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Zu Beginn des Jahres 1667 geschah es, daß ein frommer Mönch von Jerusalem nach Rom zog. Er kam im Auftrag des Patriarchen, der dem Heiligen Vater alljährlich um dieselbe Zeit ein großes Gebinde mit Jordanwasser zu schicken pflegt, das im Lateran geweiht und dann zur Taufe der Ungläubigen verwendet wird, seien es nun Juden, Türken oder Heiden.
Der Mönch war schon alt. Auch gehörte er einem strengen Orden an. Und da er Rom zum erstenmal sah, fehlte ihm jegliche Kenntnis der Stadt und ihrer Gebräuche. Wohl wußte er, daß der Karneval zu Ende ging. Und das laute, zuweilen auch rohe Treiben des Pöbels in den Straßen und auf den Plätzen gab ihm manches Ärgernis. Weil sein Sinn aber demütig war, enthielt er sich jedes Urteils. Ging still von Kirche zu Kirche, betete täglich in Sankt Peter, beichtete im Lateran und schlug auf der Straße die Augen nieder, um nicht mehr zu sehen, als er mußte.
So kam er – es war gerade der letzte Sonntag im Karneval – auch in die Kirche Santa Maria del Popolo. Und weil diese Kirche eine der herrlichsten Roms ist und mit ihren prunkenden Kapellen, leuchtenden Bildern und marmornen Grabmälern bei jedem Schritt zu neuem Verweilen einlädt, verspätete sich der fromme Bruder über den Anblick all der Schönheit, die zu sehen ihm gestattet war. So daß er sein bescheidenes Mittagsmahl versäumte und wie ein Erwachender zusammenfuhr, als der Schlag der Uhr ihn erinnerte, daß er daheim noch seine Vesper zu beten habe.
Wie er nun aber auf die breite Treppe hinaustrat, fand er den weiten Platz vor der Kirche von einer vielhundertköpfigen Menge besetzt. Das schob und drängte und stieß und balgte sich. Und die Sonne, die schon langsam gegen Westen sank, tauchte das bunte Gewoge in eine flirrende Glitzerwolke, die alle Linien verwirrte und den Mönch fast blendete. War er doch barhaupt und kam geradewegs aus dem kühlen Dämmerschatten einer Kirche. Die Hand vor die Augen legend, blieb er eine ganze Weile stehen, in der Absicht, von seinem erhöhten Standpunkt aus die Richtung wahrzunehmen, nach der er sich am besten entfernen könne. Aber rechts und links war überall dasselbe Gedränge. Nur in der Mitte des Platzes wurde ein mit Fähnchen abgesteckter Raum freigehalten. Gerade dort, wo sich der mächtige Obelisk erhebt, den schon Augustus nach Rom gebracht und »nach dem Sieg über Ägypten der Sonne geweiht.«
Querüber gespannte Seile hielten hier ein großes Geviert frei. Und hinter dem Seil standen allerlei festlich geputzte Tiere: Maulesel und Pferde und Büffel, die mit Bändern und Fähnchen und Rauschgold geschmückt waren.
»Vielleicht ist es ein Jahrmarkt!« dachte der Mönch. Obwohl es ihm seltsam dünkte, daß einer der schönsten Plätze Roms gerade gut genug befunden wurde, hier Pferde und Esel und Büffel feilzubieten. Weil er aber doch endlich heim mußte, stieg er von der Kirchentreppe herab und machte sich auf den Weg. Waren die Römer wirklich so fromm, als sie vorgaben, dann mußte die Ehrfurcht vor seinem Alter und seinem Kleid ihm von selbst eine Straße bahnen. Kaum hatte jedoch sein Fuß den sicheren Platz verlassen, als eine neue Woge der Menge heranbrandete. Ihn erst wie spielend da und dorthin stieß, dann aber mit einem plötzlichen Ruck vom Boden emporhob – niedergleiten ließ – wieder aufnahm … bis ihm Hören und Sehen verging und das Getose der Stimmen, die Hilferufe der Bedrängten und Flüche der Rücksichtslosen wie das Heulen eines Orkans über ihm zusammenschlugen. Und da er alt war und schwach, schloß er die Augen und befahl sich dem Herrn. Wähnend, daß seine letzte Stunde erschienen sei.
