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War Valerian Hildreth wirklich schuldig? –
So überzeugend auch die Tatsachen dafür sprachen, Byrd konnte die Zweifel nicht aus seinem Innern verbannen; sie quälten ihn mehr, als er sich eingestehen mochte, und hatten ihm die Rolle eines unbeteiligten Zuschauers bei der Verhandlung zuletzt unerträglich gemacht. Sein früherer Verdacht, der nach einer ganz andern Richtung ging, zwang ihn immer wieder, die Möglichkeit zu erwägen, ob nicht der junge Mann statt ein verruchter Verbrecher nur das Opfer einer höchst seltsamen Verkettung von Umständen sein könne.
Daß der Inspektor ihm freigestellt hatte, sich an den Nachforschungen zu beteiligen, wenn er dies nach seinem eigenen Urteil für zweckmäßig hielte, vergrößerte noch seine Pein. Wie konnte er es verantworten, einen Unschuldigen seinem Verhängnis zu überlassen, wenn es vielleicht in seiner Macht stand, den wirklichen Täter dem Arm der Gerechtigkeit zu überliefern?
Trotz dieser Erwägung fühlte er eine kaum zu überwindende Abneigung, den ersten Schritt zu tun, um das Rätsel zu lösen, welches Imogen Dares Persönlichkeit umgab. Sie hatte ein Gefühl in seiner Brust geweckt, das er nicht zu benennen wußte; es ging ein Zauber von ihr aus, der ihn bestrickte, eine Macht, die ihn bezwang. Bevor er sich in den Dienst der schweren Pflicht stellte, die zu erfüllen ihn sein Gewissen trieb, wollte er noch eine Probe wagen. Wenn er dabei zu der unumstößlichen Ueberzeugung gelangte, daß das Fräulein wirklich den Schlüssel eines Geheimnisses besitze, von welchem bei dem Verhör durch den Coroner nichts enthüllt worden war, dann galt es zu handeln.
Nach einigem Zaudern suchte er den Bezirksanwalt Ferris auf, erfuhr von diesem, daß Hildreth einstweilen unter polizeiliche Aufsicht gestellt worden sei, und fragte ihn, ob er nicht einen Auftrag an den Rechtsanwalt Orkutt für ihn habe, durch welchen er sich bei diesem einführen könne, da er seine nähere Bekanntschaft zu machen wünsche.
Ferris willfahrte seinem Verlangen, und Byrd begab sich ohne Säumen nach der ziemlich entlegenen Wohnung des Rechtsanwalts. Dort traf er es jedoch ungünstig für seinen Plan; Orkutt war zu sehr beschäftigt, um ihn empfangen zu können, und auf seine Frage, ob er vielleicht Fräulein Dare einen Augenblick sprechen könne, um eine Bestellung von Herrn Ferris auszurichten, erfuhr er, die junge Dame sei bei ihrer Freundin, Fräulein Tremaine, zu Besuch und werde erst in einigen Tagen zurückkehren.
Mißvergnügt und niedergeschlagen begab sich Byrd auf den Rückweg. Er war indes noch nicht weit gegangen, als er vor sich eine lustig trällernde Stimme hörte und den trefflichen Tenorsänger vom Kirchenchor erkannte, dessen angenehme Bekanntschaft er am letzten Sonntag gemacht. Bald hatte er ihn eingeholt; das heitere Geplauder des jungen Mannes zerstreute ihn, und sie gingen eine Strecke miteinander, bis Byrds Gefährte vor einem stattlichen Hause stehen blieb.
Hier muß ich mich Ihnen empfehlen, sagte der junge Dury, ihm die Hand reichend, es ist heute Fräulein Tremaines Empfangsabend, und wir wollen ein wenig musizieren. Sie kennen doch Fräulein Tremaine, die Tochter des Gymnasialdirektors? Die Schüler der obersten Klassen haben am Donnerstag immer Zutritt bei ihr, aber auch andere Gäste sind willkommen. Wenn Sie nichts anderes vorhaben, mache ich mir ein Vergnügen daraus, Sie dort einzuführen. Kommen Sie mit, Sie werden sich gewiß gut unterhalten.
