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Der Begriff der Familie war in dem Systeme der Erziehung untergegangen. Denn damit, daß die Familie die Kinder erziehen läßt, opfert sie sich selbst mit ihrem individuellen Familiengeist auf, welcher an den Kindern durch Einbildung der allgemeinen sittlichen Substanz soll überwunden und ausgetilgt werden. Im Familienkreise war nämlich jedes einzelne Glied nur das absorbirte Moment der einen Familien-Person, die Familie, die sittliche Einheit der Einzelnen, welche sich zuerst gegen dieselbe selbständiger Weise nicht geltend machen durften, ebenso wenig als sich die Zweige gegen den Organismus der Pflanze oder die Glieder gegen den Leib selbstständig verhalten dürfen. Das Interesse des Einzelnen lag im Interesse der Familie, und das Wol dieser stellte sich wieder im Wol des Einzelnen dar. In diesem bewußtlosen Zusammenhalt des sittlichen Geistes in seiner natürlichen Individualität, der Familie, kann aber das Wesen des Geistes nicht bestehend bleiben, weil es an der Einzelheit notwendig schon die Allgemeinheit hat und diese als das Reich seiner Unendlichkeit erst mit der träumerischen Macht der Sehnsucht nach dem Werden der Individualität, oder der Welt, dann mit dem selbstbewußten Zwecke des Werdens, aufsucht. Der sittliche Geist sprengt nun selbst die Familie, deren Glieder sich zerstreuen, das Leben selbstständig fortzusetzen, welches in den Eltern sich erfüllt hat und also absterben muß. Die der Familie zunächst entnommenen Kinder werden denn erzogen, das heißt zu selbstständigen Individualitäten gebildet, welche sich nun gegen den ursprünglichen Grund ihres Daseins, von dem sie abgelöst sind, negativ verhalten, weil sie ihrer Seits die gewordene Selbstständigkeit in der Gründung ihrer eigenen Familie zu offenbaren berufen sind, worin sie wieder der gerechten Nemesis erliegen. Denn die Flucht des Kindes aus dem Elternhause, die Zertrümmerung des schönen Familienparadieses, welche das natürliche und schuldlose Verbrechen des weltlüsternen Herzens ist, sobald die Frucht vom Baume des Selbstbewußtseins gebrochen wurde, wiederholt sich am Kinde selber, wie der Umsturz des Uranus am Saturn sich wiederholt.
Die Gründung der neuen Familie kann deshalb nicht der Hauptzweck der Erziehung des Kindes sein, welches doch dem unmittelbaren Familienzusammenhange entnommen war, um mit einem anderen Geiste als dem einzelnen Familiengeiste erfüllt zu werden. Zwar das Weib bleibt auch sich erziehend mehr, als erzogen, auf dem heimischen Richtpunkte der Welteinsamkeit und Vereinzelung stehn, von der Natur mit den magischen Banden des Instinktes umschlungen und in Liebe gehegt als die Priesterin des Naturlebens; das Weib bleibt mit dem keuschen Antlitz bewußtlos der Familie zugekehrt, die Rosenknospe der Frauenschaft am Herzen, bis sie sich entfaltet – und auch dann tritt es nur aus der Familie heraus, um sogleich in die Familie einzutreten und sein Selbstbewußtsein in der wirklichen Einheit von Mann und Weib, in dem Kinde, zu haben. Aber der Jüngling kehrt sich der Familie ab, und der familienlosen Welt zu, und Mann geworden und selbst Familienvater, ragt er dennoch über die Familie hinaus, in das Allgemeine als Bürger hineinstrebend, so daß er jene durch seine Thätigkeit für die öffentlichen und allgemeinen Zwecke aufheben würde, wenn sie nicht das Weib und die Mutter zusammenhielte. Denn vom Weibe sind einmal die Hausgötter unzertrennlich, wie das schon die alttestamentliche Mythe in der Flucht Jakob's tiefsinnig ausdrückt, da Rahel ihrem Vater die Penaten entwendet.
Dies Allgemeine, mit welchem das Weib im dauernden Schmerzenskampfe sich befindet, weil es den Sohn der Mutter entreißt, um ihn an das Kreuz der Welt zu schlagen, ist zunächst das Gemeinwesen, die bürgerliche Gesellschaft.
In der Familie ist die Idee der Gesellschaft natürlich und unmittelbar enthalten als Totalität aller Glieder und ihrer Interessen, aber ihr Wesen ist in der Individualität des Blutes mit Naturnotwendigkeit gebunden. Davon losgelöst, die Familie auseinanderbrechend, erscheint das sittliche Wesen in einer willkürlichen Reihe von egoistischen Individuen, welche ohne natürliche Verbindung sich frei zueinander gesellen, die eigenen Zwecke zu verfolgen. In solcher Gesellung selbstständiger Individuen tritt die Familie wiederum auf, doch nur zufällig und dem Einzelnen gleichgeltend oder als ein Einzelnes betrachtet. Denn der Partikulargeist der Familie ist gegen den Gemeingeist der Gesellschaft unmächtig und von ihm unterdrückt.
Die Gesellschaft hat aber zunächst das Princip der Einzelheit von der Familie mit hinübergenommen, so daß sie vom Egoismus des Individuums ausgeht den sittlichen Mittelpunkt zu finden, in welchem alle vereinzelten Individuen wiederum eine lebendige und organische Individualität bilden. Mit der Einzelheit ist sie behaftet, weil der einzelne Mensch dem andern Einzelnen entgegensteht, auf dem Rechte seiner Person beharrend und sein Glück vor allen anderen erstrebend. Hier ist also die Sphäre gefunden, wo die Frage nach dem Glück des Individuums aufgeworfen wird, mit welchem sich der Socialismus zu thun macht, insofern er den Satz aufstellt, daß der Zweck der Gesellschaft und des Staates der Einzelne sei. Darnach muß also die Erziehung den Menschen bilden, wie er tüchtig sei, der wahre Einzelne, das wahre Individuum zu sein und sein Glück egoistisch an sich selber zu haben. Sie muß ihn geschickt machen, mit eigner Kraft zu erwerben und das Erworbene zu genießen, ferner die Lust und die Energie der Einzelheit den vielen andern Einzelnen gegenüber auch fortwährend zu behaupten. Die Erziehung stattet also das Individuum mit der selbstständigen Tüchtigkeit aus; weil aber diese nicht innerlich am Subject bleiben, sondern im Verhältniß zu anderen Tüchtigkeiten allein offenbart werden kann, so geht sie notwendig in den Begriff der bürgerlichen Tugend über.
Der Mensch ist zur bürgerlichen Tugend zu erziehen.
Bliebe die Gesellschaft auf dem Systeme der Atomistik beharrlich stehn, so würden sich die selbstständigen Individuen im Kampfe der rohen Gewalt zerstören, da ein jedes unmittelbar das Ganze und Allgemeine sein wollte. Der Einzelne ist aber nicht denkbar ohne die Einzelnen und kann sich nicht behaupten, wenn sich die anderen nicht behaupten. Es ergibt sich daraus der Grundsatz der Person und ihrer Achtung und Anerkennung. Es treten die Begriffe des persönlichen Rechts und der Pflicht, des Eigentums und des gemeinsamen Schutzes desselben durch den socialen Vertrag auf. Die gesonderten Interessen erhalten durch die wechselseitige Anerkennung die Beziehung auf das allen Gemeine und Gemeinschaftliche. Denn indem in der Gesellschaft der Einzelne zunächst nur seinem Bedürfnisse dienstbar wird und für die Befriedigung desselben arbeitet, würde er dies nicht vermögen, wenn nicht sein Nebenmensch ihn darin respektirte, und bei der Unzulänglichkeit an Zeit, Raum und Mitteln, womit das einzelne Individuum seinem Begriffe gemäß behaftet bleibt, würde er seine Bedürfnisse nicht befriedigen können, ohne die Mitarbeit der Anderen. Die Natur der Arbeit für das Bedürfniß ist daher eine solche, daß sie nicht das Einzelne, sondern das Gemeinsame schafft in einem unendlichen Processe der Wechselbeziehung eines Jeden zu Allen und umgekehrt. Der Einzelne sinkt dadurch in die Dienstbarkeit des anerkannten Allgemeinen, als der substanziellen Macht, welche ihn anerkennt und erhält. Dies ist auch der Sinn von dem schon angeführten Worte Göthe's, daß man die Männer zu Dienern machen, wie man die Frauen zu Müttern erziehen solle. Solche Indienstgebung an den allgemeinen gesellschaftlichen Geist ist die wahrhafte Tugend, auch im Sinne der Alten, tugendhaft also der Bürger, welcher sein Bewußtsein in dem Gemeinbewußtsein hat und für das Gute, die Zwecke der Gesellschaft, lebt und arbeitet.
Auf diese Weise wird es die Aufgabe der Sociallehre das gemeinsame Maß der Gesellschaft als die sittliche Sophrosyne des Gemeinwesens wie des Einzelnen zu finden und die gesonderten Interessen und Tätigkeiten in einem ruhigen und befriedeten Gleichgewichte von Arbeit und Genuß zu erhalten. Es ist dies die Aufgabe einer Organisation der Gesellschaft, in welcher die erst egoistisch Vereinzelten nun wieder unzerstörbare Glieder des Ganzen geworden sind, die durch ihre unbehinderte Arbeit das eine Leben des Ganzen produciren und wieder an ihm die gemeinschaftliche Erhaltungsquelle haben.
Da ergibt sich denn das Princip der Gleichberechtigung nach beiden Seiten hin, einmal in Beziehung auf die Glieder der Gesellschaft, die doch als selbstständige Individuen im Gemeinwesen sich gegenseitig anerkennen, dann in Beziehung auf ihre Arbeit, weil die Arbeit überhaupt das allgemeine Leben und Vermögen producirt. Sie kann daher dem Inhalt und Stoffe nach, nicht aber der Idee nach geteilt werden; denn wie sie ist, bleibt sie Arbeit. Der Teilung und Unteilbarkeit der Arbeit entspricht ebenso die stoffliche Teilung und ideelle Unteilbarkeit des Genußes, weil genießen nicht minder die That des Einzelnen als des Allgemeinen ist, und man nicht wahrhaft genießen kann ohne das Bewußtsein, die Lust des Einzelnen zur Lust der Gattung zu machen; denn der Genuß ist Empfängniß des Allgemeinen durch Einzelempfindung, wodurch auf der höchsten Stufe des Genußes das selige pantheistische Bewußtsein der Vereinigung mit der Allheit entsteht, nach welcher der Faust schmachtet.
Wie daher die Arbeit nur vom Allgemeinen, so kann auch nur der Genuß von ihm wahrhaft ausgeteilt werden. So ist denn überall in der Gesellschaft nur das Pathos ihrer sittlichen Substanz herrschend und am Einzelnen Alles erzeugend, Lust und Schmerz, die Schuld und das Schicksal, je nachdem er sich gegen sie zu verhalten weiß, und der Einheitspunkt ist aufgefunden, wenn auch nicht auf dem Wege der Natürlichkeit. Tritt das natürliche Element, das wir in der Familie fanden, zur Gesellschaft hinzu, so wird sie wieder zur Familie, indem sie das Volk ist, der naturwüchsige Organismus eines charakterischen Sittengeistes, also mit dem Momente der egoistischen Einzelheit und Endlichkeit gleicherweise behaftet wie die Familie. Die Glieder, die sich von dieser großen Familie ablösen, können Kolonien werden, welche ihren Ursprung versiegen machen und überdauern.
Das Volk ist eine natürliche Individualität an sich. Abgesehn von der Einheit des Blutes, und nur als selbstbewußte Gesellschaft betrachtet, erscheint es zuletzt als Staat. Die Individualität des Staates ist der substanzielle sittliche Geist der Allgemeinheit in seiner concreten Einheit als höchstes Wissen von sich selbst; die Gesellschaft ist daher in allen ihren materiellen und sittlichen Beziehungen in ihm enthalten und aufgehoben und producirt ihn aus sich, wie der Inhalt die Form schafft, so daß Personen, welche aus einem Staate scheiden um eine neue Gesellschaft für sich zu bilden, entweder in einen anderen Staat übergehen, oder auf einem geschichtlosen Raume sich niederlassend, sofort einen Staat bilden werden. Denn nur in der Form der Einheit kann ein lebendiges Allgemeines seiner bewußt werden und sein Wesen sich gegenständlich machen. Wie die Form sei, das hängt von dem Inhalte ab, und je nachdem sich die Gesellschaft im Verhältniß zu ihren sittlichen Zwecken nach mehr oder weniger freien Principien organisirt, wird die Staatsform sich ergeben. Es ist daher ein Unding, wenn sich der Socialismus beikommen läßt zu sagen, Gesellschaft und Staat seien als indifferent gegen einander zu betrachten.
Endlich und zuletzt erscheint aber auch Gesellschaft, Individualität des Volks und Individualität des Staates noch mit demselben Momente der Einzelheit behaftet, weil anderen Ihresgleichen gegenüberstehend, so daß die allgemeine Substanz auch in ihnen nur in der Weise der Besonderung zur Erscheinung kommt. Daraus folgt, daß jedes von ihnen in der Vereinzelung endlich ist und sich im Gegenteil bestrebt seine Schranke aufzulösen und sein Gewicht in den Schwerpunkt einer Weltgesellschaft, eines Weltbundes (um göthisch zu reden), eines Menschheitsstaates zu werfen, wie man auch mit den Socialisten sagen könnte. Auf dieser letzten Stufe würde der einzelne Geist, indem er alle Gestaltungen seines endlichen Wesens in der Familie, in der Gesellschaft, im Volke, im Staate, zusammenfaßt, sein höchstes Selbst im allgemeinen unendlichen Geiste erreicht haben, und sich als den wirklichen Gott empfinden.
Dies sind denn die Progressionen, welche das sittliche Bewußtsein vernunftgemäß durchlaufen kann. Wir wollen nun sehen, wie Göthe's Lehre von der Gesellschaft sich zu diesen Phasen verhalte.