Da bekam er endlich wieder Luft. Und als er, von zwei kräftigen Armen aus dem Gewühl gerissen, die Augen aufschlug, fand er sich gerade zu Füßen jenes Obelisken. Mitten unter den Büffeln und Pferden und Mauleseln, die er früher von der Treppe her angestaunt. Und war ihm die Gesellschaft auch etwas ungewohnt, so schien es ihm für den Augenblick doch fast ein Trost, in die großen und stillen Augen der Tiere zu blicken, deren stumme Ergebung fast etwas Menschliches hatte, während die wirklichen Geschöpfe Gottes hinter ihm noch immer wie Bestien rasten und tobten.
Nun sah er auch, daß eine ganze Schar von Hellebardieren um den Obelisk herum die Ordnung aufrechterhielt. Und daß diese Leute dieselbe bunte Kleidung trugen, die er Tags zuvor an der Leibwache des heiligen Vaters gesehen. Auf der Treppe des Vatikan und in dem stillen Damasushof, von dem aus man zum Audienzsaal des Papstes emporsteigt. Und da es offenbar ein solcher war, der ihn aus dem Gewühl gezogen, faßte sich der Mönch ein Herz und fragte, was denn dies alles zu bedeuten hätte?
»Ich seh es zwar selbst zum erstenmal,« erwiderte der Hellebardier in schlechtem Italienisch. »Denn ich bin ein Schweizer und noch nicht lange in Rom. Aber so viel man mir gesagt hat, geht es auf ein großes Rennen los. Wie es schon seit zwei Jahrhunderten zur Zeit des Karnevals hier stattfindet. Und da müssen wir Sorge tragen, daß nicht nur der Raum für die Tiere und Menschen hier freibleibe, sondern auch die lange Straße, die Ihr da gerade hinabziehen seht. Und die man eben deshalb den Korso nennt.«
»Ein Rennen?« wiederholte der Mönch mit einem ratlosen Blick über die so verschiedenartigen Tiere, die da rings um ihn standen und wieherten und blökten. »Ja, ist es denn möglich, daß Pferde und Esel und Büffel zugleich rennen?«
»Das ist auch noch niemandem eingefallen als Euch!« fiel ihm ein breitnackiger Römer ins Wort, der das Gewand eines Stallknechtes trug und nicht müde wurde, an den prächtigen Berberhengsten herumzuputzen, die, von dem Geschrei der Menge erregt, immer lauter zu scharren und zu wiehern begannen. »Paßt auf! So wird das: Erst rennen die Esel. Dann die Hebräer. Dann die Büffel. Und zuletzt meine Cavalli da. Und sie rennen von hier bis zur Kirche San Marco, deren Turm Ihr hinter dem Palazzo Venezia dort hervorsteigen seht. Die Glocke des Kapitols aber gibt das Zeichen.«
Der Mönch hörte ihn aufmerksam an. Machte jedoch ein Gesicht dazu, als hätte er kein Wort von dem allen verstanden. Und als der Mann geendet hatte, sprach er kopfschüttelnd: »Seid mir nicht böse, wenn ich noch einmal frage. Aber – was sagtet Ihr da von den Hebräern?«
»Daß sie nach den Eseln rennen müssen!« erwiderte der Stallknecht. »Und ich kann Euch sagen: in ganz Rom lacht man nie mehr, als wenn diese sich in Bewegung setzen!«
»Wirkliche Hebräer?« murmelte der fromme Bruder, immer mit demselben ungläubigen Blick.
»Ja, glaubt Ihr denn, daß ein Römer sich als Jude verkleidet,« lachte der Stallknecht und spuckte aus.
»Und – Christen sehen zu?« stieß der Mönch hervor.
»Von woher kommt Ihr denn?« staunte der Römer.
»Von Jerusalem,« entgegnete der Mönch. »Und mein Kloster steht über der Grotte von Bethlehem, wo eine Tochter des auserwählten Volkes den Erlöser gebar. Für uns alle!« setzte der fromme Bruder hinzu.
»Das ist lange her,« meinte der Stallknecht. »Und hier müssen die Hebräer eben rennen. Nach den Eseln und vor den Büffeln.«
»Und die Christen lachen dazu?« fragte der Mönch noch einmal.
