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Volle zwanzig Jahre waren vergangen, seit ich ihn zum letztenmal gesehen hatte. Unter dem hallenden Portal der technischen Hochschule nahmen wir damals Abschied voneinander – fröhliche Abiturienten, jeder bereit, nunmehr der Welt zu zeigen, wie er sich den Fortschritt dachte. Friedrich wollte den Leuten Paläste und Heimstätten bauen – ich Eisenbahnen. Und in Gedanken hatt' ich mir schon weiß Gott wie viel hundert Kilometer Schienen zurechtgelegt, um vergessene Winkel meines Vaterlandes mit den großen Kulturstraßen zu vereinen und dabei nach Tunlichkeit zu beweisen, daß eine Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten sei. Ja, mit fünfundzwanzig Jahren! Natürlich war mir weder um die Konzessionen, noch um die nötigen Konsortien bange. Ein Kerl, der den Kopf so voll Plänen hatte wie ich, dem mußte sich ja alles von selbst anbieten. In meiner eigenen Tasche freilich war damals kaum viel mehr, als man von heut' auf morgen braucht.
Da hatt' es nun Friedrich allerdings besser. Der einzige Sohn reicher Eltern, trat er sozusagen von der Schulbank weg auch gleich sein Erbe an. Denn sein Vater war schon lange tot und ein hübscher Zufall fügte es, daß der Tag des Staatsexamens mit seinem vierundzwanzigsten Geburtstag zusammenfiel und ihm so in doppelter Weise die bürgerliche Volljährigkeit gab. Glücklicher Kerl das! Fast wie Neid schlich es mir an die Seele, wie ich ihn damals so dastehn sah – um die vollen Lippen ein Lächeln, das schon etwas von der Sattheit aller Genüsse und aller Erfolge vorwegnahm, die ihm die Zukunft bringen mußte. Natürlich mußte! Und wem sonst als ihm, der bei seinem großen Vermögen auch noch ein Talent besaß, das nicht bloß die Anerkennung seiner Lehrer fand, sondern auch von Meistern seiner Kunst wie vorausahnend begrüßt und angestaunt wurde.
Wo sein Blick hinfiel, schuf er etwas. Saßen wir auf einer Bank in irgend einem Garten – flugs wurde ein Grundriß in den Sand gezeichnet. Die weiten Plätze unseres lieben Wien sah er gar nicht mehr so, wie wir anderen Sterblichen. Denn überall hatt' er in Gedanken schon seine Laubengänge, seine Prunkpaläste oder Kolonaden hingesetzt. Und schritt man in einer schönen Vollmondnacht mit ihm über einen solchen Platz, dann konnt' es sogar geschehen, daß er auch mit wachen Augen sah, was er träumend geschaffen, und seine Freunde allen Ernstes zu einem Spaziergang »unter den Lauben« einlud, oder fragte, ob dieser Architrav nicht zu sehr »drücke«, »jener Portikus auch natürlich projiziert sei?« Oder er sprach von der »etwas zu bizarr geratenen« Fassade eines Hauses, an dem mein Auge nichts entdecken konnte, als die gemeinen Linien des gewöhnlichen Zins- und Nutzbaustils. Bis er, lachend ermahnt, zu sich kam, und etwas ärgerlich ausrief: »Aber dieses Haus mein' ich doch nicht! Das steht ja gar nicht mehr da für meine Augen!« Bemühte man sich aber das, was er in Worten, Linien und Gedanken vor einem aufbaute, wirklich zu sehen, dann konnte man in Genüssen der erlesensten Art schwelgen. Gleichsam über die Erde erhoben, wie all die Schlösser, Paläste und Schönheitstempel, die er da in die Luft baute – der freundlich nachschaffenden Phantasie so gut sichtbar, daß auch ihnen nichts als das gemeine Fundament fehlte, um ganz in der Wirklichkeit zu wurzeln.
Er nannte das seine »Trans«. Und wen er einmal in dieses Reich mit sich genommen, der folgte ihm, wie verzaubert, immer wieder. Das war freilich vergnüglicher, als das leidige Streckenabgehen und Kurven und Steigungen berechnen, wie mein Beruf es mit sich brachte. Und so dacht' ich oft mit stillem Neid, daß unsereiner eigentlich doch bloß wie ein Taglöhner an der sonnigen Heerstraße der Kultur robote, nur darauf bedacht, ihre schweren Lasten und Frachten weiterzuschieben, während er ihre Königsarbeit verrichtete und alles wie mühelos zur Sonne hob – in Schönheit und Freude!
In welchem Maße aber gerade ihm diese Kunst zu Gebote stand, das sollt' ich staunend auf einer Herbstreise erfahren, die wir ein Jahr vor unserer Staatsprüfung nach den lachenden Gestaden des Gardasees unternahmen. Nachdem wir die Strecke von Salzburg bis Bozen in unvergeßlich schönen Tagesmärschen zurückgelegt, warfen wir uns in Bozen in den berüchtigten Schnellzug nach Mori, der so unbeirrt und gemächlich dahinbummelt, daß man Muße hat, das schöne Südtirol wie bei einem Spaziergang zu genießen. Rechts und links immer das Defilee der ebenso mächtigen als wunderlich geformten Felskuppen, und dazwischen die sonnige, lachende Ebene, mit ihrem goldigen Obstsegen und der schweren Fülle ihrer süßen, dunkelblauen Trauben. Da und dort lag der Kalkstaub der Straße wie feingesiebter Zucker auf den Beeren, während das grelle Gelb-Rot der Pfirsich- und Äpfelkulturen all den Sonnenglanz zurückzustrahlen schien, den es die lieben langen Monde her in sich getrunken … Über allem aber die Fülle und der Reiz des »Welschen«, laut, übermütig, ordentlich zudringlich, daß man förmlich mit den Augen von all dem genießen konnte, wenn es der Hand und dem Gaumen auch unerreichbar blieb. Weil wir aber tags zuvor im »Batzenstübl« etwas allzu durstig gewesen und dann früh aufstehen mußten, um den Zug nicht zu versäumen, war mein Kopf noch etwas schwer. Und so schloß ich denn, nachdem ich eine Weile das leuchtende Bild in mich gesogen, die Augen und drückte mich in eine Ecke, fest gewillt, nicht eher zu erwachen, als es sein mußte. Und da dies schon hinter Neumarkt-Tramin geschah, dacht' ich bis Mori immerhin eine hübsche Weile vor mir zu haben.
Doch der Teufel, der meinen Freund besaß und ihm überall Luftschlösser und Wolkenbrücken vor die Augen zauberte, hatte es anders beschlossen. Meiner Empfindung nach war ich kaum eingenickt, als ein nicht unsanfter, aber immerhin energischer Stoß Friedrichs mich wieder ins Bewußtsein zurückbrachte.
»Mori?« fragt' ich, noch halb aus meinem Gedusel heraus. »Nein, Salurn!« kam es zurück. »Aber es ist nicht deshalb. Dort schau hin!« Und dann mit einem seltsamen Aufleuchten des Blickes: »Ich spürte ja, daß alles heidnisch ist, hierherum …«
War der Wein auch gut und reichlich gewesen, den wir im »Batzenstübl« getrunken, und ich selbst noch immer nicht ganz bei mir – so klar war ich doch, um genau zu wissen, wo wir gerade hielten in unserem lieben Österreich. Und so knurrte ich ärgerlich: »Heidnisch? Laß dich nicht auslachen! Das gehört einem bekannten klerikalen Baron!«
»Und die Venus dort?« lachte er triumphierend.
»Die Venus?« Ich rieb mir die Augen. »Welche?«
»Nun, die versteinerte, die sich dort zur Ruhe niedergelegt hat. Und wie süß sie schläft!« setzte er, leis' aufatmend, hinzu. Dabei wies er nach drei, in sanfter Rundung allmählich abfallenden Felskuppen, die dem links gelegenen Stationsgebäude fast gegenüberstanden, jenseits der Felder und Weingärten, die sich rechts vom Bahnkörper hinzogen. So sehr ich geneigt war, nichts zu sehen und aufs neue zu widersprechen, diesmal mußt' ich ihm doch Recht geben. Und zwar nach den ersten, flüchtigen Blicken. Denn die drei Kuppen zeichneten in nahezu fortlaufender Linie die riesenhaften, aber göttlich-schönen Formen eines Frauenkörpers nach, wie ihn die Hand des Bildners etwa zuerst aus dem Marmor herausschlägt. Da und dort vielleicht noch blochisch und ungefüg, im ganzen aber doch bereits voll ahnender Schönheit und von jenem Adel der Konturen, der die Verklärung der Materie bedeutet. Das Haupt mit dem ziemlich deutlich herausgearbeiteten Antlitz weit zurückgebogen, schien die nackte Riesin wie schlummernd dazuliegen, in einer Profilstellung, die durch das reine Blau des Herbsthimmels noch besonders scharf hervorgehoben wurde. Die rechte Schulter war leicht geneigt und ließ den Arm lässig in die Ebene herabgleiten, wo die Hand über das im Morgenwind schaukelnde Grün hinstreifen mochte. Geradezu entzückend aber war die Linie, welche den Hals und die Rundung des Busens nachzeichnete. Und während der Schoß und die herrlichen Hüften weich eingebogen ruhten, schienen sich die emporgezogenen Beine leicht gegen den Boden zu stemmen, wobei ein Knie sichtbar wurde, dessen reine Schönheit auch den Kenner berücken mußte. Dazu kam noch die den Dolomiten eigentümliche Färbung des Gesteins die, vom leichten Ockergelb ins fleischfarbige Rosa hinüberspielend, den Eindruck einer lebendigen Körperlichkeit täuschend erhöhte, während die lilagrauen Töne der Schattenpartien den Kontur förmlich untermalten. Und über den mystischen Reiz des herrlichen Bildwerkes, das der Zufall hier spielend geschaffen, die ganze Lichtfülle des nahen italienischen Himmels wie aus goldenen Schalen über die schlummernde Riesin ausgegossen.
»Ob wir das zuerst sehen?« rief ich unwillkürlich.
»Sonst stünd' es doch schon längst in irgend einem Baedeker!« gab Friedrich lächelnd zurück. »Wie das ›Napoleon-Profil‹ und ›die schlafende Griechin.‹«
»Wie kamst du aber dann darauf, daß hier herum auch alles andere deshalb heidnisch sein müsse?« fragt' ich.
»Ich empfand es eben so!« meinte er achselzuckend. »Diese ganze bacchische Fülle ringsum … all die weinstrotzenden Beeren und hesperischen Früchte; die klassische Reinheit der Linien, die seidige Luft! Und so war ich eigentlich gar nicht erstaunt, als ich dazu noch die schlafende Venus entdeckte. Ich fand es so natürlich, daß sich das Heidentum gerade hier zu jahrhundertlangem Traumschlaf niedergelassen. Knapp an den Sonnenpforten Italiens … um von hier aus wieder seinen Triumphzug durch die Welt zu nehmen, wenn nur erst die rechte Zeit gekommen ist! Einstweilen aber feiern die Neophyten in jenem Tempel seine Mysterien!«
»Wo?« forschte ich verblüfft.
»Nun dort, in dem Tempel, den die göttlichen Knie der Venus überwölben!« gab er ernst zurück. Und schon formte er die Felskuppe in das luftige Gebäude seines Traumes um, das ein einziger, in gigantischer Größe sich erhebender Rundbau war. Seine Kuppel wölbte sich über Galerien, die sich von Stockwerk zu Stockwerk aufbauten, getragen von leicht gekoppelten jonischen Säulen und Karyatiden, deren Marmorantlitze die Züge aller großen Frauen und Männer weisen sollten, die durch das Interregnum des christlichen Zeitalters siegreich die Schönheit und Freiheit hellenischer Weltanschauung getragen. Gerade unter das Knie der Venus setzte er den Altar hin. Daneben standen riesige Flammenschalen, die wie märchenhafte Blütenkelche aus goldenen Schäften emporwuchsen, zu deren Füßen Greife mit funkelnden Rubinaugen die Wache hielten. »Der Boden ist immer mit Rosen bestreut!« setzte er leiser, wie träumend hinzu. »Und wer zum erstenmal dort eintritt, hebt eine Zentifolie auf und wirft sie in die Flammenschale. Nackte Tänzerinnen schlingen den Reigen, wobei sie sich so fassen, wie dort die wehenden Ranken der Reben. Und hinter den bernsteinfarbigen Seidenschleiern der ersten Galerie töne Musik hervor: Flöten, Zymbeln und die silbernen Systren der Isis!«
Ich hielt den Atem an, so lockend und deutlich ließ er das alles vor mir erstehen, daß mich ordentlich eine Lust ankam, auszusteigen und den Fels zu erklimmen, als müsse sich irgendwo die Pforte zu all den Herrlichkeiten öffnen. »Und außen?« fragt' ich.
»Außen muß natürlich alles maskiert werden!« lächelte Friedrich. »Und so wird nur der Wissende die Risalite und Portale entdecken, während die getauften Augen nichts sehen als Abstürze, Riffe und blochisches Getäfel. Bis eines Tages aus jenem Kolumbarium der alte Pan hervortreten und eine Flöte an die Lippen setzen wird, in der die Weisen des Orpheus und der eleusinischen Mysterien schlummern. Und dann wird es keinen Teufel mehr geben!«
Der schrille Pfiff der Lokomotive gellte in unsere Träume hinein. Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. »Salurn« las ich mit staunenden Augen auf der Stationstafel. So weit fort hatte mich seine Phantasie getragen. Endlich atmete ich auf, wie jemand, der wieder festen Grund spürt unter den Füßen.
»Du tust ja, als ob du in Wahrheit schon einmal dort drinnen gewesen wärest!« sagte ich kopfschüttelnd.
Den Blick zwischen den halbgeschlossenen Lidern nach den langsam zurückweichenden Felskuppen gerichtet, lächelte er wie genießend vor sich hin. »Hätt' ich dies alles sonst wieder erkannt?«
»Deine Phantasie ist jedenfalls eine Zauberin! Aber wenn du die Frauen, die du liebst, auch einmal so anschaust –«
»Oh, da werd' ich schon auf der Hut sein!« gab er überlegen zurück.
Wir saßen dann, wie gesagt, noch ein ganzes Jahr in denselben Hörsälen beisammen. Aber es ist seltsam, daß ich ihn während der langen Jahre der Trennung immer nur so vor mir sah, wie damals im Coupé: mit dem überlegenen, sieghaften Lächeln des Mannes, der sich gleich selbstherrlich dünkte, ob er in erdentlasteten Träumen oder angesichts der Wirklichkeit an dem bunten Teppich seines Glückes webte.
Und nun sollt' ich ihn wiedersehen! Obgleich ich es gar nicht erwartet hatte, und unter Umständen, die mir allerlei zu denken gaben.
Ein Konsortium von Geldleuten, die in abseits gelegenen Orten des Wienerwaldes größere Fabriken und Liegenschaften besaßen, hatte sich zum Bau einer Vizinalbahn zusammengetan, welche die Produkte ihrer industriellen und landwirtschaftlichen Betriebe nach den nächsten Eilzugsstationen zweier großer Bahnen und dadurch indirekt auch nach ihren, im Westen und Süden des Reiches gelegenen Absatzzentren befördern sollte. Der Bau wurde mir übertragen. Und die Projektierung der Bahntrace führte mich allmählich hügelauf und -ab, durch all die stillen Örtchen, deren schlummernder Waldfrieden nun auch durch den Pfiff einer Lokomotive gestört werden sollte. Als ungefähr die Hälfte der Strecke traciert war, schlug ich in dem einfachen Gasthof eines dieser Orte mein Standquartier auf, ließ Weib und Kinder nachkommen und gedachte dort trotz meiner Arbeiten, einen gedeihlichen Sommer zu verbringen.
Unsere Wirtsleute waren nette, praktische Menschen, die sich abends mit ihrem Glas Bier an unseren Tisch setzten und frischweg von der Leber plauderten, wobei ich über Leute und Sitten ringsum allerlei zu hören bekam, was mir für unser Unternehmen und die Verhandlungen mit den geldgierigen und trotzig-ablehnenden Anrainern der Strecke nur dienlich sein konnte.
Und da es inmitten der Arbeitswochen auch manch' schönen, leuchtenden Sonntag gab, kam das Gespräch, durch die Fragen meiner beiden Jungen angeregt, auch bald auf alles, was in der Nähe an hübschen Ausflügen oder Sehenswürdigkeiten zu beachten war. Nun unser Wienerwald, der sein rauschendes Wipfelmeer weithin über Berge und Täler zieht, öffnet aller Orten lauschige Pfade und blumige Gründe, in denen man sommerlange Stunden träumen und froh sein mag. Dann gab es auch eine Sehenswürdigkeit in der Nähe und eine, von deren verborgener Schönheit uns die Wirtin nicht genug erzählen konnte. Freilich, für den barbarischen Geschmack dieser Leute war bald etwas schön. Doch hört' ich aus ihren naiven Schilderungen sofort heraus, daß das Waldschloß des Freiherrn von Vittingstorff etwas in seiner Art Besonderes sein müsse. Und so wurde beschlossen, an einem der nächsten Sonntage nach dem »Kaseck« aufzubrechen.
»Ein wunderlicher Name!« meint' ich nebenbei.
»Weil der Grund auch so g'heißen hat,« beeilte sich die Wirtin zu sagen. »D'rum haben's halt den Namen beib'halten. Aber eigentlich sollt' man's ›Roseneck‹ heißen, denn … Na aber,« unterbrach sie sich plötzlich, »ich will lieber nix verraten, das müssen die Herrschaften selber seh'n!« Und dabei blinzte sie so verheißungsvoll mit den fetten Lidern, daß wir nur noch neugieriger wurden.
Der nächste Sonntag brachte nach einer regnerischen Woche einen Morgen voll köstlicher Frische und lockender Sommerschöne, und so wurde beschlossen, sogleich nach dem »Kaseck« aufzubrechen. Der Weg dahin war ein ziemlich langer und führte, nachdem man ein paar Hügel genommen, durch ein schattiges Tal direkt an »die Wilt« heran, wie ein weit und dicht sich ausbreitender Forst genannt wurde, in dessen Mitte sich das »Kaseck« erhob. Es war ein uralter Wald mit hundertjährigem Eichen- und Buchenbestand, durch den bald da, bald dort ein Wässerchen gluckste, während man auf den sonnigen Wiesen, die ihn hier und da unterbrachen, die Rehe äsen sah. Auch die Wege, die von dieser Seite ans »Kaseck« heranführten, waren nur gewöhnliche Jagdsteige, und das Ganze, wie uns die Wirtin erzählt hatte, absichtlich so versteckt gehalten, damit die Überraschung eine um so größere, die Wirkung eine tiefere sei. In der Tat brach der Pfad, den wir eingeschlagen hatten, plötzlich ganz unvermittelt vor einem grünen Dickicht ab, das sich wie ein einziger Schutzwall ringförmig und schier undurchdringlich um das Schloß zog, dessen Türmchen man dahinter im Sonnenlicht aufragen und blitzen sah. Der ganze grüne Wall aber war eine einzige Rosenhecke, die an schlanken, im Kreisrund gepflanzten Pappeln emporgezogen, ihre Ranken im Lauf der Jahre so fest ineinander und von einem Baum zum anderen gesponnen hatte, daß man wähnen konnte, plötzlich vor Dornröschens Schloß geraten zu sein. Und der Eindruck des Märchenhaften wurde noch erhöht durch die unübersehbare Fülle herrlichster Rosen, die ringsum in Blüte standen, aus den Wipfeln der Bäume herab stürzten, an zierlichen Ranken im Winde flatterten oder wie purpurne Königsschleppen bis auf den moosigen Waldgrund niederhingen. Gelb, weiß, rosa – zumeist aber ein Rot, das in allen Tönen der lichttrunkenen Farbe musizierte und in das ringsum hereinschattende Dunkel des Waldes leuchtende Flecke malte. Nach kurzem Suchen entdeckten wir dann in Entfernungen von zwanzig zu zwanzig Schritten kleine, von den hier zurechtgeschnittenen Hecken gebildete, natürliche Einlaßpforten, über denen das wirre Gerank in der Form von Triumphbogen gebändigt, dem Eintretenden ein leises »Willkommen« zuzunicken schien. Und als wir dann drinnen standen …
Den stolzen Namen »Schloß« trug der entzückende Bau wohl mit Unrecht. Wenn man nämlich darunter die plumpen und massigen Gevierte versteht, die gewöhnlich mit dieser Bezeichnung prunken. Es war vielmehr ein Schlößchen; aber eines, das sein Schöpfer aus den rosigen Wolken eines Frühlingstraumes herabgeholt, so fremdartig und doch wieder voll lockender Zauber mutete es an. Alles leicht und zierlich daran: die polychromierten Steinlauben, aus denen es allmählich emporwuchs, die schwebenden Hängetürmchen mit den buntglasierten Dächern und knarrenden Wetterfahnen, die Erker und Gesimse, und nicht zuletzt die Köpfe der Wasserspeier an den Dachtraufen. Alles wie in einem Traumland geschaut, aus Märchentand und Sonnenuntergangsfarben gefügt und dann mitten in die Einsamkeit dieses Waldes hineingestellt – verträumt und verzaubert wie er selbst. Und immer wieder begegnete man dem Rosenmotiv, überall! Die Wände der Lauben täuschten in leuchtenden Farben drinnen denselben Flor vor die Augen, der draußen in Wirklichkeit blühte und duftete. Die Drachenköpfe an den Wasserrinnen wanden sich aus steinernem Rosengerank hervor. Über den Portalen blühten sie in Wappen und Emblemen auf – in Holz, in Stein und in Farbe – überall nur Rosen zu sehen! Über dem Haupteingang aber zog sich ein goldenes Spruchband hin, dessen Worte, da und dort hinter smaragdenem Gerank verschwindend, folgenden Vers zusammenfügten:
Kaseck bin ich genannt –
Zwischen blühende Rosen gebannt …
Der du eintrittst in diese Hallen,
Sei der Sehnsucht und Liebe verfallen!
Die Läden vor den Fenstern waren überall geschlossen, kein Laut ringsum als das Gepink der Finken und der melodische Drosselschlag. Ein altes Weiblein, wohl die Frau des Kastellans, der sich von Zeit zu Zeit im Dorf unten zeigte, machte sich bei den Blumen des Gartens zu schaffen, sichtlich mehr aus Neugierde als Notwendigkeit. Denn niemand war da, für den Sträuße zu binden waren, und so mochten auch die tausende von Rosen ihre Blätter in den Traum der Einsamkeit hineinwehen, die ringsum brütete. Zwischen den Zweigen der prächtigen Hängeweiden aber ging mit leichtem Riesellaut der Wind durch, daß sie wie grüne Schleier über das Haupt der weißen Marmornixe hinflogen, die aus dem plätschernden Springbrunnen emportauchte und ihre jungen Brüste an den Rand des Bassins schmiegte, irgend wohin träumend, wie alles ringsum.
Meine Jungen liefen schon längst hinter den bunten Faltern her, die über die schimmernden Kieswege flogen, während ich noch immer wie verzaubert dastand. Als ob eine weiche Hand sich von rückwärts auf meine Schultern gelegt hätte, und eine lange nicht gehörte Stimme mir wieder Lebensmärchen aus sonnigen Jugendtagen erzählte … so intensiv hatt' ich plötzlich das Gefühl seiner Nähe! Und so sagt' ich plötzlich ganz unvermittelt zu meiner Frau: »Das kann nur einer gemacht haben … Overhoff!«
Meine Frau lächelte: »Daß du den doch überall herausspürst!« Und sie hatte nicht so Unrecht mit ihrem Zweifel. Denn ich war bei ähnlichen Vermutungen doch schon einigemal arg daneben geraten, und zudem war Overhoff eigentlich so gut wie verschollen. Weder eine Konkurrenz, noch ein Kunstreferat brachte seinen Namen mehr vor die Öffentlichkeit. Und so viel ich auch in den letzten Jahren nach ihm herumgefragt hatte, niemand wußte mir zu sagen, wo er sich eigentlich aufhalte. Ich war eben jahrelang für alle möglichen Provinzunternehmungen engagiert gewesen, und da hatten wir uns nach und nach ganz aus den Augen verloren. Nur so viel bracht' ich noch in Erfahrung, daß er nach dem, vor ungefähr sechzehn Jahren erfolgten Tod seiner Mutter in wunderlicher Eile plötzlich alles verkauft habe, was er in Wien besaß, und dann eines Tages selbst verschwunden wäre – niemand wisse, wohin. Allerdings war sein Name vor dieser Zeit viel genannt worden, und zwar in Verbindung mit einem feenhaften Palazzo, den er auf der vergessenen Insel irgend eines der oberitalischen Seen für einen Principe erbaut, dessen Geiz und Reichtum gleich viel von sich sprechen machten. Konnte man doch in denselben Berichten, die von der Märchenpracht jenes Schlosses erzählten, zugleich lesen, daß der millionenschwere Principe eines Tages nackt vom Ufer des Sees nach seiner Insel geschwommen wäre, nur um die paar Soldi zu ersparen, die er dem Barcaruolo hätte bezahlen müssen, da sein eigenes Boot nicht zur Zeit eintraf.
Von dem Palazzo aber wurde damals noch lange erzählt und geschwärmt, und unsere vornehmsten Zeitschriften brachten zu ihren Texten Ansichten des Schlosses, die das hohe Lob, das meinem Freunde gespendet wurde, vollständig rechtfertigten. In schimmernder Marmorschöne lag sein Werk, rings umflankt von terrassierten Arkaden, die wie unmittelbar aus den dunkelblauen Wogen des Sees aufstiegen und dann allmählich zum Schloß emporleiteten, unterbrochen von Treppen, auf deren höchster Höhe eine aus einem einzigen Carrarablock herausgemeiselte Riesenstatue der Venus stand: den Oberkörper leicht vorgeneigt, die ambrosischen Arme ausgebreitet – wie bereit zu einem Sprung in das göttliche Naß, dem sie entstiegen. Von den Balustraden der Terrassen und Loggien aber sollten die Blüten unzählbarer Fuchsien und Pelargonien wie ein scharlachfarbener Wasserfall herabstürzen. Und wer den Himmel Italiens kannte und den Glanz, in dem der Marmor unter seiner Sonne aufleuchtet, konnte sich vorstellen, wie dieses dem Blau der Fluten und dem Schimmer edlen Gesteines gesellte Rot brennen mochte!
Dies alles fiel mir jetzt ein. Und hätten mir auch die Steine seinen Namen nicht zugeraunt, ich kannte doch Overhoffs Vorliebe für Blumen, die Leidenschaft, mit der er gleich bei der Anlage eines Baues bedacht war, auch die Natur so viel als möglich für die Schönheit und Wirkung seines Werkes heranzuziehen. Und so brachte mich der märchenhafte Rosenflor ringsum von selbst auf die Pelargonien jenes Inselschlosses, so gut als die träumend hingelehnte Nixe des Bassins die Erinnerung an die leuchtende Göttin dort oben in mir wachgerufen hatte. Die Farben waren gedämpfter, dem ganzen ein feiner Hauch nordischer Schwermut zugesellt, aber dahinter stand – Overhoff! Das ließ ich mir nicht mehr nehmen. Und so mahnte ich, nicht bloß der nahenden Mittagsstunde halber, zur Rückkehr. Unsere Wirte, die schon zwanzig Jahre auf ihrem Hof saßen, würden ja gewiß auch den Namen des Mannes behalten haben, der diese Herrlichkeit in die Einsamkeit ihrer heimischen Wälder hineingebaut. Sie sollten mir von Friedrich Overhoff erzählen, wenn es auch ausgemacht schien, daß ich ihn nie mehr zu sehen bekäme.
Bei der Rückkehr schlugen wir einen anderen Weg durchs Dorf ein und kamen dabei an dem Garten eines größeren Besitzes vorüber, der mir bis heute ganz entgangen war. Daß hier nicht gewöhnlicher Leute Heim, verriet das schöne, wenn auch bereits schadhaft gewordene Eisengitter, das den weitausgedehnten Garten nach seiner ganzen Länge und Breite umzog und stellenweise von dem überall wild hervorwuchernden Grün der Büsche so dicht verhüllt wurde, daß es dahinter förmlich verschwand. Von dem Wohnhaus selbst war nichts sichtbar als die Spitze eines alten, ziemlich verwitterten Turmes. Alles andere lag wie begraben unter den Wipfeln uralter Linden und Buchen, die so stumm und geheimnis-düster Wache hielten, als hätten sie eines Tages irgend ein namenloses Leid oder eine dunkle Tat belauscht und seitdem nur mehr eine Aufgabe gehabt: Zu wachsen und zu wachsen, damit das Schreckliche verborgen bleibe. Etwas Atembeklemmendes brütete hier in der Luft. Und es war seltsam, daß meine Frau, die ich sonst als eine nüchterne Natur kannte, unwillkürlich nach der anderen Seite der Straße abbog, ganz von demselben Schauer angeweht. »Da möcht' ich aber auch nicht umsonst wohnen!« sprach sie in das sonnige Schweigen des Mittags hinein.
»Wer weiß, ob überhaupt jemand hier wohnt!« meint' ich. Aber im selben Augenblicke wurde jenseits der Hecke eine Stimme laut … »Johann!« klang es sonor durch die Sommerluft. Wie vom Blitz gerührt, blieb ich stehen. »Wenn das nicht Overhoff ist!« Meine Frau lachte und faßte mich unterm Arm. »Weißt du, jetzt wird mir schon bange um dich! So zu träumen … Komm und laß dir den Sonntagsbraten schmecken! Morgen mußt du doch wieder tracieren und dich mit den Leuten herumzanken. Da hört sich das Phantasieren von selbst auf!«
Ich konnte ihr nicht Unrecht geben. Angeregt, wie das Erinnerungsleben einmal war, mochte mir die Phantasie nun leicht auch Overhoffs Stimme vortäuschen. Die Assoziation war eine natürliche.
Als wir zu Mittag gespeist hatten, ließ ich den Wirt an unseren Tisch bitten, erzählte ihm, daß wir uns das »Kaseck« angeschaut und daß es mir von einigem Wert wäre, zu erfahren, ob der Architekt, der den Plan des Schlößchens entworfen, auch den Bau desselben geleitet, und ob er sich seiner noch entsinne.
»Wie denn nicht!« gab er achselzuckend zurück. »Er wohnt ja noch immer hier im Ort!« Gebaut hab' er freilich nichts mehr seitdem. Und eines Tages werde ihm wohl das eigene Dach über dem Kopfe zusammenbrechen, so wenig sei er selbst um die Erhaltung des alten Hauses besorgt, obwohl es ein herrschaftlicher Besitz wäre und mit einiger Liebe und nicht allzu großem Kostenaufwande ganz gut wieder hergestellt und wohnlich gemacht werden könnte. »So viel wunderlich ist er!« setzte der Wirt mit einem leisen Kopfschütteln hinzu. »Und 's hat schon Jahr' geb'n, wo sich niemand erinnern konnt', ihn auch nur auf der Straßen g'seh'n zu hab'n! Ein alt's Eh'paar besorgt ihm d' Wirtschaft und die nötigen Gäng', und sonst is 's grad, als wenn alle tot wär'n dort drinnen!«
»Sie meinen wohl das Haus mit dem schmiedeeisernen Gitter und dem alten Turm?« forschte ich.
»Ganz richtig!« bestätigte der Mann.
