Stefan Großmann
Die Partei
Stefan Großmann

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Viertes Kapitel

Ja, Dora ist eine Minute lang vor dem alten Messingschild »Dr. Karl Schauer« zögernd gestanden, und nun sitzt sie wieder in dem großen dunkelroten Salon, der vielleicht nur deshalb so groß aussieht, weil nur mehr so wenig Möbel drinstehen.

Dora sitzt beim Schreibtisch, kaut an ihrem Federstiel, stockt, schaut um sich. Nein, sie kann nicht schreiben, wenn die Photographie der alten Frau Schauer ihr zusieht. Sie gibt ihr einen Stoß, etwas klirrt, Mama Schauer liegt am Boden. Gewiß sieht sie herauf, denkt Dora, statt auf den Bauch zu fallen, da drunten liegt jetzt diese dumme Photographie und schaut vorwurfsvoll herauf. Und drüben an der Wand hängt das Bild des alten Herrn Schauer und sieht auch herunter, und dort auf der Kredenz stehen die alten silbernen Chanukaleuchter, und dort in der Ecke hockt der alte, schwarz gepolsterte Großvaterstuhl, lauter Feinde.

Dora schreibt an Gustav: »Ich sitze nun wirklich wieder hier in meinem ›Heim‹, und alles ist so leer um mich. Das Engerl schläft drüben im Nebenzimmer. Der Fußboden kracht. Jeden Augenblick kann Schauer eintreten, ich horche auf jeden Schritt auf der Treppe. Er wird hereinkommen und kein Wort sagen, er wird mich strafen wollen 118 mit seinem ›fürchterlichen‹ Schweigen. Gustav, warum hast Du mir das angetan? . . .«

Plötzlich hört sie auf, nimmt einen anderen Briefbogen und schreibt in ganz großen Lettern:

»Lieber Genosse Hutterer, ich bin von einer kleinen netten Erholungsreise zurück und habe herrlich schöne Sachen gesehen. Einmal sollte jeder Revolutionär durch die Uffizien von Florenz wandern!!! Morgen abend, Punkt Sechs, nehmen wir die französischen Stunden wieder auf, aber lieber in Ihrer Wohnung, ich bringe Ihnen eine prachtvolle Tizianphotographie mit, eine rötliche Schönheit!! Herrlich, wenn ich der ähnlich wäre! Mit wem haben Sie studiert, während ich weg war? Gott weiß, mit wem, Sie sind eben auch ein Mann! Also, morgen, Punkt Sechs!

Dora Sch.«

Hui, das ging leicht . . .

Aber der Brief an Gustav ist noch nicht fertig . . . Rührt sich da nicht etwas im Nebenzimmer? Ich muß hinein, sagt sich Dora, ich muß Gertrud schlafen sehen. Süß, so ein dem Schlaf hingegebenes Wesen . . . Aber zuerst mach' ich den anderen Brief fertig.

Da sitzt sie wieder beim Schreibtisch und holt den Brief an Schiller hervor: »Neben mir schläft Gertrud. Ja, es war richtig, daß ich zurückkam! Der Engel schläft, seine Backen sind rot, eine wunderbare Lässigkeit veredelt das süße Gesicht. Wie sehe eigentlich ich aus, wenn ich schlafe?«

Nein, das streiche ich wieder weg, es würde zu kokett aussehen. Ganz dick muß dieser letzte Satz weggestrichen werden!

119 ». . . Eigentlich müßte jeder Erwachsene etwas von dieser kindlichen Schlafmiene behalten. Der Sozialismus macht Euch zu kritisch, daher kommt dieser bohrende Zug, zum Beispiel in Karls Gesicht . . . O, wie leer ist dieses Zimmer! Mich fröstelt!! Aber da denk' ich schnell an das süße Schlafgesicht des Engerls und klage nicht mehr. Wenn Gertrud groß sein wird, will ich mit ihr nach Florenz, dort werd' ich sie an einem Abend auf den Hügel vor der Stadt führen, während die Sonne rot versinkt, und ihr sagen: Hier saß einmal, vor Jahren, deine Mutter und ließ ihr Glück versinken – – –«

Ja, jetzt regt sich etwas im Nebenzimmer.

Gertrud ruft: »Großmama.«

Dora läuft ins Nebenzimmer an das Kinderbett.

»Ich bin da, Gertrud, die Mutter!«

Das heiße Kind sieht sie verschlafen an.

»Gerti, Engel, ich, die Mutter!«^

Sie drückt das kleine Mädchen fest an sich. Da weint die Kleine auf.

»Hab' ich dich gestochen, Engel . . . diese dumme Brosche. Verzeih, ich vergaß . . . so wein' doch nicht . . . ich kann ja nichts dafür.«

Aber die Kleine steht im Nachthemd im Bett, fröstelt und ruft nach der Großmutter.