»Jawohl. Und am herzhaftesten der Heilige Vater!«
»Das lügst Du!« schrie der entrüstete Gottesmann.
»Dann schau dorthin!« Damit wies der Stallknecht zur Höhe eines großen Altans empor, von dem reich in Gold gestickte Teppiche niederhingen und ein purpurner Baldachin herableuchtete. Unter dem Baldachin aber stand ein Thronsessel. »Also!« nickte der Stallknecht. »Von dort schaut der Heilige Vater zu!«
»Ihr wollt mich wohl zum besten halten?« murmelte der Mönch.
»Habt Ihr den Heiligen Vater schon geseh'n?«
»Ja. Gestern.«
»Gut. Dann wartet noch ein Weilchen. Und wenn Ihr ihn erkennt, dann sagt mir noch einmal, daß ich ein Lügner bin.« Sprach's und kehrte ihm beleidigt den Rücken. Wie jeder Römer, der etwas auf sich hält.
In diesem Augenblick kollerte ein tausendstimmiges Gelächter durch die Luft. »Die Juden … die Juden … man bringt die Juden!« Es wälzte sich den Korso hinauf und hinab, erschütterte den Platz, machte über den Häuptern die Fenster klirren. Die Pferde wieherten, die Büffel brüllten. Und als einige Esel entsetzt emporfuhren und mit lang hinausgereckten Hälsen ihr mißtönendes Geschrei hören ließen, kannte der Jubel des Volkes keine Grenzen mehr. »Sie begrüßen die Juden!« lachte man auf. Und wieder rollte es von einem Ende Roms zum andern: »Die Juden … die Esel … die Juden!«
Dann trat eine plötzliche Stille ein. Irgend etwas mußte geschehen sein, irgend jemand erschienen sein, dessen Ansehen diese mörderischen Lachsalven verstummen machte. Die Hälse der Schaulustigen reckten sich zurück und zugleich empor …
» Ecco il Santo Padre!« kreischte mit greller Stimme ein Weib auf.
Und ja – dort tauchte es auf, mitten über den Häuptern des Volkes. Schwebte näher und näher … von einem prunkstrotzenden Nobile hoch emporgehalten: das silberne Kreuz, das man dem Heiligen Vater voranträgt.
Und während der festliche Zug des Papstes langsam unter dem Portal des Palastes verschwand, von dessen Höhe sich der Heilige Vater das lustige Rennen mit ansehen wollte, rückte vom Korso her das Häuflein der Juden an … Sie liefen noch nicht, aber ihr bloßes Erscheinen stimmte die Römer schon heiter. Denn mit Absicht wurden immer gerade jene ausgewählt, deren Äußeres im vollkommensten Widerspruch zu der Leistung stand, die man ihnen zumutete: Säbelbeinige Asthmatiker und schlumpige Fettwänste, die unter dem Hallo der Römer zum Lauf antreten mußten. Nachdem man sie vorher noch genötigt, so viel Speise und Trank als möglich zu sich zu nehmen, damit ihre Ohnmacht um so drolliger zutage trete, das Rennen um so länger währe. Und wenn auch da und dort einer zusammenbrach – die Römer kümmerten sich ja doch nur um die Laufenden!
Sie trugen rote Mäntel, in die sie sich wie frierend einzuhüllen schienen, und drollige Mützen, an die ein gelber Lappen geheftet war. Einige machten den Versuch, erhobenen Hauptes einherzuschreiten. Aber so ehern auch ihre Züge schienen, das unbarmherzige Hohngelächter, das vor und hinter ihnen die Luft erschütterte, peitschte ein flackerndes Rot in ihre Wangen, das immer höher und höher stieg, bis es sich unter den baumelnden Locken der Häupter verkroch. Die anderen stierten zur Erde mit tief gesenkten Lidern, während die Hände mit ineinander verkrampften Fingern starr und unbeweglich auf der Brust lagen. Und diese waren allein mit ihrem Gotte … solang auch die Straße der Schmach war, die sie dahinziehen mußten: sie beteten! Murmelten eintönig die uralten Psalmen und Sprüche, die schon ihrer Väter Väter gemurmelt hatten. Als das Joch Babylons auf ihnen lag und die eherne Hand der Cäsaren.