*
Wenn nun die pädagogische Provinz das neue Geschlecht der Wanderjahre in den Maximen der nützlichen Beschränkung und des naturgemäßen Berufes ohne Umweg erzieht, und eine solche Bildung zur Bedingung der gesuchten Gesellschaft gemacht wird, so muß das autodidaktische Geschlecht der Lehrjahre nun endlich auch darthun, daß es feine Bildung in gleichem socialen Sinne erreicht und beschlossen habe. Dieser Beweis wird wieder durch Wilhelm, den Repräsentanten der Bildung, zu liefern sein. Das Erste ist daher, daß Wilhelm sich als den für die Gemeinzwecke der Gesellschaft brauchbar und tüchtig Gewordenen darstelle. Denn es ist Grundsatz der Verbindung: »in irgend einem Fache muß einer vollkommen sein, wenn er Anspruch auf Mitgenossenschaft machen will.« (III. Kap. 4.) Dieser Grundsatz wird auch sonst von Göthe strenge hervorgehoben. An einem andern Orte sagt er: »Die Außenwelt bewegt sich so heftig, daß ein jeder Einzelne bedroht ist, in den Strudel mit fortgerissen zu werden; hier sieht er sich genöthigt, um seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, unmittelbar und augenblicklich für die Bedürfnisse anderer zu sorgen, und da fragt sich denn freilich, ob er irgend eine Fertigkeit habe diesen aufdringlichen Pflichten genug zu thun. Da bleibt nun nichts übrig als sich selbst zu sagen: nur der reinste und strengste Egoismus könne uns retten; dieser aber muß ein selbstbewußter, wolgefühlter und ruhig ausgesprochener Entschluß sein.«
»Der Mensch frage sich selbst, wozu er am besten tauge? um dieses in sich lind an sich eifrigst auszubilden. Er betrachte sich als Lehrling, als Geselle, als Altgeselle, am spätesten und höchst vorsichtig als Meister.« Ferneres über Weltliteratur im 49. Bande. Nun dürfte es dem oberflächlich Blickenden trivial erscheinen, daß Wilhelm für sich das Fach der Chirurgie gewählt, daß er nach einer so langwierigen Schule, für die eine halbe Welt verwendet worden, es nur zu einem Wundarzte gebracht habe. Und doch konnte der Dichter kaum einen glücklichern Griff thun, als diesen, und durch nichts anderes die Genialität des Gedankens seiner Dichtung trefflicher bekunden, noch ihr in Bezug auf das sociale Problem einen meisterhafteren Abschluß geben. Man muß die erstaunliche Kunst bewundern, mit der er es verstand, die Wahl gerade dieses Berufes sowol der Lebensgeschichte und dem Charakter Wilhelm's anzupassen, als sie mit dem Principe des Romans in den schönsten Einklang zu setzen. Schon in den Lehrjahren ist sie biographisch durch jene Scene begründet, wo der verwundete Wilhelm durch Natalien's und des Wundarztes Bemühungen gerettet wird. Die Liebe zu der Amazone, seiner Lebensretterin, läßt ihm dann die chirurgische Kunst in einer ungewöhnlich romantischen Bedeutsamkeit, in einem dauernden reizenden Bezuge auf sein eigenes Leben erscheinen.
In den Wanderjahren weiß der phantasievolle Wilhelm das Motiv seines Berufes noch weiter zurück in ein Jugenderlebniß zu legen, welches er Natalien mitteilt. Es ist dies die kleine Idylle vom Fischerknaben, welche an wahrhaft antiker Schönheit die meisten Novellen Göthe's bei weitem übertrifft, und von der zu bedauern ist, daß sie der Dichter im Interesse Wilhelm's, des Chirurgen, nicht schon für die Lehrjahre erfinden durfte. Aus ihr erkennen wir schon, in welchem idealen Sinne wir die Chirurgie aufzufassen haben. Sie ist die göttliche Kunst, welche es mit der heiligen und schönen Menschengestalt zu thun hat und über ihr wachen soll, daß das herrliche Ebenmaß ihrer Bildung, wo es verletzt oder gestört worden, wieder hergestellt werde, wie es aus der formenden Hand der Natur hervorgegangen. Der ästhetische Wilhelm, dem das Ideal des schönen Menschen die Seele erfüllt wie einem Künstler, ergreift mit wärmster Leidenschaft diese Plastik des Maßes und der Harmonie, und so bewährt sich gerade an diesem Berufe sein idealistisches Vermögen. Wenn er Natalien schildert, mit welchem Entzücken er damals die aus dem Fluß steigende nackte Gestalt des Fischerknaben betrachtet habe, so spricht er wie ein Hellene; und es ist wiederum herrlich und tief gedacht, daß der Dichter ihn am Schlusse des Romans, da er den in den Fluß hinabgestürzten Felix, seinen Sohn, durch die chirurgische Kunst ins Leben zurückgerufen hat, entzückt vor der nackten Jünglingsgestalt ausrufen läßt: »Wirst du noch immer aufs Neue hervorgebracht, herrlich Ebenbild Gottes!« Denn so schließt die ganze Dichtung, aus deren aphrodisischer Flut das erwartete schöne Menschenbild emporsteigen sollte, mit dem jugendlich blühenden Apoll in seiner unverhüllten Herrlichkeit, mit dem Menschen, wie ihn die unverfälschte Natur auf das Göttlichste gebildet hat. Göthe stellt hier als Grieche die plastische Gestalt des Menschen in dem Tempel der Natur auf als das Höchste und Letzte, was Gott und Natur geschaffen haben, wie er vordem bei Gelegenheit der Humanitätsreligion gesagt hatte. Unbeschadet seiner Decenz söhnt er sich dadurch mit dem Heinse im Ardinghello und der Hildegard aus, dessen nackte Plastik die Kritik einmal sich verschworen hat, bloß auf Rechnung ekler Sinnenlüsternheit zu setzen, ohne wenigstens das Antike und Winkelmannische daran zu retten. Göthe sagt ferner an einer anderen Stelle der Wanderjahre: »Der Mensch ohne Hülle ist eigentlich der Mensch, der Bildhauer steht unmittelbar an der Seite der Elohim, als sie den unförmlichen widerwärtigen Thon zu dem herrlichsten Gebilde umzuschaffen wußten; solche göttliche Gedanken muß er hegen, dem Reinen ist alles rein, warum nicht die unmittelbare Absicht Gottes in der Natur? Aber vom Jahrhundert kann man dies nicht verlangen, ohne Feigenblätter und Thierfelle kommt es nicht aus, und das ist noch viel zu wenig.« (III. 3.) Gerade so würde Pausanias oder würde Philostrat sprechen, wenn er heute die feigenbeblätterte Glyptothek zu München gesehen hätte.
Vortrefflich weiß nun der Dichter auch aus der theatralischen Verirrung Wilhelm's für seine chirurgischen Studien einen Gewinn zu ziehen und die Mimik der Schönheitskunst dienstbar zu machen, wie im Manne vom 50 Jahren, worin wir zum letzten Male einem Schauspieler begegnen, der sich aber nunmehr nicht als Komödianten, sondern als Schönheitskünstler präsentirt. Denn von der Bühne her hat er die Kunst gelernt, die Wolgestalt des Leibes zu erhalten, was zu einer ergötzlichen Verirrung des Funfzigjährigen Anlaß gibt und für die Handlung der Novelle mit meisterlicher Geschicklichkeit benutzt wird. Nun wird vom Chirurgen gefordert, daß er sich zum plastischen Begriffe erheben solle, daß er nicht bloß die Glieder eines Körpers barbarisch zu seciren, sondern vielmehr sie darzustellen wisse, daß er Modelleur sei, und es ist vortrefflich, was alles Göthe jenem Plastiker über Anatomie in den Mund legt, bei welchem der chirurgische Adept Wilhelm seine Präparate in Wachs bossiren lernt. Nach einem so hohen und reinen Ideale von Wundarzeneikunst, um dessen Realisirbarkeit die Poesie sich nicht zu bemühen braucht, ist denn der modellirende Chirurg auf die nächste Stufe nach dem Bildhauer gestellt, und sein Geschäft soll als ein Mittelwesen zwischen Kunst und Technik betrachtet werden, oder ein zur Kunst gesteigertes Handwerk sein, was dem Lieblingsgedanken der Götheschen Dichtung vortrefflich entspricht. »Hieran, läßt er Wilhelm berichten, schloß sich die Betrachtung, daß es eben schön sei zu bemerken, wie Kunst und Technik sich immer gleichsam die Wage halten, und so nahe verwandt immer eine zu der anderen sich hinneigt, so daß die Kunst nicht sinken kann ohne in löbliches Handwerk überzugehen, das Handwerk sich nicht steigern ohne kunstreich zu werden.«
Lassen wir also im Interesse Wilhelm's Jarno Recht behalten, wenn er die Chirurgie das göttlichste aller Geschäfte nennt, ohne Wunder zu heilen und ohne Worte Wunder zu thun, und wenn er behauptet, daß nichts der Mühe wert sei »zu lernen und zu leisten, als dem Gesunden zu helfen, wenn er durch irgend einen Zufall verletzt sei; durch einsichtige Behandlung stelle sich die Natur leicht wieder her, die Kranken müsse man den Aerzten überlassen, niemand aber bedürfe eines Wundarztes mehr als der Gesunde.« (II. 12.) Wenn sonst häufig in den Wanderjahren Göthe's Sprache und Darstellung durchaus den reinen Geist der Griechen atmet und an wunderwürdiger Schönheit und Einfachheit mit dem socratischen Dialoge oder dem homerischen Epos wetteifert, so erinnern namentlich auch seine Gespräche über das chirurgische Wesen, besonders die zuletzt angeführte Stelle auf das Lebhafteste an die stille Größe des Platon und seine Ideen. Wer die platonische Republik im Gedächtnisse hat, wird sich aus dem dritten Buche erinnern, daß Platon vorzugsweise die Chirurgie als eine wahrhaft göttliche Kunst verherrlicht, die Aerzte aber aus seinem »gesunden« Staate sogar verbannt. Sokrates fragt den Glaukon: »Kannst du wol ein sichereres Kennzeichen schlechter, und verwerflicher Sitten in einer Stadt finden, als wenn darin kunstgeübte Aerzte und Richter nicht nur von den schlechten Leuten und Handarbeitern gebraucht werden, sondern auch von denen, die das Ansehn haben wollen auf edlere Weise gebildet zu sein?« Und nun erzählt er von dem Herodikos, der sich verwerflicher Weise durch seine Heilkunst als ein doch Scheinlebiger und Sterbender bis zu seinem Tode erhalten habe, und behauptet, daß Asklepios nur für die dem Leibe nach Gesunden die Heilkunst eingesetzt habe, für die innerlich durch und durch krankhaften Körper aber nicht, wiewol die Tragödiendichter und Pindar sagen, er habe sich endlich für Geld gewinnen lassen einen reichen Mann, der schon auf dem Tode lag, zu heilen, wofür er denn vom Blitze sei erschlagen worden. – Wie würde es wol der heutigen Welt ergehen, wollte man dies dorische Princip wieder einführen, daß nur für die Gesunden die Götter den Asklepios und Machaon bestellt haben? da die lebenden Geschlechter von der Cultur der Jahrhunderte also am Leibe verflucht sind, daß deren Hälfte ihn scheinlebig als einen wahrhaften Leichnam, künstlich zusammengehalten, bis an den letzten Schicksalstag hinüberschleppt. Hier muß denn Platon durch den Lazarus Christi widerlegt werden, der Arzt aber mag sich immerhin demütigen vor dem Chirurgen.
Doch sei es eben genug von der göttlichen Chirurgie, der schicksalabwendenden, welche Wilhelm Meister sich als das kunstreiche und klassische Handwerk erwählt hat, der menschlichen Gesellschaft im weitesten Unfange dienstbar zu werden.
Was endlich seine Freunde betrifft, so haben auch sie irgend eine beschränkte und realistisch energische Tüchtigkeit sich angeeignet. Der Abbé stellt sich als der geborne Pädagog heraus, und wird sich bestens zum Scholarchen und providenziellen Mentor qualificiren. Jarno ist Bergmann, Lothario übt die Kunst des Manövrirens, lehrt Angriff und Verteidigung, Lenardo ist Techniker im Allgemeinen, Friedrich Gedächtnißkünstler und schreibseliger Kanzellist, Philine und Lucie schneidern und nähen mit einer wahren Leidenschaft.
Die übrigen Wanderer, welche wir als eine Association unter der Leitung eines ceremoniösen Vorstandes, Lenardo's, Friedrich's und des Amtmann's versammelt antreffen, gehören alle dem Handwerkerstande an. Jenseits des Meeres, wo der Mensch ohne Voraussetzung der Cultur von vorn beginnt, gilt es erst das Nützliche zu leisten, das Haus zu richten und den Acker zu bestellen, und für das folgende Geschlecht den Culturgrund zu legen. Man könnte Göthe deshalb wie den französischen Socialisten von Saint Simon bis Proudhon den Vorwurf machen, daß er seinen neuen Menschen nur zu einem anderen Adam gemacht habe, der, nachdem ihn die idealen Götter alle verlassen haben, im Schweiße seines Angesichtes dem handarbeitenden Gotte der Industrie einen Altar baut. Aber obwol dies Extrem der Industrialität für Amerika so nahe liegt, daß es als ein entgöttertes Paradies der Mathematik und Nationalökonomie anzusehen ist, so würde man Göthe dennoch Unrecht thun, wollte man ihn Angesichts seiner Lehrjahre in die Kategorie der französischen Socialisten setzen. Die Franzosen bringen es höchstens zu einer phantastisch geistreichen Systematik der Leidenschaften, in welche sie den Menschen zerteilen; seiner inneren Welt nachzuforschen, sich in den Abgrund seiner Seele zu stürzen und den geheimnißvollen Einklang seiner Kräfte zu begreifen, vermögen sie so wenig, daß sie dreistweg die Gesellschaft construiren, ohne den Menschen anders denn zufällig construirt zu haben, wie Fourier, welcher die Idee des Menschen willkürlich aus den zwölf Trieben des Luxus, der Gruppe und der Serie herleitet, weil die Harmonie der Leidenschaften als der Genuß ihm die Vollendung des Menschen selber ist.
Welche Anstrengungen machte dagegen Göthe erst in seinen Lehrjahren, um den Menschen zu entdecken, wie er von der Natur ist und wie er in der Cultur sich darstellt, und wie tief hat er sein Wesen bis in die kleinste Faser verfolgt, die zum Herzen hinwurzelt oder zum Kopfe sich verzweigt, wie tief schaute er in die heitre Krystallhelle seiner dionysischen Seele und wieder in die düstre Nacht seines dämonischen Wahnes, daß man von ihm sagen kann, er habe gleich den Hellenen das Rätsel der Sphinx gelöst. Und dann erst, nachdem er den Menschen begriffen, und bei den Göttern angefragt, wagt er es bescheiden, sich auch für die Gesellschaft im solonischen Gesetze zu versuchen.
Wie sehr ihm aber auch das ideale Element des Menschenlebens immer gegenwärtig blieb, dürfte schon aus seiner Verschwisterung von Handwerk und Kunst zu erkennen sein. Der Abbé schreibt an Wilhelm (II. 7. 150.): »Eine Reise zu den Pädagogen hat er (Lothario) unternommen, um sich tüchtige Künstler, nur sehr wenige, zu erbitten. Die Künste sind das Salz der Erde; wie dieses zu den Speisen, so verhalten sich jene zu der Technik. Wir nehmen von der Kunst nicht mehr auf als nur daß das Handwerk nicht abgeschmackt werde.« Zunächst dürfte diese Stelle rigoristisch klingen und dahin mißverstanden werden, als habe Göthe die Künstler entfernen wollen, mit deren Ausbildung sich doch die pädagogische Provinz so angelegentlich beschäftigte. Bedenkt man, daß es hier darauf ankommt, eine praktische Gesellschaft auf einem geschichts- und culturlosen Boden zu stiften, so scheint der Gedanke natürlich, daß sie sich erst auf das Nützliche zu beschränken habe. Dies ist übrigens allen Socialisten gemein, daß sie die Kunst beschränken; man findet dieselbe Ansicht schon in dem Utopien des Thomas Morus (II. »von den Künstlern«), in dessen Staat der Ackerbau die erste und allgemeine Kunst ist, und der die Handwerke, wie die Weberei, das Schmiedehandwerk, Zimmerhandwerk &c. auch zu Künsten erhebt, alle anderen aber als dem Luxus angehörig abweist, weil das oberste Gesetz des utopischen Staates praktische Thätigkeit und Gemeinnützlichkeit sein müsse.
