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Neuntes Kapitel

Am nächsten Tage begegnete mir Jinny, die mir hastig zuflüsterte:

Ich habe dir etwas Wichtiges mitzuteilen; deinem Wunsche gemäß besorge ich jetzt meine Einkäufe bei Simpkins, und als ich heute früh in seinem Laden war, hörte ich ihn sagen, er kenne Herrn Jeffrey, und dieser habe nur einen bis zwei Tage vor Frau Jeffreys Tode Kerzen bei ihm gekauft.

Dies war eine neue wichtige Tatsache, und ich faßte den Entschluß, meine Beobachtungen jetzt dem Coroner so bald wie möglich mitzuteilen. Dazu bot sich bald eine Gelegenheit, da ich noch an demselben Tage mit einem amtlichen Auftrage zu diesem Herrn geschickt wurde. Als ich diesen ausgerichtet hatte, kam ich sofort und ohne viel Umschweife auf meine Geschichte zu sprechen, die ich so knapp und bestimmt wie möglich vortrug. Ich erwartete kein Lob von ihm, glaubte aber, er würde über meine Nachrichten einigermaßen erstaunt sein. Ich war daher arg enttäuscht, als er nach kurzer Ueberlegung nachlässig bemerkte:

Sehr gut! sehr gut! Der eine Punkt, den Sie in Erfahrung gebracht haben, ist äußerst wichtig und kann sich als nützlich für uns erweisen. Wir sind zu derselben Schlußfolgerung gelangt, aber auf anderem Wege. Sie fragen: Wer hat die Kerze gelöscht? Wir: Wer hat die Pistole an Frau Jeffreys Arm gebunden? Sie kann es nicht selbst getan haben. Wer hat ihr nun dabei geholfen? Ah, daran scheinen Sie noch nicht gedacht zu haben.

Ich wurde rot, als ob sich ein Strahl heißen Wassers plötzlich über mich ergösse. Der Coroner hatte recht. Die Schlußfolgerung, von der er sprach, war mir entgangen. Warum? Sie lag ebenso nahe wie die, daß die Kerze von jemand anders gelöscht worden war als von ihr, und doch hatte ich, lediglich von meinem eigenen Gedankengange in Anspruch genommen, sie gänzlich übersehen.

Der Coroner lächelte über meine Verlegenheit, und meine Demütigung war vollständig.

Ich bin ein Esel, rief ich aus. Ich glaubte, etwas entdeckt zu haben. Ich hätte wissen können, daß es hier scharfsinnigere Leute gibt, als ich es bin.

Gemach, gemach! unterbrach mich der Beamte gutmütig. Sie haben uns einen großen Dienst geleistet. Wenn ich nicht dieser Ansicht wäre, so würde ich mich keine Minute mit Ihnen aufgehalten haben. So aber möchte ich Ihnen nur die Lehre geben, daß in einem Falle wie diesem niemand daran denken soll, allein alle Ehre einzuheimsen. Diese Angelegenheit mit der Bandschleife muß jeden alten, erfahrenen Beamten stutzig machen. Ich wundere mich nur, daß nicht schon in den Zeitungen davon die Rede gewesen ist.

Er nahm eine Schachtel aus seinem Pulte, öffnete sie und hielt sie mir hin. Ein weißes Band, in das eine hübsch gefaltete Schleife geknüpft war, lag darin.

Sie erkennen dieses Band wieder? fragte er.

Dies war in der Tat der Fall.

Es wurde durch meinen Unterbeamten von dem Handgelenk der Leiche abgeschnitten. Fräulein Tuttle wünschte es aufzuknoten, aber er zog es vor, die Schleife zu lassen, wie sie war. Nun nehmen Sie es einmal heraus. Vorsichtig, Herr, machen Sie es nicht schmutzig; Sie werden sofort sehen, warum. – Als ich das Band in die Höhe hob, deutete er auf einige Flecke auf der blendend weißen Oberfläche. Sehen Sie diese Flecke? fragte er; es sind Staubspuren, die ebenso unzweifelhaft von irgendjemandes Fingern herrühren wie die Abdrücke, die Sie auf dem Kaminsims in dem oberen Zimmer bemerkt haben. Diese Pistole ist Frau Jeffrey erst nach ihrem Tode um das Handgelenk gebunden worden – möglicherweise von derselben Hand.

