Balduin Groller
Töte sie!
Balduin Groller

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Zehntes Kapitel.

Ein wundervoller Sommertag ging zur Neige. Die sinkende Sonne tauchte die ganze Landschaft in flammende Gluten; noch hätte man einige köstliche Abendstunden genießen können inmitten einer bezaubernden Natur, aber der Eisenbahnkurier erlaubte es nicht. Um sieben Uhr hielt der letzte Zug der Zweigbahn, welche die stille Station, zu deren schönsten Sommersitzen Villa Maria gehörte, mit den großen Weltverkehrsadern und insbesondere mit Wien verband, woher die zahlreichen Gäste der Villa am Morgen gekommen waren, und wohin sie nun wieder zurückstrebten.

Frau Maria, die Hausfrau, hatte den Gästen das Geleite gegeben, vom Garten bis zur Landstraße, die dann in gerader Richtung zum Bahnhof führte; dann wandelte sie langsam zurück. Den geöffneten rotseidenen Sonnenschirm trug sie geschultert, und von der sonnenbeschienenen Fläche fiel ein feiner Widerschein auf das lichte mattgelbe Seidenkleid, das ihre schlanke Gestalt umfloß; und stahl sich einmal ein Sonnenstrahl in ihr reiches Blondhaar, so erglänzte es wie von lauterem Golde.

Es war ein heißer Tag gewesen für die Hausfrau mit all der Fürsorge für die vielen Gäste, und sie atmete auf, als sie nun wieder den von bereits blutrot gewordenen Blättern des wilden Weinstockes umrahmten Balkon der Villa betrat. Aber da saß noch einer. Reinhold Fricke, der junge Mathematiker, war nicht mit den übrigen Gästen gegangen; er hatte sich beim Abschiedsrummel der allgemeinen Aufmerksamkeit zu entziehen gewußt und war zurückgeblieben.

Frau Maria setzte sich zu ihm an den Tisch; sie ließ ihren Blick lange auf ihm ruhen und lächelte ihn milde an. Und er errötete unter ihrem Blicke.

»Warum lachen Sie, gnädige Frau?« hub er nach einer Weile an.

»Und warum geraten Sie in Verlegenheit, mein Freund?« fragte sie zurück.

»Ich – ich – bin nicht verlegen,« stotterte er bemüht, sich eine gute Haltung zu geben.

»Ich will es Ihnen sagen,« nahm Frau Maria wieder das Wort, »warum Sie verlegen wurden. Das kommt daher, weil Sie kein gutes Gewissen haben.«

»O, ich habe nichts Böses begangen!«

»Böses? Nein. Sie haben mir keine silbernen Löffel gestohlen, und Sie haben auch, so viel ich weiß, nicht irgend einen heimlichen Meuchelmord begangen.«

»Nun also! Sehen Sie!«

»Es giebt aber auch noch andere Sünden.«

»Ach?!«

»Stellen Sie sich nicht so unschuldig. Ich habe es wohl bemerkt, wie Sie vorhin bei dem allgemeinen Abschiednehmen sich elegant herumgedrückt haben, damit man nur Sie aus dem Spiele lasse. Sie wollten womöglich unbemerkt zurückbleiben.«

»O!« rief Reinhold, indem er beteuernd die Hand aufs Herz legte.

»Habe ich etwa nicht recht?«

»O, außerordentlich! Und ich bin Ihnen zu tausendfachem Danke verpflichtet.«

»Wofür?«

»Weil Sie mit einer Leichtigkeit die schwierigsten Dinge sagen. Ich hätte mich furchtbar plagen müssen, um das herauszubringen. Ich hätte mich nicht getraut, und gesagt mußte es ja doch sein.«

»O, ich kann auch noch weit mehr sagen von dem, was doch einmal gesagt werden muß. Sie wollten also unbemerkt zurückbleiben, und zwar um mir noch ungestört Gesellschaft leisten zu können. Auch das ist noch nicht alles. Gesellschaft leisten – ist vielleicht noch nicht genug gesagt. Sie hätten mir, wenn's gut ging, gern einmal so recht con amore den Hof gemacht. Ich kenne Sie ja als meinen getreuen Verehrer, ich könnte sagen: allergetreuesten, wenn ich deren mehrere hätte. Habe ich's erraten?«