So kam der Zug vor dem Obelisken an. Und im selben Augenblick tauchte auf dem Altan des gegenüberliegenden Palastes das päpstliche Kreuz auf. Während die Senatoren Roms und andere große Herren sich auf zwei mit Purpur ausgeschlagenen Tribünen versammelten, die rechts und links vom Eingang des Korsos standen: da, wo sich noch heute die beiden Kirchen erheben: Santa Maria dei Miracoli und Santa Maria di Monte Santo.
Als die Juden erschienen, fiel das Seil zur Erde, um sie in den Pferch treten zu lassen. Und nun standen sie da: zwischen Eseln und Büffeln und Pferden … O, wie die Römer lachten!
Unterdes war die Menge des Volkes zu einer einzigen dunklen Masse angeschwollen. Und die auf dem Platze nicht Raum fanden, hielten beide Seiten des Korsos besetzt. Daß man hinauf und hinab nichts sah als das endlose Gewoge der Häupter und das Geflatter der bunten Tücher und Bänder, mit denen die Kampagnuolen ihre Hüte und Jacken besteckt hatten.
Eiskalt fuhr der Wind vom Norden her über den Platz. Und sein Getose vermengte sich mit dem Toben der Schaulustigen und gab ihren Rufen und Stimmen etwas Wildes und Aufreizendes. Den Stimmen, die schon jetzt die Schreie zu proben begannen, mit denen man die Laufenden dann den Korso entlang hetzte: die Esel, die Juden, die Büffel und die Pferde.
» Ep! Ep!« und – » robe vé!« gellte es da und dort auf in höhnischer Nachahmung der Rufe, mit denen die armen Lumpensammler des Ghetto sich unter Tags von Haus zu Haus schleppten.
Und der Mönch stand da und sah und hörte und glaubte noch immer zu träumen. Da schlug ein seltsamer Ton an sein Ohr. Ein Ton, der ein Geglucks und Gekoller zugleich war. Und als er sich wandte, sah er, wie der Älteste der Juden schwach und blaß auf die Stufen des Obelisken sank. Und dabei zu seinem Gott emporsah – mit einem Blick, der dem Priester das Herz im Leib umwandte.
»Ist Euch nicht wohl?« fragte er und beugte sich über den Zitternden. Der Jude schien nicht gleich zu hören. Vielleicht glaubte er auch nicht, daß einer, der ein Priestergewand trug, Erbarmen haben könne mit einem Hebräer. Erst als der Bruder zum zweitenmal fragte, sprach er leise: »Es war nur das Wasser in meinem Leibe!«
»Ihr seid wassersüchtig?«
»D'rum haben sie mich doch genommen!«
»Darum?«
»Damit sie besser lachen können!«
»Habt Ihr's denn auch gesagt, um Christi willen?«
Ein feines Rot stieg in die fahlen Wangen des Juden. »Geschworen hab' ich's beim Gott meiner Väter. Und bei Abraham und Isaak und Jakob. Aber sie haben mir nicht geglaubt!«
»Und Ihr wollt laufen … Ihr könnt laufen?«
»Ich muß wohl!« seufzte der Jude. Und zugleich schlug er seinen Scharlachmantel zurück. »Mit diesem Leib muß ich laufen!«
Da sah der Mönch, daß der Hebräer unter dem Mantel nackt war. Bloß seine Scham verhüllte eine Binde. »Nackt müßt Ihr laufen?« schrie er auf.
Über das Antlitz des Juden kroch ein unsäglich müdes Lächeln. Es war nicht mehr Qual, es war nicht mehr Haß … kein Hohn und keine Bitterkeit liehen ihm mehr den Stachel einer beleidigten Würde. Es war etwas, das auch den Pferden und Eseln und Büffeln um ihn ihre tragische Geduld zu leihen schien: die Gewohnheit der Knechtschaft! Und endlich erwiderte er: »So laufen wir seit zweihundert Jahren. Gerade zweihundert Jahre sind es heute, seit ein Papst den Römern zum erstenmal diesen Spaß bereitet. Seit zweihundert Jahren aber seid Ihr wohl der Erste und Einzige, der sich darüber aufhält. Wir haben es schon lange verlernt!« Und wieder lächelte er: geduldig, scheu, hündisch!
»Wie heißt Ihr?« fragte der Mönch.