Dies war auch meine Ansicht, aber sie klang mir nicht so angenehm von seinen Lippen, wie ich erwartet hatte. Entweder bin ich engherzig, oder meine ungezügelte Eifersucht verleitet mich zu den auffallendsten Inkonsequenzen; denn kaum hatte der Coroner diese Worte gesprochen, als ich sofort ein plötzliches Widerstreben gegen meine eigene Auffassung und gegen den Verdacht empfand, den die Aeußerung auf den Mann warf, den ich noch vor einer Stunde gar zu gern als Verbrecher hingestellt hätte.

Aber der Coroner ließ mir keine Zeit, mich in dieser Weise zu blamieren. Er nahm mir das Band wieder aus den Händen, die zweifellos etwas zu unbekümmert über die weiße Seide strichen, lächelte nachsichtig, wie es einem Manne seiner Erfahrung einem solchen Neuling gegenüber, wie ich einer war, erlaubt ist, und sagte endlich ganz offen:

Sie wollen diese Eröffnungen als vertraulich betrachten. Sie wissen Ihre Zunge im Zaume zu halten, Sie haben es bewiesen. Schweigen Sie daher noch ein Weilchen länger. Der Fall ist noch nicht reif. Herr Jeffrey ist ein Mann von hoher gesellschaftlicher Stellung und bis jetzt untadelhaftem Rufe. Ich möchte nicht ohne genügenden Grund den Verdacht eines so häßlichen Verbrechens auf einen so angesehenen Herrn werfen. Um einen solchen Mißgriff zu verhindern und ihm Gelegenheit zu bieten, sich offen auszusprechen, will ich mich zum Zwecke einer vertraulichen Unterredung zu ihm begeben. Wollen Sie mich begleiten?

Ich errötete abermals, aber diesmal vor Selbstgefühl.

Ich bin Ihnen für Ihr Vertrauen dankbar, entgegnete ich und fragte dann, ermutigt durch sein freundliches Wesen: Haben Sie vielleicht sonst noch etwas in Erfahrung gebracht?

Er war über diese anscheinend indiskrete Frage durchaus nicht ungehalten und antwortete: O ja. Es scheint, als habe er, bevor er Dienstag früh von Hause wegging, eine Unterredung mit seiner Gattin gehabt, die in gewisser Hinsicht den Schlüssel zu dieser Tragödie enthalten dürfte. Vielleicht wird er uns selbst Mitteilung davon machen und vielleicht auch erklären, wie er dazu kam, im Moorehause umherzuwandern, während seine Frau unten im Sterben lag. Auf alle Fälle wollen wir ihm die Gelegenheit dazu bieten und womöglich die Geheimnisse aufzuklären suchen, die den schlimmsten Verdacht erwecken müssen. Es ist höchste Zeit. Die von den Zeitungen verbreiteten Nachrichten fördern den Aberglauben, und der Aberglaube ist Teufelswerk. Gehen Sie jetzt und sagen Sie dem Beamten draußen, daß ich nach der K.-Straße gehen will. Wenn Sie wollen, können sie auch »wir« sagen, fügte er mit einem Anflug von Humor hinzu, der mir willkommener war als eine direkte Aufforderung.

Herr Jeffrey erwartete uns. Dies sah man sofort, so große Mühe er sich auch gab, Ueberraschung zu erheucheln. In der Tat glaube ich, daß er während dieser Tage beständig in Furcht vor einem Besuche der Polizei schwebte, und daß ihn kein solcher in Erstaunen gesetzt hätte.

Welchem Umstande verdanke ich die Ehre dieses zweiten Besuches? fragte er den Coroner mit bewundernswerter Geistesgegenwart. Sind Sie noch nicht zufriedengestellt mit dem, was ich Ihnen über das unglückselige Ende meiner armen Frau mitteilen konnte?

Nicht ganz, lautete die offene Antwort. Es gibt noch einige Punkte, die Sie nicht versucht haben, aufzuklären, Herr Jeffrey. Zum Beispiel, warum haben Sie sich nach dem Moorehause begeben, ehe Sie infolge des Todes Ihrer Frau Gemahlin hinzitiert wurden?