Ist erst die Befriedigung des Bedürfnisses gegeben und das materielle Wol realisirt, so erwacht der Genius des Wahren und des Schönen von selbst, also meint auch Göthe. Ein anderes aber ist ferner das Verhältniß der Kunst zum Handwerk, welches hier berührt wird. Die Kunst, auf so idealer, olympischer Höhe sie auch gestellt sein mag, verdankt ihren Aufschwung nicht dem genialen Gedanken allein, sondern auch dem technischen Fleiße, der mit unermüdlicher Ausdauer für sie die kostbaren Mittel erfindet, mit denen erst die widerspänstige Materie von der schöpferischen Phantasie bezwungen wird. Die Kunst hat deshalb das Handwerk zu Ehren zu bringen und aus der Geringschätzung, in welche man es hinabgestoßen hat, zu sich zu erheben. Von der Werkstatt des Handwerkers soll ein verbindender Weg zum Museum des Künstlers führen. Die Würde der Arbeit, des denkenden Fleißes, der schaffenden Hand, durch welche erst die Welt freundliche Gestalt für uns erhält und zu einer wohnlichen Stätte wird, worauf sich die höheren Genien des Lebens niederlassen mögen, soll auch in der bürgerlichen Welt anerkannt werden. Im Bewußtsein seines Wertes wird sich dann der Handwerker auf eine höhere Stufe der Menschheit erhoben fühlen und seinen Productionstrieb zum Kunsttriebe steigern.
Dies ist denn der directe Gegensatz zum Hellenismus. Es ist charakteristisch für den Cultus der Schönheit bei den Griechen, deren größte Staatspädagogen, Platon und Aristoteles, immer nur eine Aristokratie auch der Bildung aufgestellt haben, daß der Handwerkerstand bei ihnen verachtet war, was besonders von den Lacedämoniern und Korinthern galt. Cramer Gesch. d. Unterr. u. d. Erzieh. im Altertume II. S. 439. Aristoteles stellt bekanntlich den Begriff der Banausie (des gemeinen Handwerk- und Tagelöhnergeschäftes) der vornehmen Bildung und edlen Beschäftigung streng entgegen; Platon macht sich in seinem Staate mit den Handwerkern gar nicht zu schaffen, schließt sie von aller geistigen ästhetischen Bildung aus, und läßt sie nur Arbeitsthiere sein; auch Aristophanes treibt mit ihnen seinen Spott wie in den Rittern und läßt sie, gleich den anderen, nur in der Demokratie zu Ehren kommen. Man sehe also, welchen Triumf hier das Christentum feiert, und wie schwer es dennoch, trotz Sanct Joseph und der Apostel, trotz der Zünfte des Mittelalters und ihrer Intelligenz, hält, die Arbeit von dem Fluche der Banausie zu erlösen.
Odoardo, welcher eine Handwerkerassociation zu Stande bringt, die Provinz seines Fürsten zu cultiviren, erklärt darin die Handwerke sogleich für Künste und sondert sie als » strenge« Künste von den » freien«, den schönen Künsten ab. Es dürfen dabei aber nur diejenigen Handwerke berücksichtigt werden, welche zu den Künsten in einer erklärten Beziehung stehen, vornemlich also die mit dem Bauen zu thun haben. Es adelt Göthe aber die Arbeit überhaupt, denn sie ist das erfinderische Genie der Cultur, der siegreiche Gott, welcher auf die ausdenkende Stirne des Menschen die Herrscherkrone der Welt gesetzt hat. Der alte Kampf der Hand mit der Intelligenz soll geschlichtet werden, und jene war es doch, welche Jahrhunderte lang rastlos arbeitete und schuf, bis sich der siegreiche Gedanke aus der mittelaltrigen Nacht erhob.
Die Hand aber ist eine Feindin der todten Maschine, welche den Arbeiter um die Seele seiner Kunst betrügt, indem sie ihm zugleich das Brod raubt. Diesem schreckenden Automaten, dem fatalen Gespenste, welches die künstelnde Cultur gegen die arbeitende Menschheit losgelassen hat, und worin gleichwol die Energie des Menschengeistes ihre wunderbarsten Siege über die rohe Gewalt der Materie feiert, entfliehen Göthe's Weber im Gebirge jenseits des Meeres, dem Vernichtungskriege der Concurrenz zu entgehen.
Dem weitblickenden Dichter blieben diese bedrohlichen Uebelstände der heutigen Civilisation nicht verborgen, traten sie gleich zu seiner Zeit noch nicht in so furchtbarer Nacktheit auf, wie wir sie erfahren haben. Hätte Göthe das Decennium nach der Julirevolution erlebt, wo im Gefolge des Materialismus, den die Restauration über Frankreich brachte, die privilegirte Bourgeoisie das Elend des Proletariats, des besitzlosen peuple hervorrief, er würde vor der grausigen Frescomalerei Eugen Sue's sich entsetzt haben.
Er aber verklärt nur als wahrer Dichter mit der idealisirenden Liebe seiner allversöhnenden Dichterseele den harten Knechtsdienst des Menschen, das traurige Loos des Proletariats, und hebt es in die schönere Menschlichkeit poetisch empor. Dieser tiefe Sinn der Erlösung des Knechtmenschen durch die heilige Gottesidee der Arbeit leuchtet uns aus der Figur Sanct Christoph's, des herkulischen Lazzaroni, entgegen, der heiteren Mutes und gesangesfroh die schwere Bürde auf seinem Rücken über die Berge trägt. Sanct Christoph ist der Pendant zu Sanct Joseph. Wie in diesem die Arbeit des Handwerkers, so ist in ihm das niedrigste Loos des Lastträgers, des eigentlichen Proletariers, durch die Legende geheiligt und idealisirt, welche von Sanct Christoph erzählt, daß er auf seinen Schultern den Heiland durch das Wasser getragen habe.
Daß der Dichter diesen Lastträger als ein ebenbürtiges und brüderliches Glied der Gesellschaft unter die Wanderer aufgenommen hat, ist geradezu der schönste und der menschlichste Zug seiner socialen Dichtung. Die Differenz der Stände innerhalb der Gesellschaft ist nun vollends aufgehoben. Sie fixirte sich aber in dem unnatürlichen Civilisationsleben dreifach; einmal durch das Privilegium der Geburt und des Erbgrundbesitzes, durch den Adel, dann durch das Kapital, den bürgerlichen Reichtum, endlich durch die Aristokratie der Intelligenz und einer vorzugsweise noblen Arbeit, gegen welche die niedere Arbeit als unehrenhaft erscheint.
Die Differenz der Stände, insofern sie auf der Geburt beruht, hat Göthe schon am Ende der Lehrjahre durch die Bildung nivellirt. In den Wanderjahren tilgt er nun auch den Standesunterschied der Intelligenz, indem er die arbeitende Klasse selbst zu einer intelligenten erhebt. Dies geschieht durch das Medium des Gesanges, welcher für die Handwerker wie für alle Arbeiter das allgemeine Element der Herausbildung zum Ethischen und Aesthetischen sein soll und die pädagogische Theorie der Musik hier trefflich realisirt. Daß der Gesang ein solches Bildungsmittel für jene Gesellschaftsklassen und gleichsam ein neuer Gottesdienst socialer Gemeindlichkeit sein könne und müsse, ist eine Wahrheit, die sich nicht nur durch die Zeiten des Meistergesanges und der Meisterschulen bestätigt, sondern gerade in der Gegenwart am meisten verwirklicht, wo die Gesellenvereine und Arbeiterverbrüderungen einen neuen Aufschwung genommen haben. Der Gesang ist es, worein der Arbeiter seine Schmerzen, Hoffnungen und Wünsche niederlegt und sich von dem Frohndienst des Tages erlöst. Wenn man solche Gesänge kennt, wie den chant des ouvriers, welchen die französischen Arbeiter heute bei ihren Zusammenkünften singen, wird man die erstaunliche moralisch veredelnde Gewalt begreifen, welche sie ausüben müssen. Von diesem trefflichen Liede lautet die erste Strophe:
Kaum kräht der Hahn das erste Mal,
So brennt schon unsre Lampe wieder,
Und neu beginnt die alte Qual
Und dröhnend fällt der Hammer nieder.
Für ewig ungewissen Lohn
Mühn wir uns rastlos ab auf Erden,
Die Noth vielleicht kömmt morgen schon,
Wie soll es erst im Alter werden? ...
Liebt Euch einander treu und heiß,
Und lasset, ob die Schwerter blinken,
Ob uns des Friedens Palmen winken,
Im Kreis, im Kreis,
Uns auf die
Welterlösung trinken!
Man findet diesen
Chant des Ouvriers vollständig in
Alfred Meißner's, des herrlichen Dichters der Ziskalieder, Schrift:
Revolutionäre Studien aus Paris. Frkfrt. a. M. 1849. Bd. I. 146.
Göthe wußte, daß die Arbeit den Gedanken frisch und kräftig, das Herz warm und mutig macht, und daß gerade sie im Arbeiter die rastlose Sehnsucht nach den höheren Besitztümern der intelligibeln Welt erzeugt, welche um so brennender sein muß, je schwerer der Zugang zu ihnen ist. Proudhon, Pierre Leroux, Beranger waren Buchdrucker, Weitling ein armer Schneider, und man lese doch sein »Evangelium der armen Sünder«, um, mag man über des Schneiders Ideen denken wie man wolle, jene Sehnsucht des Arbeiters nach der Intelligenz mitzufühlen und die Energie zu achten, womit er selber sie sich erkämpft hat und ihr Recht für das Proletariat zu erkämpfen sich bestrebt. Diese Emancipation des Arbeiters zur Bildung hat Göthe uns auch in seinen Handwerkern erkennen lassen, deren viele meisterlich geschickt sind Lieder zu improvisiren und singend umzudichten, wie mit Wilhelm's Improvisation geschieht; und auch St. Christoph tritt mit einem Wolanstande auf, daß sich Keiner der ehemaligen Freiherrn seiner zu schämen braucht. Er weiß sie gar mit wolgesetzten Erzählungen zu ergötzen, trotz dem Märchen vortragenden Bartkünstler.
Endlich zieht Göthe die letzte Consequenz aus dem socialen Principe der Gleichberechtigung, indem er durch St. Christoph den Grundsatz darstellt, daß die Arbeit überhaupt absolut gleichgeltend sei, daß ihre relative Form indifferent sei gegen den Stand, daß Würde und Adel des Menschen nicht davon abhange, womit er sich beschäftige, sondern daß er überhaupt arbeite. Denn jede Arbeit ist Manifestation des reinen Menschen, Ausfluß seiner wesentlichen Kraft, welche die eine, das Allgemeine producirende Kraft ist. Insofern der Mensch arbeitet stellt er, an welchem Object immer er sich producirend bethätigen mag, die unendliche Arbeitskraft der Gattung in ihrer Teilbarkeit dar. Denn die Arbeit ist wie die Wissenschaft socialer Natur, ihr Product producirt ideal und materiell die Harmonie der Gesellschaft. Wird also ein einzelnes Moment der Arbeit isolirt gesetzt oder herabgewürdigt, so wird die absolute Einheit der Arbeit überhaupt aufgelöst, ihre Göttlichkeit profanirt und der gesellschaftliche Proceß vernichtet. Ist das Arbeiten an sich als eine Offenbarung der göttlichen Schöpferkraft im Menschen heilig, so heiligt es auch die specifische Form der Arbeit, und so hat Göthe wieder mit erstaunlichem Tiefsinn den Lastträger Christoph als den heiligen Christoph dem Gesellschaftsbunde unterschiedslos und mit gleicher Berechtigung einverleibt.
Es war aber nur möglich, das Princip der Gleichheit durchzuführen, wenn zwei Prämissen festgehalten wurden. Diese sind die Freiheit der Arbeit und die Beteilung Aller an der Arbeit. Unfrei ist die Arbeit, wenn sie nicht die That des eigenen Willens und der eigenen Lust ist, und wenn ihr Product dem Arbeiter kein Recht auf das Eigentum gibt. In solchem Falle ist sie nur eine äußerliche Verrichtung, ein notgedrungener Sklavendienst, worin der Mensch nicht mit seinem ganzen Wesen erscheint, worin er nicht selbst ist. Sie ist unfrei und unmenschlich, weil sie dann nicht die Einheit der originalen Selbstbestimmung und des dargebotenen Lebensstoffes, nicht die Harmonie des Idealischen und Materiellen, des Poetischen und Prosaischen in der Menschennatur ist, was begriffsgemäß jeder Beruf und jede Arbeit sein muß, wenn sich der ganze Mensch darin produciren soll. Aus diesem Gesichtspunkte heraus hat aber der Dichter jedem Mitgliede der Gesellschaft seinen freien und wesengemäßen Beruf zuerteilt; Wilhelm, Lenardo, Lothario, Friedrich, Philinen, und dem Abbé ebensowol als dem Lastträger Christoph, der seiner herkulischen Individualität im Lasttragen vollkommen genügt, und weil er in seinem Elemente ist und keine Knechtsdienste verrichtet, dahinter der Frohnvoigt seine Peitsche dürfte knallen lassen, in naivster Heiterkeit in die Berge hinausschreitet und hinaussingt. Nun sind aber auch alle Gesellschaftsgenossen Arbeiter, ein jeder nach seiner Weise, seiner Natur und seinem freien Geschick; so daß Niemand den andern beneiden oder eine Arbeit der anderen bevorzugt halten mag, da sie eines jeden freie Wahl und selbstbewußte That ist. Es wird also in Lothario's Gesellschaftsbunde nicht Menschen geben welche arbeiten, und Menschen welche nicht arbeiten, nicht kapitalistische Müßiggänger, die für sich arbeiten lassen und durch den Arbeitszins ihren Reichtum vermehren; es wird nicht Menschen geben, welche auf dem warmen Polster schlafen, das der frierende Weber für sie verfertigt hat, welche den Wein schlürfen, den der dürstende Kelterer für sie kelterte. Es werden Alle für sich und für Alle arbeiten. In diesem Bewußtsein der Allgemeinheit, der Freiheit und der Gleichgeltung der Arbeit, mögen die rüstigen Wanderchöre frohgemutet aufbrechen und das Lied ertönen lassen:
Bleibe nicht am Boben heften,
Frisch gewagt und frisch hinaus:
Kopf und Arm mit heitern Kräften
Ueberall sind sie zu Haus;
Wo wir uns der Sonne freuen.
Sind wir jede Sorge los.
Daß wir uns in ihr zerstreuen
Darum ist die Welt so groß.
Es ist dies das Bewußtsein von der Weltbefreiung und Welterlösung überhaupt durch die Arbeit. Denn darf man sie mit den Socialisten heilig nennen, so sei es weniger darum, weil sie ein göttlich mitgebornes Recht des Menschen ist, als weil sie ihn erlöst. Dies haben schon die Griechen, die Alles vorahnenden, in der Mythe vom Herkules dargestellt, Göthe aber zwiefach im Faust und im Wilhelm Meister. Es erlöst die Arbeit nicht das Individuum allein von dem tragischen Schicksal, sondern auch die Welt überhaupt – und wie es schon einmal die Arbeit eines armen Buchdruckers, Guttenberg's, und eines armen Mönchs, Luther's, war, welche die Menschheit regenerirt hat, so wird auch sie, so wird es die arbeitende Klasse wiederum sein, welche auf ihrem Ambos die Blitze der Idee schmiedet, die Welt in allen ihren Verhältnissen zu durchzucken und neu zu gestalten.