»Den Namen des Besitzers haben Sie mir aber noch immer nicht genannt!«
Er schnippte mit den Fingern und lachte dazu. »Is dös aber! Und 's is' eh' bald nix mehr da von ihm als der Nam'! Na, Overhoff heißt er.«
Ich schlug mit der Hand auf die Tischplatte. »Also hab' ich's doch erraten!«
»Wahrhaftig!« nickte meine Frau. Aber in ihren Blicken war's deutlich zu lesen, daß sie sich trotz allem noch immer nicht recht damit abfinden konnte. Freilich, wenn ich bedachte, was ich ihr von Overhoff erzählt hatte … von seinem Schönheitsdurst und Lebenshunger! Da war es nicht leicht, sich dieses Sonnenkind nun plötzlich als weltflüchtigen Sonderling vorzustellen. Und so blieben wir eine ganze Weile stumm, jedes mit Gedanken beschäftigt, die im Grund eigentlich dieselben waren.
»Haben S' ihn 'leicht kennt?« sprach der Wirt mit gutmütiger Breitspurigkeit in unser Schweigen hinein.
»Einmal!« erwiderte ich, »und seitdem sind fast zwanzig Jahre vergangen. Als ich aber heute das Kaseck sah, da spürt' ich ihn ordentlich! Als hätt' ich eine Personsbeschreibung von ihm unter die Augen gekriegt. Und nun hab' ich's wirklich erraten!«
»Ja, damals, wie er' s Kaseck 'baut hat!« meinte der Wirt. »Da war er freilich noch ein anderer Herr! Unterhaltlich und mitteilsam … Da drinnen, im Herrenstübel, is er gar oft g'sessen damals! Mit 'n Doktor und 'n Forstmeister, und wer sich sonst noch dazu g'funden hat. Sein eigentlich's Quartier hat er damals wohl in St. Pölten g'habt, weil ihm da noch alleweil zu wenig Leut' waren. Wie er aber dann ang'fangt hat, beim Herrn Sektionschef zu verkehren, is er doch oft auch über Nacht da blieben. Ja, und gleugn't kann's nit werden, daß er von da ab schon ang'fangt hat, ein bißl anders zu werd'n!«
»Bei welchem Sektionschef?« fragt' ich.
»No bei dem, der früher in dem alten Haus g'sessen ist, das jetzt 'n Overhoff g'hört. Wohl nur über'n Sommer. Denn er war ein gar großer Herr, der in Wean allerlei drein z' red'n g'habt hat. Bei der Regierung und auch sonst, wenn ich recht b'richt bin. Menschenfreund war er grad' auch keiner. Wie halt solche Herrn ihre Erfahrungen machen. Und lachen hat er oft können, daß ein'm kalt word'n is und kein Mensch ihm ein gutes Herz zutraut hätt'. Aber sonst war er ein gar fescher Herr, der sich noch eine G'sellschaft'rin g'halt'n hat. Und wie er die Fräul'n als Sechziger g'heirat't hat, is 's kein'm Menschen eing'fallen, sich darüber z'wundern. Die junge Frau is dann wohl bald g'storb'n … im Wochenbett heißt 's. Und hinter ihr der alte Herr. So unter ein'm Jahr. Da war aber der Herr Overhoff schon lang nimmer da!«
»Das Kaseck war also damals schon ausgebaut?« fragt' ich.
»Oh, schon lang vorher!« versicherte der Wirt. »Aber der Herr Overhoff is eines Tag's plötzlich abg'reist, noch bevor das Schloß fertig war. Die Leut' hab'n damals wohl allerlei g'munkelt. Aber wenn man alles nachreden wollt'! Könnt' leicht sein, man tät einer armen Seel' noch unter der Erd' unrecht!« Und dabei kam ein tiefer Ernst über das Antlitz des schlichten Mannes.
Eine jener dumpfen Pausen entstand, in denen vage Vermutungen und ahnungsvolle Grübelei ihre zitternden Fäden vergeblich von dem Jetzt nach dem Einst hinüberzuspinnen versuchen. Aber daß unser Wirt ein Ehrenmann war, der auf jede derartige Frage stumm bleiben würde, schien mir gewiß. Und dann hätt' es auch mir weh' getan, von fremden Lippen hören zu müssen, was vielleicht die Schuld oder das Schicksal eines Menschen ausmachte, der meiner Seele einmal so nahe gestanden, wie wenige vor und nach ihm. So wollt' ich mich also nur an das halten, was mir der Mann beantworten konnte und mir selbst zu wissen notwendig war, um für den Besuch, den ich meinem Jugendfreund zu machen beschloß, gerade so weit unterrichtet zu sein, um nicht unvermutet an Geschehnisse zu rühren, die er vielleicht auch mir vorenthalten mußte.
»Und dann kam Overhoff noch einmal zurück?« fragt' ich endlich.
»Ja, und ganz plötzlich!« antwortete der Wirt. »Die Leut' hab'n erst g'meint, 's wär weg'n 'n Kaseck. Daß er's doch gern seh'n möcht' und nachschau'n, ob seine Stellvertreter sich auch g'nau an seine Plän' g'halten hab'n. Aber nit ein einzig'smal is er hin g'gangen. Erst is er eine ganze Woch'n bei mir herob'n g'sessen. Bis eines Tag's seine Sachen 'kommen sein und die zwei alt'n Leut', die er noch heut' bei sich hat. Mit denen is' er dann in das alte Haus üb'rizogen. Und da hat ma's erst erfahr'n, daß er 's schon in Wean von der Massa 'kauft hat. Wie's g'legen und g'standen is'! Denn 's war'n nur Erb'n dritten Grad's da, und die sein froh g'wesen, daß 's so schnell und gut weg'bracht hab'n. No, und seitdem sitzt der Herr Overhoff drin!«
Ich hatte dies, ohne eine weitere Frage einzuwerfen, ruhig angehört. Dann erhob ich mich, beglich unsere Rechnung und ging in meine Stube, um mich der gewohnten Nachmittagsruhe hinzugeben. Aber kein Schlaf wollte mir über die Lider kommen. Monoton und unaufhörlich wie das Gesumm der Fliegen in der sommerstillen Stube kamen mir auch dieselben Gedanken immer wieder – zeigten mir den Overhoff, den ich einst gekannt, und blieben dann grübelnd und ohnmächtig vor dem Jetzt stehen, wie vor einer schweren, dunklen Pforte, hinter der es kühl und mitternächtig hervorweht. Wenn ich an sein Lachen von damals dachte … an all die stolzen Pläne und Hoffnungen, mit denen er die Sommerfahrt ins Land der Jugend angetreten hatte, und daß er nun wie ein weidwundes Tier da irgendwo an einer abseits gelegenen Lebensstraße liegen geblieben war! Versunken alles, was er geträumt, und vor ihm Schleier, die ihm das ganze Dasein verdunkelten …
Und wie ein trauriger Kehrreim fielen mir immer wieder die letzten Worte des Eichendorff-Schumannschen Liedes ein, das er in fröhlicher Burschenzeit einmal so herzgewinnend gesungen: »Oh Jugend, wie tut deine Schönheit mir in der Seele so leid!«
Was damals nur wie ein leichtes Wölkchen des Lebensernstes an seinem strahlenden Zukunftshimmel vorüberglitt, nun hing es grau und starr und unbeweglich über seinem ganzen Horizont. Ich fühlte ordentlich, wie sich mein Herz zusammenkrampfte … mein Innerstes sich dumpf aufschluchzend dagegen wehrte. Aber ich konnte dem seltsamen Bann nicht mehr entrinnen.
Etwas von den Schauern des alten Hauses war auch mir an die Seele gekrochen …
Als es sechs Uhr wurde, nahm ich meinen Hut; und nachdem ich meiner Frau mein Vorhaben, Overhoff aufzusuchen, mitgeteilt hatte, macht' ich mich sogleich auf den Weg. Auch dem Wirt, der gerade unterm Tor stand, teilte ich mit, wohin ich ging. Denn ich hatte keine Ahnung, von welcher Seite aus man in das alte Haus gelange. »Ein ganz klein's Türl ist's, ein paar Schritt' vom großen Gittertor weg, dort müssen's anläuten!« klärte er mich auf. »Aber fest und laut. Denn der alte Johann hört nit guat und die Glock'n wird im Jahr nur etlichemal vom Briefträger zog'n und is ganz eing'rost't!«
Wer mir gesagt hätte, daß ich auf solchen Wegen und in dieser Art einmal bei Overhoff eindringen werde! Bei ihm, der fremden Menschen leuchtende Heimstätten gebaut hatte und als Neophyt des hellenischen Schönheitskultus in den Traumtempeln Anadyomenens daheim war … Und so geschah das Merkwürdige, daß mir alles, was ich unterdes über ihn erfahren, umso weniger glaubwürdig schien, je näher ich ihm tatsächlich kam. Als müsse, wenn sich jene Pforte geöffnet hätte, ein ganz anderer dahinter stehen und mich mit fremden Augen kalt und fremd ansehen … Einer, der zufällig auch den Namen Overhoff trug.
Auch über den Zustand der Glocke, die das Haus mit der Außenwelt verband, hatte mir der Wirt nicht zu viel gesagt. Der Griff war eingerostet und der Draht so dicht von wildem Wein und Gaisblattranken umsponnen, daß es einer merklichen Gewalt bedurfte, das ganze Läutwerk in Bewegung zu setzen. Und dann schrillte ein solch geller und widerwärtiger Ton durchs Haus, daß es sich fast wie eine Warnung für die drinnen anhören mochte. »Ein Neugieriger – habt Acht!«
Richtig mußt' ich zweimal schellen. Dann wurden langsam über den Kies schlürfende Schritte hörbar, und zuletzt das Pförtchen aufgeriegelt. Alles, ohne daß ich nur eine Ahnung haben konnte, wer vor mir stehen würde, wenn der Eingang einmal frei war. So hoch und undurchdringlich hatten die grünen Ranken selbst diesen schmalen Zugang umsponnen und überwuchert. Der Riegel knirschte förmlich. Und als das Türchen endlich in seinen Angeln knarrte, stand ein halb blöde, halb unwillig glotzender Geselle vor mir, der erst einen fast feindseligen Blick über mich hingehen ließ, und dann, ohne auch nur meine Frage abzuwarten, ebenso kurz als unwirsch ausrief: »Der Herr Overhoff baut nix mehr! Das hat er Ihnen eh' schon g'schrieb'n!«
An der Raschheit und Übung, mit der der taube Alte diese Worte hervorstieß, erkannt' ich, daß der Name Overhoff doch nicht ganz tot war, und die wenigen Menschen, die noch seiner gedachten, immer mit demselben Ersuchen an ihn herantreten mochten. Und daß er die Gewohnheit angenommen, die Zudringlichen, die sich durch seine Briefe nicht abfertigen ließen, solchermaßen dem wenig einladenden Empfang des alten Johann auszusetzen. Nun, ich ließ mich nicht so leicht abschrecken. Ruhig trat ich ein, reichte dem Alten meine Karte und schrie ihm ebenso laut als entschieden ins Ohr: »Melden Sie mich sofort! Ich bin ein alter Freund Ihres Herrn!«
Der Cerberus ließ noch einmal einen bissigen Blick über mich gehen. Dann geruhte er aber, mich eintreten zu lassen; und nachdem er vorerst noch sorgfältig das Pförtchen zugeriegelt, schritt er mir durch einen dunklen Taxusgang zur Freitreppe voran. Unterwegs fielen mir ein paar verwitterte Statuen auf, wie sie das Barock einmal in seinen Gärten liebte, sowie ein am Sockel dieser Statuen immer wiederkehrendes Wappen, das den alten Besitz noch heute als einen hochadeligen dokumentierte. Der Garten war wenig gepflegt. Doch ich mußte mir gestehen, daß seine Verwilderung einen gewissen Stil zeige. Ein achtlos und träumerisches Hinübergleiten von einem Tag in den anderen … Doch in der Art, daß selbst das sorglos wuchernde Grün ringsum nirgends den Eindruck der Üppigkeit oder ungebändigten Übermutes machte, vielmehr dumpf und lichtscheu in sich verwachsen, seine Lauben und Hecken wie Mauern emporsteigen ließ, die in lastenden Stunden ordentlich feindselig auf den einsam Wandelnden eindringen und das Gefühl atemlosen Druckes und herzbeklemmender Schwermut noch erhöhen mochten.
Auch an einem alten Gartenhaus kamen wir vorüber, das nach drei Seiten ziemlich große Fenster hatte, deren jedes von einer andersfärbigen Glastafel gebildet wurde. »Spielerei aus alten Zeiten!« dacht' ich. Als aber mein Blick zufällig durch die Glastafel mir gegenüber schweifte, starrte mir durch das gespenstische Blau derselben eine einsame Bergwiese mit da und dort zerstreuten Weidengruppen in solch trostloser Melancholie entgegen, daß es mir wie ein Schluchzen an die Seele stieg. Nur die Asphodelosblüten fehlten und die traurig umherirrenden Schatten – und zwischen jenen Weiden konnte der Lethe durchfließen …
Als wir auf der Freitreppe standen, wies mich der Alte in ein hochgewölbtes, eben so langes als tiefes Gemach, während er durch eine kleine Tür rechts verschwand, um mich seinem Herrn zu melden. Das Zimmer, in dem ich zurück blieb, hatte drei große Fenster, die in einer Front lagen und im Augenblick weit offen standen. Da aber auch hier überall das Dunkel der Buchenkronen hereinschattete, stand ich wie in einer tiefgrünen Dämmerung, die mich auf den ersten Blick die Dinge ringsum nur unklar sehen ließ, so daß sie erst nach und nach und wie hinter Schleiern hervor zu mir redeten.
Dunkles Getäfel bekleidete in halber Höhe die Wände, die nach oben von einem kunstvoll in Holz geschnitzten Fries abgeschlossen wurden. Durch wirres Gerank, das wohl die Büsche eines Waldes vorstellen sollte, sah man Hirsche, Rehe und Füchse flüchten, bald in wildem Lauf darüberhinwegsetzend, bald wie in ein Versteck hingekauert oder in rasender Todesangst es durchbrechend. Hinterher die Jagd: mittelalterliche Schützen mit Pfeil und Bogen, den Hirschfänger an der Seite. Manche auch wie zur Reiherbeize gerüstet, mit dem bekappten Falken auf der Faust. Den Abschluß bildete in jeder Ecke ein Bläser, der, das Jagdhorn am Mund, das Halali in die grünen Waldestiefen hineinschmettern mochte. Der Künstler hatte mit sichtlicher Liebe an ihm gearbeitet, und so schien er nicht bloß zufällig überall die beste Figur. So natürlich stand er da, den Arm leicht aufgebogen, den Blick der klar herausmodellierten Augen ordentlich den Tönen seines Hornes nachsendend, daß man diese Töne selbst zu hören meinte und etwas von ihnen in dem tiefen Gemach für immer widerzuhallen schien – leis klagend, wie ein verflogener Ruf der Sehnsucht! So empfand ich es wenigstens, wenngleich mich der riesige, ganz aus Geweihen zusammengestellte Luster des Gemaches, sowie ein Ofen von beträchtlichem Umfange, dessen Majolikakacheln gleichfalls Jagdszenen und -motive wiesen, bald belehrten, daß gerade dieser Raum am lautesten von der ersten Vergangenheit des ganzen Baues Zeugnis gab, der, wie das Wappen verriet, vor hundert Jahren wahrscheinlich ein gräfliches Jagdschloß war.
Alles andere ringsum sprach freilich nur allzu deutlich von dem Wechsel der Zeiten und der Besitzer. Da ein Spiegel aus Rokokotagen, dort ein schwerfälliger Intarsienschrein. Zierliche Empiretischchen und auf dem Gesims der Lambris ringsum die Bibelots eines ganzen Jahrhunderts, von der Meißener Schäferin angefangen bis zu den Florentiner Mosaicis, den französischen Bronzenippes und den Muranogläsern Venedigs … Für Overhoffs Augen mußte dieses Geschmackschaos, das die Wohnung zu einem in aller Eile zusammengekauften Museum machte, geradezu eine tägliche Beleidigung sein.
An den Wänden hingen einige gute Bilder. Sogar ein Gauermann war zu sehen. Meine ganze Aufmerksamkeit aber nahm das in Lebensgröße gemalte Bild einer jungen Frau in Anspruch, das gerade dem Eingang und der Freitreppe gegenüber hing und, wie mir nach längerem Betrachten vorkam, mit einer gewissen Absichtlichkeit an diese Stelle gebracht worden war. Denn die ganz in Weiß gekleidete Gestalt war so plastisch und in scheinbar aus dem Bilde herausstrebender Bewegung von dem dunklen Hintergrunde weggemalt, daß man die Empfindung hatte, sie werde im nächsten Augenblick aus dem Rahmen heraus auf die Freitreppe und von da in den Garten eilen. Eine Vorstellung, die durch den breitrandigen Gartenhut, den sie in der Rechten hielt, noch erhöht wurde. Das Kleid zeigte den etwas engen Zuschnitt der Mode aus den Siebzigerjahren, was jedoch, da die Gestalt eine tadellose und jugendlichschlanke war, in keiner Weise störte. Und da es auch sonst ganz schmucklos war und sein meisterhaft gemaltes Weiß nur über dem Knie von dem flammenden Rot der Mohnblüten auf dem Gartenhut unterbrochen wurde, mußte sich das volle Interesse dem Haupt und Antlitz des jungen Weibes zukehren, auch wenn es weniger anziehend gewesen wäre.
Ob es eigentlich schön war? Nach den landläufigen Begriffen sicher nicht. Dazu war die Stirne zu hoch, die Nase zu energisch, der ganze Ausdruck zu traurig und herbe. Sah man aber dann die vollen Lippen des kindlich kleinen Mundes, die feinen Ohren, das schlanke und biegsame Hälschen, das unter der Last des leicht vorgeneigten Hauptes wie der Schaft einer allzu schweren Blüte fast einzuknicken schien, dann mochte man sich sagen, daß dieses Antlitz vielleicht Augenblicke höchster Schönheit haben könnte, wenn nicht dieser tiefe, strenge Ernst wie eine dunkle Gewitterwolke über dem Glanz seiner Jugend läge. Dies alles aber entdeckte man erst bei näherem Zusehen. Und so blieb der Haupteindruck der eines Antlitzes von rätselhaftem und schwermütigem Zauber, der, leicht über alle Züge gebreitet, sich zu seiner ganzen Gewalt in zwei Augen von seltener Größe und Tiefe sammelte. Die Technik des Bildes war wohl auch eine meisterhafte. Doch konnte ich mich nicht entsinnen, jemals vor einem Frauenbildnis gestanden zu sein, das mit ähnlicher Macht zu meiner Seele gesprochen und alles Menschliche in ihr aufgerüttelt hatte.
Ich träumte noch vor dem Bilde, als ein trotz seiner Hast etwas schwerfälliger Schritt mich aus meinen Gedanken emporriß und mein Herz unwillkürlich rascher schlagen machte. »Overhoff!« dacht' ich. Und damit war alles andere versunken für mich …
Ein dumpfer Laut, in dem etwas von dem stolz verhaltenen Schluchzen einer Mannesbrust zitterte, war sein erster Willkommsgruß gewesen. Dann begann er nach den einleitenden Worten zu suchen. Aber ich wollte ihn nicht zu irgend einer Komödie zwingen. Nicht mehr als er mochte und konnte sollte er mir sagen. Und so hielt ich seine Rechte mit warmem Druck zwischen meinen beiden Hände fest und sah ihm nur in die lieben, einst ach! so sonnigen Augen. Und dabei gingen unsere Blicke eine ganze Weile hin und wider, und auf meine stummen Fragen erhielt ich scheue, lautlose Antworten …
Es war gerade kein verhärmter Mann, der mir da gegenüberstand. Aber die Fülle, die sein Körper gewonnen, schien keine gesunde, und das bleiche Antlitz war geradezu unheimlich aufgedunsen, die Lider seiner Augen wie von oftdurchwachten Nächten gerötet und verquollen. Der Ausdruck des ganzen Antlitzes die jahrelange Arbeit von Gedanken und Empfindungen, die sich immer nur nach einer Richtung hinbewegt und seinen schlaffen Zügen etwas Gequältes und unheimlich Abgeschlossenes gaben.
Mit einem leisen Gegendruck entwand er mir zuletzt seine Hand. Dann glitt sein Blick langsam in den Garten hinaus. Und mehr gemurmelt als gesprochen kamen endlich die ersten zusammenhängenden Worte über seine Lippen. »Ja, ja, das Leben! Nun, wie du siehst, hab' ich mein Teil weg!« Er wollte etwas von dem vornehm-leichten Ton hineinlegen, mit dem er in seiner Jugend über unangenehme Dinge hinwegzugleiten liebte. Aber es wurde nur ein merkwürdig-schriller Klang daraus, der sich spröde und fast gläsern anhörte. Als hätte er mit den zersprungenen Bechern seiner Jugend noch einmal anstoßen wollen. Ein trauriges »Prosit«. Und ich hörte es, ohne zu antworten, in der Dämmerung des schwermütigen Raumes langsam verhallen …
»Nun aber – du!« rief er mit einem leichten Schlag auf meine Schulter, wie jemand, der in nervöser Hast die Aufmerksamkeit von sich ablenken möchte … »Du warst ja immer draußen unterdes. Bist kein solcher Provinzknoten geworden wie ich! Da wirst du mir wohl auch allerlei zu erzählen haben, wie?«
Ich suchte seinen Blick festzuhalten, der, obwohl er noch etwas von der alten Sonne für mich übrig hatte, bis jetzt immer scheu und ängstlich an mir vorübergeflackert war. Und ruhig aber fest erwiderte ich: »Jeder hat sein ›draußen‹. Es ist der Ort, wo einen einmal das Schicksal erreicht hat. Alles andere bleibt dann für immer – Provinz!«
Ein leichtes Beben lief durch seine hohe Gestalt. Dann sah er mir zum erstenmal voll und tief in die Augen. Und mit einer Stimme, in der das alte Vertrauen von einst vibrierte, sprach er leise: »Da hast du recht!« Dabei atmete mein Freund tief auf. Auch merkte ich, daß er nach diesen Worten in ganz eigentümlicher Weise hinter sich sah, wie jemand, der die unsichtbare Nähe einer Gewalt empfindet, die ihn für immer niedergestreckt. Zuletzt strich er sich mit einer halb müden, halb verträumten Bewegung die Haare aus der Stirne, und während er seinen Arm langsam unter meinen schob, sprach er: »Komm hinaus! Ich hab' einen alten Mosel aus dem Keller holen lassen. Den wollen wir im Grünen trinken … wie einst!«
Die Sonne stand bereits ziemlich tief im Westen, als wir auf die Freitreppe hinaustraten; und ihre schräg einfallenden Strahlen brachten für einen Augenblick auch in die dunkle Wildnis des Gartens etwas von dem fröhlichen Glanz da draußen. Als ich jedoch das Antlitz meines Freundes in dieser grellen Beleuchtung sah, hatt' ich fast Mühe, einen Schrei zu unterdrücken. Mit solch schonungslosen Griffeln hatte sich ein Leid darin eingegraben, dessen stumme Zeichensprache um so erschütternder wirkte, je fester der Mund Overhoffs darüber geschwiegen haben mochte. Selbst etwas von der langsamen, aber stetig fortschreitenden geistigen Verödung des Monomanen stierte mir jetzt aus den einst so beweglichen Zügen entgegen. Und ich war nun geradezu froh, daß ich ihn zuerst in der schwermütigen Dämmerung des alten Gemaches gesehen, wo das ungewisse Licht meiner Erinnerung gestattet hatte, aus einigen wenigen, gleichsam stehen gebliebenen Zügen mir den Overhoff von einst wieder vorzutäuschen. Hätt' ich ihn auf der Straße oder wie jetzt in dem unbarmherzig enthüllenden Vollschein der Sonne zuerst gesehen, ich wäre zu tiefst erschrocken … Vielleicht sogar wie an einem Fremden vorübergeschritten.
Immerhin gelang es mir, meiner Bewegung so weit Herr zu werden, daß er nichts davon merkte. Und so schritten wir über die breite Steintreppe langsam einem Tischchen zu, das sich der Tür des Gemaches, das wir soeben verlassen, gerade gegenüber befand und, wie einige auf den ringsum stehenden Stühlen herumliegende Journale erkennen ließen, ein Lieblingsplatz meines Freundes sein mochte. Drei alte, mächtige Zypressenkegel schlossen den Platz zu einem kleinen Kreisrund ein, so daß man tatsächlich weder einen Blick nach rechts, noch nach links frei hatte, sondern bloß nach der Treppe und dem durch die weit offen stehende Flügeltür herausdämmernden alten Gemach. Ich wußte auch nicht gleich, ob es Absicht oder Zufall war, daß mein Freund gerade an jener Stelle Platz nahm, von der aus man die Tiefe des Gemaches am besten überschauen konnte. Daß aber sein erster Blick, als wir uns niederließen, sogleich dahinging, merkt' ich sehr wohl, und so glitt ihm, mehr unwillkürlich als neugierig, auch der meine nach. Fast erschrak ich aber. Denn nun war es tatsächlich, als schritte die Frau aus jenem Bilde in den Garten heraus, den Blick fest auf Overhoff gerichtet, die in ihren Winkeln leise zuckenden Lippen zu einem Worte geöffnet, das im nächsten Augenblick die Stille um uns lebendig machen mußte. Und nun sah ich auch, daß der Rahmen jenes Bildes genau dem der Tür nachgeahmt und das Ganze mit einer leichten Neigung nach vorne so an der Wand angebracht war, daß die unwillkürliche Haltung, die ein rasch vorwärts Schreitender einnimmt, täuschend dabei zur Geltung kam. Und ganz unter der Gewalt dieses Eindrucks rief ich: »Ein merkwürdiges Bild das … und die Bewegung so meisterhaft, daß man glauben möchte, die schöne Frau werde alsbald hier draußen herumgehen!«
Das war mir bloß »herausgefahren«, wie man sagt. Und schon im nächsten Augenblick hätt' ich weiß Gott was dafür gegeben, es nicht gesagt zu haben. Eine so schmerzliche Bewegung zuckte über das Antlitz Overhoffs hin. Als wäre irgend ein wunder Nerv darin plötzlich bloßgelegt worden und risse nun in seinem Krampf alle anderen Muskel mit sich. Und dabei hatt' ich noch die beschämende Empfindung, nun wirklich indiskret gewesen zu sein. Ich fühlte, wie mir eine brennende Röte langsam über den Nacken emporkroch. Was mochte er nur von mir denken? Aber da spürte ich, wie seine Hand sich leise auf meine legte. Noch immer die weiche, gleichsam tastende Künstlerhand. Und während er die andere vor die Augen hielt, um über die grellen Sonnenflecke auf der Freitreppe hinweg tiefer in die Nacht jener Frauenaugen versinken zu können sprach er tonlos: »Hier – herumgehn, meinst du? Ja, das tut sie noch immer. Tag und Nacht … jede Stunde all die langen, langen Jahre her. Und darum kann sie nicht sterben und ich nicht mehr – leben!«
Ich wollte eigentlich nicht weiter fragen. Aber der Ausdruck seines Antlitzes war in diesem Augenblick ein so zerquälter und erbarmungswürdiger, daß ich, beide Arme über den Tisch nach ihm streckend, aus innerstem Mitleiden ausrief: »Friedrich … was ist mit dir geschehen?«
»Ja, siehst du!« sagte er. Und dabei kam etwas von dem hilflosen Blick eines geschlagenen Tieres in seine Augen. Doch gleich darauf schüttelte er leise das Haupt: »Aber nicht nach mir sollst du fragen! Nach dem, was die dort durch mich gelitten … was ich in unseliger Verblendung an ihr geschehen ließ … das macht meinen Fluch aus und meine Reue!«
Da der alte Johann gerade den Wein und die Gläser brachte und seine Frau, sichtlich neugierig, auch einmal jemand anderen zu sehen, mit einem Tischtuch hinter ihm getrippelt kam, blieb es eine Weile still zwischen uns. Nur der Abendwind fuhr mit einem jähen Stoß über den Garten, daß es wie ein leises, trauriges Nicken durch die mächtigen Buchen vor der Freitreppe ging und die Schatten ihrer auf und nieder schwankenden Zweige drinnen geheimnisvoll über das im Abendglanz aufleuchtende Antlitz der blassen Frau hinglitten.
Leise gluckste der Moselwein in die Gläser. Der alte Johann trollte sich sofort. Und als auch sein Weiblein merkte, daß es hier nichts zu erlauschen gab, sahen wir uns sehr bald allein. Friedrich hatte mir Bescheid getan. Dann schob er das Glas weit von sich.
»Du trinkst nicht?« fragt' ich.
»Sonst könnt' ich gar nicht mehr schlafen!« gab er schwer aufatmend zurück. Ich glaubte aus dieser Äußerung zu erkennen, daß es ihm vielleicht sogar eine Wohltat wäre, wenn er etwas von seinem Gram in ein verwandtes Herz ausschütten könnte und nahm daher mit Absicht unser früheres Gespräch wieder auf. Ich will auch gar nicht leugnen, daß selbst ein bißchen Neugierde dabei war. Denn die ersten Worte, mit denen er mir von jener Frau gesprochen, hatten so unbestimmt geklungen, daß ich nicht bloß darüber im Zweifel war, ob sie noch lebe, sondern auch über den Ort ihres Aufenthaltes. Weder unser Wirt noch seine Frau hatten mir von einem jungen weiblichen Geschöpf in der nächsten Nähe Overhoffs gesprochen. Und so fragt' ich ziemlich unvermittelt: »Du entschuldigst schon … aber nun weiß ich wahrhaftig nicht: ist es eine Tote oder eine Lebende, die du so betrauerst?«
»Glücklicher, du!« gab er mit einem düsteren Blick zurück. »Der nur Lebende kennt und Tote! Und die anderen, die wiederkommen, ewig? Mit allen Qualen des Lebens und allen Schauern des Todes?! Die so eins mit uns werden durch das Blutband einer Schuld, daß es kein Entrinnen mehr gibt … weder vor ihnen, noch vor dem eigenen Gewissen? Das – Zwischenreich, weißt du … das wir nicht sehn und das doch überall da ist … Mitten im sonnigsten Leben! Ach, red' mir nicht davon, daß ich einmal gelacht hab' über das alles! Daß ich die Schönheit geliebt und Anakreon gesungen und die Sonne angebetet habe! Da irgendwo in einem großen Friedhof bei Wien liegt eine begraben … neben einem Mann, dem ich sie in die Arme gejagt habe. Da sie noch lebte, war sie schon so gut wie tot für mich. Und nun sie tot ist …« Ein unheimlich heiseres Lachen stieg ihm in die Kehle. »Weißt du, daß ich jetzt mein ganzes Vermögen hergeben könnte, um den fleischlosen Mund noch einmal zu küssen? Aber jenes Grab gehört nicht mir! So hab' ich wenigstens das Haus gekauft, das mir von ihrer Liebe und meinem Frevel erzählt … die Stufen, die einst der Saum ihres Kleides gestreift, während sie, von meiner Roheit ihrem Schicksal entgegengepeitscht, hier herumirrte. Und da – zerfleischt sie mich nun!«
Er hatte die letzten Worte so leise gesprochen, daß sie fast mit dem Geraun des Abendwindes ineinanderflossen. Und dabei wieder jener scheue Blick hinter sich … Ich weiß nicht warum, aber plötzlich war mir, als hätt' ich wieder jene trostlose Bergwiese vor mir, gespenstisch und todtraurig, wie ich sie durch die blaue Glastafel jenes Gartenhauses gesehen … »Die Schatten,« dacht' ich, »die Schatten!« Und ein Schauer kroch mir über die Seele.