Nur einen Moment schwankte Byrd, ob er dem Widerwillen, den er vor seinen eigenen Plänen empfand, nachgeben dürfe, dann kämpfte er alle Bedenken nieder und folgte der Aufforderung des freundlichen jungen Mannes. Bald betraten beide die hell erleuchteten Räume, in denen die Jugend schon versammelt war. Herr Dury stellte seinen neuen Bekannten der liebenswürdigen jungen Wirtin vor, und es entspann sich bald ein ungezwungenes Gespräch zwischen ihnen. Jetzt war auch Fräulein Dare ins Zimmer getreten, sie sah bleich und angegriffen aus, ihr Blick war starr, ihr Lächeln gezwungen, man sah, daß ihre Gedanken weit abschweiften von der harmlos heitern Gegenwart.
Dury eilte auf sie zu, um sie zu begrüßen. Nicht weit von ihnen stand Fräulein Tremaine neben Byrd. Rasch die Gelegenheit benützend, gab dieser dem Gespräch eine andere Wendung.
Sie werden gewiß von dem geheimnisvollen Mord gehört haben, sagte er, der in der Stadt verübt worden ist. Wissen Sie schon die letzten Nachrichten?
Nein, entgegnete Fräulein Tremaine, aber das schreckliche Ereignis interessiert mich sehr, wir haben Frau Klemmens gut gekannt. Hat man den Mörder entdeckt?
Ja, man glaubt ihn zu kennen; es ist zwar noch nicht erwiesen, aber der Verdacht ruht auf –
Eben noch hatte er Fräulein Dares tiefe volle Stimme vernommen, jetzt stockte plötzlich das Gespräch hinter ihm; er dachte an ihre Herzensqual und vermochte das verhängnisvolle Wort nicht auszusprechen. Neue Gäste traten ein, die Wirtin begrüßte sie, die musikalische Unterhaltung sollte beginnen. Man machte Byrd mit der Gesellschaft bekannt, auch Fräulein Dare wurde er vorgestellt; sie schien sich nicht zu erinnern, ihm schon früher begegnet zu sein.
Sie sind fremd hier in der Stadt, wie mir Herr Dury sagt, begann sie die Unterhaltung; gedenken Sie längere Zeit in Sibley zu verweilen?
Das hängt von den Umständen ab, wird sich aber bald entscheiden; die Stadt ist sehr hübsch gelegen und gar kein übler Aufenthalt, – die nichtssagenden Worte wollten ihm kaum über die Lippen; es standen so wichtige Dinge auf dem Spiel, ihr Glück, vielleicht ihre Ehre! –
Inzwischen hatte Fräulein Tremaine drinnen im Musikzimmer am Klavier Platz genommen, der junge Dury war ihr gefolgt, und auch die übrigen Gäste drängten sich zu dem musikalischen Genuß. Kaum sah sich Imogen Dare mit Byrd allein, als sie ohne weitere Umschweife die Frage an ihn richtete, ob sie vorhin recht verstanden habe, daß in betreff des Mordes der Frau Klemmens neue Tatsachen ans Licht gekommen seien.
So brachte sie selbst das gefährliche Thema zur Sprache. Byrd bezwang seine Erregung und erwiderte so unbefangen wie möglich:
Es hat heute eine Verhandlung stattgefunden, und man glaubt des Verbrechers habhaft geworden zu sein.
Der flüchtige Blick, den er hiebei auf die junge Dame warf, hatte sein Schicksal besiegelt. Die Probe war nur zu gut gelungen. Angst, Schmerz, bleiche Furcht und Todesschrecken malten sich in ihren Zügen.
Aus dem Nebenzimmer vernahm man jetzt die Töne eines wohlbekannten Liedes; sie schienen Imogen wieder zu sich zu bringen. Mit erzwungener Fassung murmelte sie vor sich hin: Es ist so schrecklich, von einem Verbrechen in nächster Nähe zu hören. – Sie hatte ihre Selbstbeherrschung zurückgewonnen. – Und wer soll denn die Tat begangen haben? fragte sie. Nennt man etwa einen bestimmten Namen?
Ein Herr aus Toledo soll der Mörder sein, ein gewisser Valerian Hildreth, der auf seltsame Weise in betreff seiner Vermögensverhältnisse von der Witwe abhing. – Byrd brauchte seine ganze Kraft, um die ruhige Antwort zu erteilen. Sie hatte einen andern Namen erwartet. Er sah die Ueberraschung aus ihren Augen blitzen, ihre Züge erhellten sich unwillkürlich, sie holte tief Atem aus erleichterter Brust.
Valerian Hildreth? wiederholte sie; ich habe den Namen noch nie gehört.
