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Neununddreißigstes Kapitel.

Gryce glaubte keineswegs, daß Imogen Dare Frau Klemmens vor ihrer Ermordung aufgesucht habe, und daß die Witwe um das Verhältnis ihres Neffen zu Imogen wisse. Die Worte, die dieser gehört hatte, konnten sich daher nicht auf seineHeirat bezogen haben. – Wer anders aber wurde damals allgemein in Verbindung mit Imogen Dare genannt, als der Rechtsanwalt Orkutt?

Eine wichtige Schlußfolgerung! » Sie sollen ihn nicht heiraten, Imogen Dare, so lange ich lebe ,« hatte Frau Klemmens gesagt. Sie besaß also eine geheime Macht über den Mann, dessen Ehebündnis sie zu hindern drohte. Ein unbekanntes Band mußte zwischen ihnen bestehen, ein Band, durch welches das arme, einsame Weib zur Herrin über das Geschick des großen Rechtsanwalts wurde. Was konnte es sein? War sie vielleicht Mitwisserin eines Geheimnisses, dessen Enthüllung Orkutts eheliche Verbindung vereitelt hätte? Diese Frage zu lösen war nunmehr Gryces wichtigste Aufgabe. Hier mußte der Beweggrund zu finden sein, der den Rechtsanwalt zu der Mordtat getrieben hatte.

Noch einmal ließ der erfahrene Detektiv alle Einzelheiten der vielverschlungenen Beweiskette vor seinem Geist vorüberziehen, um zu sehen, ob nirgends ein Widerspruch oder ein fehlendes Glied zu entdecken sei.

Nein. Alle Angaben, die Hildreth und Mansell gemacht hatten, ließen sich, was Ort und Zeit betraf, miteinander vereinbaren. Als Orkutt auf dem Schauplatz erschien, fand er das Feld frei und die Umstände günstig zur Verübung der Tat. Einsnur blieb unbegreiflich: wie kam der Ring auf den Fußboden des Eßzimmers? – Der Verbrecher mußte ihn an der Hand getragen haben, die er gegen die Witwe erhob, nur so erklärte sich ihr wiederholter Ausruf: »Ring und Hand« – aber war dies möglich, wenn Orkutt den Streich geführt hatte? –

Gryce strengte seinen ganzen Scharfsinn an. Wo war der Ring gewesen? – Zuerst, als sich die Liebenden im Walde trennten, in Mansells Rocktasche, wohin ihn Imogen gesteckt hatte. Da Mansell dies nicht wußte, konnte er ihn leicht verlieren. Der Ring war also herausgefallen; aber wann und wo? Nicht in der Hütte, nicht auf dem Wege nach dem Hause der Witwe, aber vielleicht in dem Augenblick, als Mansell den Rock vom rechten Arm auf den linken warf. Wo war das? An der Hausecke nach der Straße zu. Gesetzt, der Ring war dort aus der Tasche geflogen und auf den Weg gerollt, der zur Vordertür führte: der erste, der hier vorbeikam, war Orkutt; er mußte den Ring aufgehoben und an den Finger gesteckt haben.

Aber verhielt sich das alles wirklich so? – Gryce ließ Byrd zu sich rufen.

Sie standen bei den andern Herren vor dem Gerichtsgebäude, als Orkutt über die Straße nach dem Haus der Witwe ging, sagte er; haben Sie ihn dabei beobachtet? Sahen Sie, wie er das Hoftor öffnete, ob er stehen blieb und sich umsah, ehe er das Haus betrat?

Nein, entgegnete Byrd; zwar blickte ich ihm nach, als er hinüberging, aber ich erinnere mich nicht, daß er dabei etwas Besonderes getan hätte.

Enttäuscht begab sich Gryce mit der nämlichen Frage zu Ferris. Die Antwort, welche er erhielt, war jedoch nicht die gleiche.

Mir ist, als sähe ich ihn noch, meinte der Bezirksanwalt, wie er über die Straße schritt, mit raschem Gang, den Kopf erhoben – halt! unterbrach er sich plötzlich, eben fällt mir etwas ein, das sich sicher nicht mit der mörderischen Absicht zusammenreimen läßt, die Sie ihm zutrauen. Würde wohl ein Mensch, der solch einen höllischen Plan im Busen trägt, sich bücken, um etwas aufzuheben, das er auf der Erde liegen sieht?

Hat Orkutt das getan? fragte Gryce mit bewundernswerter Selbstbeherrschung.

Ja, vor der Haustür; ich erinnere mich noch deutlich daran. Ein Manu, der Mordgedanken hegt, bückt sich schwerlich nach einer Stecknadel.

Aber vielleicht doch nach einem Diamantring.

Einem Diamantring?