Overhoff lehnte sich indes langsam in seinem Stuhl zurück. Und während sein Blick, wie allgemach erstarrend, an jenem Bilde hing, begann er langsam: »Siehst du … so wie sie da aus dem Bilde auf uns zuschreitet, genau so ist sie mir zum erstenmal entgegengetreten … dasselbe Kleid, bis auf den Ton seines Weiß, dieselbe Art der Bewegung, ich glaub' sogar gleich viel Mohnblüten auf dem Hut. Nicht ein Fältchen, nicht eine Nuance anders! Ich muß das wissen. Und nicht bloß, weil ich sie dann noch oft so gesehen habe, und also ihr Bild getreu meinem Gedächtnisse nachmalen konnte. Im Gegenteil? Weil gleich der erste Eindruck, den ich von ihr empfing, ein so mächtiger war, daß mir alles andere um sie gleichsam zu versinken schien und eine Falte ihres Kleides wichtiger dünkte, als die ganze übrige Welt ringsum. So gestimmt war förmlich mein ganzes Wesen auf die Bildung, in der sie mir entgegentrat, so vorbereitet Aug' und Ohr und Sinne, sie in sich aufzunehmen und mit der heißen Zärtlichkeit einer schönheitsdurstigen Seele zu empfangen. Als hätt' ich sie schon lange gesehen … und immer nur sie! Den goldbraunen Haarsträhn, der aus dem griechischen Knoten herausgeschlüpft war und leis im Nacken hin und her wehte; die kleinen blassen, wie müden Kinderhände … die großen erstaunten Träumeraugen, die wie in dumpfer Sehnsucht noch so viel vom Leben erwarteten und doch schon so oft geweint hatten. Eine rührende Hoheit … es klingt fast paradox, und doch wüßt' ich keinen anderen Ausdruck für das, was ihr Wesen ausmachte und gefangen nahm an ihr.
Und dabei war ich so gar nicht vorbereitet, ihresgleichen hier zu treffen. Kein Mensch hatte mir von dem schönen, jungen Mädchen gesprochen. Und ich selbst war lediglich in der Absicht gekommen, einen alten, einflußreichen Hofrat zu besuchen, mit dem mich Baron Vittingstorff unter allerlei Voraussetzungen bekannt gemacht. Denn der Hofrat hatte bei der Vergebung von Staatsaufträgen ein gar wichtiges Wort mitzureden. Auch war er ein feingebildeter Mann. »Ein alter Josefiner«, wie er selbst sich gerne nannte. Und da das »Kaseck« sichtlich seinen Beifall gefunden und in Wien damals alle möglichen Monumentalbauten in Angriff genommen werden sollten, konnt' ich mir von seiner Gewogenheit immerhin einiges versprechen. Ich kam also tatsächlich mit sehr nüchternen Gedanken her. Und daß mir statt des gesuchten Protektors zuerst ein junges Geschöpf entgegentrat, hätte mich im schlimmsten Fall etwas ablenken und aus dem Konzept bringen, nie und nimmer aber gemütlich so tief packen können, wenn nicht …« Er hielt plötzlich inne. Dann schüttelte er mit einem hilflosen Blick das Haupt. »Ja, siehst du, das läßt sich eben nicht erzählen … das muß man erlebt haben. Eine – eine solche Verzauberung auf den ersten Blick hin! Und drum glaub' ich noch heute, daß es nur deshalb möglich war, weil ihr Bild gleichsam wie ein vom Schicksal vorausgeworfener Schein in meiner Seele dämmerte.«
Mein Blick irrte zugleich mit dem seinen wieder nach jenem Bilde. »Du sahst eben mit Künstleraugen!« warf ich ein.
»Weil ihr Körper diese schönen Verhältnisse hat, meinst du? Diese – diese Architektonik? Nein, lieber Freund! Zwei Jahre vorher hatt' ich an dem stolzen Leib einer Römerin ganz andere Formen bewundert. Es war im Gegenteil etwas anderes. Und – ja … nun kommt das Seltsame daran … gerade das, was ich immer aus meinem Schönheitskanon gestrichen hatte – gerade das überwältigte mich bei ihrem Anblick! Und so erfuhr ich damals sozusagen das erste Wunder meines Lebens. Fühlte mich einem Reiz erliegen, den ich, weil er der Antike gefehlt, nie hatte gelten lassen. Und der, nun er mir in höchster Vollkommenheit verkörpert entgegentrat, mich einfach auf die Knie zwang. Etwas in der Art jener Täuschung, weißt du, von der mir schon manche Maler erzählt. Die ihr halbes Leben lang in einer Richtung und Technik tätig gewesen, bis sie eines Tages in der entgegengesetzten ihr Meisterwerk schufen!«
Ich sah ihn erstaunt an. »Welchen Reiz meinst du da?«
Er strich sich nervös die Haare aus der Stirne: »Den Reiz, welchen die Prärafaeliten verherrlicht: Seelenschönheit! Der uns nicht angeboren ist. Den wir durch keine glückliche Kombination der Natur und des Schicksals ererbt haben. Den wir vielmehr selbst erwerben müssen. Durch Leiden und Sorgen … über Enttäuschungen und Erniedrigungen hinweg – täglich! Züge, an denen drei mächtige, aber grausame Künstler bilden: Der Schmerz, der Stolz und die Entsagung!«
Ich nickte ihm leise zu. Hatt' ich doch beim ersten Blick in jenes geheimnisvolle Frauenantlitz den Zauber derselben Gewalten empfunden, die Overhoff da nannte. Aber daß gerade er ihm unterlag! Ich schüttelte unwillkürlich das Haupt. »Du nanntest das einmal mit getauften Augen sehen,« sprach ich lächelnd.
Und es dunkelte seltsam in seinem Blick, als er erwiderte: »Ja … und es war mein Verhängnis, nicht zu wissen, daß auch ich solche hatte! Damals freilich …« Er wischte mit der Rechten langsam über Stirn und Augen hin. »Siehst du, genau so eilte sie damals heraus: Den schlanken Oberkörper leicht vorgebeugt, den Hut am Arme baumelnd, wie jemand, der drauf und dran ist, eine freie Stunde für sich auszuleben. Wer weiß, ob sie nicht sogar zwei Stufen auf einmal genommen hätte beim Herunterspringen über die Treppe, wenn sie sich noch allein gewußt … Aber so sah sie plötzlich mich auftauchen und blieb in erzwungener Ruhe auf dem Ansatz der Treppe stehen, meinen ehrerbietigen Gruß mit derselben anmutig-leichten Neigung des Oberkörpers erwidernd, die schon früher mein Wohlgefallen erregt hatte.
Daß Sektionschef Brandt keine Frau mehr hatte, wußt' ich bestimmt. Ganz dunkel kam mir sogar vor, als hätt' ich da oder dort gehört, er sei überhaupt nie verheiratet gewesen. Da es aber niemals in meiner Art lag, mich um die Verhältnisse anderer Leute zu kümmern, war ich überzeugt, auch diesmal so schlecht als möglich unterrichtet zu sein. Zudem widersprach ja der Augenschein sichtlich allem, was ich zu wissen geglaubt hatte. Denn die junge Dame konnte doch nur die Tochter oder Nichte Brandts sein. Die schlichte aber gewählte Eleganz ihrer Kleidung; ihre Art, einen Gast an sich herankommen zu lassen; der kühl prüfende Blick, den sie über mich hingleiten ließ – alles an ihr zeigte die selbstsichere Ruhe der vollendeten Dame. Und wenn mich etwas an ihrem Wesen befremdete, so war es nur der Hauch strenger, fast herber Hoheit, der fühlbar von ihr ausging und bei ihrer Jugend etwas wunderlich anmuten durfte. Denn wie sie da vor mir stand, hätt' ich ihr kaum zwanzig Jahre zugesprochen. Ich muß erwähnen, daß ich durch einen Zufall das Türchen des Gartens offen gefunden hatte, und ohne von jemandem gesehen oder gemeldet worden zu sein, so weit vorgedrungen war. Sie durfte deshalb über die so plötzliche Nähe eines Fremden allerdings etwas erstaunt sein, und ich mußte mich beeilen, sie nicht länger über den Zweck meines Erscheinens im Unklaren zu lassen.
Als ich ihr meinen Namen nannte, zeigte mir ein Blick flüchtigen Interesses, daß sie schon von mir gehört hatte. Und so fügte ich fast unwillkürlich hinzu: ›Ich hatte bereits ein paarmal die Ehre, mit Ihrem Herrn Papa zu sprechen. Und da er mich selbst zu diesem Besuch ermuntert –‹
Ihr Blick glitt langsam an mir nieder: dann gruben sich die Finger ihrer Rechten, die das Kleid leicht gerafft emporhielten, tiefer in die weichen Falten. Und mit einer Stimme, die etwas von dem Alt einer fern angeschlagenen Glocke hatte, erwiderte sie ruhig: ›Sie irren. Ich bin nicht die Tochter des Hauses! Aber setzen Sie, bitte, den Hut auf. Drinnen ist auch eine Tür offen, und hier zieht es recht empfindlich!‹
Ich glaubte mich nicht rasch genug verbessern zu können, und so erwiderte ich: ›Ich hatte bestimmt gehofft, den Herrn Onkel zu Hause zu finden –‹
In diesem Augenblicke kehrte sie sich langsam ab. Und während sie mich durch eine vornehm-leichte Handbewegung zum Eintritte aufforderte, bemerkte sie mit einer Betonung, die eine gewisse Entschiedenheit hatte: ›Herr Brandt ist auch nicht mein Onkel! Ich steh' einfach seinem Haushalte vor. Da er aber der beste Freund meines verstorbenen Vaters war und schon seit meiner Kindheit die Sorge für mich übernommen hat, genieße ich hier allerdings einiges Heimatsrecht!‹
Ich weiß nicht, warum ich mir plötzlich einbildete, bei den letzten Worten ein leises Zittern in ihrer Stimme gehört zu haben. Da ihr äußeres Wesen doch ganz unverändert blieb, und die Art, wie sie mir zu gleicher Zeit einen Platz anwies und sich selbst in der Ecke des Sofas niederließ, in keiner Weise von der konventionell-kühlen Höflichkeit abwich, mit der man einem Fremden zum erstenmal begegnet. Und so sagt' ich mir damals, daß dieser Eindruck wohl nur eine Täuschung gewesen, angeregt durch das tiefe Mitleid, das ich plötzlich mit dem zarten Geschöpf empfand, das ein rauhes Schicksal genötigt, die jungen Wurzeln schon so früh in fremden Boden zu senken. Denn ihr Vaterhaus war es ja doch nicht! Und die mit so dunklem Ernst ins Leben starrenden Augen, die frühe Falte zwischen den hochgebreiteten Brauen, der herbe Zug um den kleinen Mund – sie alle begannen mir plötzlich eine leise Geschichte zu erzählen, die das Strenge ihres Wesens in ebenso viele erduldete Bitternisse und Drangsale auflöste und um das weiche Kinderantlitz die Dornenglorie des Schicksals wob. Und nun sah ich auch alles, was hilflos und rührend war an ihr: das dünne Hälschen, die kleinen blassen Hände, die an Armen saßen, die noch etwas merkwürdig Unreifes hatten und über die flüchtige Rundung der ersten Entwicklungsjahre nicht hinausgekommen waren. Dazu die schmalen Schultern, der schlanke, biegsame Oberleib … Alles, wie in der Knospe stecken geblieben und doch schon ins harte Joch des Lebens gezwängt. Und unwillkürlich dacht' ich: Wie gut, daß du wenigstens dieses Heim gefunden! Draußen hätte dich längst ein Sturm genommen und hinweggefegt … oder du lägst zermalmt unter den Rädern des Lebens!
Denn es war etwas in ihrer Art, das den Glauben an eine ernste Widerstandsfähigkeit nicht recht aufkommen ließ … dieses Kindliche, Rührende, wie gesagt! Und so mochte man ihr wohl eine impulsive Tat zutrauen, die sie zum Maß tragischer Höhe emporwachsen ließe, nie und nimmer aber jene täglich die Zähne zusammenbeißende Energie, die notwendig ist, um im Kampfe des Daseins zu bestehen.
Dies alles aber ging mir damals mehr durchs Herz als durch den Kopf. Und so rasch, daß es nicht länger währte als der Blick, mit dem ich die weiße Gestalt vor mir umfing. Immerhin schien sie etwas davon zu erraten. Vielleicht auch bloß zu fühlen. Denn es war eine geradezu mimosenhafte Bewegung, mit der sie, die Arme an sich ziehend, ihr Wesen gleichsam vor mir zu bergen suchte, und mit einem leichten Schauer auf das Fluidum einer Empfindung reagierte, die mit unsichtbaren Fühlern nach ihr tastete. Sogar blässer wurde sie, wie mir schien; und durch ihre Augen flog ein irres Drohen, wie ich's zuweilen an verfolgten Tieren beobachtet habe. Eine kleine Pause entstand. Und ich fühlte, wie die Befangenheit, in die ich das junge Geschöpf versetzt, langsam auf mich zurückzuwirken begann. Denn mein stummes Gegenüber bewahrte trotz alledem eine fast königliche Haltung, während ich mich in der unangenehmen Lage des Mannes befand, der den unrechten Ton angeschlagen und dem trotz der besten Absichten im entscheidenden Augenblick nichts einfallen will, als eine öde Galanterie. Aber jemand mußte doch reden … Auch klangen mir ihre letzten Worte und der Ton, in dem sie gesprochen worden, noch immer in der Seele nach. Und mochte sie's nun wie immer aufnehmen, ich fühlte, daß bei der Artigkeit, die auszusprechen ich im Begriffe war, auch meine ehrliche Überzeugung mithielt. Und so sagt' ich endlich: ›Fräulein sprechen so bescheiden von dem Heimatsrecht, das Sie hier genießen. Und mir scheint vielmehr, daß der Mann zu beneiden ist, dem solche Hände das Haus zur Heimat umschaffen!‹
Ihr Auge tauchte einen Moment wie forschend in das meine. Dann stieg eine leichte Röte in ihre Wangen. Und während ihr Blick langsam an mir niederglitt, erwiderte sie fast herb: ›Ich tu' hier einfach meine Pflicht. Nicht mehr und nicht weniger!‹ Und die Falte zwischen ihren Brauen wurde noch tiefer.
Ich weiß nicht, warum es mir plötzlich durch den Sinn ging, daß mir Sektionschef Brandt noch nie von seiner jugendlichen Hausgenossin gesprochen. Aber auch sonst niemand. Obwohl ihre Schönheit und ihre Art, sich zu geben, gewiß nie und nirgends unbeachtet bleiben konnten. Auch daß ich ihr auf keinem der hier begangenen Spazierwege begegnet war, fiel mir ein. Und unwillkürlich sagte ich: ›Vielleicht nehmen Fräulein Ihre Pflicht doch etwas zu ernst. Ich bin nun schon lange hier und hatte noch nicht einmal das Vergnügen Ihrer Begegnung. Sie sind also immer daheim?‹
Ihr kindlich zarter Arm, an dem ein schmaler Goldreif blinkte, wies mit einer ruhigen Gebärde nach dem schaukelnden Grün des Gartens hinaus. ›Ich bin immer hier. Es genügt mir!‹
›Also keine Freundin der Geselligkeit?‹ wagte ich weiter zu fragen. Und da sie, ohne zu antworten, noch immer in den Garten hinausstarrte, setzte ich leiser hinzu: ›Bei Ihrer Jugend?‹
Ihre dunklen Brauen schoben sich kaum merklich zusammen. Und ohne den Blick nach mir zu kehren, erwiderte sie langsam: ›Wann war ich denn jung? Ich weiß es selbst nicht!‹
Das fiel so tonlos in die sommerliche Stille hinein, die rings um uns brütete, daß es eher der Abschluß eines Selbstgespräches als eine Antwort zu sein schien. Der leise Aufschrei eines Menschenherzens gegen eine Gewalt, die da irgendwo lauerte, unsichtbar und doch zermalmend. Und die dunklen Buchenkronen, die, von einem jähen Windstoß gepackt, plötzlich knarrend die alten Häupter schüttelten, schienen ihr ein trauriges: ›Niemals, niemals!‹ zuzurauschen …
›Übrigens vermiß' ich hier nichts und niemanden!‹ setzte sie nach einer Weile hinzu. Und dabei flog ein Blick echt jungfräulichen Trotzes zu mir hinüber. ›Ich hab' eine Seele, die mit allem reden kann: den Blumen und den Winden und den Vögeln! Und alle reden zu mir. Am lautesten die Einsamkeit, die ich so liebe! Wen sollt' ich da vermissen? Die Menschen schwatzen einem doch das Beste vom Leben weg. So hab' ich immer Frieden und Sammlung und beste Gesellschaft, wie Sie sehen. Die Ulmen und Buchen da sind an die zweihundert Jahre alt. Und wenn sie im Sonnenglanz ihre Blätter leuchten lassen oder im Gewittersturm aufstöhnen … Gott, was spricht da nicht alles zu einem! Wer das lieben und belauschen gelernt hat, bleibt stumm für die Menschen!‹
Sie hatte auch diese Worte nur scheinbar nach mir hingesprochen. Denn während sie noch sprach, glitt es plötzlich wie ein goldenes Traumnetz über die dunklen Augen, das sie verschleierte und so rätselhaft schön erscheinen ließ, wie ich mein Lebtag keine gesehen. Dabei hob ein leiser Seufzer die junge Brust. Und während sie die Arme im Nacken verschränkte und das Haupt langsam zurücksinken ließ, sagte sie mit einem seltsamen Nicken: ›Ja, da draußen! Da ist, was man im ganzen Leben vergeblich sucht: Die Güte!‹
›Vielleicht haben Sie noch nicht recht gesucht!‹ wagte ich leise einzuwerfen. ›Und dann … es gibt Stunden, wo uns die Natur doch nicht das Letzte sagen kann. Bange, trübe; wo sie uns gleichsam von sich hinweg und an Unseresgleichen weist. Nun werden Sie vielleicht lächeln über eine Frage, die ich Ihnen stellen möchte. Und doch ist sie aus innerster Erfahrung herausgeboren. Was machen Sie also, wenn die Sonne ein paar Tage nicht scheint –?‹
›Sie vergessen schon wieder, daß ich immerhin einiges zu tun habe!‹
›Gut. Und wenn Sie nichts mehr zu tun haben? Wenn Sie müde sind und an sich selbst denken dürfen?!‹
Ihr Blick ruhte eine Weile auf mir, dunkel und forschend. Dann öffnete sie mit einem herben Lächeln die Lippen. ›Wenn ich an mich selbst denken darf? Oh –, Dann setz' ich mich hier herein und laß mir von dem alten Holzfries da oben etwas vom Leben und von den Menschen erzählen!‹
Mein Blick ging dem ihren nach. Aber mehr staunend als neugierig. ›Warum gerade von dem?‹
›Es ist doch eine Jagd!‹ kam es zurück, leise, wie zwischen den Zähnen.
›Und?‹ fragt' ich. Denn ich begriff noch immer nicht.
Ihre Augen schienen noch dunkler zu werden. Das ist doch so einfach! Man sieht die Jäger und die Gejagten. Hier das Fest und dort die Angst und die Wunden und das – Ende! Den Glücklichsten gelingt es, sich irgendwo zu verkriechen. Einige verenden im Dickicht. Den Meisten wird der Hirschfänger ins Herz gestoßen. So tief und kunstgerecht, daß kaum mehr als ein Tropfen Blut hervortritt. Und irgendwo an der Ecke bläst einer das Halali. Um zu erzählen, daß die Jagd nun zu Ende ist. Für die einen so, für die anderen – so! Wer weiß, wer's uns einmal blasen wird? Aber da kommt Herr Brandt …‹ Damit erhob sie sich und schritt, den blumenschlanken Hals leicht zum Gruße neigend, an mir und Brandt zugleich vorüber. Geräuschlos wie jemand, der seine Pflicht getan und nun einfach abtritt … Mein Blick ging ihr nach, bis sie hinter diesen Zypressen verschwunden war. Und ich sagte mir: ›Dies Weib ist nicht bloß schön, sie hat auch Größe!‹ Und der gute Sektionschef mußte schon allerlei gesprochen haben, bis ich nur verstand, wovon eigentlich die Rede war.
Um so rascher schien er mich zu verstehen. Denn plötzlich unterbrach er sich selbst. Und während ein Wetterleuchten feinen Spottes über seine glatten Züge huschte, sprach er mit einem Blick, der halb wohlwollend, halb zudringlich war: ›Übrigens, diese Maria! Ein herrliches Geschöpf, nicht wahr? Und so gar nicht wie die anderen Frauenzimmer!
Da er nach derselben Richtung sah, in der seine jugendliche Hausgenossin verschwunden war, wußt' ich sogleich, wen er meinte. Obwohl es mir erst jetzt einfiel, daß sie mir nicht einmal ihren Namen genannt hatte. Ein Umstand mehr, wieder all meine Gedanken nach ihr hinzureißen. Der Rätselhaften, die so stolz schien und es doch zuwege brachte, sich so ganz als Sache zu behandeln! Aber ich wollte dem alten »Josefiner« nicht noch länger ein Schauspiel sein. Auch war ein Zug um seine Lippen, den ich früher nie so recht bemerkt hatte und der mir nun plötzlich fast weh tat. Ich erinnerte mich, den Mann an den Herrenabenden Vittingstorffs schon bei ganz saftigen Gesprächen belauscht zu haben, und glaubte plötzlich zu verstehen, warum auch er Maria ›so ganz anders fand als die übrigen Frauenzimmer‹. Nun ja … er selbst war Garçon! Aber ich weiß nicht, warum es mir plötzlich peinlich war, zu wissen, daß gerade er immer bloß »Frauenzimmer« gekannt hatte.
Als ich ihm sagte, daß seine Pflegetochter mir nicht einmal ihren Namen genannt, lachte er kurz auf. ›Sieht ihr ähnlich … sieht ihr ganz ähnlich! So geht sie an der Welt vorüber. Ja, ja … Und auch an den jungen Herren, mein lieber Overhoff!‹ Dabei kniff er die Augen ein und lächelte. Recht vergnügt und zufrieden, wie mir schien. Nur sein Blick wollte mir wieder nicht gefallen. Es war eine seltsame Unruhe darin und eine Zudringlichkeit, die einem fast in die Seele stach. Dazu kam noch eine momentane Befangenheit, die bei dem sonst so aalglatten Manne doppelt auffiel und mir deutlich bewies, daß er sich des unvorteilhaften Eindrucks, den er hervorrief, sehr wohl bewußt war. Auch stieg ihm eine plötzliche Röte bis an die Haare empor, die, obwohl bereits schlehweiß, noch immer dicht und nach der letzten Mode gescheitelt, um die Schläfen des feinen Diplomatenkopfes hingen. Er mochte einmal das gewesen sein, was die Wiener einen »verfluchten Kerl« nennen. Und die großen, dunklen Augen, die unter dem wohlgepflegten Schnurrbart fein lächelnden Lippen erzählten noch heute allerlei Geschichten. Verlegen wie er war, vergaß er aber im Augenblick selbst auf die Friseurkünste seines Bedienten, wühlte mit der Rechten die Haare durcheinander, schob, wie von der sommerlichen Hitze bedrängt, den Zeigefinger der Linken zwischen Hals und Hemdkragen und sprach endlich in einem Tone, der fast etwas Amtliches hatte: ›Übrigens heißt sie Maria Soltis, ist zwanzig Jahre alt und seit ihrem zwölften in meinem Hause!‹
Maria Soltis! Mir war, als hätt' ich ihren Namen bloß in Gedanken nachgesprochen. Aber plötzlich klang mir die eigene Stimme im Ohre wieder, so weich, so süß, als wären mir die zwei Worte auf den Lippen zerschmolzen. Und Brandt saß da und machte große Augen …
Immerhin bemühte er sich mit einem gewissen Wohlwollen, diesmal mir aus der Klemme zu helfen. Denn er bot mir eine Zigarre an. Und während er die Spitze der seinen elegant und mit einem gewissen Nachdruck abkippte, sagte er: ›Ja, ein klangvoller Name! Und ich dachte mir, daß er einem Künstler gefallen müsse. Weil wir aber schon bei der Kunst halten … wie geht Ihr Bau vorwärts?‹ Womit er mich ebenso gewandt als unauffällig von Maria ablenkte und unser Gespräch ins gewohnte Geleise brachte. Auch merkt' ich sehr bald, daß ihm Baron Vittingstorff auch meine weitere Zukunft ans Herz gelegt haben müsse. Denn er sagte mir, daß er daran denke, beim Minister dahin zu wirken, daß der Bau eines der geplanten Kunsttempel in meine Hände gelegt werde. Und als er so beiläufig meine Meinung über Stil und Ausführung hören wollte und mich in der Lage fand, ihm sogleich ein festumrissenes Bild vor die Augen zu stellen, wurde er sichtlich liebenswürdiger und zeigte schließlich ein Interesse und eine solch unbefangene Herzlichkeit, daß ich mich im stillen des dumpfen Widerwillens schämte, der sich bei seinem ersten Anblick damals in mir geregt. Ja, zum Schluß hatte er sogar mehr Eile mit der Fertigstellung meiner Pläne zu jenem Monumentalbau wie ich selbst. Und als ich ihm vorschlug, mir bis im Winter dazu Zeit zu lassen oder mindestens bis zur Vollendung des »Kaseck«, schüttelte er energisch das Haupt und sagte: ›Nein, nein, im Gegenteil, so bald als möglich. Und am liebsten wär's mir, Sie fingen schon morgen damit an. Zunächst weil ich die Pläne dem Minister zeigen will, bevor vielleicht andere Einflüsse sich geltend machen. Denn wenn der seine überflüssigen Pfunde in Marienbad gelassen hat, ist er immer am zugänglichsten. Dann ist's gut, so einen jungen Herrn nie unbeschäftigt zu lassen. Und endlich – haben Sie denn keinen Ehrgeiz? So ein Auftrag. Und die Ehren nach der Vollendung eines solchen Baues! Die ganze Welt wird Ihnen offen stehen … So alles auf einmal haben können, in Ihren Jahren! Ruhm, Orden, Titel, zuletzt vielleicht eine reiche Braut. Oder – alle Weiber, wenn's Ihnen so lieber ist!‹
Da hatt' ich wieder die elegante Faunmaske von den Herrenabenden Vittingstorffs vor mir. Und nur eines war neu dabei: die ebenso wohlwollende als überredende Hast, mit der er mich der neuen Arbeit und der Streberei entgegentreiben wollte. Endlich sagte ich auch ja! Aber aus ganz anderen Gründen, als er meinte. Denn in Gedanken sah ich mich so oft als möglich mit meinen Plänen hier aus und ein wandern. Sie sollten mir das ›Sesam‹ werden zu den verschlossenen Pforten dieses Hauses und eines Herzens, dem ich jede wilde Sehnsucht unterwerfen wollte für einen einzigen Glutblick aus den wunderbaren Träumeraugen! Und so dacht' ich beim Abschied aus dem vornehm-stillen Hause weder an den Ruhm noch an die Freuden dieser Welt. Sah vielmehr wie ein Erwachender tiefaufatmend noch einmal nach den drei Zypressen zurück und sprach leise, aber fest: ›Maria Soltis!‹ Und es zerschmolz mir auf den Lippen und rann mir durch den Leib, als hält' ich einen Zaubertrank hinabgeschlürft.«
Mein Freund schwieg. Und der Abendwind, der leis raunend durch Büsche und Bäume ging, rührte wie mit bebenden Fingern auch an die äußersten Spitzen der Zypressenkegel, so daß sie in wunderlicher Schwermut auf uns herniedernickten, während die Stämme selbst schwarz und regungslos in den aufblühenden Farben des Sonnenunterganges dastanden – düstere Zeugen für immer vergangener Tage! Overhoff lehnte sich, beide Hände gegen den Tisch stemmend, langsam zurück. Aber das leise Geknarr des eisernen Gartenstuhls und die Art, wie er die Zähne in die Lippen grub, verrieten mir die Kraft, die er aufwenden mußte, um die Erinnerung an die ersten Stunden seiner Leidenschaft ertragen zu können wie ein Mann … Noch heute, nachdem lange, lange Jahre im ewig steten Wogengange auch die letzten Trümmer seines Glückes in die Fluten gezogen. Weiß Gott, wie gern ich ihm ein Wort des Trostes gesagt! Aber manches an seiner Erzählung hatte mich doch auch wieder so wunderlich, um nicht zu sagen peinlich berührt, daß ich es nicht zu finden vermochte. Jedes Wort konnte da eine Wunde treffen. Und mich dünkte, es wäre genug an denen, die er sich selbst aufriß. Da ich aber zugleich fühlte, daß der Krampf, der ihm nun an die Seele getreten war, ordentlich nach einer Erlösung schrie, wollt' ich ihm irgend ein Wort hinwerfen, das ihn aus dem wirren Chaos seines Schmerzes wieder an ein Ufer retten konnte, von dem ein mitfühlender Mensch die Arme nach ihm streckte. So daß er in den schauernden Landen der Erinnerung bleiben durfte und doch das bischen Wärme empfand, das von einem treuen Herzen zu ihm herüberströmte. ›Und dann sahst du sie wieder?‹ fragt' ich.
Die Hände, auf die ich ganz leise meine Rechte gelegt, fielen in ihre natürliche Lage zurück. Seine Augen bekamen wieder Leben und Weichheit. Dann atmete er tief auf. Und während er mit der Linken schüchtern und zart wie ein dankbares Kind meinen Händedruck erwiderte, sank ihm das noch immer schöne Haupt ruckweise auf die Brust. Noch schwieg er. Aber mit der Starrheit des Körpers schien sich langsam auch die seiner Seele zu lösen, und als er mit einem tiefen Blick von unten herauf wieder nach jenem Bilde sah und dann die Stirne in die Hand des aufgestützten Armes legte, fühlt' ich, daß er wenigstens einer Qual zurückgegeben war, die wehtat, ohne zu zerfleischen.
›Ja, dann sah ich sie wieder,‹ murmelte er, seine Worte mit einem leisen Nicken begleitend. Und während sein Auge unverwandt an dem Bilde hing, sprach er leise in den Abend hinein: ›Siehst du, ich hatte ja sehr oft geliebt, bis dahin … hatte »manche Puppe besessen«, wie Heine irgendwo singt. Und die Liebe kennen gelernt – na! Sagen wir, von oben bis unten. Meine letzte Leidenschaft war eine heißblütige Römerin gewesen. Die Trägerin einer Fürstenkrone, der ich an einem oberitalischen See den Palazzo gebaut. Und die erste Nacht in dem neuen Heim schenkte sie mir. Und sag' ich "schenkte", so kannst du's in diesem Falle wortwörtlich nehmen. Meine Wünsche hatten sie zwar schon lange umworben … mit Blicken, die nur ein erwecktes Weib versteht. Und in ihren Augen hatten Gewitter geleuchtet, wie sie nach Schirokkotagen über die blauen Albanerberge heraufsteigen. Aber daß es so weit kommen könnte … Und doch geschah es! Und niemand wußte davon, als die Wogen des Sees und die marmorne Liebesgöttin, die durch die offene Loggia die göttliche Nacktheit ihrer Schwester sah.