»Simon Bar Giora, Herr! Mein Ahne war jener Feldherr Jerusalems, den die Römer beim Triumphzug des Titus auf dem Kapitol hingeschlachtet. Zu Ehren ihres Gottes. Nun laufen wir zu Ehren eines anderen Gottes. Was ist dabei?« Und der Jude verbeugte sich.
Da riß der Mönch sein Kreuz empor. »Und ich schwör' Euch, daß mein Gott nichts weiß von diesem Frevel!« Im Auge des Hebräers leuchtete etwas auf, züngelte langsam an dem silbernen Kreuze empor, haftete dort einen Augenblick mit dem toten Ausdruck eines längstverkrochenen Hasses … Dann zog er langsam die Schultern empor und sprach: »Wir haben Ihn gekreuzigt. Warum soll Er uns nicht zertreten?«
»Weil Er euch auf demselben Kreuze vergeben hat!« rief der Mönch. Und wie er sich so in die Höhe reckte, kam sein Schatten quer über jenen des Obelisken zu liegen, daß Jude und Christ plötzlich im dunklen Zeichen eines riesenhaften Kreuzes zu stehen schienen.
»Dann haben es die Christen vergessen!« sprach der Hebräer dumpf.
»So will ich es ihnen wieder in die Ohren schreien!« erwiderte der Mönch. Und da der Jude ihn bloß anlächelte, fuhr er fort: »Seht Ihr da droben den Statthalter Christi? Zu ihm geh' ich jetzt. Und will nicht mehr zurückkommen, er höre mich denn!«
Der Jude zog das Haupt noch tiefer zwischen die Schultern. Und während seine gedunsene Hand sich bebend auf den Arm des Mönches legte, sprach er: »Und ich sag' Euch, Herr: es wird vergeblich sein. Denkt an mich, wenn Ihr diese da lachen hört! Seht Ihr den Obelisk, der auf uns herniederschaut? Schon er hat die Schmach meines Volkes gesehen. Und seitdem sind Jahrtausende vergangen. Ich weiß, Ihr zählt eine andere Zeit, aber auch die Zeit, da Euer Gott erschienen, hat für uns nur die alte Schmach erneuert. Schwer liegt die Hand des Herrn auf uns. Und die Tränen steigen an wie die Flut des Tiber, wenn der Westwind sie vom Meere zurücktreibt. Aber wir trinken diese Tränen, Herr! Wir trinken sie! Ihre Bitterkeit hat uns stumm gemacht!«
»Denkt an mich!« rief der Mönch. Dann trat er aus dem schützenden Kreis der Hellebardiere und begann sich mit Todesverachtung eine Straße zu bahnen. Mitten durch die tobende, drängende Menge.
Im selben Augenblick trug der Wind zwei kurze Glockenschläge vom Kapitol herüber. Die Menge verstummte. Es war das Zeichen für den Beginn des Rennens.
»Die Esel … die Esel!« Und schon fielen die Seile. Dann knallten die Peitschen der Stallknechte. » Avanti! Avanti!« Und während hinter den Eseln das Seil wieder hochgezogen wurde, stießen die Wachen mit den Spitzen der Hellebarden in die Flanken der bebenden Tiere. Trieben sie dem Korso zu, bis die Esel, von dem wütenden Hetzgeschrei des Pöbels vorwärtsgejagt, über die Straße zu rennen begannen: die Ohren lang nach hinten gelegt, die hervorquellenden Augen scheu zur Seite gestellt … immer rascher, immer sinnloser, bis der Wind den Schaum von ihren Mäulern riß und in langen Fetzen auf ihre bebenden Flanken legte. Wo die Esel aber vorüber waren, da rüstete sich die Schaulust bereits für den Empfang der Hebräer: » Ep! Ep!« Die Esel waren ja nur das Vorspiel!
Unterdes arbeitete sich der Mönch mit Fäusten und Ellenbogen an das Portal des Palastes heran, von dessen Höhe der Papst dem Rennen zusah. Mehr als einmal war ihm, als müsse er hinsinken. Aber eine Kraft, die von Gott zu kommen schien, hielt ihn aufrecht. Und zuletzt bat er nicht einmal mehr um Raum. Sah die Leute bloß an … und sie wichen vor ihm zurück: scheu und stumm, als schritte da einer vor ihm her, den er selbst nicht kannte. So kam er zuletzt auch vor den Heiligen Vater.