Dort, muß man sagen, liegen die tiefsten Grundlagen der götheschen Idealgesellschaft, in dieser von ihm kühn und groß entworfnen socialen Stellung der Arbeit, ohne welche der ganze Gemeindestaat, welchen der Dichter aufbaut und dem ohnehin schon unleugbare Mängel anhaften, nur ein mehr als utopisches Luftgebäude sein müßte.
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Nachdem der Dichter das Princip der Arbeit festgestellt und darnach die einzelnen Wandergenossen mit der positivsten bürgerlichen Tüchtigkeit ausgerüstet hat, faßt er die Motive der Kolonisation noch einmal zusammen. Hier heißt es denn: »Gedenke zu wandern!« und vor Allem: »Wo ich nütze ist mein Vaterland«, wie es der Grundsatz des Lebens sein soll: Trachte jeder überall sich und andern zu nützen! Lenardo sagt: »Man hat gesagt und wiederholt: wo mir's wolgeht ist mein Vaterland!« Doch wäre dieser tröstliche Spruch noch besser ausgedrückt, wenn es hieße: »wo ich nütze ist mein Vaterland.« Zu Hause kann einer unnütz sein, ohne daß es eben sogleich bemerkt wird; außen in der Welt ist der Unnütze gar bald offenbar. Wenn ich nun sage: »trachte jeder überall sich und andern zu nützen«, so ist dies nicht etwa Lehre noch Rath, sondern der Ausspruch des Lebens.« Was bleibt dem Menschen übrig, meint Göthe, als ein Kosmopolit zu werden, als das verkümmerte Recht am Boden, an der Scholle, woran das immer ehrwürdige Gefühl des Patriotismus haftet, auszutauschen gegen das unnehmbare Recht an der allgemeinen Erde, da doch die alte Welt bereits in Besitz genommen ist?
Anerkannt und immer wieder ausgesprochen ist also dies: daß die Verhältnisse der alten Welt durch das starre Festhalten an der Erblichkeit des Besitzes und dessen historische Fixirung unerträglich geworden sind, und daß unter solchen Formen und Gesetzen der Civilisation das Individuum weder zu seinem natürlichen Rechte kommen, noch der Menschheit überhaupt wahrhaft nützen könne.
Es muß daher eine Reform der Gesellschaftszustände eintreten, und vernunftgemäß müßte deren Verwirklichung an der alten Welt selbst versucht werden. Denn eine Flucht aus ihr und eine in's Jenseits des Meeres verlegte Construction der Gesellschaft ist keine Reform an sich, sondern eine neue Schöpfung auf geschichtslosem Boden, mit welcher an den Nebeln der alten Welt nichts geändert wird. Eine solche Flucht würde nur vorerst die That der Selbstsucht sein. Nun war es für den Dichter unvermeidlich, einen Reformversuch an den europäischen Gesellschaftsverhältnissen selbst darzustellen. Es mußten auch für die alte Welt Mittel gesucht werden, den Besitz wieder flüßig zu machen, die Tyrannei der Tradition aufzuheben und die selbstsüchtige Isolirung durch eine Association zu beseitigen. Diese schwierigste Aufgabe hat der Dichter Odoardo übertragen, welcher als ein ausdauernder und die Gefahren mutig bekämpfender Patriot, uneigennützig und weit edler erscheint, denn alle europamüden Wanderer, während der Amtmann, auf dessen Schloße die Zusammenkünfte des Bundes statt fanden, mit einem köstlichen Humor als der heimlich lachende Egoist dargestellt ist, welcher eine so kostbare Gelegenheit trefflichst ausbeutet, rückbleibende Handwerker zu einer Meubelfabrik zu associiren.
Odoardo, der höchste Verwaltungsbeamte seiner Provinz, dem es um die Reform selbst zu thun ist, klagt: »Wird der einzelne Besitz von der ganzen Gesellschaft für heilig geachtet, so ist er es dem Besitzer noch mehr. Gewohnheit, jugendliche Eindrücke, Achtung für Vorfahren, Abneigung gegen den Nachbar und hundertlei Dinge sind es, die den Besitzer starr und gegen jede Veränderung widerwillig machen. Je älter dergleichen Zustände sind, desto schwieriger wird es das Allgemeine durchzuführen, das, indem es dem Einzelnen etwas nähme, dem Ganzen und durch Rück- und Mitwirkung auch jenem wieder unerwartet zu Gute käme.« Das gewaltigste Hinderniß der Reform, meint also Odoardo, ist die Schwierigkeit, die erstarrten Besitzer erst von der Heilsamkeit der Reform selbst zu überzeugen; würden sie erst der Vernunft des socialen Gedankens zugänglich geworden sein, dann würden sie aus eigenem Interesse ihre historischen Rechte abgeben, um, sie aus dem Allgemeinen ersprießlicher zurück zu empfangen. Er appellirt daher an die Intelligenz der jüngeren Generation. »Das Jahrhundert, sagt er, muß uns zu Hülfe kommen, die Zeit an die Stelle der Vernunft treten, und in einem erweiterten Herzen der höhere Vortheil den niederen verdrängen.« Das wären denn freilich nur pia vota, Vertröstungen auf ein himmlisches Jenseits der Zeit, auf ein neues Geschlecht, welches an sich schon das wahrhaft sociale sei, womit nichts gewonnen und nichts verändert sein würde, wenn nicht Odoardo schon gegenwärtige Mittel der Reform darzubieten hätte. Nun hat er sich aber selbst für diesen Zweck mit zwei jüngeren Provinzialbeamten associirt, seinen Fürsten gewonnen, und ist im Begriffe eine einheimische Kolonisation durch die Staatsregierung ins Werk zu richten. Noch uncultivirte Districte, deren die alte Welt genug aufweist und für deren Cultur Odoardo das allererste Recht billig in Anspruch nehmen mag, sollen angebaut werden. Risse und Anschläge sind gefertigt, Vermessungen geschehen, Straßen bezeichnet, .Localitäten für Dörfer angegeben. Auf diesem Boden wird Odoardo eine große Handwerkerassociation einrichten, zu deren Teilnahme er Gesellen herüberzieht, indem er ihr Handwerk unter dem Namen »strenge« Kunst zu einer solchen erklärt. Diese Kolonisation, deren weitere materielle Grundlagen in Beziehung auf die Beanteilung an dem Boden und dem Ertrage der Arbeit nicht angegeben sind, soll sich denn als ein viel versprechender Anfang der Association überhaupt herausstellen und als ein Keim einer dereinstigen allgemeineren Reform der alten Welt betrachtet werden. Wie sie ist, wird sie aber immer nur als eine vereinzelte Gesellschaftsinsel inmitten des ungeheueren Sandmeers der alten Civilisation erscheinen.
Der Wanderbund scheint von diesem Messias der heimischen Association nichts zu erwarten und den Propheten Odoardo im Vaterlande nicht gelten zu lassen. Der Dichter selbst läßt die alte Welt auf sich beruhen, er ist eben der Dichter, nicht der Reformer. Er steuert denn mit schwellenden Segeln und flatternden Wimpeln geradezu auf das Utopien los, gleich viel wo es gelegen sei, wenn er nur seine Idealgesellschaft construiren darf; und mehr wird man von dem Poeten nicht verlangen wollen, ohne Lächerliches zu verlangen und Unmögliches.
Der Lothariobund entschließt sich denn lieber aus der Civilisation zu fliehen, als sich an der steinernen Kasernenmauer der europäischen Gesellschaft den Kopf zu zerschellen, und wäre nun Lenardo gar ein Fourierist, wie würde er eiligst nach Adelaide oder sonst wo hinüberschiffen müssen, um sich nicht im Jahre 1849, also zwanzig Jahre nach jener zum ersten Male ausgesprochenen Messiashoffnung Odoardo's, dem Gelächter der alten Welt Preis zu geben. Denn am 14. April 1849 bestieg Herr Victor Considerant die Rednerbühne der französischen Nationalversammlung unter allgemeinem Geplauder und bei leeren Bänken und schloß seine Beleuchtung der Grundlagen der Gesellschaft mit folgendem Vorschlage: »Leihen Sie mir 12 bis 1600 Hektaren Landes, um ein Phalansterium anzulegen und Ihnen meine Theorie zu verwirklichen. Sie (der Staat) tragen die Kosten, und wenn diese Probe nicht gelingt, so können Sie mich mein Leben lang in das Narrenhaus zu Charenton einschließen. (Olympisches Gelächter). Diese Kosten werden nicht so hoch kommen, als das Ministerium gegen den Socialismus vergeudet. Folgen Sie meinem Rate nicht, so prophezeihe ich Ihnen, daß Sie 1850 nicht erreichen, ohne die alte Gesellschaft in einem Meere von Feuer und Blut untergehen zu sehen. Was uns (Fourieristen) betrifft, so werden wir fortfahren, durch die Feder, das Wort und die That zu wirken. Ich trage auf Errichtung eines Fortschritt- oder Experience-Ministerium's an, das in zwei Abteilungen zerfiele, von denen sich die eine mit Prüfung aller industriellen, die andere mit Lösung der socialen Fragen und Propositionen zu beschäftigen habe. Der Conseilpräsident ist mit Ausführung dieses Entwurfes zu beauftragen.« (Homerisches Gelächter).
Lenardo ist aber glücklicher Weise kein Fourierist, er meint auch nicht, daß man wie Baboeuf sich verschwören, oder wie Blanqui, Barbés und Raspail die rote Fahne der socialistischen Revolution erheben müsse, und eine Steuer von so und so viel Milliarden auf die Reichen zu legen habe. Er ist ein ganz unschädlicher, freiwilliger Emigrant, der nimmer über die alte Gesellschaft einherfallen wird. Er läßt die alte Welt gelten, aber er will mit ihren Beengnissen nichts mehr zu thun haben, er will von vorn anfangen, »denn aller Anfang ist leicht.« So wird er mit seinen Freunden gleich dem Römer Sertorius die seligen Inseln aufsuchen, sich dort ein Reich zu gründen, und wir wollen ihm nur wünschen, daß er sie nicht schon vom Ardinghello besetzt findet. Denn dieser taumelnde Bacchant des Naturrechts, ebenso sehr ein Grieche als ein Indianer, welcher als der erste und frivolste aller deutschen Utopisten gesagt hat: »Vermag das Individuum nicht, sich das Bedürfniß zu verschaffen, so darf es dazu die äußersten Mittel brauchen; denn ohne dasselbe erhält es weder sich noch sein Geschlecht.« Dieser würde die anlandenden bürgerlichen Wanderfamilien mit Sack und Pack sicher davon jagen, wenn sie nicht mit ihm zu hellenisirten Adamiten werden und Ehe, Familie und Eigentum, Laren und Penaten auf dem Altare der Cybele-Natur opfern wollten. Heinse's Ardinghello, die erste deutsche Utopie, habe Ich bisher in die Behandlung nicht hineinziehn mögen, um den einfachen und klaren Fortgang der Entwickelung von Göthe's Wanderjahren durch zu fremde und heterogene Elemente nicht zu trüben. Aber es sei hier auf jenes in vielem einzige und großartige und nur zu sehr verschrieene Buch verwiesen. Das Ziel ist für Ardinghello ein platonisch-christlicher Naturstaat mit radikalem Kommunismus und einem Pantheon der Götter, wie der Leidenschaften. Sein Genußstaat ist trotz der widersinnigen Gemeinschaftlichkeit des Besitzes und der Weiber, der Staat des absoluten Zufalls und des Faustrechts, des Krieges des stärkeren Bedürfnisses gegen das schwächere. Heinse erhob sich nicht zum höchsten Begriffe der Freiheit, weil sich die Emancipation des Subjects bei ihm nur als die entfesselte Leidenschaft ohne die sittliche und concrete Grundlage der humanen Individualität darstellt. Er liegt in directem Gegensatze zu der Beschränkungstheorie Göthe's. So plastisch seine Figuren gemeißelt sind, so sehr verschwimmt seine Welt doch ins Wüste. Auch seine Religion ist nur elementarisch, Luft, Erde, Meer und Feuer haben ihre Tempel und ihre Priester – nur überrascht hier die Verbindung der Religionen und der Culturen, wie sie Göthe aussprach. Aus dem Moses, dem Hiob, dem Hohen Liede und den Griechen, dem Homer, Platon und den Tragikern setzt er Gesänge zusammen. –
Auf welchen Grundlagen und in welchen Formen werden nun die Wanderer ihre Gesellschaft construiren, dies wäre die weitere Frage. Das Fundamentalprincip der absoluten Gleichheit und der Verbrüderung zur allgemeinen Arbeit haben wir vordem schon erkannt. Materiell liegt der Association zu Grunde ein weit verbreiteter Güterbesitz der Kolonisationsunternehmer, sowol jenseits als diesseits des Meeres. Denn Grund und Boden ist's doch, worauf der Mensch erst seine Stätte haben mag. »Und doch darf man sagen«, ruft Lenardo aus, »wenn das, was der Mensch besitzt von großem Werth ist, so muß man demjenigen, was er thut und leistet noch einen größeren zuschreiben. Wir mögen daher bei völligem Ueberschauen den Grundbesitz als einen kleineren Theil der uns verliehenen Güter betrachten. Die meisten und höchsten derselben bestehen aber eigentlich im Beweglichen, und in demjenigen was durchs bewegte Leben gewonnen wird.«
Ich meine nicht, daß unter diesem Beweglichen, auf welches Lenardo die Auswanderer verweist, das Geld zu verstehen sei; vielmehr appellirt hier Göthe an das Recht des Menschen selbst, sich zu bewegen, das heißt seine Kräfte frei zu entfalten, zu arbeiten, zu schaffen und zu erwerben, kurz durch Fähigkeit und durch Thätigkeit zu gelten. Dies spricht Lenardo ferner am Ende seiner meisterhaften Wanderrede deutlich genug aus, wo er sagt, der Mensch solle sich ohne dauernden äußern Bezug denken, das Folgerechte nicht an den Umständen, sondern in sich selbst, hegen und pflegen. Das wahre Kapital ist die Kraft zu arbeiten. Dies Kapital nehmen alle Emigranten mit, von denen jeder in einem Fache vollkommen ist. Wenn diese Bedingung erfüllt ist, ist ein Weiteres endlich, die Arbeitskraft in wirkliche Existenz zu setzen, ihr Raum, Mittel und Stoff zu geben, daß sie sich frei bewege, daß sie auch zum Genusse komme. Der Einzelne würde zur ungehemmten Verwirklichung und Verwertung seines Arbeitskapitales nicht gedeihen, weil mit ihm sofort wieder der Egoismus concurrirte, und seine Wissenschaft ein Atom bleiben müßte. Es muß deshalb eine Wechselseitigkeit Statt finden, das individuelle Können und Wissen zum socialen Vermögen und zur socialen Wissenschaft erhoben werden – es ist eine Association fraternelle zu errichten. Diese zu ermöglichen und möglichst auszubreiten ist des Bundes allererste Aufgabe, weshalb er sich zu einem Intelligenz-Centralorgan proklamirt, an welches der ratbedürftige Einzelne zu verweisen sei. Lenardo sagt: »Doch kann zu einer vollkommenen Klarheit der Einzelne nicht gelangen. Unsere Gesellschaft aber ist darauf gegründet, daß jeder in seinem Maße, nach seinen Zwecken aufgeklärt werde. Hat irgend einer ein Land im Sinne, wohin er seine Wünsche richtet, so suchen wir ihm das Einzelne deutlich zu machen, was im Ganzen seiner Einbildungskraft vorschwebte; uns wechselseitig einen Ueberblick der bewohnten und bewohnbaren Welt zu geben, ist die angenehmste, höchst belohnende Unterhaltung.«
Angenehmste und höchst belohnende Unterhaltung, sagt sehr eigentümlich Göthe, der Dichter, nicht der Organisator. Er referirt nicht im Stile Proudhon's: das heißt, es ist ein großes Centralbureau der Arbeitsbeschaffung errichtet, welches für jedes Mitglied Adressen, Tarife, statistische Nachweise beschafft, wie man mit Karl Grün ganz wol interpretiren mag. Der Dichter konnte immerhin in das Tagebuch Lenardo's als ein Letztes, Exoterisches der Poesie eine Abschilderung von Susanna's Spinner- und Webegeschäften niederlegen, doch wird man nicht verlangen, daß er das ganze Gebäude seiner großen Association vor unseren Augen aufführe bis zur Kanzlei- und Registraturstube, wo die Quoten und Dividenden berechnet werden. Es werden daher auch alle ins Einzelne gehende sociale Fragen, wie die Lohnfrage, das System der Creditirung, der Solidarität, das Verhältniß der Arbeit zum Eigentum &c. hier gar nicht berührt. Der Dichter kann nur in sibyllinischer Weise die Idee und das weiteste Princip einfach aussprechen, wobei er immer schon Gefahr läuft abstract und vollends undichterisch zu werden. Daß Karl Grün hierin die dichterische Aufgabe Göthe's, des Idealisten und Utopisten, rettet, ist ein Beweis für sein geistvolles Verständniß des Poeten.