Doch das erzähl' ich dir nicht, um zu prahlen. Nur um etwas von dem leisen Staunen in dir zu wecken, das mich selbst befiel, der nach dem Auskosten aller Wonnen und Räusche sich plötzlich so widerstandslos und befangen in der Gewalt eines jungen Mädchens wiederfand, das er zum erstenmal gesehen und kaum flüchtig gesprochen! Eine Sehnsucht kam damals über mich … weich, tränenselig, kindisch. Wie in den Jahren unserer Entwicklung. Und dabei eine eifersüchtige Angst … So, weißt du? als müsse jeden Augenblick ein anderer kommen und mir Maria fortnehmen. Über Nacht! Obwohl ich selbst keine Ahnung hatte, wer dieser andere sein könnte. Deshalb trieb es mich so bald als möglich wieder in ihre Nähe. Und da ich hierzu eines Vorwandes bedurfte, macht' ich mich schon den nächsten Tag an die Herstellung der Pläne, die Brandt von mir verlangt. Offen gesagt, ging ich mit einem gewissen Zagen an die Arbeit. Denn ich wußte aus früheren Tagen, daß eine heftige Leidenschaft meiner Stimmung nie förderlich gewesen. Und umgekehrt hatt' ich doch wieder zu viel von der gesunden Selbstsucht des Künstlers in mir, um dies nicht zu bedauern. Trotz aller Seligkeit, die Jugend und Liebe vereint bieten können.
Aber – wirst du mir's glauben? Auch hierin unterschied sich meine Leidenschaft für Maria scharf von jeder anderen, die ich bis dahin kennen gelernt. Gedanken und Einfälle strömten mir nur so zu. Und während ich an das stolze, bleiche Mädchen dachte, glitt das Große und das Schöne wie auf goldenen Wolken an mir vorüber, arbeiteten Hand und Zirkel und Richtscheit wie von selbst. Als hätte mir die Liebe plötzlich ein Wunderland aufgetan, in das ich nur hineinzublicken brauchte, um dann einfach aufs Reißbrett zu werfen, was ich da drinnen gesehen. Wie in einem Traum ging's, sag' ich dir! Und dabei hatt' ich immer Marias Augen vor mir … wie zwei geheimnisvolle Sterne unter den prächtigen Bogen der nachtdunklen Brauen hervorleuchtend. Du weißt, daß der Mystizismus nie meine Sache gewesen. Aber damals hatt' ich Stunden, in denen ich fest glaubte, daß mir erst diese wunderbaren Brauen das Geheimnis der Linie nach ihrer Wirkung und Harmonie geoffenbart hätten. Und wie hoch nun auch der Künstler in mir eine Liebe einschätzte, die ihn so rätselhaft erhob und befruchtete, brauch' ich dir wohl nicht erst zu sagen!
In einigen Tagen hatt' ich meine Arbeit zu Ende gebracht. Das Schaffen selbst war immer mein höchster Genuß gewesen. Meine größte Angst, ob das vollendete Werk auch vor mir selbst bestehen könne. Was sonst darüber geschwatzt wurde, hat mich immer kalt gelassen, wie du weißt. Damals aber war ich zum erstenmal mit mir selbst zufrieden. Rückhaltlos. Saß nur da und freute mich und staunte und schüttelte leise den Kopf dazu, als wär' mir ein Wunder widerfahren. "Marias Werk!" nannt' ich meine Arbeit im stillen. Mit dieser Widmung der Geliebten gleichsam alles zurückerstattend, was ich von ihr empfangen. Und dann träumt' ich in einzig seliger Nacht zu Ende, was so herrlich begonnen. Sah mein Werk, wie es sich langsam über die grünen Wipfel der Ringstraße emporhob. Wie es in schwülen Sommerabenden und in feierlicher Herbstklarheit in die Höhe wuchs. Immer freier, immer kühner. Bis seine goldene Kuppel eines Tages in den blauen Frühlingshimmel tauchte – nun selbst ein leuchtendes Stück der leuchtenden Stadt, die wir alle so lieben und preisen! Dann kam das festliche Gepränge des Eröffnungstages, und … Ja, siehst du! Von all den Ehren, die Brandt mir so lockend in Aussicht gestellt, griff mir auch nicht eine an die Leber, wenn ich daran dachte. Denn ich hatte mir fest vorgesetzt, daß der Tag der Eröffnung auch mein Hochzeitstag sein müsse. Und wenn ich daran dachte, krampfte sich meine Seele in einen einzigen Schauer zusammen. Die Fürstin war zu mir gekommen, nachdem ich ihren Palazzo vollendet. Aber über die Schwelle meines Ruhmes wollt' ich Maria tragen und keine andere. "Dies alles niederlegen auf ein geliebtes Haupt – ". Wie Feuerbach es geträumt und in seinem "Vermächtnis" niedergeschrieben. Ach, was soll ich dir sagen? Toll war ich, toll …! Und während mein Blut nach ihr tobte, hob sie meine Seele immer höher; hüllten sie meine Träume in Weihrauchwolken, so daß mir zuletzt fast selbst bange wurde, wie ich sie von diesem Altar dahin reißen sollte, wo ein Mann das geliebte Weib haben muß.
Aber auch findig und schlau machte mich meine Leidenschaft, und deshalb stand es von Anfang fest bei mir, daß Sektionschef Brandt durchaus nicht gleich den vollendeten Entwurf sehen dürfe. Ich fertigte also eine ganze Anzahl anderer Skizzen an, deren jede irgend einen Fehler hatte, der dem Auge eines so gewiegten Kunstkenners nur unschwer entgehen konnte und damit aus sich selbst den Wunsch nach einer höheren Vollendung erregen mußte. Und was ich bei dem einen Entwurf scheinbar in künstlerischer Hinsicht versäumt, ließ ich beim nächsten in der technischen Verwertung des Raumes als Mangel ins Auge springen, so daß jeder Plan gleichsam ein neuer Schlüssel zu den verzauberten Pforten des Waldschlosses wurde, hinter denen die wundertiefen Augen leuchteten, die fortan über meinen Tagen und Nächten brannten. Meinem Gönner wurde in dieser Weise die Möglichkeit geboten, da und dort nicht bloß mit seinen Kenntnissen zu glänzen, sondern auch mit seinem Rat gewichtig einzuspringen. Was, wie ich mir den Mann zu kennen schmeichelte, ihn noch mehr für mich einnehmen mußte. Denn er war von jener feinen Sorte der Machthaber, denen mit dem brutalen Bewußtsein ihrer Gewalt durchaus nicht gedient ist. Die vielmehr bei jeder Gelegenheit den feinen Reiz einer intellektuellen Bestätigung ihrer höchsteigenen Notwendigkeit empfinden wollen. Nun … ein Stück Machiavelli stak schon von meiner italienischen Mutter her in mir. Hätt' es jedoch bloß mein Vorwärtskommen gegolten, wär' ich mir selbstverständlich zu gut gewesen für eine solche Komödie. Aber die Liebe ließ mir alle Mittel recht erscheinen, die mich so oft als möglich in die Nähe Marias bringen konnten. Ganz abgesehen von einer dumpfen, aber sicheren Warnerstimme in mir, die nicht aufhörte mir zuzuraunen, daß Brandt meiner Leidenschaft für seine schöne Pflegetochter nichts weniger als ermunternd entgegenkommen dürfte.
Ich bereitete also in aller Heimlichkeit meine Wege vor und hatte dabei Stunden, wo ich sozusagen mit dem leisen Staunen eines Fremden mir selbst zusah, wie ich nach der einen Seite ganz Umsicht und kühl sondierender Diplomat war, während nach der anderen meine Leidenschaft wie ein toll gewordenes Tier dahinraste und im Traum schon Seligkeiten und Wonnen durchkostete, für deren Verwirklichung mir einstweilen auch die geringste Gewähr fehlte.
Wußt' ich denn, wie Maria für mich fühlte? Aber freilich, darüber ins Klare zu kommen, mußte nun meine Sache sein. Und so macht' ich mich mit einer Skizze auf den Weg, die ich selbst als Schüler nicht meiner für würdig gehalten hätte. ›Was wohl Brandt dazu sagen wird?‹ dacht' ich im stillen. Und auch daran, daß ich mich für kein Weib jemals so preisgegeben hätte. Aber diese Leidenschaft – wirst du's glauben? Meinen ganzen Stolz hatte sie aufgetrunken … Wie Flammen, die über ein ohnmächtiges Wässerlein hingehen. Oft war es mir geradezu, als hört' ich das Gezisch dieses Kampfes! Aber es war mein Blut …
Ich glaub', es war ein Sonntag Vormittag, als ich zum zweitenmal hinkam. Und zwar hatt' ich Tag und Stunde absichtlich gewählt. Ich wohnte damals in St. Pölten als Gast Baron Vittingstorffs. Und da auch Brandt einen alten Freund dort hatte, den er öfter zu besuchen pflegte, und der wie Brandt zugleich mit Vittingstorff bekannt war, konnt' es mir bei einiger Aufmerksamkeit recht wohl gelingen, zu erfahren, wann Brandt wieder in St. Pölten erwartet wurde. Richtig gelang's. Und dabei fügte es ein glücklicher Zufall so günstig, daß ich nicht einmal selbst zu fragen brauchte. Nur einfach zuhörte, wie Baron Vittingstorff bei der sonnabendlichen Billardpartie einem alten Geheimrat erzählte, daß Brandt den nächsten Vormittag nach St. Pölten kommen wolle, seinen Freund zu besuchen, der nicht unbedenklich erkrankt sei. Und daß Vittingstorff es bedauere, gerade morgen nicht in St. Pölten bleiben zu können. Denn die Jagden hatten bereits begonnen. Und ein Zehnender, der bisher noch alle Nachstellungen zu Schanden gemacht, hielt die Herren der umliegenden Jagdreviere gar gewaltig in Atem.
Ich selbst hätt' es nicht für möglich gehalten, daß mich der Gedanke, Maria wieder allein sehen und sprechen zu können, selbst inmitten einer lauten Gesellschaft so aufregen werde. Aber das Queue zitterte in meinen Händen. Und als die Reihe an mich kam, stieß ich so ungeschickt fehl, daß Vittingstorff mit einem befremdeten Kopfschütteln meinte: ›Na … daß auch Ihnen so was passieren kann.‹ Denn meine Stoßsicherheit erfreute sich einer gewissen Berühmtheit. Da ich aber wußte, daß weder Vittingstorff noch einer der anderen auch nur ahnen konnte, was in mir vorging, erwiderte ich achselzuckend: ›Weil mir das Kaseck dazwischen gekommen ist!‹ Worauf ich meine Absicht bekanntgab, gleich in der Frühe des nächsten Tages dahin aufzubrechen, um mich, unbeirrt vom Geschwätz der Poliere und dem Gesumm der Arbeit, an einem stillen Sonntagsmorgen ruhig und kritisch dem Eindruck meines langsam in die Höhe wachsenden Werkes hinzugeben. Vittingstorff war sichtlich erfreut über mein stetes Interesse an seinem Besitz. Meinte aber doch mit einem gewissen Bedauern: ›Dann findet also Brandt morgen niemanden zu Hause!‹ Da hatt' ich mich aber schon abgewandt wie einer, der gehört und auch nicht gehört haben konnte. Und mein Herz schlug einen ganz zuversichtlichen Takt dazu. Denn was so glücklich begonnen – konnt' es anders enden?
Als ich mich zu Bette begab, hatt' ich den besten Willen, so gut als möglich zu schlafen, um in aller Morgenfrühe den Weg nach dem Kaseck zu Fuß zurückzulegen. Auch den Diener bat ich, morgens ja nicht anspannen zu lassen, da ich einmal das Vergnügen einer stundenlangen Wanderung durch Wälder und Täler genießen wolle. Und so glaubt' ich alles aufs beste geordnet und legte mich ruhig zu Bette. Ja … aber … schlafen können. Wenn ein solcher Tag uns leuchten soll! Ich schloß die Augen und riß sie wieder auf, machte zehnmal Licht, um es ebenso oft wieder zu verlöschen, bis ich mich endlich in süßer Erschöpfung dem Zauber der durchs Fenster hereinflutenden Vollmondnacht und meiner Sehnsucht hingab, die heiß und ruhelos den kommenden Stunden entgegenpochte. Als es zu grauen begann, verstrickte mich die körperliche Müdigkeit in ein Gewirr seltsamer Träume, von denen ich nach dem Erwachen nichts zurückbehielt als das Gefühl einer leise raunenden Angst … derselben, die mir Maria immer in den Armen eines anderen zeigte. Und mit einer gewissen Beschämung dacht' ich, wie hilflos mich eigentlich diese Leidenschaft mache, die mich bereits mit allen Schauern der Eifersucht quälte, ohne daß ich mich auch nur des geringsten Besitztitels erfreute, der mir ein Recht dazu geliehen hätte! Wie ein dumpfer Zauber hielt es mein Fühlen und Wollen umklammert. So einer, weißt du, an dem der hinweggelogene Instinkt wieder erwacht und einem zwischen Seelenkämpfen und Entzückungsschauern sagt, daß man unendlich glücklich oder – elend daran werden müsse.
Dabei war aber die Spannkraft meiner Erwartung und Sehnsucht eine so große, daß ich, einmal mit den Vorbereitungen zu meinem Aufbruch beschäftigt, auch nicht die leiseste körperliche Ermüdung verspürte und auch der im Auftrage des bereits zur Jagd aufgebrochenen Barons noch einmal vorgebrachten Bitte des Dieners, mich doch lieber der freiherrlichen Equipage oder wenigstens eines Reitpferdes zu bedienen, ein fröhliches »Nein!« entgegenhielt.
Und so flogen mir auch die vier Stunden Wegs dahin, die ich durch taunasse Wälder und über sonnenbeglänzte Höhen zurückzulegen hatte, um zum »Kaseck« zu gelangen. Inmitten des tiefsten Schweigens, allein mit meinen Träumen und dem fröhlichen Bewußtsein, daß der ahnungslose Sektionschef in eben derselben Zeit zur Fahrt nach St. Pölten rüste. Ja, der Gedanke hatte etwas so Drolliges und zugleich Faszinierendes für mich, daß ich sozusagen mit der Uhr in der Hand seine Vorbereitungen und Abreise verfolgte. Und als eine halbe Stunde später durch das grüne Dickicht der Wälder das Geroll eines rasch dahineilenden Zuges an mein Ohr schlug, wußt' ich genau, welcher es sei und wer neben so und so viel gleichgültigen Menschen noch darinnen sitzen mochte.«
Overhoff hatte dies alles so vor sich hingesprochen – ohne auch nur eine Minute den Blick von jenem Bilde zu wenden. Ein Willenloser, vor dem das Schicksal, das ihn gebrochen, noch immer wie ein Bändiger stand und ihn ansah mit dem kalten, zwingenden Blick des Hypnotiseurs. So daß ich zuweilen die unheimliche Empfindung hatte, als wären auch seine Worte nur das Echo einer anderen Stimme und der einst so willensfrohe Mensch nichts mehr als das Medium der Gewalten, die ihn vernichtet. Und gleich seltsam berührte es mich, daß er, so ausführlich er auch erzählte, doch über dies und jenes an seinem damaligen Zustand noch heute nicht im klaren zu sein schien. Aber da war es schwer, etwas dreinzureden, denn, wie gesagt, ich wußte ja noch immer nicht, wie weit er selbst gehen wollte oder konnte, und ob er gesonnen war, mir auch sein ganzes Vertrauen zu schenken. Durch diesen innerlichen Zwiespalt aber wurde mir auch das bloße Zuhören zu einer Art Pein. Da ich einerseits fortwährend in Atem blieb und umgekehrt das, was sich mir selbst an Zweifeln, Vermutungen und logischen Widersprüchen aufdrängte, immer wieder sozusagen in die Ecke stellen mußte.
Auch Overhoff schien etwas davon zu merken. Denn während er wie ein Erwachender plötzlich in sich selbst zusammenzuckte, griff er rasch nach der vor uns stehenden Moselflasche und sprach in durchaus konventionellem Entschuldigungstone: »Aber du willst gewiß noch trinken … und ich rede nur, rede. Verzeihe!« Wobei er mein Glas bis zum Rande füllte, obwohl ich es kaum bis zur Hälfte geleert hatte.
»Wie kommst du darauf?« fragt' ich erstaunt. Und als ich ihm dann sagte, daß es im Gegenteil durchaus wider meine Gewohnheit wäre, um diese Zeit Wein zu trinken, meinte er: »Entschuldige, allein du sahst mich einen Augenblick so zerstreut an, daß es mir schien, als wärest du nicht ganz bei der Sache. Und da meint' ich … aber verzeihe, wenn ich schlecht geraten!«
»Lieber Freund,« lächelte ich, »dein Mosel ist in der Tat ausgezeichnet. Und wenn du zufällig der unvergeßlichen Stunden im ›Batzenstübl‹ gedacht, hattest du alles Recht, mir noch mehr Durst zuzumuten. Aber diesmal hatte das, was du meine ›Zerstreutheit‹ nennst, doch einen anderen Grund.«
Sein Blick strich rasch und unsicher an mir vorüber. »Welchen?« forschte er leise, gleichsam ahnend.
Ich fuhr mit der Hand langsam über seine wie tot daliegende Rechte. »Kann dich das wirklich interessieren?«
»Doch!« rief er, und in seinen Augen flackerte es plötzlich auf – düster, fast drohend … Der Glutblick einer Energie, die ich ihm gar nicht mehr zugetraut hätte. »Denn du könntest dir ja auch allerlei falsche Vorstellungen bilden; über meine Geschichte und – und Maria. Und das, weißt du« – ich sah, wie seine Hand bebte, während er sich die wirr in die Stirn hereindrängenden Haare zurückstrich – »das könnt' ich keinen Augenblick ertragen!«
Ich muß gestehen, daß die Sicherheit, mit der er da in meine Seele hinabgriff, mich für eine Weile geradezu verblüffte. Doch gleich darauf sagte ich mir, daß meine Vermutung und seine Ahnung sich vielleicht gerade in dem begegnet wären, was das Wesentliche der Tragödie ausmachte, die sein Leben zerstört. Und so fühlte ich, daß es mir nun doppelt schwer wurde, zu antworten. Da er mich aber unausgesetzt ansah und mit einem Blick, der in seiner Erwartungsqual fast etwas Leeres hatte, entschloß ich mich, das, was mir durch den Sinn gefahren war dadurch, daß ich es gleichsam im Scherz vorbrachte, wenigstens nach der einen Seite seiner Wirkung zu entkleiden. Und so sagte ich mit meinem harmlosesten Lächeln: »Offen gestanden, lieber Freund, hab' ich deine Vorkehrungen gegen den guten, alten Sektionschef und deine Teilnahme an seiner Abreise in jenem Augenblick etwas komisch gefunden. Und mich im stillen nur gewundert, daß du die Sache auch damals nicht mit mehr Humor nahmst. Denn nach der Art deiner Erzählung könnte man ja fast glauben, daß du mit dem Pflegevater Marias damals – na, sagen wir etwas – etwas geeifert hast!«
Wieder jenes Knacken des eisernen Stuhles, das mir schon einmal verraten, mit welcher Macht die Erinnerung hier gegen Seele und Körper zugleich wütete. Und dabei ein Blick … so trostlos, daß mich meine Worte bis ins tiefste Herz hinab reuten. »Ja, siehst du …« murmelte er. »Und doch, du darfst mir's glauben. Wenn auch der erste, dem ich mein Geschick erzähle, das gleich weg hat, mir selbst blieb es damals verborgen. Ein dunkler Strom, der unter dem brausenden Wildwasser meiner Leidenschaft dahintrieb. Und den erst fremde Augen sehen und fremde Worte entfesseln mußten, daß er dann so verheerend aus meinem Innersten hervorbrach. Nun kann ich ja auch darüber reden … Aber damals … Alle Gestade des Lebens hat er mir überflutet!«
Ich hätte es um nichts in der Welt gewagt, in jener Minute meinem Freunde ins Antlitz zu sehen, so mitschuldig fühlt' ich mich an dem, was er nun durchleiden mochte. Und deshalb war ich fast erstaunt, als nach einer Weile seine Stimme wieder an mein Ohr schlug. Rauh, aber so beherrscht, daß ich unwillkürlich aufhorchte.
»Siehst du,« nickte er, »da wären wir nun an dem Punkt, von wo aus du mit einiger Phantasie und Menschenverachtung dir die ganze Geschichte geradeso lustig weiterkonstruieren könntest, wie seinerzeit ich. Vielleicht etwas ruhiger und in gedämpfteren Farben, weil dir ja doch nicht derselbe Teufel in den Eingeweiden wühlt. Im ganzen aber käme zum Schlusse doch die latente Perfidie zum Vorschein, mit der wir alles, was nicht bürgerlich und standesämtlich niet- und nagelfest verrammelt ist, in Gedanken so überziehen, daß wir zuletzt nichts darauf und daran sehen, als die ekelhaften Schleimspuren unseres Verdachtes. Meistens trifft es ja auch zu. Aber dann gibt's Fälle, wo man doch auch weit abirren kann. Und bis man aus dem Dickicht der Verleumdungen und falschen Vorstellungen dann wieder hervorkommt, kann es leicht geschehen, daß man draußen sein ganzes Glück in – Ruinen findet. Und darüber die brennenden Sonnenstrahlen der Wahrheit, die einem das Letzte versengen – die Ruhe des Gewissens. Und darum muß ich jetzt erst recht weitererzählen … ja, weitererzählen!«
Zugleich machte Overhoff einen Versuch, sich zu erheben. Und da mir viel daran lag, ihn wenigstens für einen Augenblick den Bestientatzen seiner Erinnerungen zu entreißen, sagte ich rasch: »Ja … wollen wir ein bischen herumgehen?«
Aber da sank er schon wieder auf seinen Stuhl zurück. Ohnmächtig, wie ein Angeschmiedeter. Und … Gott, könnt' ich jemals den Ton vergessen, in dem er sprach. »Nein, in ihrem Angesichte!« Ich hatte mich auch in meinen kühnsten Phantasien noch nie in die Hölle verirrt. Aber plötzlich war mir, als hörte ich einen Verdammten reden. Eine Stimme wie aus dem » Inferno« Dantes herauf! Und die todtraurigen Augen des Bildes drinnen sagten: »Ich warte!«
»Wie im Traum ging ich damals zum Kaseck,« fuhr Overhoff fort. »Und so wurde es mir eigentlich gar nicht schwer, an das Wunder zu glauben, das mich dort erwartete.«
»Das heißt – du sahst – sie dort?« fragte ich leise.
»Denk' dir!« erwiderte er mit seinem verträumten Nicken. »Und so wie du sie da siehst. In demselben weißen Kleid! Nur daß der breite Hut mit dem Mohnkranz auf ihren braunen Flechten saß und über das schmale Oval des Antlitzes einen Schatten warf, so geheimnisvoll süß und schön, daß mir der Atem stehen blieb. Aber dies alles trat mir nicht gleich ins Bewußtsein. Und in den ersten Augenblicken war mir vielmehr, als hätt' ich wirklich eine Erscheinung! War sie doch all die Tage durch meine Gedanken und Träume geschritten. Und während der vier Stunden, die ich durch den sommerstillen Wald gegangen, so vor mir hergeschwebt, daß ich einfach meinte, weil ich selbst nun am Ziele sei, müsse auch sie hier stehen bleiben. Und es eigentlich ganz natürlich fand.
Ich stand noch im Schatten des Waldes, als ich sie erblickte, und so blieb ich dort auch stehen. Zuerst von den Schauern dieses Zusammentreffens durchrieselt, das mich wie ein Wunder anwehte, und als ich nach und nach begriff, daß es selige Wirklichkeit wäre, erst recht! Denn nun konnt' ich ihr Bild eine ganze Weile in mich trinken – verstohlen und ungestört, wie es meiner Leidenschaft behagte, während sie, die sich unbelauscht wähnte, förmlich wie ohne Schleier vor mir stand und durch einen Blick, durch eine einzige Bewegung mir Reize der Seele und des Leibes enthüllen konnte, die mich wenigstens für einen Teil meiner Qualen schadlos halten sollten. Schon wie sie dort stand … rings von der Sonne überflutet, daß alles an ihr leuchtete! Von der blendenden Weiße ihres Kleides, das den schlanken Hals freiließ, und die rührend-zarten Kinderarme, bis zu den gold-braunen Locken, die der Wind so entzückend in ihrem Nacken hin und her bewegte. Die Rechte mit dem aufgespannten Schirm leicht an die Brust gelegt, ganz im Anblick meines Werkes versunken und doch nicht ohne eine anmutige Regsamkeit. Denn die Spitze des linken Fußes, den sie auf ein paar im Wege liegende Ziegel gestellt, wippte leise auf und ab, als schlüge sie den Takt einer Melodie, die ihr unbewußt durch die Seele ging. Und welchen Fußes! Klein, schmal, mit einem Rist – so fein und hoch gebogen, daß ich förmlich den Atem anhielt vor Entzücken und ihr in Gedanken erst den feinen Goldkäferschuh, dann den schwarzen Seidenstrumpf von dem schlanken Füßchen zog, leise, ganz leise, bis ich es in einer Minute taumelnder Seligkeit zwischen meinen Händen zu fühlen glaubte, wie ein weißes, schlüpfriges Vögelchen! Und bei aller Verzückung wieder der rein artistische Genuß, der die wundersame Bogenlinie ihrer Brauen und der einzig-schönen Oberlippe nun an ihrem Füßchen so anmutig wiederholt und variiert fand! Es waren schon Bräutigamsblicke, mit denen ich sie umfing. Und was das Geschick auch über unser Schicksal beschlossen haben mochte – in dieser Stunde war sie mein. Mit jedem Blick, der an meinem Werke hing, kraft des geheimnisvollen Zuges, der sie hierhergeleitet, und der Gedanken, die bei mir waren und auf halbem Wege meiner schauernden Sehnsucht begegneten, ohne daß sie's ahnte! Zu wissen, was in ihrer Seele vorging, was sie in jenen Minuten weltvergessenen Schauens dachte und empfand – zehn Jahre meines Lebens hätt' ich damals dafür gegeben! Und so suchte mein Blick wieder den geheimnisvollen Schatten auf, in dem ihre Augen träumten und der süße Mund, der so ernste und trotzige Worte reden konnte, wie eine halb geöffnete Rosenknospe blühte, voll und mit dem frommen Staunen des Kindes, das im Atmen und Betrachten ganz naive Empfängnis ist.
›Maria!‹ – ich konnte nicht länger an mich halten, wenigstens ihren Namen mußt' ich nennen. Wenn ihn auch der duftschwere Sommerwind von meinen Lippen riß – sie konnte ja nicht hören, was da im Dickicht einer stammelte, den sie toll gemacht! Freilich … wenn mein Blick ein Sonnenstrahl gewesen wäre – versengt hätt' er sie in diesem Augenblick.
Endlich kam wieder Leben in die weiße Gestalt, und eine Weile hatte es den Anschein, als wolle sie den Bau nach der mir entgegengesetzten Seite umgehen. Aber plötzlich fuhr sie zusammen, und unmittelbar darauf stieg ihr ein tiefes Rot in die Wangen, das sich nach oben im Schatten des Hutes verlor und nach unten noch den feinen Nackenansatz des Halses im Hauch eines zarten Rosas aufblühen ließ. Erst dacht' ich, daß sie mich vielleicht gesehen. Da sie aber nach der entgegengesetzten Seite ausgeschritten war und nun ganz unbefangen der Richtung zustrebte, in der ich stand, fuhr's mir im selben Augenblick als wonnige Gewißheit durchs Herz, daß ich nun wirklich einen Schleier ihrer Seele fallen gesehen, und vielleicht den keuschesten!
Da trat ich aber auch schon hinter den Haselbüschen hervor und schritt quer über die Landstraße dem Kaseck zu – ihr entgegen! Sie mußte doch tief in Gedanken gewesen sein, denn weder das Geraschel der hinter mir zusammenschlagenden Zweige, noch der Schall meiner Schritte machte sie aufblicken. Erst als mein Schatten sich lang über ihren Weg legte, fuhr sie empor. Und da, siehst du, da stieg ihr dieselbe Röte ins Antlitz wie früher, fuhr dasselbe Zucken durch den jugendlich-schlanken Leib. Und ein Seliger wußte, daß sie auch früher an ihn gedacht! Gleich darauf stand sie wohl wieder vor mir – durchaus beherrscht und ganz Dame. Ja, wenn ihre Augen sie nicht verraten hätten! Aber die waren eine Sekunde mit solch hilflos-süßem Schreck an meinem Antlitz gehangen, daß es ihnen nichts half, wenn sie jetzt auch noch so kühl taten. Ertappt hatt' ich sie ja doch! Immerhin vermied sie es, mir die Hand zum Gruße zu reichen. Und als ich an ihre linke Seite trat, um mit ihr den gleichen Weg zu nehmen, zogen sich die herrlichen Brauen etwas ungnädig über der feinen Nasenwurzel zusammen, und ein abweisender Blick ließ mich erkennen, daß mein Wunsch, sie zu begleiten, durchaus nicht ihren Beifall fand.
›Ich dachte, Sie wollten den Bau inspizieren?‹ bemerkte sie, sichtlich entschlossen, nicht nur mit ihren Worten, sondern auch durch das raschere Tempo ihrer Schritte mich abzuschütteln. Ich unterdrückte ein leises Lächeln. ›Das hab' ich schon, verehrtes Fräulein!‹
Sie blieb unwillkürlich stehen. ›Wann?‹ Es sollte erstaunt und befremdet klingen, und doch war's, als hätte der süße Schreck ihres Blickes nun auch eine Sprache bekommen. Wie ein Herzstoß bebte es dazwischen.
›Warte!‹ dacht' ich. Dann faßt' ich sie fest ins Auge. Und während ich mich tief vor ihr verneigte, sprach ich langsam: ›Gerade so lang, als Fräulein es taten!‹
Sie beugte sich zur Seite, um eine über den Weg nickende Blüte abzureißen. Dann schob sie den Hut noch tiefer ins Gesicht. Aber es half nichts – ich sah doch, daß sie wieder rot geworden war. Süße Wellen des Blutes, das mir entgegenwogte!
Eine tiefe Zärtlichkeit überkam mich … Am liebsten hätt' ich sie gestreichelt wie ein Vögelchen, dessen zitternden Herzschlag man in der Hand fühlt, die es festhält. Aber – Liebe ist Kampf! dacht' ich. Und wie sie da an meiner Seite hineilte – immer einen Schritt voraus, auf den Wangen das fliegende Rot, im Nacken die bebenden Löckchen, um sich den warmen, duftschweren Atem ihrer Jugend und dazu die gazellenhafte Anmut ihrer Bewegungen … Ich hätte kein liebender Mann sein dürfen, wenn es mich nicht gelüstet hätte, die Jagd nach diesem Edelwild ganz auszugenießen!