Ja, Herr Ferris, entgegnete der Detektiv mit Nachdruck. Ohne es zu wissen, haben Sie soeben ein wichtiges Glied ergänzt, das bisher in der Beweiskette gegen den Rechtsanwalt fehlte. Sie haben die Frage beantwortet, wie der Ring, welchen Imogen Dare in Mansells Rocktasche steckte, in das Eßzimmer der Frau Klemmens gekommen sein kann, ohne daß der Angeklagte ihn dorthin trug.

Mit kurzen Worten setzte er Ferris die näheren Umstände von Mansells Flucht auseinander und schloß damit, daß Orkutt den Ring vor der Tür gefunden und an den Finger gesteckt haben müsse, wo ihn Frau Klemmens erblickte, als er die Hand gegen sie erhob.

Der Bezirksanwalt sah mit Schrecken, daß des Detektivs Verdacht gegen Orkutt immer bestimmtere Formen annahm. Seine Freundschaft für den Verstorbenen trieb ihn noch zu einem letzten Versuch, ihn zu rechtfertigen.

Wie kam der Ring aber auf den Fußboden? fragte er beklommen, wenn Orkutt ihn an der Hand trug?

Auf ganz natürliche Weise: er mochte an Fräulein Dares Ringfinger passen, aber für Orkutts kleinen Finger war er etwas zu weit und fiel zu Boden, als er nach dem Schlage die Hand sinken ließ, die das Knüppelholz hielt. Daß er in diesem Moment nichts davon merkte, ist nicht gerade verwunderlich. Als aber der Ring gefunden wurde, und Imogen Dare ihn als ihr Eigentum erkannte, muß seine Bestürzung groß gewesen sein – das war ein schlimmer Augenblick für ihn! Dazu kam dann noch der Ausruf der Witwe!

Ferris sah düster vor sich nieder; des Freundes Aufregung bei jenem Auftritt war ihm noch deutlich erinnerlich. Also nicht Unwillen über Imogens seltsames Interesse an dem Verbrechen sollte ihn so erregt haben, sondern die Angst, daß ihr Argwohn auf ihn selber gefallen sein könne?

Fräulein Dare sagt mir, daß Orkutt bei der ersten Zusammenkunft nach der Mordtat ihr seine Hand angetragen habe, fuhr Gryce fort. Sie meinen vielleicht, er habe damit zeigen wollen, wie fest sein Vertrauen zu ihr war? Ich aber sage, er tat es, um zu erfahren, ob sie Verdacht gegen ihn hege. –

Der Bezirksanwalt war verstummt. –

Auch die Verteidigung Mansells übernahm er aus ähnlichen Gründen, fuhr der Detektiv fort. Selbst wenn es ihm gleichgültig war, ob der um seinesVerbrechens willen unschuldig Angeklagte freigesprochen wurde oder nicht, so wußte er doch aus Imogen Dares eigenem Munde, daß sie die Verurteilung ihres Geliebten nicht überleben werde. Er durfte also auf eine Vereinigung mit ihr nur hoffen, wenn sie aus Dankbarkeit dafür, daß er seinem Nebenbuhler das Leben gerettet hatte, einwilligte, sein Weib zu werden.

Sie schildern ihn als vollendeten Bösewicht, versetzte Ferris voll Bitterkeit.

War das nicht der Ausdruck, den sein Gesicht auf dem Sterbebette trug? fragte der Detektiv.

Aber was kann ihn zu dem entsetzlichen Verbrechen bewogen haben? rief Ferris ratlos aus.

Nichts anderes als seine Leidenschaft für Imogen Dare, verlassen Sie sich darauf – nur wie das alles zusammenhängt, weiß ich noch nicht zu sagen.

Was soll die einfache, unbedeutende Frau Klemmens mit seiner Liebe für das Fräulein zu schaffen haben?

Sie stand ihm offenbar im Wege. Wie das möglich ist, müssen wir noch ergründen.

Vergessen Sie aber nicht, Herr Gryce, sagte der Bezirksanwalt mit großem Nachdruck, daß die Anklage gegen den hochgeachteten, angesehenen Mann vollkommen begründet werden muß, sonst kann es überhaupt nicht für gerechtfertigt gelten, sie zu erheben. Es müssen Beweise beigebracht werden, daß der Tod dieser Frau unumgänglich nötig war, wenn er nicht auf seine teuersten Hoffnungen verzichten wollte. Mit Indizienbeweisen, wie das Vorhandensein des Ringes an der Stätte des Mordes, ist es nicht getan. Der Ruf eines Mannes wie Orkutt darf auch nicht durch ein Wort, das er im Fieberwahn ausgestoßen hat, zerstört werden. Wir müssen vollkommene Gewißheit haben, wenn wir Ihrer Beweisführung Glauben schenken sollen.

Versteht sich, entgegnete Gryce, und deshalb bat ich um eine Woche Frist.

Sie glauben also entdecken zu können, was ihn zu der Tat bewogen hat?

Gryce sah den Gegenstand, den er gerade im Auge hatte, mit seltsamem Lächeln an. Ferris vergaß den Ausdruck seines Gesichts sobald nicht wieder.


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