnen nämlich, den wirklichen! . . .‹ Seitdem weiß ich, wie er ist. Das war so einfach, als ob es mein Simon gesagt hätte. Überhaupt, du kannst dir nicht vorstellen, wie ähnlich Karl seinem Vater und auch seinem Großvater ist, der war Rabbiner, und eigentlich ist das Karl ja auch. Aber sag' nicht, daß ich das gesagt habe, er wird wütend, wenn ich das sage, wahr ist's doch. So ein guter alter Rabbiner, der alles gewußt hat und sich um die ganze Gemeinde kümmert und sorgt . . . Komm einmal zu mir, da zeig' ich dir Simons Bild. Einmal? Komm, gehen wir gleich. Es ist niemand da, nur das Mädchen und die kleine Gertrud.«
Die alte Frau drängt mit schnelleren Schritten aus der Allee.
Anna klopft das Herz, während sie vor der Tür steht mit der alten Messingtafel: »Dr. Karl Schauer.«
Im weißgetünchten Vorzimmer steht bloß eine Garderobewand mit geschliffenem Spiegel, sonst nichts.
»Drinnen ist es noch leerer.«
Mama Schauer öffnet die Tür in den großen Salon. Vier Fenster mit gelben, heruntergezogenen Jalousien, in 146 der Mitte ein schmaler Tisch auf schmalen Beinen, sechs niedere hellgelbe Biedermeiersessel:
»Die stammen noch von unserem alten Haus in Hietzing. Dazu hat es zwei große Fauteuils gegeben, die hat Karl verschenkt . . . Er hat kein Herz für alte Sachen, oder richtiger, als junger Mensch hatte er es nicht. Damals hat seine Frau diesen Kasten, diese plumpe geschnitzte Kredenz, angeschafft, und siehst du, da sind auch meine lieben alten Chanukaleuchter.«
Im Schlafzimmer steht neben einem Messingbett ein dunkelblauseidenes Sofa, die Sessel dazu sind rotseiden gepolstert.
»Das Sofa ist auch noch aus der guten Zeit.«
Hier steht der alte schwarzlederne Großvaterstuhl.
»Darin starb mein Simon . . . So jetzt setzen wir uns in das blaue Sofa, und ich zeig' dir die Bilder . . .«
Die alte Dame verschwindet.
Es klopft ganz leise an der Tür:
»Herein!«
Da steht in der Tür ein schmales, dünn aufgeschossenes, elfenbeinbleiches Mädchen in ganz kurzem dunkelrotem Kleid. Lange schwarze Locken fallen auf die zarten Schultern, aus dem weißen Gesicht schimmern stahlschwarze, langbewimperte Augen, Schauers Augen.
»Sind Sie die Gertrud?«
»Ja.«
»Ich heiße Anna, geben Sie mir die Hand, ich bin eine . . . Bekannte Ihres Vaters.«
147 Da setzt Gertrud ganz langsam ihre schlanken Beine vor, das elfenbeinerne Haupt neigt sich grüßend, und sie reicht die Hand dar mit einem leisen Schwung, prinzessinnenhaft. Keine feste Berührung, bloß ein Vorüberhuschen der Hand.
»Wie alt sind Sie?«
Die alte Dame tritt ein: »Schon wieder . . . Sie? Zur Trudl . . . Sie?«
Anna: »Das ist nicht so leicht, das Dusagen.« Anna sieht in diese ernsten, von runden Lidern halb bedeckten großen Augen.
»Ach was, ein fünfjähriges Mädel,« sagt die Großmama: »Sehen wir uns alle drei die alten Bilder an!«
Gertrud tritt an die eine Seite der Großmutter, die in ihrem alten Lederstuhl sitzt, die Bilder im Schoß. Anna an die andere Seite.
Einmal legt Gertrud die Hand auf die Lehne des großen alten Stuhles, da bemerkt Anna auf dem mageren Unterarm einen roten geschwollenen Streifen.
»Was ist denn das?« fragt sie erstaunt, »was haben Sie sich da gemacht?«
In diesem Augenblick fliegt das Kind zur Tür!
»Gertrud, so komm' doch,« sagt die Großmutter.
Keine Antwort.
Die alte Dame schaut auf, ihr ganzes Gesicht bebt, ihre Lippen stammeln: »Das Andenken hat sie von ihrer sogenannten Mutter.« 148