Endlich schien sie sich gefaßt zu haben. Und indem ihr Blick kühl an mir niederglitt, sagte sie ruhig: ›Merkwürdig … und ich sah Sie so gar nicht!‹
In diesem »so gar nicht« sollte wohl etwas wie ein Stich liegen, der Rache und Abwehr zugleich war. Doch ich lächelte sie bloß an mit dem packenden Blick des Mannes, der weiß … Und dann erwiderte ich: ›Um so besser konnte ich natürlich Sie beobachten, mein gnädiges Fräulein. Und, gestatten Sie mir, daß ich Ihnen sage, mein Werk ist mir noch nie so schön erschienen wie heute!‹
Sie schien nach einem Wort zu suchen. Vielleicht auch bloß nach einem Blick, der mir kalt und unbefangen wie früher begegnen konnte. Aber ihr Haupt sank auf die Brust, und die vollen Lippen schlossen sich fest … so fest, daß sich die jungen Brüste noch höher hoben beim Atmen und ich den feinen Ton hören konnte, mit dem die Luft zwischen den bebenden Nasenflügeln hervorkam. Weiß Gott, sie wehrte sich tapfer! Und die gleichsam gewappnete Jungfräulichkeit entzückte mich noch mehr, so daß mir zuletzt war, als hätte sie sich allem ringsum mitgeteilt, dem herben Kräuterduft der Wiesen und dem kühlen Anhauch der leise nickenden Wälder, der so rein und erquickend zu uns herüberwehte. Und Maria ging mitten durch wie eine Heilige, die irgendwo aus einem »Bildstöckl« herabgestiegen war und nun durch das goldene Mittagsschweigen glitt, weiß, schlank unberührt.
›Sie gehn ins – Dorf hinab?‹ fragte sie nach einer Weile. Es war ein neuer Versuch, mich los zu werden. Und wenn ich zufällig in der Lage gewesen wäre, ›ja‹ sagen zu müssen – ich bin überzeugt, daß sie den nächsten Weg eingeschlagen hätte, um so weit als möglich vom Dorf abzubiegen, so spät und heiß es auch war. Aber nun kam mein Trumpf. Und während ich die Mappe mit dem Plan, die ich bisher unter dem linken Arm getragen, leicht emporhob, erwiderte ich: ›Ins Dorf und zu – Ihnen!‹
›Das heißt zu Herrn Brandt!‹ verbesserte sie mit einem leichten Stirnrunzeln.
›Da ich ihm den versprochenen Plan zu bringen habe –.‹
Wieder huschte ein leises Erröten über ihr Antlitz. ›Herr Brandt ist aber nicht zu Hause.‹ Sie war zu schön in ihrer Befangenheit. Und so blieb mein Blick geradezu hängen an ihr. Vielleicht legte sie sich dieses Anstarren als einen Zweifel an ihren Worten aus. Denn unter noch tieferem Erröten setzte sie laut und hastig hinzu: ›Wirklich nicht!‹
›Wirklich?‹ wiederholte ich. Und der halb erstaunte, halb bedauernde Ton gelang mir so vortrefflich, daß ich mich fast schämte. Als wäre mir nie etwas von der Abreise Brandts zu Gehör gekommen und ich nicht erst vor einer Stunde dagestanden – die Uhr in der Hand, auf den Lippen das frohlockende Lächeln des Wissenden. Aber nun galt's, diesen Vorteil bis zuletzt auszunützen. Und rasch versetzte ich: ›Dann gestatten Fräulein, daß ich diese Mappe wenigstens persönlich abgebe; der Herr Sektionschef selbst hat mich zu solcher Eile angespornt!‹
Sie nickte mir zu, leise und, wie mir schien, zum erstenmal vertrauensvoller. Und nach einer Weile meinte sie mit einem eigentümlichen warmen Klang in der Stimme: ›Da hat mein Vormund sehr recht getan! Sie stehn in der besten Zeit ihres Schaffens. Und obwohl ich mir da keine besonderen Kenntnisse anmaße – vor dem »Kaseck« hab' ich heut' eine Ahnung von dem bekommen, was die Gewalt eines echten Künstlers ausmacht. Mich dünkt, daß ich den Zauber wahrer Schönheit nie unmittelbarer empfunden, als vor Ihrem Werke. Und damit den Respekt vor der schöpferischen Persönlichkeit. Das muß ich Ihnen sagen, denn es ist wahr!‹
Weiß Gott, wie selig mich diese Worte gemacht hätten, wenn ich aus ihnen, trotz aller Ehrlichkeit, nicht doch das Bestreben heraus gehört hätte, unserem Gespräche eine harmlose Wendung zu geben und damit den heimlichen Bann der süßen Befangenheit zu sprengen, die unseren einsamen Waldgang bis jetzt so entzückend und beziehungsreich gemacht. Ich war deshalb fest entschlossen, auch durch das süßeste Lob mich nicht auf den neutralen Boden der Kunst hinüberschmuggeln zu lassen, sondern vielmehr nun erst recht mein Ziel im Auge zu behalten. Und so blieb ich, mit einer leichten Wendung zugleich ihr selbst den Weg abschneidend stehen, und während ich ihr tief in die Augen blickte, die das Schicksal meiner Tage und Nächte waren, fragte ich leise: ›Ist das wirklich Ihr Ernst, gnädiges Fräulein –?‹
Ein Schatten glitt über ihre Züge, dann funkelte mir ein stolzer Blick entgegen. ›Glauben Sie, daß ich schmeichle?‹
›Nein!‹ gab ich zurück. ›Aber daß Sie die Menschen unsäglich verachten, das glaub' ich seit unserem ersten Gespräch zu wissen!‹
Ein flüchtiges Zucken irrte um ihre Mundwinkel. Dann glitt ihr Blick langsam an mir herunter, und während zwischen ihren Brauen eine leichte Falte sichtbar wurde, erwiderte sie herb: ›Vielleicht hab' ich meine Gründe dafür! Aber was hat das mit Ihnen zu tun?‹
Mir war, als säh' ich für einen flüchtigen Moment eine holde Angst durch ihre Augen irren. Als nähme das Zärtlichste und Weiblichste in ihr mich sozusagen unbewußt in Schutz. Und diese Empfindung, die durch die Spannung des Augenblicks wie ein Fluidum auf mich hinüberwirkte, erfüllte mich mit einer solchen Seligkeit, daß ich mich gerne noch kleiner machte. Aber auch das ganz unbewußt. Die angeborene Diplomatie des Mannes, der im Liebeskampf seine ganze Würde wegwerfen kann, nur um ein paar warme Worte dafür einzutauschen, die weiche Zärtlichkeit einer geliebten Stimme wie einen Sommerhauch über seine Seele hinstreicheln zu fühlen. Und so zuckte ich die Achseln und sagte leise: ›Ich weiß nicht … ich hatte so die Empfindung!‹
Ihre Augen wurden noch größer: ›Daß ich auch Sie –‹ Aber das »verachte« ging ihr nicht mehr über die Lippen.
›Nein,‹ sprach ich in das plötzliche Schweigen hinein. ›Aber daß auch ich nicht mehr für Sie war als Luft!‹
›Und woraus schlossen Sie das?‹ forschte sie ernst. ›Da ich Ihnen doch ebenso entgegenkam wie jedem anderen Gast meines Vormundes? Und wie es eben meine – Pflicht ist!‹
›Und daß Fräulein es nicht einmal der Mühe wert fanden, mir Ihren Namen zu nennen?‹
Etwas Dunkles kam in ihren Blick. Dann legte sie langsam den weißen Schirm von einer Schulter auf die andere. Und während sie scheinbar in das goldene Gewog eines Kornfeldes hineinsah, murmelte sie tonlos: ›Mein Name! Was könnte der für eine Bedeutung haben … für Sie? So ein berühmter Mann – und ich. Nichts als die Stütze des Brandtschen Haushaltes! Und nicht einmal eine –.‹ Sie wollte noch etwas hinzusetzen, würgte es aber hinunter. Und aufgeregt, wie ich war, dacht' ich damals gar nicht darüber nach, welches Wort sie da etwa mit ebensoviel Hast als Widerwillen hinabgeschluckt haben mochte.
›Und wenn ich Ihnen sage, daß mir gleich damals alles daran gelegen war, Ihren Namen zu kennen?‹ entgegnete ich leise.
Ihre Brust hob sich unter einem tiefen, schweren Atemzug. Und während ihr Blick noch immer den auf und nieder wogenden Ähren nachglitt, erwiderte sie mit ablehnender Kühle: ›Eigentlich haben Sie nicht so unrecht. Es ist etwas in mir, das mich den Verkehr mit den Menschen niemals recht suchen ließ … eine heimliche Warnerstimme möcht' ich's nennen.‹ Ihre Mundwinkel zuckten, die langgefransten Lider fielen plötzlich schwer und wie verhüllend über die herrlichen Augen. Dann begann sie, an mir vorüberschreitend, wieder rasch vorwärts zu eilen.
›Sagen wir – Mißtrauen? Und in solcher Jugend,‹ fügte ich hinzu.
Sie mußte trotz der niedergeschlagenen Augen mein befremdetes Kopfschütteln bemerkt haben. Denn mit der Hast eines Menschen, der nicht verkannt sein möchte, erwiderte sie: ›Aber es ist das durchaus kein grämliches Mißtrauen, wissen Sie? Nur eine Art Aberglauben –‹
›Aberglauben?‹ staunte ich.
Sie hob leise die Schultern empor. ›Ich kann es nicht anders nennen. Oder – ja! Höchstens vielleicht noch Furcht! So eine dumpfe, eingewurzelte, wissen Sie? Vor mir selbst und – und vor den anderen!‹
›Warum vor Ihnen selbst?‹ forschte ich.
Sie schien eine Weile zu überlegen, ob sie mir überhaupt antworten solle. Denn ihr Antlitz nahm einen merkwürdig verschlossenen Ausdruck an und ihr Blick ging von der Seite wie prüfend über mich hin. Dann war es aber plötzlich, als käme ein dunkler Zwang über sie. Und wie sie da an meiner Seite dahinschritt, das Haupt leicht gesenkt, die dunklen Brauen fast zu einer einzigen Linie zusammengezogen, den Blick der von unten heraufschauenden Augen mit einer unsagbaren Trostlosigkeit in Fernen gerichtet, die nur sie zu ahnen und zu sehen schien, fuhr es mir jäh durch den Sinn, daß ich noch in keinem Menschenantlitz, geschweige denn in einem so jungen, einen ähnlichen Ausdruck gesehen: so voll tragischen Ernstes und fatalistischer Geschlossenheit. ›Warum, warum?‹ murmelte sie dabei vor sich hin. Und dann, tief aufatmend: ›Weil ich die schauernde Empfindung habe, daß ich einmal zu viel vertrauen könnte und diesen Glauben dann mit dem bischen Glück büßen werde, das mir das Schicksal überhaupt gelassen!‹
›Und deshalb wollen Sie auch mir nicht glauben?‹ entgegnete ich. Und alles, was ich für Maria empfand, ging in dieser Sekunde zu ihr hinüber – mit meinem Blick und dem heimlichsten Erbeben meiner Seele.
›Was soll ich da sagen?‹ kam es nach einer Weile leise zurück.
Da hielt ich ihr meine Hand hin. Und all mein Hoffen und Flehen in einen Blick legend, sprach ich langsam: ›Nicht mehr, als Sie empfinden …!‹
»Ich glaube,« fuhr Overhoff nach einer Weile fort, »daß ich niemals wieder in meinem Leben einen ähnlichen Eindruck von dem relativen Wert unserer Zeitbestimmungen bekam wie damals. Kaum mehr als ein paar Sekunden stand ich so vor ihr – aber Tage, Wochen, Monate waren mir rascher dahingegangen! Und dazu die tiefe Stille des Mittags, in der sich die leisesten Geräusche bemerkbar machen und etwas von dem dumpfen Brüten der Natur geheimnisvoll und gewitterschwül auch in die Schicksale der Menschen hinüberzuspinnen scheint! Und doch war nichts da, als das heimliche Geraun des Sommerwindes, der fühlbar zwischen uns durchging, und ein großer, dunkler Falter, der mit bebendem Flügelschlag Marias Haupt umflatterte. ›Ein Trauermantel!‹ dacht' ich noch mechanisch. Dann fühlte ich nichts mehr, als die beseligende Wärme und Weichheit der kleinen Hand, die plötzlich in der meinen lag, mollig und zuckend wie ein junges Vögelchen! Und mit den Händen sanken zum erstenmal auch unsere Blicke ineinander … Als ich wieder zu mir kam, sah ich, daß sich der schwarze Falter inzwischen auf dem weißen Schirm Marias niedergelassen hatte, auf dem er eine ganze Weile sitzen blieb: die großen Flügel weit auseinander gespannt, regungslos … so daß sein Schatten sich befremdend und dunkel von dem seidigen Weiß abhob.
Dann gingen wir eine ganze Weile stumm nebeneinander her. In einer Seligkeit, die keine Worte fand. Auch keine brauchte. Denn nie in meinem Leben hatt' ich so das Gefühl, zu wissen, was in einer anderen Seele vorging, und daß es genau dasselbe war, was mich selbst verstummen und erschauern machte. Und so zitterte es wie eine Atmosphäre zwischen uns, in der die ersten bräutlichen Liebkosungen genommen und gegeben wurden, ohne daß wir uns auch nur mit den Händen berührt hätten. Wie ein Wunder war das für mich. Denn Schüchternheit in Liebessachen war sonst nie mein Fall gewesen. Aber damals fühlt' ich förmlich, wie etwas Fremdes, etwas unsäglich Feines und Reines plötzlich von mir Besitz nahm – mich durchdrang und durchzitterte bis in die letzten Nervenfasern. Als könnten mich jetzt und jetzt Flügel emporheben … Mich, den rüden Genußmenschen von einst! Der freilich wehrte sich wohl auch. Denn bei all der neuen Seligkeit, die mich da durchschauerte, war es doch, als drängen mir plötzlich ebenso viele feine Stacheln ins Herz. Angst, Sehnsucht, Wehmut … Nein, nein, so hatt' ich noch niemals geliebt! Nicht einmal in den Träumen meiner Jünglingsjahre. Dabei aber ging mein Blick immer wieder über das Antlitz Marias hin. Und so wurd' ich auch Zeuge der geheimnisvollen Wandlung, die sich an ihr vollzog. Sah wie die Starrheit ihres Antlitzes sich langsam zu lösen begann. Bekam eine Ahnung, wie entzückend all diese herben Linien sich einmal ausgleichen und runden könnten. Wie herrlich die jungfräuliche Knospe ihres Mundes aufblühen mußte unter meinen Küssen – ihr Leib schmiegsam werden unter meinen Umarmungen. Als bekäme eine Marmorstatue plötzlich Leben und Seele … Das ganze Wunder der Hingebung vor der Hingabe! Du kannst dir denken, wie mein Künstlerauge das genoß und belauschte … Aber war sie glücklich? Diese dichten, tiefdunklen, tragischen Brauen … Wie die Fittiche schwarzer Vögel schatteten sie in ihr Antlitz! Und ohne daß sie die Augen emporschlug, glaubt' ich wieder den Blick zu sehen, mit dem sie damals zu dem hölzernen Jagdfries emporgestarrt hatte: ›Es ist doch eine Jagd?‹ Hatte sie wirklich schon so viel des Bitteren erfahren, trotz ihrer Jugend? Selbst in dem weichen, gesicherten Heime Brandts? Oder – war sie doch um vieles stolzer, als es jene sein dürfen, die ihr Leben lang auf fremden Schutz und fremde Hilfe angewiesen sind? Nun – dann sollte bald die Sonne aufgehen, auch hinter den Wetterwolken dieses Schicksals … Und ihre weiche kleine Kinderhand – in Glück und Glanz und Fülle sollte sie wühlen! Ja, so wahr sie mich zu ihrem Sklaven gemacht!
Wie wir endlich doch vor das Brandtsche Haus gelangten – ich weiß es nicht. So wenig hatt' ich auf den Weg geachtet und auf alles, was etwa um mich vorging. Nichts gefühlt, nichts in mich getrunken, als den Zauber ihrer Nähe, den süßen, jungen Atem, der mit dem gesegneten Sommerwind da leis und weich zu mir herüberwehte. Daß man so in sich versinken und zugleich so an einen anderen sich verlieren könne – diese süße Doppelmagie der Liebe – ich hatte sie bisher nie empfunden. Und dabei zu denken, daß ich der erste war, für den sie so empfand … Die ganze heiße Sommerwelt um mich schien mit der atemlosen Sehnsucht des Bräutigams zusammenzuschauern.«
Overhoff kehrte plötzlich das Haupt ab. Und wie er so eine ganze Weile nach der Gartentür zurückstarrte, hatt' ich unwillkürlich die Empfindung, daß dort jemand stehen müsse. Auch wußt' ich ja, wie langsam und widerwillig diese Tür sich öffnete. Doch schon legte sich seine Hand auf die meine. So schwer, als läge in ihrem Druck etwas von der unnennbaren Wucht des Schicksals, das ihn zu Boden geworfen. Und während er tief aufatmete, sprach er: »Wirst du glauben, daß diese Glocke damals ordentlich Sturm läutete?« Ich nickte bloß, denn wie er mich so anstarrte: Tränen in den Augen, hilflos wie ein Kind und doch zugleich das Zerrbild alles dessen, was er einmal gewesen – der ganze, stolze, freie Mann – da, ja da war mir, als hätte sich die Hand, die noch immer auf der meinen lag, irgendwie nun auch auf mein Herz gelegt. Wenigstens war es derselbe Druck. Und einer, der auch mir den Atem raubte.
»Und doch,« fuhr er fort, »und doch erschrak ich, als es so plötzlich durch die tiefe Stille schrillte! Obwohl ich selbst geschellt hatte, damit man uns öffne. Aber das hatt' ich im nächsten Augenblick natürlich schon wieder vergessen. So töricht glücklich – wie ich damals war!«
Wieder schwieg er eine Weile. Dann wandte er noch einmal das Haupt zurück. Und während er langsam vor sich hin nickte, murmelte er leise: »Es ist auch dieselbe Glocke … dieselbe – ja!« Was mir aber in die Seele schnitt, war das Lächeln, das bei diesen Worten um seine Lippen kroch. Etwas so rettungslos Trauriges, so ein- für allemal Verlorenes hab' ich nie wieder im Antlitz eines Menschen gesehen. Oder doch, ja … in einem jener traurigen Häuser, hinter deren Mauern diejenigen hindämmern, denen diese Welt nichts mehr zu sagen hat. Die ganz eins geworden sind mit ihrem Wahn und ihrer Einsamkeit … Für den Augenblick aber ging seine Empfindung mit unwiderstehlicher Gewalt auch auf mich über. So daß ich etwas von jener geheimnisvollen Ansteckungskraft kranker Seelen zu verspüren meinte, die zuweilen ganze Städte und Völker ergriffen. Ein unheimlicher Bann, der mich zwang, wie er zu sehen, wie er zu fühlen. Der selbst der trostlosen Schwermut einen leisen Stich ins Wollüstige gab, und der Phantasie die schwarzen Flügel, die langsam aber sicher dem Wahnsinn entgegentragen können, oder wenigstens der geistigen Verödung. Und während ich dem Unglücklichen so nachempfand und ihn allmählich begreifen lernte, gewann sein Schicksal auch für mich einen schier unheimlichen Reiz. Könnt' ich mir sehr wohl vorstellen, welchen Zauber es für ihn haben mochte, während all der Jahre, stunden- und tagelang dazusitzen und jene Glocke anzustarren, die damals für ihn und all sein Glück so stürmisch den Eingang verlangt … bis sie dann immer stiller und stiller geworden … vom Rost der Jahre angenagt … von den wuchernden Gaisblattranken immer dichter umsponnen. Zuletzt ordentlich erwürgt von all der grünen Einsamkeit, die da so lautlos und unbehindert fortwucherte: immer weiter, immer höher … über Dinge und Menschen hinweg, bis eines Tages wohl alles dahinter versunken und vergessen war – wie eingesponnen für den Tod und für die Verwesung …
Es waren, wie gesagt, nur Augenblicke, während derer ich mich so in das Irrsal einer fremden Empfindung verlor. Aber sie waren so mächtig, daß ich ordentlich nach Luft ringen mußte, um wieder zu mir zu kommen. Und noch lange nachher jenes Gefühl eines Ertrinkenden hatte, über den zum erstenmal dunkel und lautlos die Flut zusammenschlägt, die ihn in die Tiefe ziehen kann. Und so hatten auch die ersten Worte, die ich darauf sprach, gleichsam etwas Ortsfremdes und Verwundertes an sich. Als wär' ich eben erst zu mir gekommen. Und seltsam genug ist es, daß ich mich noch heute nicht entsinnen kann, was ich damals eigentlich gefragt oder gesprochen? Und daß mir erst ein leis mitschwingendes Befremden im Ton seiner Antwort verriet, daß ich allzu rasch, vielleicht auch etwas plump in sein unseliges Traumgespinst hineingefahren. Und so weiß ich nur noch, daß er sagte: »Wie und wann ich hergekommen, um dann für immer dazubleiben, wirst du ja auch noch hören, lieber Freund … denn wer weiß, ob du nicht der letzte Mensch bist, zu dem ich überhaupt noch rede.« Und dann stützte er die Arme auf den Tisch und preßte die Hand an die Augen. An diese herrlichen Augen, die einmal so gern in die Sonne geschaut und so trunken ins Leben!
Ich selbst aber stürzte in meiner Verlegenheit ein ganzes Glas Mosel hinunter. Nun ja, ein Gesunder wehrt sich.
»Und dann tratet ihr ein?« fragt' ich. Wieder kam ich mir recht albern vor mit meiner Frage. Aber – Gott verzeih' mir – etwas mußt' ich sagen. Und wär' es auch nur gewesen, um dieser lastenden Stille ringsum endlich einen Atem zu geben! Denn das von früher, das wollt' ich mir nicht mehr an die Seele kriechen lassen. Meine hatte ja auch ihre Tiefen, in denen Begrabenes schlummerte. Und das mocht' ich nicht mehr erwecken. Gut wie mir's das Schicksal nun doch endlich gefügt hatte. Und wenn ich den ansah, der da vor mir saß … und die heimliche Wühlarbeit der Gespenster, denen er sich hingegeben. Dann sank auch der Abend immer tiefer, wurde die Natur selbst immer stiller. Über allem nur mehr ein letzter Glanz hinter dem man doch schon die Nacht lauern fühlte. Und die sollte, die durfte nicht mehr in unser Gespräch hineinstieren. Nicht bloß meinetwegen.
Langsam glitten Overhoffs Hände herunter. Und einen Augenblick bewegten sich seine Lippen, ohne daß ich ein Wort vernahm. Wie in der Fortsetzung eines Gespräches, das er unterdes mit den Schatten geführt, die er allein hier wittern und sehen mochte. Immerhin war ein merkwürdiger Glanz in seine Augen gekommen. Und mit dem unheimlichen Interesse eines Menschen, dem die Vergangenheit ganz zur Gegenwart geworden, erwiderte er: »Ja, dann sind wir hier eingetreten und haben diesen Weg genommen. Siehst du, von dem Rondell dort da herüber, an dem Gartenhaus mit den bunten Aussichtsfenstern vorbei und endlich da über die Treppe! Jetzt kommen nur mehr Schattenpflanzen in dem Rondell fort; nun ja … aber damals, weißt du, damals war alles blauschwarz dort, von dichtgereihten, tiefdunklen Verbenen. Das weiß ich noch heute. Und auch, daß mir beim Anblick jener Blumen plötzlich wieder der dunkle Falter einfiel, der sich im Feld auf den weißen Schirm Marias niedergelassen. Es war dasselbe samtene Schwarzblau; dort beim Falter, hier bei den Blumen; gewiß nur ein Zufall. Aber ich weiß nicht, warum mir dies damals plötzlich fast geheimnisvoll erschien? Und erst, als wir eingetreten waren! So – weißt du –« er dachte eine Weile nach – »ja, als wär' mir auch über die Seele plötzlich etwas Dunkles gefallen: weich, seltsam, schleierhaft. Und zugleich erinnerte ich mich, daß man im alten Rom gerade diese dunklen Verbenen zu allerlei Zauberwerk gebraucht. Um Tote zu beschwören oder Lebende den Toten nahe zu bringen. Nun – hier ist es ja wohl auch geschehen … wohl auch geschehen!« Und dabei ein Blick, eine gleichsam taumelnd um sich greifende Gebärde. Wie einer, der an einem Abgrund steht, und jetzt und jetzt hinabzustürzen fürchtet.
Da legt' ich meinen Arm auf seine Schulter: »Overhoff – alter Freund! Hast du denn die Sonne ganz aus deiner Seele verbannt? Das sind nicht mehr Träume, denen du dich hingibst. Das ist wie ein Opiumrausch … oder – oder Schlimmeres!«
»Wie Wahnsinn, ja, ich weiß es!« kam es leise zurück. »Sprich es nur immerhin aus, dieses Wort, das dunkel ist wie ein Trauermantel und unheimlich wie jene – jene Verbenen. Ich und die Einsamkeit hier … wir haben uns daran gewöhnt!«
Und der Blick, mit dem er mir dabei ins Auge sah, wiederholte seine Worte … Was konnte ich da noch sagen, raten oder helfen? Hier hatten Schmerz, Reue und die wilde Phantastik der Leidenschaft eine Mauer aufgeführt, über die kein Argument der Vernunft mehr hinüberkam. Hinter der das Schicksal stand – unangreifbar, unüberwindlich, durch seinen bloßen Hauch jede Hand lähmend, die sich etwa zur Hilfe erheben mochte. Etwas von den Schauern einer antiken Tragödie wehte mich an. Von dem heidnischen Nemesisglauben der Menschheit. Und doch war auch wieder so viel Christliches, so viel Dunkles und Übermenschliches dabei. Seele … Seele …! Das, wogegen sein Muttererbe, der gesunde lateinische Instinkt in ihm, sich immer so gewehrt hatte. Was er als Künstler bekämpft und mit der alten Zauberflöte Pans eines Tages wieder in die Dämmerungen zurückscheuchen wollte, aus denen es hervorgekrochen. Und das nun doch Besitz von ihm ergriffen hatte – aus innersten Abgründen heraus – für immer! Und plötzlich empfand ich noch eines, und nicht, ohne mich selbst dessen zu schämen! Aber wie es nun einmal war … Also ich erkannte, daß sein Schicksal, so wie es über seine Persönlichkeit hinaus gewachsen, auch alle, die ihm jetzt näher treten mochten, mehr packen und interessieren mußte, als er selbst. Ganz wie in jenen antiken Tragödien, wo der Mensch nur mehr wie ein Schatten seines Fatums einherirrt, während dieses selbst gigantisch und voll unheimlicher Persönlichkeit über ihn hinauswächst. Das Ungeheuerliche, das auf seinem Wege Seelen und Existenzen aufleckt, wie eine einzige hungrige Flamme! Und so ertappt' ich auch mich plötzlich bei einer Neugierde, die nicht bloß menschlichen, die schon artistischen Anteil nahm. Das war nicht mehr der Mensch, der mit einem anderen weinte – das war der Staunende, schaudernd mit fortgerissene und doch atemlos Gebannte, der auf irgend einer Bühne irgend ein Schauspiel vorüberziehen sieht, das nicht denen des Alltags gleicht und – Gott verzeih' mir's – gerade deshalb so groß und schön und einzig ist!
Und so wollte auch mir kein Wort mehr über die Lippen kommen. Saß ich nur da und ließ ihn reden und reden. Und bedachte nicht, daß all diese Worte doch eben mehr waren, als bloße Worte. Daß mit ihnen zugleich etwas von dem heißen Atem der Bestie heraufwehte, die ihm das Innerste zerfleischte … der Reue … Aber das Schauspiel war zu lockend, zu großartig. Vielleicht gerade deshalb.
Dann die Art, wie er all dies sagte. So leise, so scheu, den Blick unverwandt auf jenes Bild gerichtet und doch von Zeit zu Zeit mit einem ganz merkwürdigen Ausdruck um sich schielend … Als triebe sich da noch jemand hinter uns herum … unsichtbar und doch ewig nahe. Jemand, mit dem er sich fortwährend auseinandersetzte und doch nie zu einem Ende kommen konnte. Wenigstens ging auch der Schauer dieser Empfindung auf mich über. Und so deutlich, so körperlich nahe, möcht' ich sagen, daß es mich gar nicht wundergenommen hätte, wenn da im lila Abenddämmer plötzlich die weiße Frau vom Bilde mitten zwischen uns gestanden wäre und mit ihm zugleich in das dunkle Gemach gestiert hätte, in dem so viel Glück begonnen, um in so viel Elend unterzugehen. Und zugleich hatt' ich auch etwas wie eine Gehörshalluzination. Wenigstens war mir, als wüßt' ich genau, was sie in diesem Augenblicke sagen müßte. Und gleich darauf hört' ich es auch. »Es ist doch eine Jagd!«
Aber nein, nein, das hatte mir ja schon jemand vorher gesagt … Overhoff, richtig! Und so war es mir bloß als eine ihrer eigenen Äußerungen im Gedächtnis haften geblieben. Und da ich an sie dachte und sie ordentlich körperlich zu empfinden meinte, war mir das so aus der Seele hervorgedrungen. Mit derselben Deutlichkeit, mit der ich in dem weiten Gemach drinnen den tiefen Waldhornruf des Bläsers zu hören gemeint. Das Halali, das den Nachkommenden anzeigte, daß die Jagd zu Ende sei. »Für den einen so – für den anderen – so!« Wieder ihre Worte … Seltsam! Und mit nervöser Hast strich ich mir plötzlich über die Stirn hin. Wie um mich zu überzeugen, daß ich noch wirklich ich war. Und nicht auch schon ein Opfer dieses unheimlichen Schattens, der da so bleich und lautlos umherschlich und doch stärker schien als alles, was ringsum lebendig war. Immer weiterwachsend, immer höher wie die Zypressenkegel und die Buchen und die schwarzen, regungslosen Taxuswände … bis alle Kräfte verbraucht waren und jedes Licht fortgetrunken. Der alte Vampirglaube der Menschheit! Ja, ja, es gab eine Stunde, in der auch ich nicht lachen konnte darüber. Trotz Hume und Spencer und Nietzsche …
Overhoff hatte die Arme auf den Tisch gestützt. Und während er mit den Zeigefingern der ineinandergefalteten Hände nach dem mittleren Fenster jenes Gemaches wies, sprach er: »Dort stand damals der Schreibtisch Brandts. Ein großes, etwas schwerfälliges Möbel, wie es Bureaukraten lieben. Und bis zu diesem Schreibtisch waren wir gekommen, ohne ein weiteres Wort geredet zu haben, seit jenem – jenem Blick und Händedruck dort draußen. Das war auch eine Schwüle. Und die dämmernde Einsamkeit des Gemaches, die uns plötzlich umgab, machte sie noch beredter. Wie eine zitternde Musik war es um uns: die Hitze des Mittags, die Sehnsucht, die nach der Wonne der ersten Umarmung schrie, das ganze süße Geheimnis, das sich mit dem Duft eines blühenden Lilienbeetes draußen zu vermengen schien und unsere Seelen auf- und niederschaukelte, auf und nieder, wie auf warmen, sonnigen Fluten.
Ein paarmal schon hatt' ich zu dem entscheidenden Worte angesetzt, aber jedesmal versagte mir die Stimme. So stürmte dies alles auf mich ein, wurde zu einem einzigen seligen Taumel, der mich gleichsam hinnahm.