Wären so die Grundlagen der Gesellschaft in allgemeinsten Zügen von dem Dichter entworfen, so fragt es sich endlich, welcher Art die Form der Gesellschaft selber sein solle. Und hier ist Göthe durch die Idee seiner Dichtung zur Politeia, zum Staate und dem Staatlichen hingezwungen worden, mochte er sich dagegen auch noch so sträuben. Denn er mußte einmal seiner Idealgesellschaft, wenn er sie sich selbst in den staatlosesten Regionen, auf Pantagruel's Insel der Papimanen oder sonst wo, dachte, eine auch formelle als durch den Gesammtwillen organisch gesetzte und selbstbewußt gesetzliche Einheit geben, und in solcher Form den Staat selber organisiren. Göthe ist aber so sehr ein geschworener Feind alles Politischen, daß er für das, was wir Staat nennen, nicht einmal einen Sinn des Verständnisses zu besitzen scheint. Er verhält sich zu ihm wahrhaft chinesisch, sieht ihn an als ein traditionelles Institut, in welchem kein anderer Geist sei, als bloß die geistlose Zucht der Ordnung und des Gehorsams, und das er schlechtweg ohne alle Kritik annimmt, ohne sich wie Platon darum zu kümmern, ob Gesetz und Verfassung aristokratisch und oligarchisch, demokratisch oder tyrannisch, gut oder schlecht sei. Denn was hat der Mensch an sich mit dem Staate zu schaffen? »Staat und Kirche, sagt Göthe in den Wanderjahren (III. C. 14.) mögen allenfalls Ursache finden, sich für herrschend zu erklären: denn die haben es mit der widerspenstigen Masse zu thun, und wenn nur Ordnung gehalten wird, so ist es ganz einerlei durch welche Mittel; aber in den Wissenschaften ist die absoluteste Freiheit nöthig: denn da wirkt man nicht für heut oder morgen, sondern für eine undenklich vorschreitende Zeitreihe.« Dies ist die merkwürdigste politische Confession Göthe's, wonach man leicht erkennen wird, daß ihm der Staat als das absolut Endliche und Sinnlose, ja fast als eine Barbarei erschien, worin das Urbild des reinen und freien Menschen ihm verwilderte, worin ihm die Menschheit zu einer widerspenstigen Masse, zu einer unvernünftigen Menge herabsank; und jede massenhafte Bewegung war ihm in den Tod zuwider, wie die Revolution, vor deren Strömungen er sich auf den Parnass seiner olympischen Beschaulichkeit rettete, die Natur und die Reichsannalen von China zu studiren. Denn »Einem thätigen, productiven Geiste, einem wahrhaft vaterländisch gesinnten und einheimischen Literatur befördernden Manne, wird man es zu Gute halten, wenn ihn der Umsturz alles Vorhandenen schreckt, ohne daß die mindeste Ahnung zu ihm spräche, was denn besseres, ja nur anderes daraus erfolgen sollte«, sagt Göthe in seinen Tag- und Jahresheften vom Jahre 1793, womit wir denn auch seine kleinlichen Aufgeregten und seinen Bürgergeneral zu entschuldigen hätten.
Es ist uns heute keineswegs mehr wunderbar, daß unsre großen Männer, Herder, Wieland, Jean Paul, Göthe gegen das Nationelle und Staatliche so indifferent gewesen, daß ihnen der politische Mensch anwiderte, daß sie sich vor ihm in einen wissenschaftlichen Kosmopolitismus zu retten suchten. Das ist aus der Staatlosigkeit Deutschlands und seiner nationalen Ohnmacht ebenso leicht erklärlich, als der Mangel eines deutschen historischen Dramas, und es thut wahrlich nicht Not, gleich Gervinus in apostrophischen Parabasen darüber sich zu alteriren, wie er namentlich bei Gelegenheit Herder's thut, der sich in seinen Humanitätsbriefen und in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit gegen den Politismus am stärksten und am meisten erbittert ausspricht. Den Menschen, der eines Herrn bedarf, nennt Herder dort geradezu ein Thier, »denn sobald er Mensch wird, hat er keinen eigentlichen Herrn nötig«. Herder, Ideen z. Phil. d. Gesch. d. M. Teil II. Bd. IX. K. IV Es ist ihm, wie Göthe, nur um die humane Individualität des Menschen zu thun, und »so ist auch dem Staate keine andere, als die Naturordnung die beste; daß nämlich auch in ihm jeder das sei, wozu ihn die Natur bestellte« – Worte, welche sehr treffend sind und ebensowol mit Göthe als mit Heinse übereinstimmen.
Vernunft, Humanität und Religion, welche Herder noch scheidet, sind ihm dichterisch allein die Grazien des menschlichen Lebens. Man lese im Kap. V. des achten Buches im Teil II. seiner Ideen: »Noch weniger ist's begreiflich, wie der Mensch also für den Staat gemacht sein soll, daß aus dessen Einrichtungen nothwendig seine erste wahre Glückseligkeit keime: denn wie viele Völker auf der Erde wissen von keinem Staate, die dennoch glücklicher sind, als mancher gekreuzigte Staatswohlthäter. Ich will mich auf keinen Theil des Nutzens oder des Schadens einlassen, den diese künstlichen Anstalten der Gesellschaft mit sich führen. In großen Staaten müssen Hunderte hungern, damit Einer prasse und schwelge: Zehntausend werden gedrückt und in den Tod gejagt, damit Ein gekrönter Thor oder Weiser seine Phantasie ausführe. Ja endlich, da wie alle Staatslehrer sagen, jeder woleingerichtete Staat eine Maschine sein muß, die nur der Gedanke Eines regiert – welche größere Glückseligkeit könnte es gewähren, in dieser Maschine als ein gedankenloses Glied mit zu dienen? oder vielleicht gar wider besser Wissen und Gefühl, lebenslang in ihr auf ein Rad Irions geflochten zu sein, das dem Traurigverdammten keinen Trost läßt, als etwa die letzte Thätigkeit seiner selbstbestimmten freien Seele, wie ein geliebtes Kind zu ersticken, und in der Unempfindlichkeit einer Maschine sein Glück zu finden? O! wenn wir Menschen sind, so laßt uns der Vorsehung danken, daß sie das allgemeine Ziel der Menschheit nicht dahin setzte!«
Wir wollen Menschen sein und ihr bestens danken, denn der Staat ist allerdings die unvollkommenste Form, die der Menschengeist sich geben mag, wenn das Schicksal uns nur einen andern Organismus, als ihn, suppeditiren kann. So großherzig, edel und freimütig mußte aber Herder, der erste wahre Volksvertreter unserer Nation, zu seiner Zeit denken, wo, um mich eines Wielandischen Ausdrucks zu bedienen, der metamachiavellische Maschinenstaat des nüchternen Verstandeskönigs, Friedrichs des Zweiten, als politisches Ideal galt und der Mensch selber nur ein numerirtes Bruchteil dieser Maschine war. An Herder würde auch die Gegenwart Deutschlands nimmer die Anmutung stellen dürfen, den Politismus mit minderer Verachtung zu beurteilen.
Aber der edle Humanist läßt sich durch seinen Antagonismus gegen den Kunststaat, welchem er, wie Göthe, den Satz entgegenstellt: der Mensch hat das Glück an sich selbst, gar zu einer Apologie des Naturwilden fortreißen, was allerdings das Ultimatum des Menschenglücks für alle diejenigen Utopisten wäre, welche die Glückseligkeit auf das physische Wol der bloßen Einzelexistenz reduciren. Die vielberühmte Abhandlung Rousseau's »Von dem Ursprunge der Ungleichheit unter den Menschen« Rousseau, Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes. Tom. II. stellt schon dies Ideal des Naturmenschen auf, worin der herderische mit einbegriffen ist. Rousseau's Ideen sind Kern und Mittelpunkt der gesammten deutschen Philanthropie und eudämonistischen Gesellschaftslehre des achtzehnten Jahrhunderts.
Ist nun Herder dem Staate gegenüber schroff und erbittert, so verhält sich Göthe gegen ihn durchaus gleichgiltig, er hält ihn nicht einmal der Untersuchung wert. So läßt er denn Lenardo den Wandernden die Pflicht auferlegen: wie jeden Gottesdienst in Ehren zu halten, da die Religionen alle mehr oder weniger im Credo verfaßt seien, so auch »ferner alle Regierungsformen gleichfalls gelten zu lassen und da sie sämmtlich eine zweckmäßige Thätigkeit fordern und befördern, innerhalb einer jeden uns, auf wie lange es sei, nach ihrem Willen und Wunsch zu bemühen.« Göthe's politischer Indifferentismus verleitet ihn hier zu der wunderlichsten Illusion und dem abenteuerlichsten Unterfangen, seine sociale Demokratie unter beliebigen staatlichen Formen, mögen sie auch absolutistisch und jesuitisch sein, realisiren zu wollen – eine offenbare Unmöglichkeit, ja Widersinnigkeit; denn seine demokratischen Wanderer würde der Kaiser von Rußland, sollten sie sich in seinen Staaten ansiedeln, ohne Zweifel in die Bergwerke von Nertschinschk transportiren lassen, und selbst in Deutschland fänden sie kaum ein Unterkommen. Der Dichter vergaß hier, daß aus den sittlichen wie den materiellen Elementen der Gesellschaft erst der Staatsorganismus sich gestaltet, und daß der Staat nimmer auf einem entgegengesetzten Principe ruhen kann, als das der Gesellschaft ist, welche er als die oberste Einheit zusammenschließt.
Göthe stimmt in dieser Auffassung des Verhältnisses von Gesellschaft und Staat zu einander ganz mit Fourier überein, welcher den Politismus gleichfalls als ein Aeußerliches, Indifferentes betrachtet, unbeschadet dessen der Socialismus könne verwirklicht werden. Dies ist übrigens die fast allgemeine abstracte und deshalb mangelhafte Seite des Socialismus. Indem er von der Forderung des freien und vollkommen harmonischen Subjects ausgeht, für welches das höchste und vollkommene Erdenglück soll realisirt werden, wird ihm die Individualität selber theoretisch und abstract. Er kommt nicht über den Begriff der Persönlichkeit und des Ich's als des Einzelnen hinaus; denn die allgemeine Formel für das Individuum, die Gesellschaft, geht am Ende immer wieder nur auf die Forderung des persönlichen Glückes, des Genußes und Woles des Einzelnen zurück. Aus diesen Gründen verschwindet den Socialisten auch der Begriff der Volksindividualität. Daher erscheint in Anbetracht des befriedigten Ich's die concrete Form des allgemeinen Geistes und Willens zufällig, und die Freiheit wird nicht über diese punctuelle Abstraction des Ich's zur Totalität der freien individualisirten Menschheit und zum befriedigten Selbstgefühle in dem Allgemeingefühle erhoben. Göthe löst ebenso wie Fourier das Volkstum auf. Die Nation als der natürliche Organismus des Staates ist für ihn bedeutungslos; er will den Menschen in keiner Bestimmtheit und Besonderung, sondern nur als den idealen, sittlichen Menschen überhaupt anschauen. Um seine Ansichten würdigen zu können, muß man daher von allem abstrahiren, was ihm nur als ein äußerliches und zufälliges Mittel dient, den wahrhaften Anthropos zu vollenden. Im Elemente des absoluten Geistes ist dieser Standpunkt allerdings der höchste; wo es sich aber um eine Organisation, als um eine erscheinende und endliche Form des sittlichen Geistes handelt, ist er viel zu transcendent, als daß er auf die Praxis der Geschichte anwendbar sein könnte. Der Organisator irrt daher, wo der Dichter mit der absoluten Idee die absolute und die ewige Wahrheit ausspricht.
Man wird sich mit Recht wundern, in Göthe's Kolonie bei so viel lobenswerter Toleranz gegen die Religion so viel tadelnswürdige Obedienz gegen die Regierungsform zu finden, während auf der anderen Seite der krasseste Rigorismus der Unduldsamkeit uns entgegentritt. Die Gesellschaft schließt nämlich aus Zärtlichkeit für die christliche Cultur die Juden aus. »In diesem Sinne, den man vielleicht pedantisch nennen mag, aber doch als folgerecht anerkennen muß, dulden wir keinen Juden unter uns; denn wie sollten wir ihm den Antheil an der höchsten Cultur vergönnen, deren Ursprung und Herkommen er verläugnet?« (III. c. 11.) Das ist nicht nur pedantisch, muß man Göthe mit tiefem Bedauern hier zurufen, sondern auch sehr engherzig und für einen Humanisten barbarisch, es ist nicht nur nicht folgerecht, sondern geradezu inconsequent. Denn wo bliebe bei solcher Maxime jenes Credo, die heilige Dreiheit aller Religionen, zu der sich doch der Bund bekannt hat, wo endlich die vierte Religion, die auf der Ehrfurcht vor dem Menschen gegründete Religion der absoluten Menschlichkeit? Man sieht, von den Auswanderern müssen Einige zu Göthe's Großvaterzeit im Gemeinderat von Frankfurt gesessen haben, daß sie die Erinnerung an die Judengasse noch nicht los werden. Den Nathan aber hat sicher keiner gelesen. Börne würde Recht haben, wenn er von ihnen sagte, so sie solche unmenschliche Grundsätze mit hinübernehmen, würden sich die pontinischen Sümpfe von selbst einfinden, welche das schöne Frühlingsland ihrer Freiheit verpesten. Was soll denn am Ende aus dem schönmenschlichen Weltbunde werden, wenn es noch immer Parias gibt? Sollen die Elenden warten, bis die solarische Seele Makarie ihnen einen Planeten erschafft, darauf sie auswandern und ein himmlisches Zion bauen mögen? Hier also ist der erste faule Fleck in dem Staate Utopien, ein fataler Riß in der humanistischen Cité, wodurch die Fratzen des Mittelalters wieder hereinschlüpfen. Göthe ist da kleiner gewesen, als die Zeit, er ist von der Sonnenhöhe des Humanismus wieder herabgestürzt.