Der Schuß traf ins Schwarze. Herr Jeffrey errötete und wurde unmittelbar darauf totenblaß, faßte sich und verlor dann wieder seine Selbstbeherrschung in einer Flut von widerstreitenden Gemütsbewegungen, aus denen er sich schließlich emporraffte, aber nur um die Worte hervorzustoßen:

Woher wissen Sie, daß ich dort gewesen bin? Habe ich es gesagt, oder haben es jene alten Wände ausgeplaudert?

Alte Wände tun dies bekanntlich, versetzte der Coroner ernst. Ob sie nun in diesem Falle etwas auszusagen haben, ist für den Augenblick ganz unerheblich. Daß Sie dort waren, wie ich mit voller Bestimmtheit behaupte, geht aus Ihrem jetzigen Verhalten hervor. Darf ich Sie fragen, ob Sie mir etwas über diesen Besuch mitzuteilen haben? Wenn jemand unter so eigentümlichen Umständen stirbt wie Frau Jeffrey, so ist alles, was mit dem Fall im Zusammenhange steht, von Interesse für den Coroner.

Frau Jeffreys Tod war von seltsamen Umständen begleitet, gab der junge Witwer zögernd und selbstbeherrscht zu. Ich durchschaue die Verhältnisse selbst ebensowenig wie Sie und bin daher gern bereit, die Frage zu beantworten, die Sie so offen an mich gerichtet haben. Nicht daß meine Antwort sich auf den Punkt bezöge, den Sie klarzustellen wünschen, sondern weil es Ihre Pflicht ist, sich danach zu erkundigen, und mir die Beantwortung einige Beruhigung verschafft. Ich besuchte das Haus der Familie Moore, wie ich ohne Zweifel das volle Recht dazu hatte. Es gehörte meiner Gattin, und es lag in meinem Interesse, wenn möglich das Geheimnis der vielfachen Verbrechen zu ergründen, die in ihm vorgekommen sind.

Ah!

Jeffrey blickte rasch auf. Sie sind der Meinung, daß dies eine seltsame Beschäftigung für mich war?

Des Abends, ja.

Der Abend ist die geeignete Zeit für eine derartige Nachforschung. Ich wollte nicht, daß mich jemand am Tage dort entdeckte.

Nicht? Und doch würde dies so viel weniger Mühe gemacht haben. Sie hätten dann keine Kerzen und keine Pistole mitzunehmen brauchen.

Ich habe keine Pistole mitgenommen. Die einzige Pistole, die dorthin mitgenommen worden ist, war die, mit der sich meine arme, geistesgestörte Frau erschossen hat. Ich verstehe diese Anspielung nicht.

Sie entsprang aus einem Mißverständnis, Herr Jeffrey. Entschuldigen Sie, wenn ich annahm, Sie hätten sich vielleicht mit einem Verteidigungsmittel versehen, als Sie es wagten, sich allein auf den Schauplatz so vieler geheimnisvoller Todesfälle zu begeben.

Ich ergriff keine Vorsichtsmaßregel.

Und Sie brauchten dies auch nicht, nehme ich an.

Nein, ich brauchte es nicht.

Wann fand dieser Besuch statt, Herr Jeffrey? Bevor oder nachdem Ihre Frau Gemahlin den Schuß abfeuerte, der ihrem Leben ein Ende machte? Sie brauchen mit der Antwort nicht zu zögern.

Ich zögere auch gar nicht. – Der elegante Herr vor uns hatte eine stolze Miene angenommen. Warum sollte ich auch? Gewiß glauben Sie nicht, daß ich zu derselben Zeit dort war wie sie. Es war sogar nicht an demselben Abende. Soviel werden Ihnen die Wände doch erzählt haben oder vielmehr der Onkel meiner Gattin, Herr David Moore. Geht die Erzählung nicht von ihm aus?

Nein; Herr Moore hat unsere Aufmerksamkeit nicht auf diesen Umstand gelenkt. Begegneten Sie diesem Herrn während Ihres Besuches des Moorehauses, über das er die genaueste Kontrolle zu führen scheint?

Nicht daß ich wüßte. Aber sein Haus liegt gerade gegenüber, und da er wenig mehr zu tun hat, als aus seinem Fenster zu sehen, so glaubte ich, er habe mich bei meinem Eintritte bemerkt.