Um so mehr bewunderte ich Maria, die, einmal ganz allein mit mir, sofort wieder die ganze Ruhe ihrer jungfräulichen Hoheit zu finden schien. Wohl bebte auch ihre Stimme, als sie das Wort nahm. Und etwas wie eine geheime Scheu vor dem Augenblick der Entscheidung schien es ihr sogar zu beflügeln. Aber sie konnte reden. Und während sie mit einer unendlich anmutigen Bewegung nach dem Schreibtisch wies, sprach sie: ›So, und nun legen Sie da nieder, was Sie für Herrn Brandt mitgebracht haben … denn er ist wirklich nicht zu Hause!‹ Und das Lächeln, das ihre Lippen unterdrückten, leuchtete in ihren Augen auf. Warm, goldig, wie draußen die Sonne.
Endlich bekam ich Stimme. ›Wollen nicht Sie es tun, Fräulein?‹ sagte ich leise. Nicht meine Worte, mein Atem war heiß. Und sie mußte es gefühlt haben, denn wieder stieg ihr dieses echt jungfräuliche Rot ins Antlitz: vom Nacken empor, die feinen Wangen entlang, bis es im zarten Blau einer Schläfenader seine Grenze fand. Und wie ein Herzstoß bebte es durch ihre Worte, als sie entgegnete: ›Ich? Warum denn – ich?‹
Ich sah sie bloß an. Aber es war einer jener Blicke, die einen ganzen Menschen nehmen können. Und so aufrecht sie auch dastand, so stolz und unnahbar noch – ihr flüchtendes Aug' sagte mir, daß ich sie genommen hatte. ›Weil Sie es für uns beide tun, Maria!‹ sprach ich langsam in die tiefe Stille hinein. Und als ich ›Maria‹ sagte, nahm sie auch meine Arme. Dann schauerten wir im ersten Kuß zusammen!«
Overhoff schwieg, und ich selbst machte mich wieder auf eine jener dumpfen Pausen gefaßt, die mich sein Unglück noch tiefer empfinden ließen als alles, was er davon erzählte. Aber gleich darauf riß mich ein helles Geklirr empor. Overhoff hatte sein Glas ergriffen und es mit voller Wucht gegen eine der verwitterten Barockstatuen geschleudert, die noch von sonnigeren Tagen erzählten. Zugleich erhob er sich und während er die bebenden Hände fest gegen den Tisch stemmte, schrie er plötzlich mit lauter und wie fremder Stimme: »Sag' mir, warum ich das nicht los werden kann, darf und – will? Ja, will! Warum ich diesen Kuß heute noch heißer, noch inniger fühle als damals, und in diesem Gefühl mein Leben, meine Selbstachtung verliere und – und mich selbst! Und warum ich, wenn dies alles schon sein mußte, ihr doch so weh' tun konnte? Mit diesem selben Kuß auf den Lippen! Sag' mir's … sag' mir's … Und ich will wieder glauben, daß das Leben einen Sinn hat und alles, was wir tun, mehr ist als ein Spiel, in das uns eine unendliche Bosheit hineinstößt, die da irgendwo sitzt und ihren unendlichen Spaß hat an diesem allen!«
»Overhoff,« mehr bracht' ich nicht hervor. Aber so fremd mir seine Stimme auch geklungen – was ich da gehört hatte, war doch die Stimme des alten Overhoff! Und deshalb klang nicht bloß die Angst um ihn aus meinem Ausruf, sondern auch etwas wie eine frische, frohe Zuversicht. Wenn er doch noch nicht so ganz verfallen wäre, als ich befürchtete?
Er aber schien zu fühlen, was ich dachte. Und während er sich wieder apathisch auf seinen Stuhl zurückfallen ließ, sprach er tonlos: »Nein, nein, siehst du … ich wehr' mich schon lange nicht mehr! Reflexbewegungen – nichts weiter!« Und dabei lachte er, daß es mir kalt über die Seele lief.
Dann kam wieder die Stimme hervor, aus der sein gemordeter Wille klagte. Leise, scheu wie die Dämmerung und all das Unfaßbare, das da rings um uns webte.
»Denn weißt du,« sprach er, »was dann geschah? Gerade nach dem Taumel jenes ersten Kusses? Da nahm sie plötzlich mein Haupt zwischen beide Hände. Und während ihr Blick zwischen mir und jenem Holzfries hin und her ging, über dem ein heller Streif der Mittagssonne lag, sagte sie mit einem Ton, der etwas Schweres und Dunkles hatte: ›Ich muß mir den wohl anschaun, der mein – Schicksal werden soll!‹
›Dein wolkenloses sonniges Schicksal, Maria!‹ schwor ich unter einem neuen Kuß. Maria aber schloß die Augen. Und, ja … ich weiß noch heute nicht, wie es geschah – aber einen Augenblick war mir, als säh' ich plötzlich wieder jenen Trauermantel und jene schwarzen Verbenen vor mir. Nur viel, viel größer. Und ein merkwürdiger Zufall fügte es, daß Maria und ich zugleich aufseufzten.
Damals war es nur ein Wölkchen, das in all dem Blau kaum bemerkt an mir vorüberglitt. Nun ist es das Gewitter, das sich hier austobt. Sommerwolken – Sommerwolken … Ja, ja, wer ahnen könnte, welche Blitze die oft mit sich führen! Ich, siehst du, hab's nicht geahnt. Trotz der Warnung, die wie ein Wolkenschatten über den sonnigen Gipfel unseres Glückes hinstrich. Und als ich schon unterwegs war, fiel mich noch einmal der ganze Übermut meines Glückes an. Sie stand unter der Tür – ich dort auf der dritten Stufe von unten. Und während ich noch einmal den Hut zog, tief, wie vor einer Königin, rief ich: ›Morgen noch soll es Herr Brandt wissen! Und dann wird der Tag kommen, wo ich dich über diese Stufen herabtragen werde – ich, dein Sklave!‹ Und Maria stand in der Tür und lächelte dazu.
»Das war zu Mittag!« bemerkte Overhoff. »Und abends fuhr schon der erste Blitz in meine Seligkeit.«
»Brandt?« rief ich unwillkürlich.
»Warum gerade er – wieder?« grollte Overhoff. Und seine Stirne faltete, sein Blick verdunkelte sich. Doch gleich darauf legte er die Hand auf meine Schulter. »Verzeih' … wie könnt' ich dir zum Vorwurf machen, was auch meine Gedanken damals immer nach derselben Richtung hinzwang? Und nicht bloß meine … die der ganzen Welt, soweit sie um Brandt herum lebte und klatschte und – mordete. Ja, mordete! Denn all diese Leute waren meine Mitschuldigen. Aber freilich, wenn ich ihnen jetzt davon erzählen möchte und ihr Gewissen zu demselben Bekenntnis auffordern, das mich täglich in die gleiche Hölle hinabstößt … wie viele, glaubst du, würden noch übrig bleiben von all diesen – diesen ehrbaren Leuten? Die weiter nichts zu tun brauchen, als in irgend einem Salon unter irgend einer moralischen Maske ein Glück und Leben zu zerstören … oft auch nur es einfach fortzulächeln? Ich glaube, nicht viele. Kaum mehr als dieser arme Narr Overhoff, der so töricht war, sich zum Anwalt der öffentlichen Meinung herzugeben. Und der nun so und so viele Jahre Zeit hat, darüber nachzudenken, hinter welcher Kulisse des großen Welttheaters eigentlich diese öffentliche Meinung verschwindet, wenn einer toll genug war, nicht bloß mit ihren Augen zu sehen, sondern auch ihr Henkersdienste zu leisten. Nun, du wirst ja gleich hören, wer für mich diese »öffentliche Meinung« ausmachte. Und dann spei' mir ins Gesicht, wenn es dir beliebt.«
»Also die Verleumdung,« fuhr es mir durch den Sinn, »die wie ein Skorpion sticht und dann – rückwärts geht wie ein Skorpion. Und dazu seine Leidenschaft. Die wilde Eifersucht des Mannes, der das Weib bis dahin immer nur erniedrigt hatte – nie geliebt. Und so doppelt vorbereitet war für all das Gift, das man ihm da ins Ohr träufelte … Die Tragödie begann sich zu gliedern.«
»Der Sturz war wohl auch ein zu jäher. Der Abgrund, in dem ich da all mein Glück versinken sah, ein zu tiefer … und so mußt' ich wohl die Besinnung verlieren,« nahm Overhoff wieder das Wort. »Aber das entschuldigt nur den ersten Augenblick. Nicht all das Andere, das ich dann tat. Nicht das Gericht, das ich hielt und zu dem niemand weniger berufen war als ich. Und dann noch das Letzte, Gemeinste … diese – diese Blasphemie! Das Aufatmen des Tieres, weißt du, das sich für jede Andacht doppelt rächt. Und am scheußlichsten das besudelt, was wir einmal angebetet haben.«
Er mußte meinen befremdeten Blick bemerkt haben. Denn ein wehes Lächeln glitt ihm um die Lippen. Und während seine Hand langsam über die Stirne hinstrich, murmelte er dumpf: »Nun, sei froh, wenn du dich davon rein weißt! Wer das getan hat, kann sich nie wieder erheben. Der hat seinen Ruhm weg, wie Herostrat. Und einen noch schlimmeren. Denn was ich da zerstört habe – Gott! Es war ja auch der Tempel meiner eigenen Seele!«
Mir war, als müßt' ich ihm jetzt ein erlösendes Wort sagen. Obwohl ich ihn noch immer nicht recht verstand. Und selbst auf die Gefahr hin, mich da zu einer Schuld zu bekennen, die mich, Gott sei Dank, doch nicht beschwerte! Und so nahm ich leise seine Hand. Und während ich ein paarmal zart darüber hinstrich, erwiderte ich achselzuckend: »Wer sagt dir, daß ich mich reiner fühle? So oder ähnlich hat es jeder einmal gemacht.«
Erst sah er mich fest an. Dann schüttelte er düster das Haupt. Und mit einem Ausdruck, der tiefste Dankbarkeit und schmerzlichstes Wissen zugleich war, sprach er resigniert: »Oh, Lieber … wenn es wirklich so wäre, wie du sagst, dann säßest du wohl anders da! Denn die solchen, weißt du … die kommen nie mehr über Wasser, nie mehr. Da ist etwas, das sie tiefer zieht, immer tiefer. Nun – und zuletzt liegen sie dann eben am Grund wie ich. Und Zeit und Welt und Leben gehn lautlos über sie hinweg wie eine große dunkle Flut. Erst hab' ich's ja auch nicht geglaubt. Hab' mich gewehrt und gezappelt. Aber es muß wohl stärker sein. Muß wohl stärker sein!« Und wieder dieses irre Lächeln, dieser wie magnetisch von jenem Bilde angezogene Blick.
»Siehst du,« sprach er dann leise in den Abend hinein, »mir hat einmal jemand gesagt, daß man sein Glück so wenig eitel nennen dürfe wie seinen Gott. Und ich glaub', es ist etwas Wahres daran. Nicht daß ich jemandem davon gesprochen hätte. Aber es muß mir wohl aus den Augen geleuchtet haben; im Antlitz geschrieben gewesen sein. Das wittern die Menschen. Und wenn ein solches Glück zuletzt noch ihre eigenen Absichten durchkreuzt, dann kennt ihre Bosheit keine Grenzen, und ihr Instinkt weiß ebenso sicher als tödlich zu treffen. Der erste, der mir das von der Stirne las, war wohl der Wirt, bei dem ich damals mein Mittagmahl einnahm. Er ist noch heute hier im Ort und gehört zu denjenigen, denen ich nicht gern begegne. Aber nur, weil mich sein Anblick immer erinnert, weißt du? An diesen selben, einzigen Tag, dessen Anfang so ganz anders war als sein Ende. Gleichsam Leben und Tod auf einer und derselben Strecke. Ich weiß auch nicht mehr, welch unsinnigen Speisezettel ich da oben zusammengestellt. Es fiel mir nur auf, daß der Mann eine Weile verdutzt schwieg und dann plötzlich über das ganze Gesicht lachte. Breit und ehrlich und mit einem gewissen nachsichtigen Wohlwollen. Und als ich endlich zu mir kam und mit ein paar unzusammenhängenden Worten ebenso rasch widerrief, was ich anbefohlen, sprach er mit einem nicht zu mißdeutenden Gezwinker: ›Aber, ja, ja … natürlich. Jeder war einmal jung!‹ Dann brachte er mir die Speisen und störte nicht weiter.
Ich aber dachte nur: ›Gott, mußt du glücklich sein, daß es die Leute so spüren?‹ Dann fuhr ich mit dem Eilzug nach St. Pölten zurück.
Daß ich den Eilzug nahm, hatte seinen Grund. Denn erstens wollt' ich nicht den Schein erwecken, daß ich mich gar zu lange im Hause Brandts aufgehalten, obwohl er abwesend war. Dann aber erinnerte ich mich gerade noch in letzter Stunde, daß ich mit dem Baron zugleich eine Einladung angenommen hatte, die uns in das Haus eines alten Geheimrates führte, bei dem Vittingstorff oft und gern verkehrte, während mir die Anwesenheit der jungen Töchter des Hauses bis dahin nicht gerade unangenehm gewesen. Vor Marias Schönheit und Eigenart freilich – waren auch diese Reize für mich erblichen. Und so ging ich eigentlich nur mehr hin, weil ich es ja doch versprochen hatte.
Als ich eintraf, saßen die Herrschaften gerade beim Tee. Auch Vittingstorff war schon lange da. Und die Frau des Hauses kam mir mit einer etwas gezwungenen Liebenswürdigkeit entgegen. Offenbar geärgert, daß gerade ich zu spät kam. Auch die jungen Damen ließen mich »abfahren«, wie man sagt. Und Ihre Exzellenz, die Mama, meinte zuletzt mit einem malitiösen Lächeln: ›Ja, ja … so junge und berühmte Herren, die machen sich gern interessant.‹ Die älteste der Töchter aber, mit der ich bisher einen kleinen Flirt unterhalten, sagte schnippisch: ›Wir sind eben keine jungen Damen, mit denen man sich allein unterhalten kann!‹
Ich muß gestehen, daß ich einen Augenblick etwas verdutzt war. Dann aber nahm ich auch diese Äußerung bloß als eine der pikanten »Andeutungen«, in denen sich die österreichischen »Sportkomtessen« so gern gefallen. Besonders dann, wenn sie auf keine große Rente Anspruch erheben können und deshalb jederzeit bereit sind, im schlimmsten Fall auch einen Bürgerlichen »glücklich« zu machen. Denn woher hätte sie sonst wissen können? Auch hatt' ich weder mit ihr noch mit den Ihren jemals über Brandt und sein Haus gesprochen. Wie auch Brandt selbst immer nur bei Vittingstorff mit ihnen zusammentraf. Und Vittingstorff war ja auch nicht zu Hause gewesen!
Da der Abend hell und lind war und die Rosen, die zu allen Fenstern hereinblühten, ihn noch süßer machten, stieg die ganze Gesellschaft nach dem Tee wieder in den Park hinab. Die jungen Damen wollten noch etwas Tennis spielen. Was auch eine Strafe für mich sein sollte, da ich das Spiel nie geübt hatte, während zwei junge Kavallerieoffiziere, die auch zugegen waren, darin geradezu exzellierten. Nun, ich brauch' wohl nicht zu sagen, wie glücklich ich war, nicht Tennis spielen zu müssen. Das süße Traumbild Marias unentwegt vor den Augen, sah und hörte und fühlte ich nichts mehr als sie …
Dagegen nahm sich plötzlich die Exzellenz meiner an. Und während sie mich nach einer Laube entführte, die unmittelbar neben dem Tennisplatze grünte und mir so jeden Augenblick zu Gemüte führen sollte, welchen Himmel ich verscherzt hatte, zog sie einen »Wohltätigkeitsstrumpf« aus ihrem Strickbeutel und machte sich augenscheinlich für ein gründliches Gespräch zurecht.
Sie war eine »Dame von Welt«, wie man sagt, und hatte als solche Formen, die unter allen Umständen ein gewisses Vertrauen einflößen. Ihre ruhige Würde, die sich jederzeit selbst behielt, ihre offen zur Schau getragene Abneigung gegen jede Medisance und eine Frömmigkeit, die nie und nirgends ohne ihren Thomas a Kempis sein konnte, selbst wenn Exzellenz lustwandelte – das war so beiläufig die äußere Garderobe ihrer Seele. Und ich will es nicht leugnen, zugleich auch das, was mir die alte Dame mit der Zeit lieber gemacht hatte als manche andere Standesgenossin aus dem Kreise Vittingstorffs.
Nachdem wir Platz genommen, ließ sie einen wohlwollenden Blick über mich gehen, der etwas von der besorgten Mütterlichkeit hatte, mit der sie alles zu umfangen pflegte, was in ihre Nähe geriet, und die auch mir zuweilen schon recht wohlgetan. Dann seufzte sie leise auf und sprach: ›Nun wissen Sie, es ist nicht gerade, weil Sie etwas später gekommen sind … Aber sagen muß ich es Ihnen: Sie sehn heute etwas angegriffen aus. Und nicht – nicht ganz so unbenommen wie sonst?‹
›Finden Sie?‹ lächelte ich. Und wer weiß, vielleicht lag gerade in diesem Lächeln etwas, das allzu laut von meinem Glück erzählte. Denn plötzlich war wieder der süß-saure Zug der Begrüßungsmiene in ihrem Antlitz. Nur daß ich mir diesen Zug damals ganz anders deutete und mich sozusagen verpflichtet fühlte, ihre echte oder gemachte Mütterlichkeit wenigstens durch ein bischen zärtlichen Sohnesdank zu quittieren. Ich nahm also ihre Hand. Und nachdem ich einen Kuß darauf gedrückt, meinte ich mit einem leisen Seufzer: ›Die Damen haben es eben in allem besser als wir. Wissen Sie, daß ich heute schon fast sechs Stunden ununterbrochen unterwegs bin? Notabene nach einer schlaflosen Nacht. Da kann man einem dann schon einiges ansehen!‹
›So, so,‹ kam es langsam zurück. ›Also eine schlaflose Nacht hatten Sie auch – Ärmster!‹ Doch so warm auch ihre Stimme noch klang bei diesen Worten, ihr Blick vermied es diesmal, dem meinen zu begegnen. Und als sie gleich darauf einen Faden ihrer Arbeit entzweiriß, meint' ich, mir den ausweichenden Blick und die seltsame Pause in unserem Gespräch eben durch den Umstand zu erklären, der das Abreißen dieses Fadens notwendig machte. Dann war es ja auch so süß, wieder eine Weile mit Maria allein zu sein. Und während die Tennisbälle flogen und die Rosen dufteten, so dazusitzen und mit halbgeschlossenen Augen von jenem Kuß zu träumen, in dem sich eine ganze Seele für immer hingegeben … für immer! Als hätt' ich Champagner zu mir genommen, weißt du? Recht, recht viel … Aber nicht durch den Mund, sondern durch eine große, offene Wunde, die mir den süßen Taumel direkt ins Blut führte … Ist man aber einmal so weit, dann kann einen jeder ertappen und ausholen. Und zuletzt auch jeder spielen mit einem. Nun, du wirst ja gleich hören.
Die kleine Pause, die mir so viel Seligkeit gewährte, wußte die Niedertracht der Alten für die Strategie auszunützen, die meinem Glück den Todesstoß versetzen sollte. Damals natürlich durchblickte ich auch dies nicht, sondern nahm Frage und Antwort, wie sie sich im weiteren Verlaufe unseres Gespräches ergaben, einfach als Spiel eines tragischen Zufalls. Erst nach Jahren dämmerte mir die Erkenntnis, daß jeder dieser Fragen ein suggestiver Zweck innewohnte, der mich auf Umwegen dorthin bringen wollte, wo man mich haben mußte, um den tödlichen Streich auch mit voller Sicherheit zu führen. Aber da war es natürlich schon lange zu spät. Selbst für die Rache. Die alte Exzellenz war gestorben, »mit ihrem Thomas a Kempis in der Hand!«, wie ich jemanden erbauungsvoll erzählen hörte. Und so will ich zu ihrer letzten Ehre wenigstens annehmen, daß sie bereut hat. Und daß da irgendwo ein Jesuit oder ein anderer Beichtvater herumläuft, der mir Wort für Wort bestätigen könnte, was ich zu spät selbst erkannt.
Die Pause, während der ich mich scheinbar bedacht, die alte Exzellenz scheinbar friedlich weiter gestrickt hatte, war eine ziemlich lange gewesen. Dann aber fuhr es gleichsam herunter – Blitz auf Blitz! Und wenn ich heute daran denke, fühl' ich mich noch immer so lahm geschlagen wie damals. Das, siehst du, ist mir geblieben. Und so hat auch das, was ich mit der Zeit geworden bin, wohl schon damals begonnen.
›Raten Sie, wer heute bei uns war?‹ flötete die Alte plötzlich in unser Schweigen hinein. Und als ich, noch ziemlich verträumt, empor sah, sprach sie lächelnd und mit einer, wie mir schien, etwas geflissentlichen Betonung: ›Brandt!‹
›So, so …‹ machte ich. Die Nachricht war mir doch etwas unerwartet gekommen. Und da ich zudem wußte, daß Brandt bisher im Hause nicht verkehrt hatte, stellten sich bei mir von selbst allerlei Vermutungen über den Anlaß seines Besuches ein. Das gab eine neue Pause: Die Geheimrätin aber schien Sorge zu haben, daß sie nicht allzu lange währe. Denn sie nickte mir freundlich zu und sagte: ›Natürlich nur – Ihretwegen!‹
Nun blickte ich auf. ›Meinetwegen? Wieso?‹
›Gott,‹ gab sie leicht und wie nebenbei zurück, ›weil er Sie eben nicht zu Hause traf!‹
›Dort wußte man doch, wohin ich mich begebe!‹ rief ich. ›Und hat es ihm gewiß auch gesagt!‹
›Allerdings! Aber da er im Schloß zugleich hörte, daß Sie uns den Nachmittag versprachen, kam er eben her und tat nicht wenig erstaunt, Sie noch immer nicht hier zu treffen! Und zuletzt kam eine so merkwürdige Unruhe über ihn, daß er nicht einmal das Erscheinen Vittingstorffs abwarten mochte, sondern nur noch heimwärts strebte. So sehr mein Mann und ich uns auch bemühten, ihn festzuhalten. Denn natürlich hatten wir eine herzliche Freude über seinen Besuch!‹
›Nun,‹ meinte ich noch immer ganz unbefangen, ›wenn es ihm vielleicht um seine Pläne zu tun war … die findet er jetzt zu Hause!‹
›Also waren Sie richtig dort?‹ fragte die Geheimrätin. Und dieses »richtig« kam so seltsam zugespitzt heraus, daß ich unwillkürlich aufsah. Im Nu glitt ihr Blick wieder auf die Arbeit zurück. Aber so rasch es auch geschehen war – ich hatte plötzlich die unangenehme Empfindung, daß dieser Blick nicht bloß gelacht, sondern auch belauert hatte. Zugleich fiel mir die etwas gereizte Äußerung der einen Komtesse wieder ein … »Von den Damen, mit denen man sich nicht allein unterhalten kann!« Und zu alldem kam noch das ärgerliche Gefühl, daß die kleine Kriegslist, mit der ich dieses so lange ersehnte »Alleinsein« endlich herbeigeführt, nun auch vielleicht von Unberufenen durchschaut und mißdeutet worden sei.
Nun wirst du ja vielleicht aus eigener Erfahrung wissen, wie wehrlos und ungeschickt wir Männer uns in einer solchen Situation gehaben. Und bei mir trat noch die impulsive Selbstherrlichkeit meines Wesens hinzu, die auf jeden Zwang ebenso brutal als unverzüglich zu reagieren pflegte. Damals hatt' ich sie ja noch! Und so erwiderte ich ziemlich gereizt und in einem Ton, der sicher nicht der gewählteste war: ›Richtig – richtig? Ich dächte, wenn man schon einmal bis zum Kaseck gegangen ist, wär' der Weg ins Haus des Hofrates der nächste. Oder hätt' ich meine Pläne nur spazieren tragen sollen?‹
›Ja, wußten Sie denn nicht, daß Brandt heute nach St. Pölten komme?‹ fragte mein Inquisitor.
›Dann wär' ich ja zu Hause geblieben!‹ gab ich kurz zurück. Es war die einzige Lüge, die ich auszusprechen hatte. Aber ich betrachtete sie als mein gutes Recht.
Die Nase der Geheimrätin sank wieder auf ihre Arbeit herab. ›So – so! Und er nahm so fest an, daß Ihnen Vittingstorff auch davon gesprochen habe …‹
Ich fühlte mich bereits wieder so sicher, daß ich glaubte, mir mit der alten Exzellenz und mit der Situation einen Scherz erlauben zu können. Also lachte ich: ›Vielleicht hat er es sogar … Aber muß ich mir's deshalb gemerkt haben? Wenn es sich um eine junge Dame gehandelt hätte … oder um eine so geistvolle Causeuse wie Sie, meine Gnädigste! Auf solche Fälle ist mein Gedächtnis dressiert. Aber ein alter Hofrat. Du lieber Himmel! Und wär' es auch der einflußreichste … da reagieren Gedächtnis und Phantasie eben weniger rasch!‹
Nun … ich mußte diesmal wohl den richtigen Ton getroffen und damit auch den Verdacht entwaffnet haben, den sie im stillen gehegt und ich durch meine Befangenheit gewiß verstärkt haben mochte. Sie ließ ihr Strickzeug in den Schoß sinken, lächelte mich huldvoll an und meinte endlich mit dem diskreten Achselzucken der vornehmen Dame: ›Gott, wissen Sie … Sie werden ihm eben zu lange dort geblieben sein!‹
Da ich im Nu verstanden hatte und mich zugleich auch des Unbehagens erinnerte, mit dem Brandt mein Interesse für Maria wahrgenommen, konnt' ich diesmal wirklich vom Herzen weglachen. Und so rief ich: ›Dafür hab' ich allerdings ein Verständnis! Aber so angenehm unserem Freund auch eine so liebliche Pflegetochter und Hausgenossin, wie Fräulein Soltis sein mag, mit dem Gedanken, daß da einmal jemand erscheinen und sie ihm vor der Nase wegführen kann, muß er sich doch vertraut machen!‹ Ich sagte das gleichsam nebenbei. Obwohl ich bereits das übermütige Hochgefühl des Wissenden in mir trug und einen Augenblick sogar den Kitzel verspürte, der alten Ausholerin durch ein indiskretes Geblinzel noch mehr zu verraten. Da ich aber noch heute weiß, daß ich trotz dieser vorübergehenden Anwandlung nicht nur ganz beherrscht blieb, sondern in dem Gefühl der Andacht, das ich für Maria hegte, mir sogar einen heimlichen Vorwurf deshalb machte, mußte das, was nun kam, mich um so vernichtender treffen. War es doch so gar nicht veranlaßt! Wenigstens, wie ich mir nachher sagte, der mit dem Scherz über Brandt auch den letzten Verdacht hinweggescherzt zu haben meinte. Die grauen Luchsaugen an meiner Seite freilich sahen besser und tiefer. Und dann ahnen wir ja gar nicht, um wie viel uns die Witterung der Frauen voraus ist! Wenigstens in allen geschlechtlichen Dingen.«
Overhoff schwieg eine Weile. Dann drückte er langsam die Augen ein, wie jemand, der die Bilder, die sich ihm aus der Vergangenheit stellen, wieder genau so sehen möchte, wie einst. Und endlich meinte er mit einem Nicken, das dies alles ganz ruhig und gleichsam in unpersönlichster Weise bestätigte: »Weiß Gott … wenn das, was die alte Exzellenz damals vorbrachte, vom Anfang bis zu Ende wirklich nur berechnete Komödie war, dann hab' ich in ihr jedenfalls eine der größten Schauspielerinnen meiner Zeit kennen gelernt! Denn es war vollendet bis auf das »Wie«. Und dabei blieb sie vornehm … so ganz seelischer Dreß und asketische Zurückhaltung, weißt du? Die sich selbst dort, wo sie verurteilen muß, noch immer an das Gebot der Nächstenliebe erinnert. Das aber hätte auch jeden anderen an meiner Stelle hilflos und zuletzt wankend gemacht. Wenn ein solcher Ausbund von Diskretion und Christentum sich nicht enthalten kann, das für wahr zu nehmen …! An der Persönlichkeit lag es, weißt du?
Sie hatte, während ich sprach, ihr Strickzeug wieder aufgenommen. Nun ließ sie es mit der Miene einer Verblüfften plötzlich aus den Händen gleiten. Und so rasch, so unmittelbar, daß es ihr nicht in den Schoß zurückfiel, sondern direkt zur Erde, wobei zugleich eine halbangestrickte Nadel aus den Maschen glitt. Rasch bückte ich mich darnach, doch fand sie kein Wort des Dankes für meine Mühe. Starrte mich nur immer an und schüttelte dabei in höchst seltsamer Weise den Kopf. Und als ich sie endlich auch meinerseits etwas betroffen ansah, sprach sie langsam und wie jemand, der sich noch immer nicht recht fassen kann: ›Nein, sagen Sie mir … sind Sie wirklich so naiv oder – oder stellen Sie sich bloß so? Denn das, wissen Sie, das glaub' nicht einmal ich Ihnen!‹
›Was?‹ fragte ich, nicht weniger befremdet, zurück. ›Was können Sie mir nicht glauben?‹
Sie verzog in einer eigenen Weise den Mund. Beiläufig wie eine Katze, die ins Nasse gerät oder in sonst einen Unrat. Und selbst ihre Hände schienen gleichsam etwas von sich zu schieben, als sie erwiderte: ›Nun, daß Sie allen Ernstes annehmen, daß es irgend einen bürgerlichen Weg gibt, auf dem ein Mann von Ehre die Maitresse Brandts heimführen könnte?‹
Die ersten Worte waren langsam gekommen – wie auf einem Umweg, so daß ich noch immer nicht im klaren war, wohin sie eigentlich zielte? Nun kannst du dir denken, wie mich die Brutalität der letzten niederschmetterte!
Der Boden zu meinen Füßen schien sich geöffnet zu haben. Vor meinen Augen begann es blau und grün durcheinander zu kreisen. Und ich brauchte eine geraume Weile, bis es mir wieder klar wurde, daß dieses Blau der abendliche Sommerhimmel wäre, dies Grün die Wipfel des Gartens, die nur mein Schwindel so toll durcheinanderschüttelte. Sie selbst standen ja still und unbewegt. Zugleich hatt' ich ein Gefühl, als ob eine kalte Hand in mein Herz hineingriffe, es packe und wieder fahren ließe. Bis mir ein dumpfes Gehämmer in der Brust und das Pochen in meinen Schläfen zum Bewußtsein brachte, daß ich tatsächlich Herzklopfen hatte. Dabei lag es mir mit Zentnerschwere auf der Brust. Und deutlich fühlt' ich, wie ein Tropfen eiskalten Schweißes unter meinen Haaren hervorkam und von der Schläfe langsam über mein Antlitz kroch. Auch daß ich etwas sagen wollte, weiß ich noch. Etwas recht Heftiges, Böses, das mich rächen und Maria vor weiteren Verunglimpfungen schützen sollte. Aber ich brachte es so wenig heraus, als ich atmen konnte. Und als ich endlich wieder zu mir selbst zurückfand und Atem bekam und Stimme … Ja, siehst du, da hatt' ich so die Empfindung, als wäre der kalte Schweißtropfen unterdes bis an mein Herz gekrochen und hätte dort das Beste an meiner Liebe kalt gemacht und ruhig. Der Verstand trat in seine Rechte. Die Überlegung begann ans Werk zu gehen. Und mit einem heimlichen Schreck fühlte ich's, wie auch meine Eifersucht sich aufbäumte und, ohne daß ich's wollte, zur Bundesgenossin der Gemeinheit wurde. Zuletzt kam dann auch jener Wespenstich der Manneseitelkeit dazu, die um nichts in der Welt lächerlich erscheinen will und doch so albern ist, daß das dümmste Frauenzimmer jederzeit seinen Spaß mit ihr haben kann. In meinem Falle freilich war es auch die Eigenliebe, die mitstach; das ganze Vollgefühl meiner vernachlässigten und mißhandelten Persönlichkeit. Denn wie lange hatt' ich nichts gefühlt, nichts gedacht, nichts erlitten, als – Maria!