Auch ist es noch ein Anderes, was uns Bedenken erregt, ob das Wol der Gesellschaft in die besten Hände gelegt sei, wenn nämlich der Lenardobund zu dem Strafgesetzbuche sich bekennt, welches der äsculapische Modelleur für Amerika in petto hat. Jener Mann nämlich, der das anatomische Studium mit dem Secirmesser für einen kannibalischen Barbarismus erklärte und aus ästhetischem Respecte vor der Heiligkeit der Natur in Wachs- und Gypspräparaten sie nachzubilden suchte, hat Wilhelm, seinem Adepten, plötzlich eine Aussicht in die neue Welt eröffnet, welche ziemlich karaibisch ist. »Drüben über dem Meere, wo gewisse menschenwürdige Gesinnungen sich immerfort steigern, muß man endlich bei Abschaffung der Todesstrafe weitläufige Castelle, ummauerte Bezirke bauen, um den ruhigen Bürger gegen Verbrechen zu schützen und das Verbrechen nicht straflos walten und wirken zu lassen. Dort, mein Freund, in diesen traurigen Bezirken, lassen Sie uns dem Aesculap eine Capelle vorbehalten, dort so abgesondert wie die Strafe selbst werde unser Wissen immerfort an solchen Gegenständen erfrischt, deren Zerstückelung unser menschliches Gefühl nicht verletzte, bei deren Anblick uns nicht, wie es Ihnen bei jenem schönen unschuldigen Arm erging, das Messer in der Hand stocke und alle Wißbegierde vor dem Gefühl der Menschlichkeit ausgelöscht werde.« (III. K. III.) Heißt das etwas anderes, als die Menschlichkeit auf Kosten der Menschlichkeit bewahren wollen, sie durch eine neue unerhörte Barbarei zum Eigentume und zum alleinigen Rechte einer priviligirten Kaste machen, während die Chandalas draußen im Zwinger wie Thiere im Wildgehege des Aesculap gehalten werden, bis wenn Einer verendet, die wundärztlichen Geier über seinen Kadaver herstürzen, dem Gotte zu Ehren daran herumzureißen? Dieser mit einer philanthropischen Larve maskirte Meister Modelleur hat trotz seines Cultus der Natur nicht gelernt, daß die Natur nicht verbrecherische Leiber und unschuldige Leiber schafft, sondern daß ihr der Arm eines Galeerensträflings Arm eines heiligen Menschen ist gleich wie der einer keuschen Jungfrau. Man muß wahrhaft erstaunen, daß dies die gewissen menschenwürdigen Gesinnungen sind, die sich über dem Meere immer steigern, und die man doch unter der spanischen Inquisition und in den Zellen Englands noch menschenwürdiger gesteigert hatte. Der roheste Materialismus, das Princip der industriellen Ausbeutung selbst des Verbrechens, erscheint hier in seiner ganzen britisch-nordamerikanischen Nacktheit.
Obwol die Abschaffung der Todesstrafe, dieser gottlosesten Nichtswürdigkeit des bürgerlichen Gesetzes, für Amerika dekretirt ist, wird nicht minder Verwerfliches, der bürgerliche Freiheitsmord in der furchtbaren Oede einer abgesperrten pensylvanischen Zelle sanctionirt. Der plastische Modelleur ist nur ein Schüler Morellys. Große Geister begegnen sich; es sind des Socialisten Morelly, des Dichters der Basiliade, eigenste Ansichten, die er vorträgt. »An dem wenigst angenehmen und verlassensten Orte (um die Cité) wird ein Gebäude errichtet, mit hohen Mauern umgeben (weitläufige Castelle, ummauerte Bezirke heißt es bei Göthe), in verschiedene kleine Logis abgetheilt, die mit eisernen Gittern verschlossen sind; hier sperrt man diejenigen ein, welche verdient haben, für eine Zeit lang von der Gesellschaft getrennt zu werden.«
»Nahe dabei ist der Begräbnißacker, mit Mauern umgeben, in welchem sich aus sehr starkem Mauerwerke erbaute, einzelne, ziemlich geräumige und stark vergitterte Höhlen befinden, wo diejenigen Bürger auf ewig eingeschlossen und nachher begraben werden, welche den bürgerlichen Tod verdient haben, d.h. auf immer von der Gesellschaft getrennt zu sein.«
Karl Grün, der in seiner Schrift: Die soziale Bewegung in Frankreich und Belgien, Briefe und Studien (S. 280) diese Stelle auszieht, ruft hiebei voll edlem Unwillen: das pensylvanische Zellensystem mitten im Kommunismus! Gnade, Gnade für die arme Menschheit! Ob ihm bei der Lectüre der Wanderjahre jene Stelle nicht einfiel?
Werden nun auch die Wanderer zu jenen verabscheuungswürdigen Grundsätzen über die Bestrafung des Verbrechens sich bekennen, werden sie mitten in der demokratischen Gesellschaft ummauerte Verließe anlegen, so ist wol vorauszusetzen, daß die Fabel vom babilonischen Turm sich an ihnen in Bälde erfüllen, daß sie in feindlichen Sprachen werden zu reden und sich zu zerstreuen anfangen. Und es scheint wirklich, als wäre ihr Strafcodex mit einer gewißen feinen, politischen Intrigue angelegt, daß es ein Wunder sein sollte, wenn nicht auf seiner Stufenleiter die Hüter des Gesetzes eines Tages zur höchsten Zinne des Despotismus gelangen sollten, wo der Palmzweig der Humanität in ihren Händen zum Großinquisitorstabe sich verwandeln dürfte. »Unsere Strafen sind gelind«, heißt es. »Ermahnung darf sich jeder erlauben der ein gewisses Alter hinter sich hat; mißbilligen und schelten nur der anerkannte Aelteste; bestrafen nur eine zusammenberufene Zahl.«
»Man bemerkt daß strenge Gesetze sich gar bald abstumpfen und nach und nach loser werden, weil die Natur immer ihre Rechte behauptet. Wir haben läßliche Gesetze, um nach und nach strenger werden zu können, unsre Strafen bestehen vorerst in Absonderung von der bürgerlichen Gesellschaft, gelinder, entschiedener, kürzer und länger nach Befund. Wächst nach und nach der Besitz der Staatsbürger, so zwackt man ihnen auch davon ab, weniger oder mehr, wie sie verdienen daß man ihnen von dieser Seite wehe thue.« Der letzte Strafmodus, die Confiscation, scheint wol im Interesse des Socialismus angenommen zu sein, dürfte aber dem Begriffe der Strafe am wenigsten entsprechen, weil damit vorausgesetzt würde, daß die Strafe am todten Besitze, zu dem sich der Mensch doch äußerlich verhalten, und welches doch schon sociales Gemeingut sein soll, nur als materielles Ausgleichungsmittel von der Gesellschaft benutzt werden soll.
Das politische und moralische Princip der Strafe ist indessen vernunftgemäß nur in dem zum Gesetze erhobenen Gesellschaftswillen ausgedrückt, daß jede Störung des socialen Organismus solle beseitigt werden, daß der egoistische Einzelwille, der das Unrecht ist, insofern er sich der Gleichheit entgegensetzt, unschädlich zu machen sei. Deshalb fällt alle juridische Rechtsdefinition, alle poena forensis, wie die Justiz selber fort, und auf dem Boden der gesellschaftlichen Freiheit und Selbstbestimmung wird nur eine Aufsichtsbehörde gestattet, die Polizei. »Ihr Grundsatz wird kräftig ausgesprochen: niemand soll dem anderen unbequem sein; wer sich unbequem erweist wird beseitigt, bis er begreift wie man sich anstellt, um geduldet zu werden. Ist etwas Lebloses, Unvernünftiges in dem Falle, so wird dies gleichmäßig bei Seite gebracht.«
Aus dieser Stelle wird es am deutlichsten, daß die Strafe einzig nur als gesellschaftliches Sicherungsmittel betrachtet werden soll, daß aber von einer Schädigung der Seele, von der bürgerlichen Schande, zu welcher die barbarischen Moralgesetze des Staates den strafbaren Menschen noch heute herabwürdigen, keine Rede sein darf.
Das Uebel freilich, welches die Voraussetzung aller Strafe ist, anerkennt Göthe als ein Phänomen der menschlichen Natur überhaupt, und macht sich keine icarischen Illusionen wie Cabet, welcher von seinem Idealstaate behauptet, daß es dort keine Verbrecher mehr gebe. Gleich ihm, Platon und Morus aber sagt Göthe: Advokaten, Richter und Processe existiren nicht mehr! Wenn jedoch ein Staat, welcher auf der Gleichheit, der Brüderlichkeit und Freiheit beruht, also nicht mehr wie der schlechte Staat das Verbrechen und das Böse zum Principe seiner Gesetze selbst erhebt, wenn ein Staat so construirt ist, daß der Quelle des Verbrechens, die schon Platon und Ovid und die Bibel im Mein und Dein gefunden haben, wenigstens ein Damm vorgebaut ist, warum wird er dann noch zu einem Polizeistaat herabgewürdigt, von Neuem zu einer maschinenmäßig organisirten Ueberwachungsanstalt gestempelt? Ist die Staatsgesellschaft durch die sittliche Idee selbst von innen heraus zu einem Staate des Rechts und der Gleichheit geworden, sind alle tumultuarischen Elemente daraus entfernt, welche unter die Bürger Zwietracht und Feindschaft aussäen, und trägt er wahrhafter Weise in sich alle Bedingungen eines dauernden socialen Friedens, so wäre die Einführung der Polizei der absolute Widerspruch. Denn die Polizei ist als eigenes Institut nur da ein notwendiges Moment des Staates, wo die Furcht herrscht, wo das Gesetz in der negativen Form auftritt und mit dem Staatsbürger nicht identisch ist. Göthe fällt hier wieder aus dem Ideal des Staates auf die harten Erztafeln des Gesetzes herab, die Gespenster der Revolution, die Masse und die Massenbewegung schrecken ihn wieder aus seinen humanistischen Träumen auf, und der Utopist wird zum deutschen Fanatiker der Ruhe, welcher auf seinem gesetzlichen Kissen nicht ruhig schlafen mag, wenn er nicht weiß, daß ein uniformirter Polizeimensch als sein Agathodämon alle seine Bewegungen bewacht. Göthe hat hier mitten in dem höchsten Aufschwunge seines philanthropischen Idealismus zur Verwirklichung desselben die Polizei requirirt – ein echt deutschbürgerlicher Zug, welchen Sealsfield, der die Nationalitäten sehr scharf zu belauschen weiß, in dem deutschen Burschenschafter und Republikaner in »Norden und Süden« sehr humoristisch, wahr und getreu abgeschildert hat.
»In jedem Bezirke, sagt Göthe, sind drei Polizeidirectoren, die alle acht Stunden wechseln, schichtweise, wie im Bergwerk, das auch nicht stillstehen darf, und einer unserer Männer wird bei Nachtzeit vorzüglich bei der Hand sein.«
Schichtweise – wie im Bergwerk – bei Nachtzeit – achtstündiger Wechsel ... wie muß die ideale Gesellschaft beschaffen sein, die um zu bestehen so enormen Aufwand von Polizei verbraucht? Auch hier also, in Utopien, wird all' das vorgespiegelte Glück, all' die Freiheit von Advokaten, Richtern und Processen, nicht etwa das Resultat der inneren Organisation und des sittlichen und guten Geistes der Staatsbürger, sondern der Ausfluß sein der rastlos Tag und Nacht durchwachenden Furcht in der Person der Staatspolizisten, als des Argus der Gesellschaft. Es ist also nicht geheuer in Utopien weder in Göthe's noch in dem des Thomas Morus. Denn auch dieser große Märtyrer des Ideals der Menschheit führt in seinem Idealstaate die strengste Polizeiwirtschaft ein. Es darf dort sogar Niemand von seinem Wohnorte sich ohne einen Paß entfernen. Man höre! »Wer ohne um die erforderliche Erlaubniß nachgesucht zu haben, die Grenzen seiner Provinz überschreitet, wird als Verbrecher behandelt. Ohne den Paß vom Fürsten ergriffen, wird er gleich einem Ausreißer zurückgeführt und streng bestraft. Im Wiederholungsfalle verliert er die Freiheit.« Thomas Morus hat nämlich, um die Karikatur seines Kommunismus vollständig zu machen, noch Sklaven, wie Heinse.
Es scheint demnach wol, daß es kein mangelhafter Ding auf Erden geben könne als die Philosophie des Staates, daß selbst die Idealisten immer wieder ihr eigenes Ideal karikiren müssen, und auf diese Weise der einzige normale Idealstaat am Ende der einzelne Mensch selbst sei, etwa Robinson Crusoe.
Da wir einmal von der Polizei gesprochen haben, so liegt die Frage nahe, wie und ob sich Göthe eine Heerverfassung in seinem Staate gedacht habe. Wir können hier seinem Idealismus und der praktischen Vernunft seiner Socialgesellschaft die Ehre geben, daß er stehende Soldaten nicht geschaffen hat, wie Platon, von welchem Schleiermacher mit Recht sagt, er sei der erste Philosoph gewesen, der das stehende Heer verteidigt habe, was man seiner philippischen Zeit zu Gut halten muß. Auch darf man nie vergessen, daß der platonische Staat kein humaner, sondern nur ein specifisch dorisch-hellenischer sei. – Für diejenigen nur, welche eine eiferartige platonische Seele haben, ist Lothario angestellt als origineller Feldjäger und, wir wollen hoffen, nur als Vorkämpfer in der Gymnastik, da er anzugreifen und sich zu verteidigen lehrt. Mag er denn eine Bürgermiliz organisiren, wenn die Pygmäen, oder Arimaspen oder die Kraniche des Megasthenes in das fabelhafte Land einfallen sollten. Die Trommel ist abgeschafft, und das lassen wir gelten, denn Stimme und Blasinstrument ist hinreichend und ist menschlich, jene aber liegt in der Art der Barbaren. Die ehernen Spartaner zogen sogar mit Flöten in die Schlacht. Hätte Göthe diese Stelle heute geschrieben, so würde er ohne Zweifel die Idee vom ewigen Frieden hier hervorgehoben haben; aber die Schlachtendonnerwetter, die an seinem Leben vorübergezogen, hallten ihm noch im Gedächtnisse nach; und darum taucht auch das Kriegerische noch, wenn auch in einem leisen Winke nur, hier auf.
Für alle Mängel, welche Göthe in seinem Idealstaate gelassen hat, will er uns endliche durch die Regierungsform des Staates selbst entschädigen. Diese ist durchaus demokratisch. Er teilt die ganze Gesellschaft in Gemeindebezirke, denen er Aelteste an die Spitze stellt, er errichtet das Institut der Geschwornen, welches er, der Minister, schon lange als natur- und vernunftgemäß anerkannt hat, ehe noch seine Zeit darüber zu debattiren anfing, ob diese uralte Einrichtung freier Völker wirklich practisch oder auch nur vernünftig sei.