Sie traten also durch die Vordertür ein?

Auf welchem Wege sonst?

Und an welchem Abende?

Herr Jeffrey rang nach Atem. Diese Fragen verwirrten ihn augenscheinlich.

Am Abende vor dem – vor dem, der all mein irdisches Glück vernichtete.

Der Coroner warf mir einen Blick zu. Ich erinnerte mich daran, daß auf den kleinen Tischen, von denen der eine nach vorn gezogen worden war, um den Leuchter zu halten, kein Staub gelegen hatte, und schüttelte leise den Kopf.

Der Coroner zog seine Augenbrauen in die Höhe, aber in seiner Stimme lag nichts von Mißtrauen, als er hinzu setzte:

An dem Abende, an dem Sie nicht nach Hause kamen.

Herr Jeffrey zuckte unwillkürlich nervös zusammen – ein Anzeichen, daß seine äußerliche Ruhe unter dem Kreuzfeuer von Fragen, auf die er keine Antwort bereit hatte, zu schwinden begann.

Es war seltsam, daß Sie an jenem Abende nicht nach Hause kamen, fuhr der Coroner kühl fort. Der Wortwechsel, den Sie mit Ihrer Frau Gemahlin unmittelbar nach dem Frühstück gehabt haben, muß ein sehr ernstlicher gewesen sein, ernster, als Sie bisher zugegeben haben.

Ich möchte mich über diesen Punkt nicht äußern, erwiderte Jeffrey. Dann fügte er hastig hinzu, als entsänne er sich des amtlichen Charakters des mit ihm Sprechenden: Wenn Sie es nicht ausdrücklich von mir verlangen; in diesem Falle müßte ich es allerdings tun.

Ich fürchte, darauf bestehen zu müssen, versetzte der andere. Sie werden finden, daß bei der Untersuchung darauf gedrungen werden wird, und wenn Sie sich nicht ganz unnötigen Unannehmlichkeiten aussetzen wollen, so täten Sie gut daran, wenn Sie uns heute die Veranlassung zu diesem ehelichen Zwiste auseinandersetzen wollten, der unzweifelhaft Ihre Frau Gemahlin in den Tod getrieben hat.

Ich will es versuchen, entgegnete Jeffrey, indem er sich erhob und das Zimmer mit großen Schritten ruhelos durchmaß. Wir hatten einen kleinen Wortwechsel; ihr Verhalten am vorhergehenden Abend hatte mir nicht gefallen. Ich bin von Natur eifersüchtig, rasend eifersüchtig, und ich glaubte, sie sei auf dem Balle des deutschen Botschafters etwas kokett gewesen. Aber ich hatte keine Ahnung, daß sie sich meine scharfen Reden so zu Herzen nehmen würde. Etwas Eifersucht ist bei einem neuvermählten Ehemann sicher zu verzeihen, und wenn ihr Geist nicht schon gestört gewesen wäre, so würde sie sich daran erinnert haben, wie heiß ich sie liebte und wie sehr ich eine Versöhnung herbeiwünschte.

Sie liebten also Ihre Frau Gemahlin? Sie hatten ein Recht, eifersüchtig zu sein, und nicht Ihre Gattin? Ich habe das Gegenteil behaupten hören. Es ist Stadtgespräch, daß Sie vor Ihrer Bekanntschaft mit Fräulein Moore ein anderes Mädchen geliebt haben, ein Mädchen, das Ihre Frau Gemahlin mit schwesterlicher Zärtlichkeit betrachtete und infolgedessen mit in ihr neues Heim nahm.

Fräulein Tuttle? Jeffrey hielt in seiner Wanderung inne, um diese Worte hervorzustoßen. Ich bewundere und verehre Fräulein Tuttle, fuhr er in seiner Erklärung fort, habe sie aber nie geliebt. Nicht wie ich meine Frau geliebt habe, fügte er hinzu, aber mit einer gewissen harten Betonung, die einem aufmerksamen Ohr nicht entgehen konnte.

Verzeihung! Es ist für mich ebenso peinlich, diese Fragen zu stellen, wie für Sie, sie anzuhören. Sind Sie je mit Fräulein Tuttle verlobt gewesen?