»Doch nicht so ganz!«

»Ah! Nun wir werden ja sehen! Wissen Sie aber, daß Sie den letzten Zug versäumen werden? Was werden Sie nun thun? Ich kann Sie nicht bei mir behalten, und hier im Orte finden Sie sonst keine Unterkunft!«

»Ich werde zu Fuß nach Wien gehen.«

»Sechsunddreißig Kilometer!«

»Die Nacht wird schön.«

»Gut; also reden wir weiter. Wo sind wir nur stehen geblieben? Richtig! Ich hätte also Ihre Absichten nicht erraten?«

»Vielleicht nicht ganz. Sie haben mich durchschaut, aber ich glaube unterschätzt, oder vielleicht haben Sie auch nur ein unrechtes Wort gewählt? Hof machen! Ich hasse den Ausdruck und die Sache.«

»Über den Ausdruck läßt sich ja streiten, was aber die Sache selbst betrifft, so ist sie doch sehr hübsch, und schwerlich werden Sie insbesondere die Damenwelt zu Ihrer Ansicht bekehren.«

»Ich will auch niemanden bekehren. Sie wissen, Frau Maria, daß ich mich aufs Hofmachen schlecht verstehe. Mir ist's ernst, sehr ernst zu Mute.«

»Hüten Sie sich, mein lieber Freund! In gar so ernsten Stimmungen begeht man leicht die allergrößten Thorheiten!«

»Sie verhöhnen mich!«

»Ich warne Sie nur.«

»Frau Maria – spielen Sie nicht mit mir. Ich liebe Sie mehr als alles auf der Welt!«

»Sehen Sie, die Thorheit ist begangen!«

Reinhold erhob sich rasch, kaum noch im stande, Herr seiner Erregung zu bleiben.

»Sie haben mir sonst nichts zu sagen, gnädige Frau?«

»Ich wüßte nicht –«

Er griff nach seinem Hute, sie aber rief, einen Blick auf ihre kleine goldene Taschenuhr werfend:

»Wenn Sie sich sehr beeilen, erreichen Sie den Zug noch!«

Als sie ihn dann so tieftraurig vor sich stehen sah, da kam es doch wie Erbarmen über sie, und sie lud ihn wieder zum Sitzen ein.

»Da setzen Sie sich schön her zu mir und lassen Sie uns vernünftig miteinander reden.«

»Sie haben leicht vernünftig sein, gnädige Frau!« entgegnete er mit unverhohlener Bitterkeit.

»Natürlich, denn ich habe kein Herz im Leibe, ich bin eine kalte, berechnende Kokette – nicht wahr, so wird es doch ungefähr richtig sein?«

»Nein, Maria!« rief er warm und mit jäh aufsteigender Reue. »Sie sind die gütigste und die mildeste und die schönste der Frauen, und darum –«

»Wir wollten vernünftig sein,« unterbrach ihn Maria, »und uns ruhig aussprechen. Also hübsch bei der Stange geblieben! Sie haben erklärt, daß Sie mich lieben – gut. Ich wußte das zwar ohnedies –«

»Sie wußten?!«

»Allerdings, ich wußte es längst, bevor Sie die Freundlichkeit hatten, sich zu äußern.«

»Ja woher denn, um Gotteswillen?!«

Frau Maria mußte lächeln über das naive Staunen des jungen Mathematikers. Als ob die Kunde von derlei Dingen immer erst an die große Glocke gehängt werden müßte!

»Genug an dem, ich wußte es,« erwiderte sie, »und es wäre besser gewesen, es nicht auszusprechen.«

»Nicht auszusprechen! Gnädige Frau – ich verstehe Sie nicht!«

»Das stille Geheimnis zwischen uns wäre so schön gewesen.«

»Ich fasse es nicht! Ich mußte doch Bescheid haben auf die Frage, auf die wichtigste, bedeutsamste Frage meines Lebens!«

»Gefragt hatten Sie nichts, lieber Freund, und darum durften Sie auch nicht gleich so böse werden, wenn ich nichts antwortete.«

»Und Sie hatten doch geantwortet. Sie nannten es eine Thorheit, daß ich Sie liebe.«