Der Papst, der ihn erst tags zuvor empfangen, erkannte ihn sofort. Und in der Meinung, daß der fremde Mönch sich auch das Rennen ansehen wolle, gab er seinem Camerlengo den Befehl, dem Bruder unter den anderen Priestern seines Hofstaates einen Platz anzuweisen. Da fiel der Mönch ihm zu Füßen. Und während er die Arme zu ihm emporhob, rief er: »Hör' mich, Heiliger Vater! Im Namen Christi, hör' mich! Zu deinem Heil und zum Preis des Sohnes Gottes!«
»So rede!« gebot der Papst. »Aber mach es rasch. Ist diese Stunde doch eine der wenigen, die wir der Kurzweil widmen!«
Da erhob sich der Mönch und trat an die Brüstung des Balkons. Und während seine Hand in die Tiefe wies, wo die zitternden Juden dichtgedrängt beieinander standen – Genossen des Viehs und Zielscheiben des giftigsten Hohnes – sprach er: »Sieh diese an, Heiliger Vater! Und dann sag' mir, ob du glaubst, daß Christus, an dessen Stelle du hier sitzest, auch solcher Kurzweil pflegen würde, wenn er noch unter uns wandelte?«
»Frecher Mönch!« brauste ein adeliger Kardinal auf und suchte den Bruder hinwegzudrängen.
»Laß ihn!« befahl der Papst. Und dann lächelte er und sprach: »Hast du der langen Straße vergessen, die vom Hause des Pilatus nach Golgatha führte? Nun sieh: wenn der Sohn Gottes die Straße der Schmach ziehen mußte, warum nicht diese?«
»Weil wir Christum durch eine solche Tat noch einmal kreuzigen!«
»Gekreuzigt haben ihn nur diese!«
»Ihrer Väter Väter,« fiel der Mönch ein. »Und da sie es taten, wußten sie nicht, an wem sie sündigten. Hat Christus dies nicht selbst gesagt? Es nicht vom Kreuz herabgerufen, damit sein Blut nicht über jene komme, die sein Gebot noch nicht angenommen? Das Gebot, auch den Feind zu lieben? Wir aber, die wir es angenommen und im Sakrament des Altars den heiligen Bund immer wieder erneuern – wir wissen, was wir tun. Und indem wir lieblos sind, sündigen wir!«
»Gestatte doch, Heiliger Vater, daß ich diesen Wahnsinnigen entferne!« drängte der Camerlengo des Papstes.
Der Papst aber sah ihn streng an. Denn Alexander der Siebente war nicht bloß ein Gottesmann, er war auch ein Fürst aus dem Hause Chigi, und gerecht und ruhig und weise. Und so sprach er: »Hättest du ihn widerlegt, so du ihn entferntest? Töricht wär ich und du und wir alle, wenn wir ihn also von uns stießen. Denn Unseres Amtes ist's, ihn zu belehren!« Damit erhob sich der Papst. Und während er die Hand des Mönches ergriff, sagte er: »Siehst du die Tausende, die da unten vor Erwartung fiebern? Nicht mein Gebot hat sie hergeführt. Noch hab' ich diese Spiele angeordnet. Ein alter Brauch hat sich hier einem alten Hasse gesellt. Ganz wie damals, als der Erlöser gekreuzigt wurde. Was bleibt mir da zu tun übrig?«
»Diese Tausende zu belehren!« entgegnete der Mönch fest. »Aber muß ich dir das erst sagen, Heiliger Vater? Dir, dem sie das Kreuz vorantragen, damit sein Anblick dich immer wieder an die Liebe erinnere und nicht an den Haß? Da unten steht auch ein alter Jude. Er ist wassersüchtig und kurz von Atem. Auch er soll heute laufen. Und nackt. Willst du das mit anseh'n, Heiliger Vater?«
»Wenn ich auch geh' – die Tausende werden bleiben!« murmelte der Papst mit einem finsteren Blick in die Tiefe.