Die Alte mußte sich unterdes wohl sattgeweidet haben an meinem Zustande. Obwohl ich mir damals einbildete, daß meine Haltung bis zuletzt eine beherrschte blieb. Denn ihr Blick wurde noch mütterlicher, ihr Lächeln noch süßer. Und zuletzt nickte sie mir zu, wie jemand, der sagen will: ›Ja, es tut mir gewiß leid, aber … begreifst du denn nicht, daß es zu deinem Besten geschehen ist?‹
Nun für mein Bestes wollt' ich schon selbst Sorge tragen. Und wie konnt' es besser geschehen, als hinter der Maske der Konvention, die mich von Anfang bis zu Ende als den völlig Gleichgültigen und Unberührten zeigte? Wer weiß, wie viel sie bei ihrer Frömmigkeit dann zuletzt nicht auf sich beruhen ließ von dem ganzen Klatsch. Und nachdem sie alles angebracht, auch alles wieder den anderen in die Schuhe steckte? So konnt' ich herausholen, was mir beliebte, und zugleich darauf kommen, wie viel von dem ganzen Geschwätz auf seine Stichhaltigkeit zu prüfen war, dann lag ja gerade der Fall so recht an der Straße, für alle bösen Blicke und schmutzigen Mäuler. Freilich, daß er so an der Straße lag, blieb auch für mich das Unangenehme. Ob nun etwas daran war oder nicht.
Ich weiß noch, daß ich die Beine damals so weit als möglich von mir gestreckt … in einer gemachten Nonchalance. In Wahrheit aber aus dem dumpfen Selbsterhaltungstrieb des Menschen heraus, der wenigstens spüren will, daß er nicht ganz zerschlagen wurde. Und dann sprach ich: ›Nehmen Sie wirklich alles für bar, was die Leute sagen? Nach dem, was ich bisher davon gesehen, macht mir der Haushalt Brandts einen ganz anderen Eindruck. Dann ist er schon so alt! Das Fräulein fast noch ein Kind! Und da er der beste und letzte Freund ihrer Eltern war, scheint es mir ebenso natürlich als anständig, daß er der Verwaisten in seinem Hause ein Plätzchen angeboten!‹
›Hat Brandt Ihnen das so – so plausibel gemacht?‹ kam es spitz zurück.
›Nein,‹ erwiderte ich. ›Was ich weiß, hat mir das Fräulein erzählt, wie sich so etwas im Verlaufe eines Gespräches eben von selbst ergibt! Es war bei meinem ersten Besuche dort. Und da ich nicht gleich wußte, ob das Fräulein die Tochter oder die Nichte Brandts wäre –‹
›So ergab es sich eben von selbst, wie?‹ lächelte die Exzellenz. Und der Ton, in dem sie diese Worte sagte, war so überlegen wie ihr Lächeln.
Ich blickte zur Seite, um sie nicht ansehn zu müssen. So haßt' ich das Weib in diesem Augenblicke. Und doch hört' ich zugleich auch die raunende Teufelsstimme des Mißtrauens, die mir zuflüsterte, daß ich in ihr vielleicht nur die Wahrheit hasse! Also blieb ich auch weiter hübsch ruhig und artig und setzte durch Frage und Antwort ein Gespräch fort, das nicht nur die Geliebte, sondern auch mich selbst immer tiefer erniedrigte … nichts fühlend als den wütenden Stachel meiner besinnungslosen Eifersucht.
Die Alte mochte spüren, wie weit ich war, und daß sie alles andere von jetzt ab am besten mir selbst überließe. Denn sie schwieg und strickte ruhig weiter. Ich war ja, weiß Gott, töricht genug …
›Daß die allgemeine Skandalsucht dergleichen witterte und jederzeit mit größtem Behagen wittert, wundert mich nicht –‹ begann ich wieder. ›Hinz und Kunz kennen nur die Regale der bürgerlichen Gesellschaft. Und weh' dem Faszikel, das sich nicht in einem dieser bequemen Schubfächer unterbringen läßt. Weh' dem Verhältnis, das anders scheint oder ist, als es der Meldungszettel von Anfang an vorschreibt. Rubrik 1, 2, 3, 4, usw. Was da nicht hineinfällt, wird zuerst beschnüffelt, so recht intim. Mit dem großen, großen Schweinerüssel, der eben auch zu den Funktionsorganen des öffentlichen Stalles gehört. Nun und dann, dann geht eben das allgemeine Gegrunze an: »die riechen anders als wir … sie tun's nicht so, wie es vorgeschrieben ist.« Uih, uih … nun wissen wir, was davon zu halten ist!‹ Und ich lachte. Aber es war mehr ein Krampf als ein Lachen.
Die Exzellenz sah mich an – ruhig, kalt, aufmerksam, ordentlich sachlich. Und wieder war etwas in ihrem ganzen Gehaben, das seinen Eindruck auf mich nicht verfehlte. ›Ein Wort, lieber Overhoff,‹ sprach sie dann mit der liebenswürdigen Nachlässigkeit der großen Dame. Und da ich nickte, lächelte sie und sagte: ›Also … halten Sie auch mich für einen Bestandteil dieses – dieses öffentlichen Geruchsorgans, das Sie da eben so köstlich gekennzeichnet?‹
›Das ist's ja, was ich nicht glauben kann!‹ rief ich aus. Und in meiner Verzweiflung küßte ich sogar ihre fette Patschhand. Es sollte galant ausfallen. Und war doch nichts, als die Bitte eines Verzweifelnden um ein einziges Wort der Gnade. So ganz instinktiv, weißt du, wie wir Männer sonst nie handeln, außer wenn das Triebleben in uns aufgerüttelt oder mißhandelt wird! Nur dann durchschaut uns das Weib, wie es seinesgleichen durchschaut. Und hat noch den stillen Triumph dabei, sich um vieles klüger zu fühlen. Denn sein Instinkt hat immer Kultur. Weil er Übung hat. Unserer läuft wie ein Bauer daneben. Oder schnappt wie ein Tier. Man will eben etwas.
Wieder sah mich die Geheimrätin an. Dann lachte sie, so recht mütterlich. ›Was Sie doch für ein lieber Mensch sind! Und doch sehen Sie … selbst auf die Gefahr hin, von Ihnen ein für allemal für die Funktionen des öffentlichen Schweinerüssels mitverantwortlich gemacht zu werden, kann ich in diesem Falle von meiner Meinung nicht abgehen. Sie ist eben zu tief begründet –!‹ Und ihre kalten, runden Fischaugen blickten mir dabei so starr ins Gesicht, daß ich mir wie ein Hypnotisierter vorkam.
›Kennen Sie denn Fräulein – Fräulein Soltis?‹ bracht' ich endlich aus der Kehle.
› Fräulein Soltis wohl nicht …‹ sprach sie mit malitiöser Betonung des Wortes: »Fräulein!« ›Aber Brandt kenn' ich. Und andere kennen ihn noch besser. Fragen Sie doch einmal unseren Freund Vittingstorff … oder meinen Mann. Oder –‹ Sie legte ihre Hand mit einem mütterlich-nachsichtigen Tätscheln auf die meine. ›Oder tun Sie's lieber nicht. Sie würden Ihnen ja doch nur ins Gesicht lachen, die bösen Männer!‹
Ich weiß nicht, woher es die Hexe hatte. Aber der Name Brandt, in diesem Augenblick … Es war, als würde mir ein Nagel ins Herz geschlagen. So recht, recht tief. Und mitten durch.
›Deshalb könnt' ich ja noch immer meine eigene Meinung haben, nicht?‹ Ich sagte es, bloß um etwas zu sagen. Denn tatsächlich hatte der Nagel schon seine Arbeit getan. Er saß fest. Und ich fühlte, wie mir im Herzen etwas verblutete. Langsam, qualvoll langsam, aber sicher … meine Liebe.
›Wenn Sie schon so ritterlich sein wollen!‹ meinte die Exzellenz mit einem nachsichtigen Achselzucken. ›Das ist ja schließlich Ihre Privatangelegenheit. Und sehen Sie, ich selbst würde ja das Ganze auch durchaus nicht so nehmen, wie die anderen Leute. Es gibt eben Menschen und Menschen. Und wie dieser Brandt nun einmal ist … daß er aber das Verhältnis nicht einmal nach der Geburt seines Kindes geregelt hat. Und einfach nur so fortlebt mit dem jungen Geschöpf … Während das arme Würmchen da irgendwo am Land in Kost und Pflege gehalten wird, und immer hübsch weit von den Eltern. Das, sehen Sie, kann ich nicht verzeihen! Und das, mein lieber Overhoff, müssen Sie mir zugute halten. Denn es gibt eben auch Mütter und Mütter –‹
›Sie hat – sie hätte … mit Brandt –‹ Ich wollte sagen ›ein Kind?‹ Aber ich brachte kein Wort mehr hervor. Denn plötzlich wandelte mich ein Gefühl an, das mich vor mir selbst bange machte. Eine Lust zu lachen – laut, krampfhaft, toll … ohne Ende, ohne Besinnung. Über mich … über die Welt – über die Komödiantin an meiner Seite und über jene, die ich heute in meinen Armen gehalten. Und zugleich hatt' ich die Empfindung, daß ich, einmal in dieses Lachen ausbrechend, zugleich die Alte an meiner Seite erwürgen müßte, zur Strafe für diese ganze schmutzige Welt, in der Lüge und Wahrheit so närrisch durcheinander gingen.
›Pfui Teufel,‹ dacht' ich noch, ›ein hysterischer Mann!‹ Und damit hatte mein Stolz gesiegt. Er gab dem Nagel den letzten Schlag …
In demselben Augenblick sprang ein Tennisball so hoch über sein Ziel, daß er mitten zwischen das Geäst einer blühenden Paulovia flog. Als er wieder zurückkam, hatte er eine der herrlichsten Blüten abgeschlagen. Erst baumelte sie noch ein Weilchen im Winde herum, dann glitt sie sacht hernieder – immer rascher, immer tiefer … gerade zwischen die Spielenden, die in ihrem Eifer, den Ball wieder zu bekommen, eines nach dem andern über die Blüte hinwegliefen, bis sie ganz zertreten dalag. ›Maria Soltis!‹ sprach ich vor mich hin. Ganz wie damals. Nur einem anderen Zwange gehorchend.
›Ja, ja, Maria Soltis!‹ kicherte die Exzellenz an meiner Seite. Mit dem fetten Behagen der Korrekten, die von Zeit zu Zeit doch auch ihre Anzüglichkeit haben müssen. Dann rollte sie ihr Strickzeug zusammen und wir gingen ins Haus.
Welche Nacht für mich auf jenen Abend folgte, kannst du dir denken. Wie ein Verdammter schritt ich in meiner Stube hin und her, bemüht, wenigstens etwas Ordnung in meine Gedanken und Gefühle zu bringen. Aber es war umsonst. Die Enttäuschung wütete wie eine Bestie in meiner Seele. Meine Gedanken jagten wie gehetztes Wild an mir vorüber, unmöglich, auch nur einen zu fassen. Ein paarmal riß ich alle Fenster auf – weit, weit … wie einer, der zu ersticken fürchtet. Aber auch von draußen kam weder Kühlung noch Ruhe für mich. Es war eine schwüle Sommernacht, und durch die alten Buchenwipfel des Parkes leuchtete von Zeit zu Zeit der Blitz eines fernen Gewitters. Dann waren allerlei seltsame Geräusche da – oder auch nicht da … kurz, ich bildete mir ein, etwas zu hören, das immer wieder kam – immer wieder. Bald lauter, bald leiser. So ein recht böses, böses Lachen! Ein paarmal griff ich mir an die Stirne, wie einer, der sich selbst ertappen will. Wenigstens schien es mir, als hätt' ich so gelacht. Ohne es zu wissen, ohne es zu wollen. Denn unten war ja alles still und einsam. Aber der Ton wollte nicht verstummen. Ich wurde fast wahnsinnig daran. Und endlich wußt' ich auch, warum. Das war ja Brandt, den ich da lachen hörte! Genau so, wie bei den Herrenabenden Vittingstorffs, wenn von besonders saftigen Dingen die Rede war! So mochte er nun auch über mich meckern, wenn sich jemand fand, der ihm erzählte, daß ich dort angebetet, wo er – schon fertig war …
Ich schrie wirklich auf in jenem Augenblick. So wehrte sich mein Stolz, so litt mein Herz. Und dann wieder diese wilde, rasende Gedankenflucht.
Und plötzlich sah ich wieder den dunklen Holzfries vor mir. Hörte die Stimme, die jene Worte gesprochen … ihre Stimme … Und, wirst du mir's glauben? Da warf ich mich aufs Bett und weinte. Laut, heiß, hilflos, wie ich seit meinen Kindertagen nicht wieder geweint!
Merkwürdig, daß gerade damit wieder etwas Ruhe über mich kam! Denn diese weiße, zarte, hilflose Gestalt – wie viel Schmutz heut' auch nach ihr geworfen worden, wie viel Steine ich selbst herzugetragen, um zu zertrümmern, wovor ich so lange gekniet – sie leuchtete doch immer wieder in all das Dunkel hinein. In einer Anmut, so hold und rührend, daß ich plötzlich aufsprang, den Kopf zwischen beide Hände nahm und zwei-, dreimal ›Nein! Nein!‹ vor mich hinschrie. Wie jemand, der sich wenigstens bis zuletzt gegen das wehren will, was ihm sein Höchstes nimmt: einen reinen, süßen Glauben.
Nein, so durft' ich mir mein Lebensglück nicht verekeln lassen, solang ich ein Mann war … so nicht. Da mußt' ich auch mit den eigenen Augen um mich schauen, den Dingen auf den Grund kommen … entweder die Verleumder entlarven oder – die Komödianten. War Brandt wirklich so eifersüchtig, wie mir die Alte erzählt und auch ich zuweilen bemerkt zu haben glaubte, dann mußte schon der morgige Tag des ganzen Rätsels Lösung bringen. Denn war sein Verhältnis zu Maria wirklich das, wofür es der üblen Nachrede galt, dann mußte ihn meine Werbung entweder total verblüffen oder geradezu außer sich bringen. Allerdings konnte ihn Maria auch darauf vorbereitet, ihm von meiner Erklärung gesprochen haben. Doch ob sie nun gesprochen oder geschwiegen – keinesfalls war Brandt der Mann, der sich etwas, woran er nun einmal hing, nur so entreißen ließ … und zuletzt ein Weib wie Maria. Wollte er also das Dekorum wahren, so mußte er sich in die Würde des Vormunds hüllen und mir unter allen möglichen Vorwänden ihre Hand verweigern. Beharrte sie aber bei ihrer Wahl, war er noch immer der Mann, mit einem saftigen Zynismus seinen Besitz und seine Rechte anzudeuten. Und dann war auch mir alles gesagt. In beiden Fällen mußte seine Eifersucht zur Verräterin der ganzen Komödie werden, vorausgesetzt, daß es eine war.
Damit hatt' ich endlich so viel Ruhe gewonnen, um mich wenigstens ein wenig hinlegen zu können. Nicht um zu schlafen, sondern um Punkt für Punkt zu erwägen, wie ich morgen ins Gericht zu gehen hatte. Es konnte ein Lustspiel, ein Trauerspiel oder – eine Tragikomödie werden. Und mit einer gewissen Erschütterung bemerkte ich, daß ich langsam anfing, mich als einen zu betrachten, der bereits mehr zusah als agierte, und sich bloß deshalb noch einige Mühe nehmen wollte, weil sein Stolz und sein Trotz mit im Spiele waren. Ja, ja, auch die Liebe ist ein Glaube, bei dem man nicht ungestraft zu denken anfangen darf. Der leiseste Zweifel, der kleinste Stein, den unser Mißtrauen emporgehoben – und der Weg in ihr Wunderland ist für immer verschüttet. Dann freilich kommt das, womit jeder verlorene Glaube sich an uns rächt. Wie du siehst … wie du siehst!« schloß Overhoff, während er mit einem heiseren Lachen an seine Brust schlug.
Über den Kies knirschten Schritte. Der alte Diener kam mit einem Gartenleuchter daher. Wie lang mochte der schon seine Dienste nicht getan haben! Er war über und über verrostet. »Brauchst du das?« fragte Overhoff. Es sollte höflich sein. Aber Blick und Stimme sagten mir, daß es ihm lieber wäre, wenn selbst dieses arme Flämmchen uns nicht ins Gesicht leuchtete. Und so sprach ich mit einer abwehrenden Bewegung: »Wenn es dir kein Bedürfnis ist. Der Abend ist so herrlich, und bald wird die Nacht mehr Lichter entzünden, als wir brauchen.«
»Gut,« sagte Overhoff. Und während er sich dem Alten zukehrte: »Aber im Saal zünden Sie mir wieder alle Lampen an!« Und als sich der Diener entfernt hatte, sprach er mit einem Ton, der mir noch in der Erinnerung die Seele durchschneidet: »Das ist der einzige Luxus, den ich nicht entbehren kann. Wenn ich da sitze, im Frühling und Sommer, oft auch in den tiefen, schauernden Herbstnächten … Denn so hab' ich sie immer bei mir, auch wenn ich selbst im Dunkeln sitze. Und dann tritt sie doppelt süß zu mir heraus. Und küßt mich und trinkt mir das Leben aus der Seele, noch in der Erinnerung. Überhaupt« – und wieder kam jenes Lachen aus seiner Kehle – »findest du nicht, daß wir im allgemeinen doch zu viel schlafen?«
»Overhoff!« rief ich. Ein Grauen rieselte an mir nieder. Und als nach einem Augenblick im Saale die Lichter und Lampen aufzuleuchten begannen – bald da, bald dort eines, aus den tiefsten Ecken hervor, von den seltsamsten Plätzen hernieder – aber alle nur zu dem Zweck, der weißen Mädchengestalt einen Schein zitternden Lebens einzuhauchen, so daß die Täuschung des Vorwärtsschreitens nun fast eine unheimliche Gewißheit wurde – da begriff ich den Luxus, von dem mein Freund gesprochen. Und erkannte aufs neue die feine Künstlerhand, die diese Lampen durch das ganze Gemach verteilt hatte und all die Lichter zu einer Wirkung kombiniert, die eine einzige Magie war. Die aufpeitschende Magie für eine todkranke Sehnsucht.
Und wieder sagte ich: »Overhoff!« Und als er noch immer schwieg: »Das muß dich ja töten!«
»Doch leb' ich noch, wie du siehst,« lachte er seltsam auf. »Und bin dick und fett und kurz von Atem geworden … wie Hamlet oder – oder eine andere Kellerassel. Kennst du Kellerasseln?« fragte er nach einer Weile. So ernst und wichtig, als wären wir zwei Knaben. Und als ich ihn befremdet anstarrte, setzte er mit fast erlöschender Stimme hinzu: »Die sind allerdings so bleich, so – so schattenhaft bleich und geräuschlos, daß man sie ebensogut für ihre eigenen Gespenster halten könnte. Ganz wie mich … ganz wie mich … Oder nicht?« Und dabei lachte er wieder und mit einer solch unheimlichen Befriedigung, daß es Wahnwitz sein mußte, wenn nicht das verhängnisvolle Selbstbehagen der würdelosesten Seelendämmerung des … Ich mocht' es nicht ausdenken!
Gleich darauf aber fand er sich wieder in der Vergangenheit zurecht. Und so sicher, so rasch, daß alles, was er sprach, wieder den vollen Ton gesunden Lebens bekam und die logische Aufeinanderfolge von Ereignissen kennzeichnete, die einmal nur so und nicht anders ins scharfe Licht der Wirklichkeit getreten.
»Siehst du,« sprach er, »als ich den nächsten Tag wieder hierher kam, hatt' ich ein wunderliches Gefühl. So beiläufig, als gingen zweie mit mir, von denen der eine nicht rasch genug vorwärts kam, während der andere sich ordentlich fürchtete, ans Ziel zu gelangen, wie jemand, der ja doch alles voraussieht, was ihn erwartet, und davor Angst hat und das Streben, den entscheidenden Augenblick immer wieder hinauszuschieben. Zuweilen aber dämmerten diese entgegengesetzten Gefühle in mir auch zu einer einzigen Empfindung zusammen, und dann war es, als käme etwas Dumpfes und Dunkles über mich, das mir nicht bloß den Willen, sondern auch den Atem nahm, so daß ich mehr als einmal stehn blieb, wie fremd um mich starrte und nicht wußte, wer da eigentlich unterwegs war! Ich oder einer, der im nächsten Augenblicke etwas ganz anderes tun konnte als ich dachte und wollte! Nun, ich hatte ja auch zwei gänzlich schlaflose Nächte hinter mir, und über beiden war die Sonne meines Glückes auf- und niedergegangen.
So war ich langsam bis zu der Wegscheide gekommen, auf deren Höhe auch damals eine Bank stand wie noch heute, und das kleine Kapellchen mit dem rostzerfressenen Wetterdach. Und auf dieser Bank saß Maria, als ich um die Ecke bog. Sie trug dasselbe weiße Kleid wie gestern und den großen Hut mit den Mohnblumen, die wie Flammen im Sonnenlichte aufzüngelten. Und da sie ganz ruhig mitten in der Sonne saß und förmlich ein blendender Schein von ihr ausging, hatt' ich einen Augenblick wieder die Empfindung, etwas zu sehen, was eigentlich nicht da war oder nur da, weil ihm meine Seele diese heiße Allgegenwart gab. Und wie vor dem Kaseck blieb mir noch einmal der Atem aus vor reiner, sprachloser Seligkeit.
Da erhob sie sich, kam mir entgegen und nickte mir zu. Und ich, ja siehst du, ich muß die Arme wohl weit, weit geöffnet haben, als ich die ganze, süße Wirklichkeit ihrer Nähe empfand, denn im nächsten Augenblicke lag sie an meinem Herzen. Und so wiegte ich sie hin und her – leise, leise, und ein unendliches Weh quoll dabei in mir empor … so, weißt du, als hielt' ich eine Sterbende.
Auch sie schien meine Empfindungen zu ahnen. Denn plötzlich entwand sie sich meiner Umarmung, und während sie mich mit beiden Händen von sich hielt, sah sie mir tief und forschend in die Augen. Dann sprang ihr Blick aber plötzlich nach der Straße ab. So ein Blick, weißt du, der scheu ist und eine Entdeckung fürchtet. Und da erwachte wieder der zweite in mir, der Lauernde, Zuwartende …
›Hattest du solche Sehnsucht?‹ fragte ich. ›Ja‹ kam es wie ein Hauch zurück. ›Aber weißt du, ich – ich wollte dich auch um etwas bitten!‹
›Also komm,‹ sagte ich, ihren Arm unter den meinen schiebend, während ich zugleich Miene machte, in der Richtung des Brandtschen Hauses weiterzuschreiten.
Da fuhr sie aber mit einer ausweichenden Bewegung zurück. In ihren Blick kam etwas Flackerndes. Und ihre Stimme schien mir nicht ganz sicher, wie sie erwiderte: ›Nein, nein, nicht dort – hier! Drum bin ich dir ja so weit entgegengegangen!‹
›Also nicht bloß aus – Sehnsucht?‹ fragt' ich zurück. Ich weiß nicht, ob sie den leisen Hohn aus meiner Stimme heraushörte. Denn tatsächlich hatt' ich vor, so lange als möglich an mich zu halten. Nicht bloß, um mich zwischen Wahrheit und Lüge zurechtzufinden, sondern um mir auch vor mir selbst das Zeugnis geben zu können, bis zuletzt klar und ruhig und mit eigenen Augen geschaut zu haben. Aber bleib ruhig, wenn dir der Operateur tatsächlich das Messer ansetzt. Dasselbe Messer, das du wenige Minuten früher noch ziemlich kühl in die Hand nehmen konntest.
Wenn Maria auch nicht ahnte, was in mir vorging – daß etwas in mir vorging, schien sie doch instinktiv zu empfinden. Denn wieder ging ihr Blick voll zärtlichster Besorgnis über mich hin. Dann küßte sie mich heiß, lang, hingebend, als sollte ihr Kuß mir sagen, was ihr nicht in Worten über die Lippen wollte. ›Bist du nun zufrieden?‹
Und ich nickte und versuchte zu lächeln. Mit einem neuen Dolch im Herzen. Denn wieder hatt' ich recht wohl gemerkt, wie scheu und ängstlich ihr Blick nach der Brandtschen Villa hinüberirrte. Also wollte sie nicht gesehen werden. Heut', an demselben Tage, da ich kam, wie ein Ehrenmann, um sie zu freien. Vor allen und – gegen alle!
Langsam schritt sie mir nach jener Bank voraus. Dann ließen wir uns nieder. Und sie rückte noch ein ganzes Stück ab von mir. Wir sollten auch nicht zu nahe beieinander gesehen werden.
›Was also – ist es?‹
Endlich bekam ich den Mut, etwas zu sagen. Eines mußte ja den Anfang machen. Und sie schwieg noch immer.
Sie versuchte zu lächeln. ›Oh, nicht viel, gar nicht viel! Nur eine ganz, ganz kleine Bitte – an – an deine Ungeduld –‹
Ich begann zu ahnen … Und ein Krampf, der Ekel und Haß und Schmerz zugleich war, begann mir langsam Herz und Seele zusammenzuschnüren. Wort für Wort glaubt' ich zu wissen, was sie im nächsten Augenblick sagen werde. Und auch sie schien zu meinen, daß ich sie bereits verstanden haben müsse. Denn sie wartete sichtlich darauf, daß ich sie durch eine Frage der Notwendigkeit enthebe, diese Bitte ganz und selbst auszusprechen.
Aber das sollte sie … dazu wollte ich sie zwingen! Mit der ganzen Grausamkeit einer Liebe, die sich bereits zu Tod getroffen fühlte. Und doch bis zuletzt klug und ruhig und wohlbeherrscht bleiben mußte.
›Was ist es also?‹ begann ich wieder.
›Gar nichts Besonderes, wie gesagt!‹ antwortete sie mit einer gewissen Hast. ›Ich wollte dich nur bitten, Herrn Brandt gegenüber heute noch zu schweigen –‹
Während sie sprach, hatt' ich es absichtlich vermieden, sie anzusehen, nur in das wetterschwüle Sommerland hinausgeblickt und ihre Worte durch das Schweigen in meine Seele hineinfallen lassen, langsam, dumpf, wie Steine in eine unendliche Tiefe. Dann aber kehrte ich plötzlich das Haupt und starrte sie eine ganze Weile an. Regungslos, wie jemand, der absolut nicht begreifen kann. Und nun sah ich, wie sie unter meinem Blick langsam die Farbe veränderte. Wie die süße Blässe ihres Antlitzes einem verräterischen Rot wich, das ihr von den Wangen langsam bis über die Schläfen emporkroch, während zugleich eine seltsame Starrheit über sie kam, die ihrem ganzen Wesen für den Augenblick einen geradezu hilflosen Ausdruck lieh.
›Also – schuldig!‹ fuhr es mir durch die Seele. Und an meinem Herzen riß etwas, als hätte ein Raubvogel dort seine Fänge eingekrallt. Und daß ich trotz alledem noch meine Rolle weiterspielen, ruhig bleiben und Worte finden konnte, schien mir einen Augenblick fast wie ein Wunder. Aber freilich … der Zweite in mir war unterdes wieder um vieles, vieles stärker geworden. Und während mein Herz verblutete, hörte ich ihn lachen, wie er tags vorher gelacht hatte. Und von da ab nahm er das Wort für mich – wie ein guter Komödiant seine Rolle. Ich hatte nur mehr zuzuschauen.
›Nun … so unerfüllbar ist diese Bitte allerdings nicht,‹ erwiderte ich, noch immer den Blick auf ihrem Antlitz. ›Nur verzeih' … nur etwas wunderlich erscheint sie mir –‹
›Weshalb?‹ fragte sie zurück. Leise, aber hastig.
›Weshalb? Weil ich mich doch mit Fräulein Maria Soltis verlobt habe und nicht einsehe, was Herr Brandt daran noch ändern könnte. Ob er es nun früher erfährt oder – später.‹
Marias Brust hob und senkte sich, dann lächelte sie plötzlich vor sich hin … mit einem Ausdruck, so voll unbefangener Seligkeit, daß mein ganzer Verdacht plötzlich wieder ins Schwanken geriet. ›Nein … Gott sei's gedankt … ändern kann er nichts mehr daran!‹
›Warum also dann diese – diese Heimlichkeit?‹ forscht' ich weiter.
Sie rückte ihren Hut tiefer in die Stirne, dann glitt ihr Blick langsam in die sonnigen Fernen hinaus. Und nachdem sie eine ganze Weile so dagesessen und an mir vorübergeschaut hatte, murmelte sie endlich: ›Warum? warum … weil ich glaube, daß er sich doch erst gewöhnen muß an den Gedanken, mich zu verlieren –‹
›Wie zart du für ihn empfindest!‹ erwiderte ich. Und der Hohn, der zwischen meinen zusammengepreßten Zähnen hervorzischte, mußte nun auch zu ihrer Seele gefunden haben. Denn sie wandte plötzlich das Haupt und starrte mich an – während ihre Lippen leise zuckten und die dunklen Brauen sich langsam zusammenschoben.
›Kannst du das nicht begreifen?‹ meinte sie endlich vorwurfsvoll. ›Du weißt doch, welche Verpflichtungen ich gegen ihn habe –‹
›Sehr viele, meinetwegen,‹ gab ich kurz zurück. ›Keinesfalls die, unsere Liebe wie etwas Sträfliches vor ihm zu verbergen – will ich hoffen!‹
Die letzten Worte waren mir, ohne daß ich es eigentlich wollte, über die Lippen getreten, so daß die in mir gewaltsam niedergehaltene Erregung sich nun voll und ganz darin ausatmete. Als ich sie hörte, erschrak ich selbst darüber. Aber gleich darauf behauptete wieder der Zweite in mir sein Recht, der ganz Spürsinn war und kühle, lauernde Ruhe. Und so verschränkte ich die Arme und starrte ihr wieder fest ins Antlitz.