Ich horchte auf. Dies war eine Frage, mit der sich halb Washington während der letzten drei Monate beschäftigt hatte.

Würde Jeffrey sie beantworten oder in der Erwägung, daß diese Fragen mehr vertraulicher als amtlicher Natur waren, sich weigern, eine Neugier zu befriedigen, die er mit vollem Rechte als zudringlich betrachten konnte? Der entschlossene Ausdruck seiner Züge versprach wenig in dieser Beziehung, und wir waren beide erstaunt, als er einen Augenblick später mit einem grimmigen Nachdruck, den man kaum von seinem erregbaren Temperament erwartet hätte, entgegnete:

Leider nein. Soweit sind meine Absichten nie gegangen.

Sofort griff der Coroner das eine kleine Wort auf, das Jeffrey hatte fallen lassen.

Warum leider? wiederholte er. Warum sagen Sie: leider?

Jeffrey errötete und schien aus seiner Betäubung zu erwachen.

Sagte ich: leider? fragte er. Nun, ich wiederhole es; Fräulein Tuttle würde mir nie Veranlassung zur Eifersucht gegeben haben.

Der Coroner verbeugte sich und ließ fürs erste in der Unterredung Coras Namen aus dem Spiel.

Sie sprechen wieder von der Eifersucht über das unvorsichtige Benehmen Ihrer Frau Gemahlin. Wurde diese Eifersucht durch den Ton, in dem die letzten von Ihrer Gattin hinterlassenen Zeilen gehalten waren, gesteigert oder vermindert?

Die Antwort ließ lange auf sich warten. Eine Lüge fiel diesem Manne augenscheinlich schwer. Der innere Kampf, der sich auf seinen Gesichtszügen abspiegelte, war mitleiderregend. Als ich bemerkte, wieviel ihm dieser kostete, stiegen neue seltsame Gedanken über ihn und die ganze in Betracht kommende Angelegenheit in mir auf.

Ich werde nie über die Gewissensbisse hinwegkommen, die ich bei dem Anblick dieser wenigen Zeilen empfand, versetzte er schließlich. Sie waren ein Achtungsbeweis von seiten meiner Gattin –

Wie?

Der Ausruf des Coroners verriet das äußerste Erstaunen. Jeffrey fing an zu stottern und wurde dann langsam blaß, als sei er sich erst infolge unserer verwunderten Blicke des Widerspruchs bewußt geworden, in den er sich verwickelt hatte.

Ich meine, versuchte er zu erklären, daß meine Gattin eine unerwartete Zärtlichkeit gegen mich zeigte, indem sie alle Schuld für unser Zerwürfnis auf sich nahm. Es war edelmütig von ihr und wird viel dazu beitragen, daß ich freundlich an sie zurückdenke.

Er hatte sich wieder vergessen. In der Tat waren seine Haltung und seine Erklärungsversuche voller Widersprüche. Um dies ihm zu zeigen, rief der Coroner aus:

Das glaube ich. Sie büßte für ihr Geständnis schwer. Sie glauben, ihr Geist war gestört?

Ist ihre Handlungsweise nicht ein genügender Beweis dafür?

Gestört durch den Unglücksfall, der sich bei Ihrer Hochzeit zutrug?

Ja.

Sie glauben dies wirklich?

Ja.

Auf Grund eigener Beobachtung?

Ja.

Darf ich Sie bitten, uns das hierauf Bezügliche mitzuteilen?

Ja.

Er hatte dieses Wörtchen so oft gesprochen, daß es ihm unbewußt von den Lippen zu kommen schien. Aber er erkannte beinahe gleichzeitig mit uns, daß es keine passende Antwort auf die letzte Frage sei, und fügte mit einer entschuldigenden Handbewegung und in demselben gleichgültigen Tone, der seine letzten Antworten gekennzeichnet hatte, hinzu:

Sie sprach mehr als einmal über den unerklärlichen Tod ihres unbekannten Gastes, und so oft sie dies tat, geschah es in einer unnatürlichen Aufregung, daß ich auf die Vermutung kommen mußte, sie habe ihr inneres Gleichgewicht gänzlich verloren. Dies war für uns alle so unverkennbar, daß wir jede Berührung dieses Punktes peinlichst vermieden; seitdem verschonte sie uns zwar mit jeder Erwähnung des Unglückes, sprach aber nichtsdestoweniger nach wie vor über das Haus selbst und über die früheren Todesfälle, die dort stattgefunden hatten, sodaß wir uns genötigt sahen, ihr auch dieses Thema zu verbieten. In der Tat hat sie seit ihrer Hochzeit ihre frühere Unbefangenheit nie wiedererlangt. Der Schatten, der über dem alten Hause lagert, verdüsterte seit jenem Augenblicke ihr Leben. Möge Gott ihr gnädig sein –

Das Gebet blieb unbeendet. Sein Kopf, der auf seine Brust gefallen war, sank tiefer.

Er bot den Anblick jemandes dar, der mit dem Leben und selbst mit seinem Kummer völlig abgeschlossen hat.

Aber Männer von der Stellung des Coroners Thompson dürfen kein Gefühl des Mitleids in sich aufkommen lassen. Alles, was der niedergeschmetterte Mann sagte, verstärkte den Eindruck, daß er eine Rolle spiele. Um sich darüber zu vergewissern, bemerkte der Coroner mit einem kaum merklichen Anflug von Sarkasmus:

Und um die Last von Ihrer Gattin zu nehmen, Ihrer Gattin, über die Sie so aufgebracht waren, besuchten Sie jenes Haus und wanderten zu einer Stunde, die Sie zur Wiederversöhnung mit ihr hätten benutzen sollen, durch die alten Zimmer in der Hoffnung – worauf?

Jeffrey konnte nicht antworten. Die Laute, die von seinen Lippen kamen, waren bloßes Gestammel.

Ich konnte keine Ruhe finden, ich war krank; ich suchte Zerstreuung. – Ich hatte keine bestimmte Absicht dabei.

Auch nicht, als Sie sich das alte Bild ansahen?

Das alte Bild? Was für ein altes Bild?

Das alte Bild in dem südwestlichen Zimmer. Sie betrachteten es sich genau, nicht wahr? Sie stiegen zu diesem Zwecke auf einen Stuhl?

Jeffrey stampfte mit dem Fuße auf, gab aber eine direkte Antwort.

Ja, ich warf einen Blick auf das alte Bild und stieg, wie Sie sagen, zu diesem Zwecke auf einen Stuhl. Es war weiter nichts als die Laune eines unbeschäftigten Mannes, der in einem alten öden Hause umherwandert, ohne zu wissen warum.

Sein Peiniger gab keine Antwort. Wahrscheinlich beschäftigte er sich schon mit seinem weiteren Operationsplane. Doch Jeffrey nahm dieses Schweigen nicht mehr mit der Ruhe hin, die er bis zu diesem letzten Angriffe gezeigt hatte. Als sein unwillkommener Gast kein Wort äußerte, hielt er in seinem rastlosen Hin- und Hergehen inne, warf mit einer raschen Handbewegung seine bisher mühsam zur Schau getragene Zurückhaltung ab und rief scharf:

Warum stellen Sie diese Fragen in einem Tone an mich, der nur allzudeutlich Ihren Verdacht verrät? Liegt es nicht zur Genüge auf der Hand, daß meine Frau sich das Leben nahm, weil sie in einem Irrtum bezüglich meiner Gesinnung gegen sie befangen war, daß Sie es noch für notwendig erachten, diese persönlichen Angelegenheiten aufzuwühlen, die, so interessant sie auch für die Oeffentlichkeit im großen und ganzen sein mögen, zu erörtern doch für mich äußerst peinlich ist?

Herr Jeffrey, entgegnete der andere mit einer plötzlich angenommenen Würde, die in einem so ernsten Augenblicke auch ihre Wirkung nicht verfehlte, wir tun nichts ohne bestimmte Absicht. Wir stellen diese Fragen und bekunden dieses Interesse, weil die Beschuldigung des Selbstmordes, die man bisher gegen Ihre Frau Gemahlin erhoben hat, durch die Tatsachen nicht ganz bestätigt wird. Wenigstens war sie nicht allein, als sie sich das Leben nahm. Irgend jemand ist zugleich mit ihr in dem Hause gewesen.