Göthe hat sich offenbar die altdeutsche Gemeindeverfassung zum Muster gewählt und ihre Grundzüge in sein Ideal aufgenommen. Die Gemeinde läßt er eine souveraine Macht ausüben, weil er sie demokratisch construirt. Denn nach jenen Fundamentalprincipien der absoluten Gleichberechtigung Aller kann ihre Form nicht anders gedacht werden. Nur weiß er nicht, wie er es mit den Volksversammlungen halten wird, ist auch so viel gewiß, daß der Sackträger Sanct Christoph mit demselben activen Bürgerrechte darin Sitz und Stimme haben wird, wie die Bürger Lothario und Lenardo, welche weiland in der alten Civilisation Grafen und Barone gewesen sind. Denn einen Census und einen Kataster von Höchst- Mittel- und Niedrigst-Besteuerten wird es dort nicht geben, wo jeder Staatsbürger nicht durch seine Thaler, Franken oder Centimen, sondern durch seine freie Person und als gleichgeltende Person Anteil an der Regierung der Kolonie haben wird.
Einmal und nur hinwerfend sagt Göthe: »Wegen der Majorität haben wir ganz eigene Gedanken, wir lassen sie freilich gelten im notwendigen Weltlauf, im höheren Sinne haben wir aber nicht viel Zutrauen auf sie. Doch darüber darf ich mich nicht weiter auslassen.« Das heißt nun, wir sind keine Cabetisten und Icaristen, wir haben aus der parlamentarischen Geschichte nur zu wol gelernt, daß die Majorität eine Tyrannei sei, ein Despotismus, der von der Absolute nur numerisch sich unterscheidet, wir würden sie sofort beseitigen, wenn wir nur erst etwas Besseres vorzuschlagen hätten oder wenn wir wagen dürften, das Bessere vorzuschlagen. Darüber aber will sich Göthe oder Lenardo nicht weiter auslassen, weil, spräche er seine Ansicht aus, er alle die Constitutionellen auf dem Halse haben würde, die unter dem absoluten Regiment die Verwirklichung einer repräsentativen Monarchie als das Ideal der Volksfreiheit und der politischen Vernunft erseufzen. Denn offenbar würde Lenardo ihnen erklären, daß er die Repräsentation für einen politischen Unverstand halte, daß für ihn der Begriff einer Volksvertretung durchaus eine Begrifflosigkeit sei. Denn ein Volk kann gar nicht vertreten werden, ebensowenig als ein Splitterteil von einem lebendigen Ganzen das Ganze vertreten kann. Der Begriff der Volksvertretung, welchen das demokratische Altertum gar nicht gekannt hat, ist nur eine Erfindung der feudalen Monarchie, um das Volk aufs Neue zu täuschen und seinen Willen unter den Willen einer Oligarchie zu bringen. Gibt daher ein Teil der Repräsentation, die Majorität, ein bindendes Gesetz, welches den Volksgemeinden ohne Unterschied nicht zur Bestätigung vorgelegt wird, so ist dies Gesetz ebenso rechtlos und despotisch, als wäre es von einem Monarchen erlassen. Nach dem gegenwärtigen System der Volksvertretung ändert sich der Charakter der Absolutie nur insoweit als dem Volke begreiflich gemacht wird, daß es diese Absolutie sich selber aufgebunden habe durch die freie Wahl; und diese Wahl der Repräsentanten wäre dann nur der einzige Act des freien Volkswillens, der gerade so weit ausreichte einen beliebigen Haufen von klugen und unwissenden Menschen zusammen zu rufen, davon denn die zufällig durch die Zahl gefundene Majorität den allgemeinen Volkswillen zu tyrannisiren hätte. Es liegt daher ein endloser Jesuitismus von Intrigue, Illusion, Zufall und sinnlosestem Widerspruch in diesem fehlerhaftesten aller Regierungssysteme, in der sogenannten repräsentativen Verfassung. Die eigenen Gedanken, welche Göthe darüber hat, findet man schon bei Rousseau im socialen Vertrage sehr klar auseinandergesetzt. – Contrat Social III. Chap. XV. u. IV. Chap. 141.
Auch hier sind es überall nur hingestreute Winke, welche der Dichter über den Organismus seines Staates gibt, und er fertigt die ihm fatale Materie so kurz wie möglich ab.
»Das größte Bedürfniß eines Staates, sagt Göthe weiter, ist das einer muthigen Obrigkeit.« »Fragt man nach der höheren Obrigkeit, die alles lenkt, so findet man sie niemals an einem Orte: sie zieht beständig umher, um Gleichheit in den Hauptsachen zu erhalten und in läßlichen Dingen einem jeden seinen Willen zu gestatten.« Diese Einrichtung bekennt der Dichter den deutschen Kaisern entlehnt zu haben; sie erinnert an die Gemeindeverfassung zur Zeit Karl des Großen, an seine Kommissarien und Sendgrafen. Uebrigens hängt sie mit dem Folgenden genau zusammen: »Wir fürchten uns vor einer Hauptstadt, ob wir schon den Punkt in unseren Besitzungen sehen, wo sich die größte Anzahl von Menschen zusammenhalten wird. Dies aber verheimlichen wir, dies mag nach und nach, und wird noch früh genug entstehen.« Der Zweck davon ist ohne Zweifel leicht ersichtlich. Zunächst, will Lenardo sagen, darf in unserer Demokratie die Obrigkeit keinen dauernden Sitz, kein festes Tribunal aufschlagen, sonst würde sie bald wie Herodot von dem Richter Dejoces erzählt, sich in die siebenfachen Mauern eines Ekbatana verschanzen, sich anmaßlich zum Palatium und zum Hofe ausbilden, in die Undurchdringlichkeit des Ceremoniells und der Instanzen sich hüllen und aus der Allgemeinheit sich aussondern, während sie doch, wie das Volk zu sagen pflegt, gemein, und wie es in ihrem Wesen liegt, überall gegenwärtig und erreichbar sein soll.
Ferner verbietet das sociale Princip der Gleichheit das Entstehen einer Hauptstadt, weil solche sowol in materieller wie in geistiger Hinsicht eine Dictatur über das flache Land auszuüben pflegt, die Kräfte und Intelligenzen der Provinz an sich reißt, und indem sie dieselben auf einen Punkt zusammenhäuft, eine Stockung der allgemeinen gesellschaftlichen Circulation, eine gefährliche Störung des Woles und Gleichgewichtes des Ganzen hervorbringt, jene in Abhängigkeit versetzt, in sich selber aber den Luxus und die Armut, die politische Intrigue und die moralische Verpestung erzeugt. - Was Göthe hier gedacht hat, finden wir auch im Systeme Fourier's in seiner Construction der Phalangen und ihrer Serien, die, obwol Constantinopel als Sitz des Ominarque Welthauptstadt sein soll, alle gleich groß sind. Ganz entsprechend baut auch Thomas Morus in Utopion vierundfunfzig »große und prachtvolle« Städte, die alle nach demselben Plane und gleich groß sind, deren Mittelpunkt aber Amaurotum ist. »Jede Stadt muß sechstausend Familien zählen, jede Familie darf nur zehn oder zwölf junge mannbare Leute haben. – Finden sich in einer Stadt mehr Einwohner, als darin wohnen dürfen, so wird der Ueberrest den weniger volkreichen Städten zugeteilt.«
So verschieden nun diese Systeme von dem Götheschen sind, so enthalten sie doch alle denselben Gedanken, daß nämlich die Anhäufung der Bewohnerschaft an einem oder dem anderen Orte, der sich dann zur Hauptstadt über die niederen erhebt, der socialen Harmonie Verderben bringen muß. Die Geschichte von Rom, Constantinopel, Paris und London stellt übrigens diese Wahrheit als eine unleugbare Thatsache hin, welche auch unsere Gegenwart deutlicher und schrecklicher als je bestätigt hat. Denn man erwäge nur, welchen Einfluß die Monokratie der Kapitalstädte nach und nach auf die Geschichte der Menschheit gewonnen hat, wenn, abgesehen von allen materiellen Beziehungen des Handels und der Industrie oder von allen sittlichen und geistigen Verhältnissen, die sich als Ton oder herrschende Mode gestalten, das Schicksal ganzer Länder und Rationen von dem Verhalten der Hauptstädte abhangen darf, und wenn gar die Agitation ihres mit unglaublicher und schrecklicher Schnelligkeit anwachsenden Proletariats das Loos der Millionen entscheiden darf, oder wenn die politische Entwicklung des gesammten Volkes mit einem einzigen Schlage gelähmt werden kann, den die Gewalt auf die Kapitale ausführt, wenn mit einem Worte das Schicksal des Landes identisch geworden ist mit dem Schicksale der Hauptstadt. Es schwellen aber die europäischen Hauptstädte mit jedem Jahre durchschnittlich um 1/ 35 ihrer Bevölkerung an, von der mehr als 1/ 3 eigentliches Proletariat ist. In sich selber schon ein ganzes Volk, auf einen kleinen Raum zusammengepreßt und sich gegenseitig die Erwerbsquellen verstopfend, müssen sie daher zu jeder gewaltsamen Sprengung der bestehenden Ordnung bereit sein, um sich Luft zu machen. Es sind Taufende von Cyclopen, auf die man den Aetna des Gesetzes gewälzt hat, und unter deren Riesenanstrengungen die Städte erbeben und in Trümmer fallen. Der innere Entwicklungskampf der Völker, welcher überall da, wo die politischen Verfassungen schon als gleichgiltige Formen anzusehen sind, wie in Frankreich, immer reiner und entschiedener als der sociale Kampf sich ausspricht, hat gerade durch diesen Dämon der Hauptstädte einen Charakter angenommen, welchen die Vorzeit kaum ahnen konnte. Die Hauptstädte sind zu stehenden Schlachtfeldern geworden; und der Krieg ist in einer neuen, in der schrecklichsten von allen Formen aufgetreten, in der Form der Straßenschlachten. Denn nimmer hat die Welt ein Gleiches noch erlebt, als jenen Junikampf in Paris, gegen welchen alles Aehnliche, was Rom oder Constantinopel zur Zeit der Gracchen oder der Kaiser aufzuweisen hat, weit in die Unbedeutendheit zurücktritt. Es ist aber das Ende dieser socialen Eruptionen der Hauptstädte nicht abzusehen, als mit der Verwirklichung der socialen Reform selbst, welche das System der Associationen und der Kolonisirung gleichmäßig über das ganze Land ausbreiten muß; von welcher Zeit ab die Bevölkerungen der Kapitalstädte sich notwendig mindern müssen. Denn es lehrt auch die Geschichte, daß die Hauptstädte in solchen Zeiten am meisten anwachsen, wo die Absolutie und die Ungleichheit der Stände- und Vermögensklassen über den Staat herrscht und dessen sittliche Grundlagen in Fäulniß übergehen; wie das vor allen anderen Rom und Paris beweisen.
Im Angesicht dieser Erfahrungen also werden wir auch Göthe's Einsicht anerkennen, daß er in jener Stelle eine Wahrheit ausgesprochen hat, die nicht besser bestätigt werden kann als durch den gegenwärtigen Tag.
Hier nun dürfte sich sein in keiner Weise rechts- oder staatsphilosophisch construirtes Staatsgebäude abschließen lassen. Noch einige wolgemeinte Mahnungen gibt er seinen überseeischen Staatsbürgern mit auf den Weg, wie: daß die Zeit die höchste Gabe Gottes und der Natur und die aufmerksamste Begleiterin des Daseins sei. Hat doch auch schon Pittakus von Mitylene gesagt: Wol erwäge die Zeit! »Etwas muß gethan sein in jedem Moment, und wie wollte es geschehen, achtete man nicht auf das Werk wie auf die Stunde?« Die Uhren sind deshalb vervielfältigt und deuten sämmtlich mit Zeiger und Schlag die Viertelstunden an, dazu denn auch Telegraphen den Lauf der Stunden bei Tag und Nacht angeben, und zwar durch eine sehr geistreiche Vorrichtung, die wir, da sie uns nicht mitgeteilt wird, schon auf guten Glauben als sehr geistreich patentiren wollen. Die Einteilung der Zeit soll die Besonnenheit, die Hauptaufgabe der praktischen Sittenlehre, welche die abgeschaffte Kirche ersetzen wird, befördern. Mäßigung im Willkürlichen, Emsigkeit im Notwendigen sind hier die schließlichen Epigramme des Socialstaates.
Was sonst noch an notwendigen Einrichtungen dem utopischen Staate fehlen mag, das wird an Ort und Stelle ergänzt werden. »Den neuen Zustand, der aber dauern soll, spricht eigentlich das Gesetz aus.« Wir wollen von Lenardo nicht hoffen, daß er in den Fehler Solon's und Lykurg's verfallen werde. Oder wollen die Wanderer, wenn sie an Ort und Stelle angelangt sind, müde wie sie sind in den Hafen einer für ewige Zeit beschwornen Constitution einlaufen, die menschliche Natur in die eisernen Klammern des Gesetzes ketten, Tor und Thüre zu machen und nach ihrer Charte leben? Dann könnte es ihnen leicht geschehn, daß sie zur politischen Mythe werden und ein späterer reiselustiger Hytlodäus oder Marko Polo die wunderbare Entdeckung macht von einer versteinerten Kolonie in einem Orinokourwalde, vielleicht gar mit einem anderen Priester Johann an der Spitze. Die Halbgriechen des Heinse scheinen in dieser Hinsicht glücklicher zu sein, denn jeden Frühling halten sie allgemeine Versammlung, worin die nötigen Einrichtungen oder Abänderungen bei feierlichen Spielen und Lustbarkeiten für das ganze Jahr getroffen werden. Es müßte also ein Bürger Lenardo unausgesetzt erinnern: Herr, gedenke deiner trefflichen Wanderrede, wo du die Bewegung als lebendiges Princip dem Stabilismus so glücklich entgegen gestellt hast!
*
Die Wanderer haben so die Grundzüge ihres Staates entworfen und sind hinweggezogen, ihn jenseits des Meeres zu realisiren. Wilhelm, der Träger des Romanes, beschließt ihn mit jener tiefsinnigen Scene, wo er vor der Nacktgestalt des Jünglings, seines Sohnes, in Entzücken ausbricht über die heilige Schönheit des reinen, natürlichen Menschen. Hier endigt das Ganze – und dieser abgebrochene Schluß hat die Leser der Wanderjahre immer in Zweifel und unbefriedigt gelassen. Es ist aber nichts angemessener als ein solcher Abschluß der Wanderjahre. Denn Dichtungen der Art sind, weil sie endlos aus sich heraus gehen, immer auf eine Progression, ein Werdendes, Fortstrebendes, auf die Unendlichkeit selbst deuten, formell nicht zu begrenzen. Ihr wahrhafter Schluß ist daher nur der, daß sie nicht schließen; und sowol der Parcival als Wilhelm Meister sind in diesem Sinne Fragmente, weil alle Weltbildung unbeschlossen bleibt.
Auch wir schließen deshalb die Betrachtung der Wanderjahre mit der letzten Progression in das unendliche Leben der Zukunft, welche nach der Dialektik der Idee als das Aeußerste und Letzte sich darbieten mußte, wohin noch der Genius des großen Gedichts hinüberdeuten könne. Dies ist der Welt-Bund.
Die Gegenwart, welche die Idee einer allgemeinen Völkerverbrüderung mit glühender Begeisterung erfaßt und in die stürmische Welt hinausgerufen hat als eine beschwichtigende Weissagung des ewigen Friedens, wird die großen humanen Weltgedanken Göthe's, des Utopisten und des Propheten, hier mit Bewunderung seines vorausblickenden Geistes endlich anerkennen. Nicht passender aber schließt sich auch diese Betrachtung, als mit jenen beiden Stellen der Wanderjahre, worin Göthe die Idee des Weltbundes als die Parallele seines Gedankens der Weltliteratur niedergelegt hat.