»Das habe ich nicht gesagt. Nicht, daß Sie mir gut sind, habe ich Ihnen verargt –«

»Maria!«

»– sondern daß Sie es gesagt haben. Ich glaube, wir werden das noch bedauern, wir beide

»Mein Bekenntnis heischte eine Antwort, und dieser Antwort bin ich gewärtig mit bangender, zitternder Sehnsucht wie eine arme Seele am Tage des Gerichts der Lossprechung. Glück und Unglück ist in Ihre Hand gegeben; ein Wort von Ihnen soll entscheiden über mein Geschick!«

»Ich verstehe Sie nicht ganz, Reinhold. Reden Sie, fragen Sie!«

»Sie verstehen nicht! Meine ganze Seele drängt sich in das Wort: Ich liebe Sie! Das Wort schließt auch die Frage und das flehentliche Verlangen nach Gegenliebe in sich. O, Maria, sagen Sie ein Wort; wie es auch lauten mag, es wird für mich die Entscheidung bringen.«

»Das wird es nicht, fürchte ich,« sagte Maria leise vor sich hin.

»Dann steht es traurig, sehr traurig um mich,« murmelte Reinhold ebenfalls mit leiser, stockender Stimme. »Ich kann nicht auf Gegenliebe hoffen, und damit ist alles, alles für mich verloren!«

»Nicht so, Reinhold,« entgegnete Frau Maria, und dabei strahlte ein milder Glanz aus ihren Augen. »Wenn es einmal gesagt sein muß, so will auch ich es frei bekennen: auch ich liebe Sie, recht, recht innig, aus der tiefsten Tiefe meines Herzens.«

Und sie ließ es geschehen, daß er sie stürmisch umschlang und ihr erglühendes Antlitz mit Küssen bedeckte. Dann drängte sie ihn mit den Händen sanft von sich, und als sie ihm dann mit einem langen Blick ins Gesicht sah, da schimmerte eine Thräne in ihrem Auge, und der letzte Strahl des im Westen versinkenden Sonnenballes funkelte zitternd nach in dieser Thräne.

Eine lange Pause entstand, und keines von ihnen wollte die feierliche Stille unterbrechen. Endlich fuhr sich Frau Maria, wie aus einem Traume erwachend, mit der Hand über die Stirne und hauchte vor sich hin:

»Vorbei, vorbei!«

»Was ist vorbei, Maria? Ich sehe nur den Anfang und wie durch ein weitgeöffnetes Thor die sonnige, die selige Zukunft.«

Maria schüttelte das Haupt.

»Es ist vorbei, alles, alles vorbei! Ich habe es kommen gesehen; ich habe alles erwartet, wie es gekommen ist, und nun möchte ich doch weinen um das verlorene Glück, um die verlorene Jugend!«

»Maria!«

»Es ist zu spät, Reinhold. Wir müssen vernünftig sein, ich muß es für uns beide sein. Ich bin um zehn Jahre älter als Sie und in dieser Sache,« sie sagte es mit einem Lächeln auf den Lippen, »wie mich däucht, wohl um fünfzig Jahre klüger.«

Reinhold wollte Einsprache erheben, aber sie wehrte es ihm.

»Lassen Sie uns die Ruhe bewahren, Reinhold. Der Strahl des Glückes und der Liebe hat mich nicht weniger erfreut, weil es der letzte war. Der Abendsonnenschein ist ja der schönste. Sehen Sie, die Sonne ist untergegangen, und wie nun die glühenden Tinten rasch erkalten. Das matte Grau mischt sich in den heißen, roten Glanz, der Purpur wird fahl. Es ist ein trauriges Bild – das Bild einer späten Liebe.«

»Maria, ich sehe nur das Bild der jungen, der neuen Liebe. Geben Sie sich nicht so traurigen Schwärmereien hin.«