»Die ist heute nicht da, aber ich bleibe jetzt bei dir, Engel . . . So lange war die Mutter fort, zwei Monate fast, hast du denn die Mutter ganz vergessen?«

Gertrud schluchzt: »Großmama.«

120 »Engel!« Dora umfängt den schmalen Kinderkörper, »Engel, Mutter ist da . . . was willst du denn?«

Aber das Kind reißt sich störrisch aus der Umarmung und schluchzt und redet im Schluchzen, und die Tränen kollern ihm über die Wangen, und endlich versteht Dora ein Wort, das immer wiederkehrt: »Großmutter . . .!«

Da fühlt Dora, daß jetzt ein ernstes Wort nötig ist: »Die Großmutter ist fort, die Mutter bleibt bei dir.«

»Mag nicht!« Heftig wirft sich das Kind ins Bett, den Kopf tief in die Kissen.

»Gertrud, du bist unartig!« Doras Stimme ist härter, als sie's wollte. Kinder aber hören nur das, was hinter den Worten ist, Kinder verachten die sachlichen Worte, aber sie wittern hinter einem Tonfall Welten . . . Tief ins Kissen wühlt sich Gertrud.

»Du bist nicht lieb zur Mutter.«

Dora steht auf, tut, als ginge sie zur Tür, und sagt: »Mutter geht wieder fort, wenn du nicht lieb bist.«

Aber Gertrud rührt sich nicht aus den Kissen, im Gegenteil, die Decke reißt sie noch über den Kopf, nicht einmal sehen soll man sie!

Dora steht ratlos da, Röte steigt ihr in die Wangen, der Gedanke packt sie: Wie sie das Kind mißleitet haben, während ich fort war! So darf ein Kind nicht mit der Mutter reden! . . . Gott weiß, wenn Dora jetzt in ihr Zimmer zurückgegangen und in zehn Minuten wiedergekommen wäre, nachdem die Verdrossenheit des Erwachens das verschlafene Kind verlassen hatte, oder wenn Dora wenigstens daran gedacht hätte, das 121 Fenster zu schließen, denn Gertrud stand im Nachthemd da . . . die ganze Tragödie wäre in zwei Minuten vergessen gewesen.

Aber Dora stand da und dachte an das, was ein Kind soll und was ein Kind tun muß und was es jedenfalls nicht tun darf, und so trat sie wieder an Gertruds Bett und riß die Decken vom Kopf des Kindes und sagte in einem Ton, den Gertrud von der Großmutter nie gehört hatte:

»Ein kleines Mädchen muß artig sein! Hier sind Schuhe und Strümpfe, zieh' dich an!«

Das Kind reißt die Decken wieder an sich.

Da wird Dora zornig, sie schleudert die Decken aus dem Bett, hebt das Nachthemd auf und gibt dem Kind auf den nackten Popo einen Klaps, daß ihr selbst die Finger brennen.

»Kleine Mädchen müssen folgen!«

Jetzt steht Gertrud mit drohenden Augen, mit Schauers wildgewordenen Augen, im Bett vor ihr, schreit mit verzerrtem Mund, ballt die kleine Faust, stößt mit dem Fuß nach ihr. Der Fuß trifft Dora an der Brust, an einer verletzlichen Stelle.

»Gertrud!« Im Nu liegt das Kind über ihrem Knie, und drei, vier, fünf, sechs brennende Schläge sausen auf das weiche Fleisch, das sich rötet.

Entsetzt schreit Gertrud auf, schluchzt, verliert den Atem, erbricht dann förmlich ein Schluchzen, liegt halbtot, kaum atmend auf Doras Schoß, bis es endlich, endlich – Dora ist totenblaß geworden – wieder in ein Schlucken, Schreien, Schluchzen ausbricht, aus dem ein einziges gerufenes Wort verständlich ist: »Großmutter . . . Großmutter!«

122 Dora weiß gar nicht, wie das alles kam. Sie begreift nicht, wie sie sich plötzlich zu diesen Hieben vergessen konnte, aber sie sagt mit zusammengezogenen Brauen, noch immer wie in einem Taumel, mit scharfer, ihr selbst fremder, irgendwie anbefohlener Stimme: »Ankleiden und still sein!«

Während die Tränen über die Wangen strömen, versucht sich das Kind ganz langsam, von Schluchzen geschüttelt, einen Strumpf anzuziehen.

Jetzt erst sagt Dora: »Ich gehe ins Nebenzimmer. Wenn ich zurückkomme, mußt du fertig sein . . .«

Dort auf dem Schreibtisch liegt der angefangene Brief an Gustav. Gerade bei dem Wort Engel ist sie stehengeblieben . . . Jetzt nimmt sie den Brief und zerreißt ihn in kleine Stücke.

Vom Nebenzimmer her immer noch ein Wimmern und Schlucken . . .

Jemand sperrt draußen die Gangtür auf. Schauers Schritte. Er kommt langsam herein, sagt ruhig: »Guten Abend«, hört plötzlich Gertruds Wimmern, sieht mit seinem großen, Antwort verlangenden Blick zu Dora, fragt scharf: »Was ist denn das?« und geht ins Nebenzimmer.

Sobald Schauer zurückkommt, findet er den leeren Salon noch leerer. Auf seinem Schreibtisch liegt ein Zettel mit Doras großer Handschrift:

»Karl! Ich passe nicht zu Dir und Deiner Tochter! Adieu!

Dora.«



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