Der Abbé schreibt an Wilhelm (II. Kap. VII.): »Wir wollen der Hausfrömmigkeit das gebührende Lob nicht entziehen: Auf ihr gründet sich die Sicherheit des Einzelnen, worauf zuletzt denn auch die Festigkeit und Würde beruhen mag; aber sie reicht nicht mehr hin, wir müssen den Begriff einer Weltfrömmigkeit fassen, unsere redlich menschlichen Gesinnungen in einen praktischen Bezug ins Weite setzen, und nicht nur unsre Nächsten fördern, sondern zugleich die ganze Menschheit mitnehmen.«
In der Wanderrede sagt Lenardo: »In solchem Sinne nun dürfen wir uns in einem Weltbunde begriffen ansehn. Einfach groß ist der Gedanke, leicht die Ausführung durch Verstand und Kraft, Einheit ist allmächtig, deshalb keine Spaltung, kein Widerstreit unter uns. Insofern wir Grundsätze haben, sind sie uns allen gemein.«
Das ist nun vollends nicht der partielle Socialismus, sondern der ganze Welthumanismus! Göthe hat sich da vor dem Entsetzen weder der Pfahlbürger noch der Kritiker gescheut, welche die Schiller'sche Dithyrambe: »Seid umschlungen Millionen!« und »Bettler werden Fürstenbrüder!« für ein Delirium halten, worauf wir guten Bürgersleute, vernünftig wie wir sind, höchstens nach dem Genuße der Bella Donna verfallen könnten. Göthe ist doch sonst kein Exaltado, kein Schwärmer, wie der weltrepublikanische Jean Paul im Hesperus, aber hier hat er einen stillen Wahnsinn, werden Jene sagen.
Indeßen all dies vornehme oder ängstliche Abweisen des Ideals aus der Poesie – und was ist sie noch, wenn sie nur die handgreifliche Wirklichkeit unseres elenden und mißgestalteten Daseins abkopiren oder nur die ewigen Hymen von der goldenen Mittelmäßigkeit des Lebens singen soll? – all dies Flüchten vor der Idee selbst, welche den vorwärtsstrebenden Geschlechtern immer doch nur erst am Morgenhimmel der Poesie aufgeht, ist nicht im Stande, der siegenden Wahrheit des humanen Ideales selbst auch nur den kleinsten Teil ihrer weltbezwingenden Macht zu rauben. Es müssen ihm und der Zukunft alle großen Geister huldigen, welche der Genius der Weltgeschichte mit der Mission der socialen Erlösung beauftragt hat. Das goldene Weltalter, das eine sentimentale Tradition bisher in das verlorne Paradies verlegte, und wovon Milton, Klopstock und Geßner sangen, liegt nunmehr nicht hinter uns, sondern vor uns. Dies goldene Weltalter ist aber nicht der Naturzustand Rousseau's oder Herder's, sondern der sociale Frieden der wahrhaft human und harmonisch gebildeten Civilisation, welcher nicht anders kann erreicht werden als in dem, was der Socialismus die Allianz oder die Solidarität der Völker nennt. Eine solche Verbrüderung der Menschheit zur Harmonie aller ihrer Interessen, ihrer Religionen und Culturen kann nur dann eine Chimäre gescholten werden, wenn das Christentum überhaupt, dessen letzter Endzweck die Weltharmonie ist, als das alberne Hirngespinnst eines vom Ideale berauschten Schwärmers verachtet wird. Die Idee eines Weltbundes ist identisch mit der Verwirklichung des wahren Christentums, welches in solcher Form die allgemeine Religion der Zukunft sein wird.
Alle geisterfüllten und tiefdenkenden Menschen haben seit dem achtzehnten Jahrhundert diese christliche Idee ausgesprochen; bei uns Herder, Jean Paul, Schiller, Göthe vor allen anderen; bei den Franzosen Rousseau, Lamartine, Lamennais, und die Socialisten alle.
So sehr hat aber die große Bewegung unserer Gegenwart, deren heiße Strömungen trotz des momentanen Umschlags in den alten Zustand wahrlich mehr sind als erkaltete und todte Lavaströme, gerade die Idee der Völkerverbrüderung als die Lebensaufgabe des Jahrhunderts bezeichnet, daß sie alle Nationen bereits mit dem Bewußtsein der Vereinigung durchdrungen hat. Weltliteratur, Weltkunst, allgemeiner Verkehr, das gemeinschaftliche Bedürfniß die politischen und religiösen Institutionen auszugleichen und das Wissen von einer gemeinschaftlichen und einer Arbeit an der Weltbefreiung hat bereits die alten Schranken der Völker niedergerissen, ohne ihre natürlichen und organisch notwendigen Nationalunterschiede zu tilgen. Betrachtet man das Leben der Völker in der Vergangenheit, im Mittelalter bis auf die französische Revolution, weiß man wie sie in ihren großen dumpfen Kasernen, den Staaten, eingeschlossen lagen, ohne anders sich zu berühren als wenn die Könige auf den Tronen sie gegen einander marschiren ließen, wie Puppen auf dem großen Schachbrette der Erde, liest man die Geschichtsbücher jener trostlosen Zeiten, welche nur zu berichten hatten von Eroberungskriegen, von Kabinetsintriguen und königlichen Hausgeschichten, als wäre der Zweck der Menschheit darin beschlossen; und vergleicht man jene Perioden mit der Gegenwart, wo ein frisches Leben durch alle Völker pulsirt, beseelt vom Geiste der Wissenschaften, die sich associiren, und wo die Menschheit zum Bewußtsein ihrer göttlichen Freiheit und Unendlichkeit gekommen ist, wo sich die Länder der allseitigen Forschung erschlossen haben und ihre Producte wie ihre Künste austauschen, wo die Entdeckungen in Eile Allgemeingut werden, und das mächtige Gefühl der Sympathie Aller mit Allen das lebendige Zeugniß der brüderlichen Einheit ist; wird man dann sagen dürfen, daß jene Denker und Dichter, welche den Gedanken eines Weltbundes schon in der Zeit der Völkervereinsamung mit Kühnheit ausgesprochen haben, nichts mehr als Utopisten seien?
Göthe aber würde in dem großen Bewußtsein, das ihm gebührt, zur Annäherung der Culturen durch seine eigene Weltpoesie nicht Geringes beigetragen zu haben, die Wahrheit und Ewigkeit seines humanen Gedankens glänzend haben rechtfertigen sehen, hätte er die in den Annalen der Geschichte der Menschheit bisher noch unerhörte Erscheinung, hätte er den Pariser Friedenscongreß vom 22. 23. und 24. August 1849 erleben können. Denn für so gering dieser Anfang auch gehalten werden mag, und so utopisch inmitten der Kriege, ja als die wahrhafte Utopie der Revolution dieser Jahre er bespöttelt sein mag, so ist diese Vereinigung der edelsten Geister so vieler und ferner Nationen, deren Namen Niemand zu bespötteln wagen darf, zu dem Weltfriedenszweck dennoch als der Beginn einer neuen Periode zu betrachten.
Victor Hugo eröffnete den Friedenscongreß mit einer Rede, deren Hauptstellen den Geist des Fortschritts unserer Zeit trefflich charakterisiren. »Dieser religiöse Gedanke, der allgemeine Friede, der alle Nationen unter sich durch ein gemeinsames Band verknüpft, das Evangelium als höchstes Gesetz, die Vermittelung an die Stelle des Krieges gesetzt – ist dieser religiöse Gedanke auch ein praktischer Gedanke? Ist diese heilige Idee auch eine zu verwirklichende Idee? Viele positive Geister, wie man heut zu Tage sagt, viele in der Leitung der Geschäfte alt gewordene Politiker antworteten mit Nein! Ich antworte mit ihnen und ohne Zögern: Ja! und ich werde dies sofort zu beweisen suchen. Ich gehe noch weiter, ich sage nicht bloß: es ist ein ausführbarer Zweck; ich sage: es ist ein unvermeidlicher Zweck. Man kann dessen Verwirklichung verzögern oder beschleunigen; das ist Alles. Das Gesetz der Welt ist nicht von dem Gesetze Gottes verschieden und kann es nicht sein. Das Gesetz Gottes aber ist nicht der Krieg, sondern der Friede. Die Menschen haben mit dem Kampfe begonnen, wie die Schöpfung mit dem Chaos. Von wo kommen sie? Aus dem Kriege; das ist augenfällig. Aber wohin gehen sie? Zum Frieden; dies ist nicht minder augenfällig. Wenn Jemand vor nur vier Jahrhunderten, zu der Zeit, wo der Krieg bestand von Gemeinde zu Gemeinde, von Stadt zu Stadt, von Provinz zu Provinz – wenn Jemand damals zu Lothringen, zur Picardie, zur Dauphiné, zur Bourgogne gesagt hätte: »Es wird ein Tag kommen, wo Ihr Euch nicht mehr bekriegen, wo Ihr nicht mehr die Waffen gegen einander erheben werdet, wo man nicht mehr sagen wird: die Normannen haben die Picarden angegriffen, die Lothringer haben die Bourgogner zurückgeschlagen.« »Ihr werdet Ein Volk sein; Ihr werdet nicht mehr die Bourgogne, die Normandie, die Bretagne, die Provence, Ihr werdet Frankreich sein. Ihr werdet Euch nicht mehr den Krieg nennen, Ihr werdet Euch die Civilisation nennen« – wenn Jemand dies zu jener Zeit gesagt hätte, so würden alle ernsten und positiven Männer, alle großen Politiker von damals aufgeschrieen haben: ›Oh! der Träumer! Oh! der Hirngespinnstbrüter! Wie wenig doch dieser Mann die Menschheit kennt! Was ist das für eine wunderliche Torheit, für eine widersinnige Chimäre!‹ Die Zeit ist fortgeschritten und es findet sich, daß dieser Traum, diese Torheit, diese Chimäre die Wirklichkeit ist. Und doch, ich hebe es nochmals hervor, wäre der Mann, welcher diese erhabne Prophezeiung ausgesprochen hätte, von den Weisen für einen Narren erklärt worden, weil er die Absichten Gottes erkannte! Wolan; Sie sagen es heute und ich bin einer von denen, die es mit Ihnen sagen – wir alle, die wir hier sind, wir sagen zu Frankreich, zu England, zu Preußen, zu Oestreich, zu Spanien, zu Italien, zu Rußland: ›Ein Tag wird kommen, wo die Waffen Euch aus den Händen fallen werden, auch Euch; ein Tag wird kommen, wo der Krieg zwischen Paris und London, zwischen Petersburg und Berlin, zwischen Wien und Turin so widersinnig scheinen und so unmöglich sein würde, als er heute unmöglich wäre und widersinnig erschiene zwischen Rouen und Amiens, zwischen Boston und Philadelphia.‹
»Von jetzt an ist das Ziel der großen Politik, der wahren Politik, folgendes: Alle Nationalitäten anerkennen zu machen, die geschichtliche Einheit der Völker herzustellen und diese Einheit durch den Frieden mit der Civilisation zu verknüpfen, die civilisirte Gruppe ohne Aufhören zu erweitern, den noch barbarischen Völkern ein gutes Beispiel zu geben, die Schiedsgerichte an die Stelle der Schlachten zu setzen, und – dies begreift Alles in sich – durch die Gerechtigkeit jenes letzte Wort sprechen zu lassen, welches die alte Welt durch die Gewalt sprechen ließ. Ich sage es zum Schlusse, und möge dieser Gedanke uns ermutigen: nicht erst von heute an schreitet das menschliche Geschlecht auf dieser von der Vorsehung bestimmten Bahn einher. In unserem alten Europa hat England den ersten Schritt gethan und durch sein hundertjähriges Beispiel den Völkern gesagt: Ihr seid frei! Irland und Indien und die Meere verneinen dies. Frankreich hat den zweiten Schritt gethan und es hat den Völkern gesagt: Ihr seid souverain! Lassen Sie uns jetzt den dritten Schritt thun und alle zusammen, England, Frankreich, Belgien, Deutschland, Italien, Europa, Amerika, den Völkern sagen: Ihr seid Brüder!« – So sprach der Franzose in seiner Friedensrede.
Göthe, der greise Nestor Deutschlands, sagte in der Wanderrede: »In solchem Sinne nun dürfen wir uns in einem Weltbunde begriffen ansehn. Einfach groß ist der Gedanke, leicht die Ausführung, durch Verstand und Kraft. Einheit ist allmächtig, deßhalb keine Spaltung, kein Widerstreit unter uns. Insofern wir Grundsätze haben, sind sie uns allen gemein!«
Ist es schön in dieser sturmempörten Gegenwart, wo der Edle mit den Völkern unsägliches litt, eine solche Friedensstimme zu vernehmen, welche unbeirrt vom Kriegsgeschrei und von dem Hohngelächter der Barbaren, den Triumf des Gottes der Völker verkündet – dann mögen wir auch Göthe doppelt ehren, daß er uns über die Verschloßenheit der Nationalitäten zu einer europäischen Bildung mit hinweghalf. Lassen wir ihm doch das Recht, einmal aus der Trophoniushöle seiner dunkeln Zeit in dichterisch-sibyllinischer Weise ein Orakel gegeben zu haben, welches ein anderes, praktisches Jahrhundert in Erfüllung bringen mag, wenn erst mit den Machiavelli's auch die großen Politiker ausgestorben sind. Denn nicht mehr durch die freimaurerische Association eines Abbé oder eines Lenardo noch durch einen socialistischen Tugendbund, sondern allein durch die gemeinschaftliche Kraft der Völker kann die ganze Menschheit mitgenommen und kann der Weltbund errichtet werden.
Ihn vorauszusagen, gebührte dem Dichter; wenn nicht, so mag man das wahre Wesen der Poesie überhaupt verleugnen. Die Welt des bloßen Verstandes freilich spottet nicht weniger über die Kassandra, wenn sie den Fall eines Staates weissagt, als wenn sie den Aufbau eines schöneren, zukünftigen verkündet. Mögen sie aber alle den Barbaren Utopisten heißen, welche an der Erlösung und das ist an der Wirklichkeit der Welt arbeiten; dies ändert an der Weltidee nichts.
»Einfach groß ist der Gedanke, leicht die Ausführung«, sagt der Dichter. Denn vor der Idee gibt es keine Schwierigkeit, kein Wenn und Aber, und die Poesie darf nicht erst bei der Tagespolitik anfragen, ob es ihr erlaubt sei, Ideales und Zukünftiges auszusprechen. Im Namen und Kraft des absoluten Geistes realisirt sie vorweg und ohne Furcht das Ideal, dem nachkommenden Geschlechte es überlassend, das Wort in Fleisch, und die Dichtung in die Wirklichkeit umzuwandeln.
Göthe hatte nicht das feurig liebende Herz Schiller's, er war kein Märtyrer der Menschheit, wie Christus, Sokrates, Huß, Morus, Columbus, Savanarola; er liebte den Menschen mehr als die Menschheit; aber er starb doch im Anschaun des Ideales, wie Moses am Ende fast der Wanderjahre seines Volks, auf den Gipfeln des Grenzgebirges einer neuen Zeit, weissagend noch von dem Lande, welches die Götter als Friedensland der Menschheit beschieden.