»Der Schwärmer sind Sie, lieber Freund! Sie stehen im Banne des Augenblicks, ich aber sehe über ihn hinaus. Ich bin ja frei und könnte Ihnen die Hand reichen. Ich habe auf keinen Menschen Rücksicht zu nehmen als auf meine Tochter, und der würden Sie einen zwar jungen, aber gewiß liebevollen und würdigen zweiten Vater abgeben – und doch wäre alles Thorheit, eitle lächerliche Thorheit. Es ist zu spät, Reinhold, – ich bin zu alt. – Bleiben Sie sitzen und lassen Sie uns ruhig mit einander reden. Denken Sie fünf oder zehn Jahre voraus – Sie, ein Mann in der vollen Jugendkraft, – ich, eine abgeblühte, welke Frau, wir beide für die Gesellschaft ein Gegenstand des Spottes und des Mitleides. Sie haben ja heute bei uns Doktor Keller und seine Frau gesehen; genau derselbe Fall. Seine Liebschaften sind offenkundig, stadtbekannt. Man zuckt die Achseln; man verurteilt ihn nicht; mein Gott, er hat eine so alte Frau! Und die Frau? Sie hat ihren Mann vergöttert, und ihm zu Liebe hat sie die krampfhaftesten, wahnwitzigsten Anstrengungen gemacht, jung zu bleiben. Erst hat sie sich nur leicht geschminkt, und bald hatte sie, wie das zu gehen pflegt, das Auge und den Maßstab für eine diskrete Wirkung verloren, zudem bedurfte es einer immer dichteren Schicht, um die sich mehrenden Runzeln zu verdecken. Und nun endlich ist alles an ihr falsch, die Haare, die Zähne, die Gestalt und die Farbe der Jugend. Möchten Sie mich wohl so sehen, Reinhold?«

»Welch ungeheuerliche Verirrung! Sie können ja gar niemals so werden, Maria!«

»Ich werde mich vielleicht nicht schminken, aber auch ohne Schminke würde ich eine alte Frau sein neben einem jungen Mann, und auch über mich würde man die Achseln zucken und je nach Veranlagung spöttisch oder mitleidig lächeln. Am allergrausamsten ist die Welt alternden Frauen gegenüber.«

»Sie sehen Gespenster.«

»Nein, mein lieber Freund. Die Natur kennt kein Erbarmen, und gegen das Altern ist kein Kräutlein gewachsen. Ich werde den Gedanken an Frau Doktor Keller nicht los. Ich würde aller Wahrscheinlichkeit nach gerade so werden wie sie, jedenfalls so unglücklich wie sie. Wissen wir denn, wie ihr zu Mute ist hinter der erzwungenen lächelnden Larve, wie viele Thränen in stillen Stunden über die geschminkten Wangen rollen, und welche Verzweiflung ihr das arme vereinsamte Herz zerfleischt? Mir leuchtet der Abendsonnenschein, und er leuchtet mir warm und goldig, weil er mir noch Ihre Liebe gebracht, und ich nehme nun eine schöne, freundliche Erinnerung mit in den Abend, in die kommende Dunkelheit. Erinnern Sie sich, wie schön und wie rührend Raimund den Abschied der Jugend schildert; mir schießt es immer warm in die Augen, wenn ich daran denke. Brüderlein fein, Brüderlein fein, einmal muß geschieden sein! Ein solcher Abschied thut weh, insbesondere einer Frau. Es muß geschieden sein, Reinhold. Es war schön im Abendglanz – Reinhold – leb' wohl!«

Maria verdeckte ihr Antlitz mit den Händen und ließ den Thränen freien Lauf. Er stand vor ihr, bewegt, erschüttert und unfähig, seinen Empfindungen Ausdruck in Worten zu geben. Als er dann doch anheben wollte zu sprechen, da erhob sich Maria und küßte ihn noch einmal und hieß ihn gehen. Er wollte sie an sich pressen, aber sie wehrte ihn still ab, und dann ging er.

Kaum hatte er sie aber verlassen, da schlug sie wieder die Hände vors Gesicht und überließ sich als willenlose Beute einem tiefen und wilden und bitteren Schmerze. Es war ihr Abschied vom Glück und von der Jugend – und »ein solcher Abschied thut weh, insbesondere einer Frau!«

Immer dichtere Schleier der Dunkelheit senkten sich auf Berg und Thal. Zwischen den dunklen Matten und Feldern leuchtete noch die Landstraße weiß heraus. Auf ihr wanderte rüstig und leichten Schrittes Reinhold dahin. – – –

* * *

 


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