»So gib ein Zeichen! Sprich nur ein Wort, daß der Geist in ihnen geweckt werde!«
»Heut' ist es zu spät!«
Die Gestalt des Mönches schien förmlich emporzuwachsen: »Und ich sag' dir,« rief er, »für den, der das Gute wahrhaft will – für den ist es nie zu spät! Hör' mich, Heiliger Vater!« Er warf sich auf die Knie.
»Die Juden! Die Juden!« kollerte es in diesem Augenblick wieder aus der Tiefe empor. Und die Büffel brüllten, die Pferde wieherten. Wäre nur Platz genug gewesen, die Römer hätten sich vor Lachen gewälzt. So lustig erschienen ihnen diese blassen, nackten, frost- und angstzitternden Juden.
Über ihre herabgestreiften Scharlachmäntel hinweg traten die Hebräer eben zum Lauf an. Und einer von ihnen sah empor und nickte dem Mönch zu, der neben dem Papst stand. »Denk' an mich, wenn du sie lachen hörst!«
In diesem Augenblick verfinsterte sich der Himmel. Der Sturm heulte wie ein Dämon auf. Die Sonne schien noch greller aufzuflammen. Aber von Mittag her flogen ihr die schwarzen Wolken eines Gewitters entgegen, schoben sich zusammen, daß ihre Blitze wie feurige Nattern durch das Dunkel zischten und die Donner krachten. Aber die Römer sah'n und hörten nicht mehr.
» Ep! Ep! Ep!« Und da rannten sie schon dahin, die Juden. Und das Lachen des Volkes überdröhnte die Donner.
Sechs Hebräer waren es, die diesmal rennen mußten. Ihnen voran der letzte seines Stammes: Der alte, wassersüchtige Simon Bar Giora …
Aber er kam nicht weit … »Da stürzt er hin!« schrie der Mönch plötzlich auf und verhüllte sein Antlitz.
»Du irrst,« erwiderte der Papst ruhig. »Er läuft noch immer!«
»Hab' ich ihn nicht fallen geseh'n?«
»Sieh' selbst: noch immer laufen sechs!«
»Dann ist es ein anderer!« beharrte der Mönch. »Denn der nackte Knäuel, der dort im Staub liegt, ist Simon Bar Giora!«
In diesem Augenblick zuckte ein weißleuchtender Blitz über den Korso hin. Fuhr zur Erde, zog wie eine silberne Furche hinter den Laufenden her, bis er den, der an die Stelle Simon Bar Gioras getreten war, erreicht hatte und alles um ihn in Licht tauchte. » Ep! Ep!« schrien die Römer wie besessen.
Der Mönch aber wurde totenbleich: »Heiliger Vater … siehst du, wer dort läuft?«
»Ich seh' es!« stammelte der Papst. Dann riß er sich die Tiara vom Haupte. Und während er sich soweit als möglich vorbeugte, rief er: »Erbarmen! Erbarmen!«
Aber sie hörten ihn nicht mehr. » Ep! Ep! Ep!« gellte es den Korso entlang.
Ein neuer Blitz warf sich vom Himmel. Und als sein Strahl den Korso entlang fuhr, wandte sich der Fremde, der an die Stelle Simon Bar Gioras getreten, plötzlich um. Nackt stand er da. Nur einen Gurt um seine Lenden. Von seiner Stirne troff Blut. Seine Lippen waren drohend aufgetan, wie zu einem langen, fürchterlichen Schrei. Und während der Blick des Papstes an ihm hing, schien er zu wachsen und zu wachsen, bis sein Haupt an die Wolken stieß und seine Arme in den Himmel griffen … Aus den Wolken aber, die ihn umflogen, riß er ein riesenhaftes Kreuz herab. Ein Kreuz, in dem sich das Geleucht der untergehenden Sonne und das Geloder der Blitze zu einer einzigen Glorie verschmolzen. Hoch hielt er es dem Papste entgegen und schmetterte es dann hin, daß es vom Korso bis zu dem Palast zu fallen schien, auf dessen Höhe der Statthalter Christi stand.
»Was war das?« stammelten die Römer. Sie meinten, einen Blitz gesehen zu haben.
Der Heilige Vater griff in die Luft. Mit beiden Armen. Wie um das Kreuz im Sturze aufzuhalten. Dann hauchte er ein unverständliches Wort und sank ohnmächtig in die Arme seiner Priester.
An diesem Tage liefen die Juden zum letztenmal über den Korso …