Höchst wahrscheinlich, entgegnete Byrd. Es kennt ihn niemand in der Stadt. Erst am Morgen der Mordtat ist er hier angekommen. Ob er das Verbrechen wirklich begangen hat oder nicht, weiß natürlich niemand. Aber die Tatsachen zeugen wider ihn, und der arme Mensch ist verhaftet worden.
Verhaftet, sagen Sie? – Ihre Stimme bebte kaum merklich.
Ja, wie die Sachen stehen, war das selbstverständlich. Um die Zeit, als der Mordstreich fiel, hat er sich dort im Hause befunden. Er sagt aus, er habe auf dem Vorplatz gestanden und nichts von dem Täter gehört oder gesehen. Aber es liegen keine Beweise gegen irgendeinen andern Menschen vor; auch ist festgestellt worden, daß er das größte Interesse an dem Tod der Witwe hatte. Unter so erschwerenden Umständen wird es ihm kaum möglich sein, seine Unschuld zu beweisen. Vielleicht ist er aber auch wirklich der Mörder, fuhr der junge Detektiv fort, das Grauen und Entsetzen in ihren Blicken gewahrend, man kann sich freilich schwer vorstellen, wie ein feiner, gebildeter Mann dazu kommt, eine solche Tat zu begehen.
Sie schien seine Worte kaum zu beachten.
Er stand auf dem Vorplatz? wiederholte sie, wie kam er dorthin, was wollte er dort?
Er hatte eine Unterredung mit der Witwe gehabt und sagt, er habe seine Gedanken sammeln wollen. Das scheint nicht recht glaubhaft – aber die Sache ist so geheimnisvoll –
Sagt er, er habe die Witwe schreien hören? fragte sie mit zitternder Stimme; hat er kein Geräusch vernommen, keine Schritte gehört?
Nein. Wenn er die Wahrheit sprach und wirklich auf dem Vorplatz war, wahrend das Verbrechen verübt wurde, muß kein Laut aus dem Zimmer zu ihm gedrungen sein.
Es entstand eine Pause; vom Klavier her vernahm man eine wohltönende Männerstimme:
»O sprecht, ist das Liebe, der treu nicht das Herz,
»In Ehre und Schande, in Freude und Schmerz?«
*
In Fräulein Dares Zügen ging eine sichtliche Veränderung vor; sie schwieg noch einen Augenblick. Wenn er nichts gesehen und gehört hat, sagte sie, wie weiß man denn, daß er überhaupt während der Tat im Hause war?
Das ist nur durch eine genaue Berechnung von Zeit und Stunde ans Licht gekommen. Er selbst will nichts davon gewußt haben.
Sie sagen, er sei ein gebildeter Mensch?
Ja, ein feiner Herr, und hübsch und jung obendrein.
Und er ist ins Gefängnis abgeführt worden?
Wenn es noch nicht geschehen ist, geschieht es wohl schon morgen. –
Sie trat an das Fenster und blickte in die Nacht hinaus.
Vermutlich hat er Freunde, sagte sie leise.
Zwei Schwestern, vielleicht auch sonst jemand, der seinem Herzen nahesteht.
Mir wird plötzlich so schwindelig zumute, murmelte sie, sich auf das Fensterbrett stützend.
Die Klänge der Musik im Nebenzimmer, welche das ganze Gespräch begleitet hatten, schwiegen jetzt, und fröhliches Stimmengewirr trat an deren Stelle. –
Ich danke Ihnen sehr für Ihre Mitteilungen, wandte sich Fräulein Dare wieder an Byrd; das traurige Ereignis hat mich viel beschäftigt, und es war mir lieb, Näheres darüber zu erfahren. Ich muß mich jetzt zurückziehen und wünsche Ihnen guten Abend. –
Sich höflich, aber stolz verneigend, schritt sie an Byrd vorbei in das Musikzimmer, entschuldigte sich bei der Wirtin mit leichtem Unwohlsein und verschwand, ohne Aufsehen zu erregen, aus der Gesellschaft.
Der junge Detektiv verweilte noch etwa eine halbe Stunde in dem heitern Kreise; was er aber dort sprach und tat, wann oder mit wein er fortging, und wie er in sein Hotel zurückkam, war ihm später nicht mehr erinnerlich. Lange nach Mitternacht ging er noch immer ruhelos in seinem Zimmer auf und ab, um den schwersten Entschluß seines Lebens zu fassen, welchen sein Pflichtgefühl jetzt unerbittlich von ihm forderte.