Die Wirkung, die diese Erklärung auf ihn hervorbrachte, war schrecklich.

Unmöglich! rief er in einem qualvollen Tone aus, der zugleich einen entschiedenen Protest enthielt. Sie treiben Ihren Spott mit meinem Elend. Sie konnte niemand zur Begleitung haben, sie wollte es nicht. Es gibt außer mir Unglücklichem, Elendem keinen lebenden Menschen, in dessen Gegenwart sie jenen tödlichen Schuß abgefeuert haben würde.

Das von Gewissenspein zeugende Geflüster, in dem diese letzten Worte gesprochen wurden, drang mir ins Herz, das sich aus irgend einem seltsamen, unerklärlichen Grunde allmählich immer mehr für jenen Mann erwärmt hatte. Doch mein minder leicht gerührter Gefährte, der seinen Vorteil ersah und es wohl auch für das Recht des Herrn Jeffrey hielt, zu erfahren, in welch zweifelhaftem Lichte er vor dem Gesetze dastand, erwiderte mit einem möglichst leichten Anflug von Ironie:

Sie müssen es besser wissen, als wir, in wessen Gegenwart sie zu sterben wünschte – wenn sie es überhaupt wünschte – ebenso, wer ihr die Pistole an das Handgelenk gebunden und die Kerze ausgelöscht hat, als die furchtbare Tat vorüber war.

Das Gelächter, das für den unglücklichen Mann das einzige Mittel zu sein schien, durch das er seinem Herzen gewaltsam Luft machen konnte, verstummte unter dem Eindrucke eines Gedankens, der ihn zu lähmen schien. Ohne einen Versuch zu machen, eine Vermutung zu widerlegen, die einer persönlichen Anklage so nahekam, sank er in den ersten Stuhl, bei dem er vorüberkam und verlor sich gleichsam in der Vision jenes entsetzlichen Anbindens der Waffe und einsamen Auslöschens der Kerze auf dem Schauplatz dieses grausigen Todesfalles. Dann sprang er plötzlich auf die Füße in der widerstrebenden Empfindung, als habe er etwas vernommen, was unbedingt eine Antwort erheische, und stieß mühsam das Folgende hervor:

Sie sind im Irrtum – es war niemand dort, oder wenn jemand dort war, so war ich es nicht. Es gibt einen Mann in dieser Stadt, der dies bekunden kann, mein Freund, Herr Tallman, mit dem ich an jenem Tage abends sieben Uhr am Tore des Rock Creek-Kirchhofes zusammengetroffen bin, gerade als dieses geschlossen wurde. Leider hat Herr Tallman am nächsten Tage eine längere Reise antreten müssen, wie er mir erzählte, ohne mir jedoch etwas Näheres über Ziel oder Zweck seiner Reise mitzuteilen.

Sein Zeugnis wäre ja allerdings von der höchsten Wichtigkeit für Sie, versetzte der Coroner. Denn wenn Sie sich um sieben Uhr am Rock Creek-Kirchhofe befunden haben, können Sie unmöglich eine Viertelstunde später in der Waverley-Avenue gewesen sein. Wir wollen sofort Aufrufe in die gelesensten auswärtigen Blätter setzen lassen, in denen Herr Tallman aufgefordert wird, so bald wie möglich zurückzukehren. Dann werden wir ja weiter sehen. Wollen Sie mir nun aber noch mitteilen, wie Sie an diesem Tage in jene abgelegene Gegend kamen?

Ich fühlte mich die ganzen Tage über sehr unglücklich, entgegnete Jeffrey mit müder Stimme, und bin durch die Gräberreihen gestreift in der Hoffnung, dort den Seelenfrieden zu finden, den ich auf meinen ziellosen Wanderungen durch die Stadt vergebens gesucht hatte. Dies ist alles, was ich Ihnen darüber sagen kann.

Dies genügt mir einstweilen; hoffentlich können Sie mir bald Näheres über Ihr Alibi mitteilen.

Mit diesen Worten erhob sich der Coroner, verbeugte sich mit der Höflichkeit, die er jedermann bewies, ehe die Geschworenen ihr »Schuldig« ausgesprochen hatten, und wandte sich der Tür zu, durch die ich bereits hinausgeeilt war.


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