Im ersten Augenblick, ich täuschte mich nicht – glitt sogar ein Lächeln über ihre Züge. Sie mochte sich im stillen über die Eile freuen, die ich hatte, über meine Eifersucht. Als sie aber fühlte, daß mein Blick noch immer nicht von ihr wich, zuckte sie plötzlich zusammen, wie jemand, der mit einemmal zu verstehen anfängt. Ihr Lächeln verschwand, die feinen Lippen preßten sich fest und trotzig aufeinander und zugleich nahm ihr Antlitz einen Ausdruck solch' abweisenden Hochmuts und herber Undurchdringlichkeit an, daß sie mir fast als eine Andere erschien. ›Ah so,‹ dacht' ich, ›die Pose der Beleidigten!‹ Nun ja, gegen die Wahrheit war ja auch das ein Schutz! Aber freilich, die dunkle Röte auf ihren Wangen – die hatte nicht der Hochmut dorthin gepeitscht. Die ließ sich nicht wegposieren. Sie war da und verriet.
So vergingen ein paar Minuten in dumpfem Schweigen, denn Maria sprach kein Wort. Und da es auch in meiner Absicht lag, die Dinge einstweilen nicht auf die Spitze zu treiben, erhob ich mich und sprach: ›Immerhin wirst du gestatten, daß ich mich jetzt doch auch zu Herrn Brandt begebe. Nicht unsertwegen, sondern um mit ihm über die Pläne zu sprechen. Auch könnte er auf irgend eine Weise in Erfahrung bringen, daß ich heute wieder hier war und daraus Schlüsse ziehen, die mir peinlich wären. Denn, wie gesagt, ich weiche der Sonne nicht aus!‹
Damit reichte ich ihr die Hand und ging.
Ich hatt' es absichtlich vermieden, sie in meine Arme zu nehmen. Und so mochte sie auch meine letzten Worte nehmen, wie sie gemeint waren. Als ich aber ein paar Schritte nach vorwärts gemacht hatte, fiel mich doch wieder diese rein körperliche Sehnsucht nach ihr an, über die ich, das spürte ich, noch lange nicht Herr werden konnte. Und so wandt' ich mich, um wenigstens noch einmal ihr Antlitz zu sehen. Und hätte sie mir nur zugelächelt, mich nur mit einem ihrer tiefen und süßen Blicke umfangen … glaubst du mir's? Ich hätte wieder die Arme nach ihr gebreitet! Trotz all der Gedanken, mit denen ich sie unterdes besudelt.
Aber sie stand da: Starr, verschlossen, wie versteint. Mit hochgezogenen Brauen und eingekniffenen Lippen, das schöne Haupt in kühlem Trotz nach rückwärts gebogen … Und während unsere Blicke sich kreuzten, kehrte sie sich ab und schritt langsam in den Wald hinein.
Der Diener, der mich einige Augenblicke später bei Brandt meldete, kam mit einem etwas verdutzten Gesicht zurück. ›Er wisse nicht, wo der Herr Sektionschef im Augenblick sei … Zu Hause aber wäre er auf jeden Fall. Vielleicht im Garten. Er wolle also nachsehen!‹
Da ich den Garten eben seiner ganzen Länge nach durchschritten hatte, schien mir dies nicht recht glaubwürdig. Nun denk' dir mein Erstaunen, als ich, mich wendend, Brandt durch das Gartenpförtchen eintreten sah! Und zwar, aus derselben Richtung herkommend.
Den breitrandigen Sommerfilz tief in die Stirn geschoben, schlenderte er scheinbar ganz gemächlich daher. Aber das fliegende Rot auf seinen Wangen, sein flackernder Blick, der von den Schläfen langsam niederperlende Schweiß, nicht zuletzt seine jagenden Atemzüge verrieten, wie rasch er gegangen sein mußte, um mich einzuholen oder – mir zuvorzukommen. Wenn er nicht … und plötzlich fühlte, wußt' ich es ordentlich: Daß er nicht nur alles mitangesehen, sondern mich und Maria sogar absichtlich belauscht hatte.
Dazu stimmte auch die verlegene Freundlichkeit, mit der er mich begrüßte, das gemachte Erstaunen, mich hier zu finden, sein etwas allzu jovialer Händedruck – so daß ich vom Anfang bis zu Ende Zeuge wurde, wieviel Etappen selbst ein Diplomat und Weltmann braucht, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen, wenn es sich um Herzenssachen handelt.
Nur seinen Mund konnte auch er nicht beherrschen. Der zuckte immer wieder, nervös und verräterisch bald im rechten, bald im linken Winkel, obwohl wir schon eine ganze Weile dort im Zimmer saßen und an den Zigarren sogen, die er stets in Bereitschaft hielt.
Zu meinem größten Erstaunen aber merkt' ich, daß er trotz all des Widerwillens, den er mir gegenüber niederzukämpfen hatte, sich bereits sehr eingehend mit meinen Plänen beschäftigt haben mußte. Und aufs neue erstaunte ich über die Feinheit seiner Einwürfe, über sein tiefes Verständnis dessen, was ich gewollt, und die durch ihre sachliche Begründung doppelt schwerwiegende Anerkennung meiner Leistung. Und ich muß gestehen, daß mir der Mann, den ich bereits ebenso tief haßte, als ich ihm selbst verhaßt sein mochte, durch diese lautere Art, in der er sein Amt und sein Urteil von allem Menschlichen und Allzumenschlichen freizuhalten wußte, in jenem Augenblick geradezu imponierte. ›Wenn es nicht ein bloßer Truc ist!‹ sagt' ich mir gleich darauf, das Bestreben, meinen Ehrgeiz wider meine Liebe zu Felde zu führen und mich, indem er sich mir als Förderer immer unentbehrlicher machte, gleichsam vom feinsten Zentrum der männlichen Selbstsucht aus auch ihm gegenüber wehrlos zu machen.
Während die Worte so scheinbar rein sachlich hin und hergingen und doch die Luft von allem zittern machten, was dabei verschwiegen wurde, hatt' ich zuweilen die Empfindung, als guckten wir beide einander wie durch Glas in die Seele – immer tiefer, immer tiefer, bis jeder den verzweifelten Kerl entdeckt hatte, der da im hintersten Winkel saß und sich bemühte, so korrekt als möglich zu bleiben – wo er am liebsten getroffen und getötet hätte. Und ich brauchte wahrhaftig nicht allzulange zu warten, um auch von Brandt eine Probe dieses Hellsehens zu erhalten.
Wenn Brandt besonders kordial tun wollte, glitt er gern in den Wiener Dialekt über. Dann war er ganz der "alte Josefiner«", als der er sich besonders gefiel. Und so beugte er sich auch plötzlich ganz dicht zu mir hinüber, legte die Rechte auf meine Knie, und während er mir dabei förmlich "unter die Augen schaute", wie die Wiener sagen, lächelte er und sprach: ›Wissen S', wissen S' … g'rad nur etwas hat mir net eingeh'n woll'n an dem ganzen Plan. Und schau'n S', ich glaub' immer, daß 's auch Ihnen net recht ernst sein kann – damit!‹
Und dann machte er mir denselben Fehler im Grundriß namhaft, den ich wissentlich hineingezeichnet. In der Absicht, durch solche kleine Kriegslisten Maria so oft als möglich zu Gesicht zu bekommen. Also hatte er mich auch nach dieser Seite hin durchschaut. Und die Mühe, die er sich's kosten ließ, meine Spuren aufzufinden, erbrachte mir wieder den indirekten Beweis, daß wir beide hinter demselben Wilde her waren, gleich zäh, gleich scharfäugig. So daß mir noch eines erübrigte endgültig herauszufinden, ob er Maria bereits besaß oder erst besitzen wollte.
›Es ist doch eine Jagd!‹
Ja, ja … Und einen Augenblick war mir sogar, als hört' ich ganz deutlich das "Halali", das der braune Jäger aus dem alten Holzfries da oben herabblies … Und es klang todtraurig.
Da ich auf seinen Einwand aber doch etwas erwidern mußte, bracht' ich ein paar nichtssagende Worte vor über eine von mir bereits skizzierte Verbesserung und dankte ihm endlich und nicht ohne eine gewisse Malice für den mich geradezu beschämenden Eifer, den er in meiner Angelegenheit an den Tag lege. ›Denn,‹ setzte ich hinzu, ›die Pläne sind doch erst gestern abend in Ihre Hände gekommen. Nun ist's Vormittag, und Herr Sektionschef sind bereits völlig informiert. Dazwischen hatten Sie aber doch gewiß auch eigenen Angelegenheiten nachzugehen –‹
Ich blickte ihm fest ins Gesicht, als ich diese Worte sprach. Er sollte fühlen, daß auch ich wußte, welche Angelegenheiten es waren.
Einen Augenblick zuckte ein böses Lächeln um seine Mundwinkel. Das Lächeln von den Herrenabenden Brandts, dem immer ein Zynismus folgte. – ›Sei's!‹ dachte ich. ›Für dich ist es vielleicht die Erlösung!‹
Aber gleich darauf steckte er sich eine neue Zigarre an und erwiderte: ›Ach, deshalb … das darf Sie nicht wundernehmen. Für Dinge, die mich interessieren, hab' ich immer Zeit. Dann war ja gestern ein solch herrlicher Abend! Da bin ich mit Fräulein Soltis noch lange hier gesessen, wie immer. Und hab' mit ihr von Ihnen und Ihren Plänen gesprochen. Denn das Kaseck macht bereits von sich reden, kann ich Ihnen sagen. Und wenn wir nun auch noch unser Museum herauskriegen –‹
›Also hier – hier,‹ dacht' ich. ›Hier sitzen die beiden immer abends, wenn alles ruhig ist …‹ Und gleich darauf sah ich mich selbst durch den Garten schleichen, leise, leise, von niemandem gesehen. Genau so, wie Brandt heute hinter uns her war. Warum sollt' ich es nicht tun? Nicht nur meinem Verdacht, auch meinem Glücke war ich schuldig, alles zu wissen.
›Sie fahren wohl nach St. Pölten zurück?‹ sagte Brandt, als ich mich verabschiedete.
›Gewiß!‹ gab ich mit einem ruhigen Blick zurück. ›Vorerst aber möcht' ich noch einmal nach dem Kaseck schauen.‹
Und Brandt atmete sichtlich auf. Denn mein Weg lag demjenigen Marias weit ab.
Selbstverständlich ging ich auch zum Kaseck. Und über das Peinliche, meine wundgespielten Nerven dort länger zwischen dem Gehast und Gelärm der Arbeiter herumschleppen zu müssen, hob mich ein schweres Gewitter, das am frühen Nachmittag losbrach und bis gegen den Abend währte. So daß ich auf menscheneinsamer Straße, von niemandem gesehen und beargwohnt, wieder ins Dorf zurückeilte, wo es der einzige Wirt selbstverständlich fand, daß ich nach all den Strapazen bei ihm einkehren und ruhen wollte. Um aber ja nicht aufzufallen, ließ ich mir auch das Abendbrot in meine Stube hinauftragen und saß dann, die Uhr in der Hand, wie ein Verdammter zwischen den vier Mauern, bis meine Stunde gekommen war.
Es mochte ungefähr halb neun Uhr sein, als es mir draußen dunkel genug schien, um mich auf diesen Weg zu machen. Denn eigentlich schämt' ich mich vor mir selbst. Auch weißt du ja, wie stolz ich immer war. Wie erpicht, alles was ich wollte, vor den Augen aller durchzusetzen. Frei, schön und eigenherrlich! Und nun war diese Notwendigkeit da, die mich zwang, wie ein Dieb an das Haus eines andern heranzuschleichen, zu lauern, zu horchen. Ich, Overhoff …! Aber – es war eben wirklich eine Notwendigkeit. Eine, die ich mir selbst moralisch plausibel zu machen suchte. Und vielleicht gerade deshalb, weil ich zu tiefst empfand, wie nah ich daran war, alle Herrschaft über mich selbst zu verlieren. Als ich aber den halben Weg hinter mir hatte, war auch diese letzte Scham dahin. Nur schon dort sein wollt' ich. So nah als möglich. Und sehen und hören … So kam ich immer näher. Der Regen schlug mir ins Gesicht. Der Sturm warf sich mir entgegen. Stellenweise war es so dunkel, daß ich mich kaum zurecht tasten konnte. Endlich hört' ich das Gerausch der alten Buchenkronen, griff das Gitter – der Brandtschen Villa.
Da schlug mir ein neuer Schreck in die Seele. Wenn das Gartentor versperrt war? Nichts natürlicher als das. In dieser Einsamkeit und bei solchem Wetter … ›Nun dann eben – überdas Gitter! – dacht' ich. So weit war ich schon.
Nun denk' dir mein Erstaunen, als ich die Pforte sogar halb offen fand! Eine Weile lauschte ich hinein … nichts als das Geraun der nassen Wipfel und Büsche, durch die der Wind ging. Das Aufklatschen der Regentropfen; das Geriesel des Wassers in den Gräben und aus den Traufen. So trat ich ein. Übrigens – wär' jemand damals vor jener Tür gestanden, ich glaub', ich hätt' ihn erwürgt.
Indem ich den gerade auf das Haus zuführenden Weg vermied, kam ich, mich um ein paar Rondells und Hecken herumwindend, bis zu dem Lusthäuschen mit den bunten Scheiben, das dort drüben steht und vielleicht auch dir aufgefallen ist.«
»Ja, ja,« erwiderte ich, wie unter einem Druck und ohne es eigentlich zu wollen. Denn das schwermütige Bild der Bergwiese mit der einsamen Hängeweide, das ich durch eines jener Fenster in mich aufgenommen, stand mir noch vor der Seele. Und seltsam genug war es, daß ich mir all die Zeit her gedacht hatte, daß Overhoff gerade von dort aus gelauscht haben müsse. Nun war es wirklich so! Und wieder dacht' ich: »Die Schatten – die Schatten.«
»Und ich hatte ganz richtig kalkuliert,« sprach Overhoff. »Trotz aller Aufregung. Denn wenn es mir gelang, da hinein zu kommen, war ich geborgen. Sobald jemand nahte, konnt' ich mich wieder ins Dunkel zurückziehen. Und umgekehrt durft' ich, einmal drinnen, bloß einen Schritt nach vorwärts machen, um über die Terrasse hinweg alles sehen zu können, was in dem Saal da drinnen vorging.
Als ich aus den Büschen hervortrat, lag das Stückchen Weges, das ich noch zu gehen hatte, hellerleuchtet vor mir. Also war man noch auf. Mit einem einzigen Sprung setzte ich hinüber und dort hinein, dann blieb ich eine Weile stehen … regungs- und atemlos. Wartete, ob mich nicht doch vielleicht jemand gesehen. Aber alles blieb still. In der Dachtraufe gluckste das Wasser. Und an irgend einer Stelle mußte ein Tropfen konstant auf eine hohle Blechverschalung fallen. Denn derselbe Ton kam immer wieder. In endloser, quälender Monotonie: ›Tup – tup – tup‹ – ich hör' es noch heute …
Als ich mich endlich hervorwagte, ging mein erster Blick nach jenen Fenstern. Sie waren leider geschlossen. Ebenso die Tür. Mit dem Horchen war es also vorbei. Dafür konnt' ich aber den ganzen hellbeleuchteten Saal überblicken. Und dort, siehst du, gerade dort, wo jetzt ihr Bild hängt, dort saß Maria. Ihr gegenüber Brandt.
Eine ganze Weile sah ich überhaupt nichts, als die beiden. Sie und ihn … ihn und sie … So spät noch beisammen. Allein. Schon das war Wermut. Augen und Seele brannten mir davon.
Endlich sah ich mehr, als so und so viele Farbflecke und dazwischen das Antlitz des geliebtesten und des gehaßtesten Menschen. Die Details traten mir ins Bewußtsein und begannen zu erzählen.
Brandt hatte meine Pläne vor sich ausgebreitet. Maria mußte sich noch vor kurzem mit der Stickerei beschäftigt haben, die vor ihr auf dem Tisch lag. Jetzt ruhte ihr Blick auf dem Antlitz Brandts, mit dem halb forschenden, halb entschlossenen Ausdruck eines Menschen, der weiß, daß er im nächsten Augenblick etwas sagen werde … Etwas, das alles ringsum wie mit einem Schlag verändern und verwandeln wird. So schien es mir wenigstens. Doch kam es immerhin ein wenig anders.
Vielleicht fühlte Brandt ihren Blick … vielleicht wollte er ihr auch bloß zuvorkommen. Sie irgendwie fassen oder ertappen. Genug. Ich sah, wie er meine Pläne langsam von sich schob und dann mit einem nicht gerade freundlichen Zug um die Nüstern etwas zu erzählen begann. Irgend eine Geschichte, deren Held … Nun, Marias Antlitz verriet mir im nächsten Augenblick, daß ich der Held dieser Geschichte war. Und dann hört' ich sein Gemecker. Das Gemecker von den Herrenabenden Vittingstorffs. Hört' es trotz der geschlossenen Tür bis zu mir heraus.
Maria war erst rot, dann blaß geworden. Nun stieß sie die Arbeit zurück und erhob sich. Ich konnte nicht hören, was sie sagte. Ich merkte nur, wie sie es sagte. Und es kam schroff und selbständig genug heraus.
Brandt blieb eine ganze Weile still, starrte sie aber unentwegt an, wobei er den Rauch seiner Zigarre in raschen Stößen von sich blies.
Endlich gab er seinem Stuhl einen Ruck nach der Richtung, in der sie stand. Und dann kamen ein paar Worte von seinen Lippen. Leise, langsam, von einem verzerrten Lächeln begleitet. Darauf sah er sie wieder an. Und wär' er nicht mein Feind gewesen, er hätte mir leid tun müssen. Eine solche Angst, eine solche Agonie der Leidenschaft lag in dem Blick, mit dem er ihre Antwort erwartete.
Maria starrte ihn eine Weile an. Dann schritt sie, ohne ein Wort zu sprechen, an ihm vorüber in den Saal hinein, ging ein-, zweimal auf und nieder. Mit gesenktem Haupt, die stolzen Brauen düster und entschlossen zusammengezogen. Endlich blieb sie stehen. Knapp vor ihm. Fest und aufrecht, wie jemand, der ganz im klaren ist mit sich. Und in demselben Augenblick mußte sie auch etwas gesagt haben. Nur ein Wort vielleicht. Aber Brandt fuhr in die Höhe und dann förmlich mit einem Satz auf sie los.
Sie aber blieb stehen – sich hochaufrichtend, unbeweglich, im Antlitz den Ausdruck desselben Trotzes, den ich gestern zum erstenmal an ihr wahrgenommen. Und Brandt schien nicht minder betreten davon als ich. Denn wie sie so dastand, war sie ein einziger herber Wille. Unnahbar, undurchdringlich.
Da packte Brandt ihre Hand, sah zu ihr empor, wollte etwas sprechen. Aber die Stimme schien ihm zu versagen. Und gleich darauf – ich traute meinen Augen nicht – sank ihm das Haupt auf die Tischplatte und er schluchzte, schluchzte – wie ich noch nie einen Mann schluchzen gehört!
Hätt' er nur einen Versuch gemacht, sie zu berühren, dem Weibe nahezukommen, dann hätt' ich aus der Art ihres Abwehrens oder Gewährens einen Schluß ziehen können. Doch nichts von alledem geschah. Brandt lag wie ein plötzlich zusammengebrochener alter Mann da. Und Maria stand mit weit geöffneten Augen hinter ihm und schüttelte leise das Haupt dazu. Und endlich trat sie an ihn heran, hob seine Hand empor und führte sie langsam an die Lippen. Darauf schritt sie in das Nebenzimmer hinein.
Schon wollt' ich aufatmen. Denn war, was ich gesehen, auch mehr als eine Szene zwischen Pflegevater und Tochter – Maria hatte mir auch nicht durch eine einzige Bewegung Anlaß gegeben, ihr zu mißtrauen. Nun aber geschah noch etwas. Und der Schicksalsteufel wollt' es, daß ich auch das noch sah. Und so bekam ich für die unlautere Gier, mit der ich mich da in das Innerste zweier Seelen hineindrängen wollte, mein Teil weg. Nicht nur damals, sondern für immer. Denn siehst du, alles, alles kann doch oft anders sein auf dieser Welt, als wir annehmen. Selbst wenn wir es mit eigenen Augen gesehen zu haben glauben.
Brandt mußte der Hinausschreitenden etwas nachgerufen haben. Denn ich sah, wie sie erst in der Tür stehen blieb, dann langsam wieder zurückzuschreiten begann. Und nun geschah es. Brandt hatte sich erhoben und eilte ihr entgegen. Den Blick starr auf sie geheftet, im Antlitz einen Ausdruck, der Qual und Leidenschaft zugleich war. Sie stutzte – wich aber nicht zurück. Und gleich darauf – ja siehst du – gleich darauf sah ich, wie er sie in seine Arme nahm … fest, heiß. Und küßte, küßte. Während sie es geschehen ließ … mit weit und seltsam geöffneten Augen – ohne Widerstand. Ah, was soll ich dir sagen? Es war der ganze Ekel auf einmal!
Nein … Da hatt' ich niemanden zu beschützen, niemanden zu verteidigen. Da geschah, was vielleicht schon lang und oft geschehen war. Es – geschah einfach.
Im selben Augenblick hört' ich Schritte. Sie kamen aus der Richtung des Gartenpförtchens. Also war doch noch jemand draußen gewesen! Und der Ekel über das, was nun dort drinnen vielleicht noch weiter vor sich gehen mochte – die Scham, hier etwa als eifersüchtiger Tölpel entdeckt zu werden, dies alles legte einen solchen Nebel um meine Urteilsfähigkeit, daß alles übrige Geschehen nur mehr wie ein Traum an mir vorüberglitt.
Und so sah ich wohl das Dienstmädchen, das sich wahrscheinlich bei einem Stelldichein verspätet, langsam über den breiten Gartenweg daherkommen – begriff aber nicht, weshalb es plötzlich mit einem leisen Schrei stehen blieb und dann mit einem Satz die Terrasse emporeilte. Vielleicht auch eine saubere Angelegenheit, dacht' ich. Dann wandt' ich mich zum Gehen. Was kümmerten mich noch die Angelegenheiten des Hauses Brandt? Hinter mir hörte ich noch eine Tür öffnen. Wieder ein Ruf. Dann ein Geräusch, wie von einem Fall – dumpf, schwer.
Dann hört' ich nur mehr mich selbst in die Nacht hineinlachen. Böse, schadenfroh. Wer weiß, vielleicht hatte auch das Mädchen gesehen, was ich gesehen, und war dann in der Hast, ja nichts zu versäumen, da irgendwo im Dunkeln hingepurzelt. Und nun konnte eine mehr von Maria Soltis erzählen!
Von – Maria Soltis – die einmal mein – Gebet war …
Als ich an das Pförtchen kam, fand ich es sorgsam versperrt und verriegelt. Da jedoch der Schlüssel im Schloß stak, war es mir ein leichtes, wieder hinaus zu kommen. Wie ich dann wieder heimgefunden, weiß ich nicht mehr. Nur eine dumpfe Erinnerung ist mir geblieben. So, als wär' ich eine ganze Weile mitten im Regen draußen gestanden. Ohne jede Empfindung für das, was in mir und um mich vorging. Wie jemand, der einen heftigen Schlag auf den Kopf bekommen und sich für's erste nicht einmal auf sich selbst besinnen kann. Dann müssen mich der Sturm und die Nässe wohl halbwegs ermuntert und auf den Heimweg gebracht haben. In meiner Stube aber fiel ich wie ein abgehetztes Tier aufs Bett und schlief einen langen, dumpfen, todähnlichen Schlaf, aus dem ich erst am späten Vormittag erwachte, mit einem dumpfen Druck im Herzen und einem solch physisch-nahen Ekelgefühl, wie ich es seither nicht wieder empfunden. Ich hatte wohl auch zwei ganze Nächte hindurch nicht geschlafen und während der darauffolgenden Tage alle seelischen und körperlichen Qualen durchlitten, die ein Liebender überhaupt durchleiden kann.
Nun blieb mir nur mehr eines: Die Rache an ihr! An ihr, die mich so betrogen hatte und noch schlimmer betrügen wollte. Und sie sollte fein werden, diese Rache. Ein überlegenes Spiel mit der Komödiantin, in dessen Verlauf ich all ihre Kniffe studieren, sie bis auf den Gipfel der Lüge verlocken wollte, den zu erreichen sie überhaupt fähig war. Und von dort – ja – von dort wollt' ich sie dann durch ein einziges Wort in den Abgrund zurückstoßen, in den sie gehörte.
Während mir die Kellnerin das Mittagsmahl auftrug, kam der Forstmeister mit ein paar anderen Beamten vom Bahnhof herauf. Und aus ihrem Gespräch erfuhr ich, daß Brandt soeben nach St. Pölten gereist sei. ›Zu dir!‹ fuhr es mir durch den Sinn. Und dann: ›Umso besser!‹ So hatt' ich Zeit und Gelegenheit, mit Maria abzurechnen.
Als die ersten Nachmittagsstunden vorüber waren, macht' ich mich auf den Weg. Der Regen hatte aufgehört, aber ein merkwürdig verhängter Himmel brütete über der Gegend, der alles noch schmutziger und trübseliger erscheinen ließ. Und unter dem Eindruck dieser trostlosen Landschaft, die mitten im Sommer schon die melancholischen Schauer des Herbstes ahnen ließ, schritt ich denselben Weg dahin, den ich gestern wie ein Dieb entlang geschlichen. Ich wollt' ihn mir gut anschauen, nun ich ihn zum letzten Male sah, um mir ihn für immer zu merken. Diesen Weg, auf den ein Mann seinen Stolz, seine Würde hingeworfen hatte, um die ganze Gemeinheit des Weibes zu finden! Und dann – ich lachte auf – dann war ich für immer sicher vor dem Weibe. Gehörte nur mehr meiner Kunst, wie früher. Gott, es hatte sich ja auch dabei noch leben lassen!
Der Diener, der mir bei Brandt öffnete, sagte mir, was ich ohnehin schon wußte, daß der Herr Sektionschef nach St. Pölten gefahren wäre und erst zum Nachtmahl wieder heimkäme.
›Und das Fräulein?‹ fragte ich. ›Ja, die wäre wohl auch nicht zu Hause, müsse aber jeden Augenblick kommen, da sie den Herrn Doktor erwarte, und der käme immer um diese Stunde.‹
›Meinen Sie den Arzt?‹ forschte ich weiter.
Der Mann nickte, sah aber zur Seite. Erst als er merkte, daß ich ihn noch immer anstarrte, sprach er: ›Das Fräulein war gestern abends etwas – etwas unwohl. Und da mußten wir ihn holen. Seither hat es sich aber schon wieder gebessert. Sonst wär' sie wohl nicht spazieren gegangen!‹
Damit trat er zur Seite und gab mir den Weg frei. ›Ob ich im Saal warten wolle oder auf der Terrasse?‹
›Nein,‹ sagte ich. ›Dort!‹ Und dann schritt ich auf dasselbe Häuschen zu, in dem ich gestern, von niemandem geahnt und gesehen, alles gesehen hatte. Es war mir ein schmerzlich-wollüstiges Gefühl, durch diese selben bunten Scheiben Maria zum letzten Male herankommen zu sehen. Und wieder ohne daß sie's ahnte. So schritt ich ungefähr eine Viertelstunde auf und nieder, den Blick abwechselnd auf eines der drei bunten Fenster gerichtet. Denn damals waren die Büsche ringsum noch nicht so dicht verwachsen wie jetzt, und so hatte man von dort nach allen Seiten hin einen freien und weiten Ausblick. Da, gerade als ich mich wieder dem blauen Fenster zukehrte, sah ich Maria herankommen. Durch dieses selbe Fenster.«
Overhoff hatte bisher ruhig und ziemlich gleichmäßig gesprochen. Nun kam plötzlich ein merkwürdiges Beben in seine Stimme. Und mit einer Bewegung, wie ich sie bei Menschen gesehen, die sich vor einem unheimlichen Anblick fürchten und doch immer wieder hinschauen müssen, kehrte er sich langsam jenem Häuschen zu. Stumm und wie gebannt nach der Richtung jenes blauen Fensters starrend. Und – ich weiß nicht – war es der Eindruck, den ich selbst seit dem Anblick jener melancholischen Bergwiese in mir trug, oder geschah es unter einer Art Suggestion – genug, auch mich überrieselte etwas von dem Grauen, das ihn so stumm und festgebannt dorthin starren ließ. Und wie aus einem innersten Zwang heraus rief ich: »Das hab' ich mir gleich gedacht!«
Worauf er, ohne auch nur das geringste Staunen zu zeigen, mir leise zunickte, und sprach: »Nicht wahr –? Es hat so etwas – dieses – dieses Fenster, daß man meint … Aber erst seit damals! Das darfst du mir glauben, denn ich weiß es ja genau. Hab' es sozusagen miterlebt. Und so etwas vergißt sich nie – nie!«
»Was?« hauchte ich leise dazwischen.
Die Stimme Overhoffs sank bis zum Geflüster herab. Und immer mit demselben Blick nach jener Richtung starrend, sprach er: »Nun, so ein – so ein unheimlicher Augenblick, weißt du? In dem man genau fühlt, wie das Schicksal seine – seine Schatten vorauswirft. Gleichsam Bilder zeichnet, in die wir uns erst hineinleben. Und die doch da sind und fertig, lange, lange vorher, und ein- für allemal! Aber hör' nur weiter …
Sie trug damals ein Kleid, das ein ganz merkwürdiges Grau hatte, und durch das Blau des Fensters gesehen, noch fahler erschien. Als hätte sich der Nebel da draußen und die Wolken und der Regen förmlich zu einer Atmosphäre um sie verdichtet – die ihr alles Eigene nahm und sie wie ein Gespenst dahergleiten ließ – wie das Gespenst dieses einen einzigen gottverfluchten Tages! Doch wurd' ich mir dieses Eindruckes nicht sofort bewußt. Im Gegenteil! Selbst die tiefe Schwermut, die gleichsam von ihr zu mir herüberwirkte, rüttelte meinen Groll gegen sie noch heftiger auf. Ließ mich in ihr einen Augenblick alles hassen und verachten, was mich so quälte und entwürdigte. Und wie sie so langsam daherkam, immer näher, blaß, mit gesenktem Haupt, ach, und nur Gott und ich wußten, wie einzig schön – da sagt' ich mir: ›Sieh' dir dieses Weib gut an, Overhoff … Dieses Geschöpf, an das du das Beste und Höchste verschwendet, was ein Mann zu verschwenden hat. Alles an ihr ist Lüge. Von oben bis unten. Alles … Alles … Merk' es dir, damit du nicht zum zweitenmal ein solcher Tor werdest!‹
Das dacht' ich so bei mir, den Blick immer fest auf sie gerichtet. Nichts fühlend, niemanden bedauernd, als mich. Da geschah es aber, das – das Unheimliche. Gerade in jenem Augenblick! Denn wie sie so langsam den Hügel herabkam, erst längs des Waldrandes, dann an jener Weide vorüber, so daß sie wie ein Bild plötzlich in der Mitte der blauen Glastafel stand … Da, siehst du, hatt' ich mit einemmal die schauernde Empfindung, als wäre sie auch längst nicht mehr als ein Bild. Eines, das ich bereits lange, lange vorhergesehen hatte … wie in einem dumpfen unheimlichen Traum. Und das dann irgend eine verfluchte Hand für immer in diese Glastafel geätzt, damit ich es nie, nie wieder los werden könne. Sie immer so sehen mußte, gerade so. Als das Gespenst dieses einzigen gottverfluchten Tages.
›Ja, was ist denn das?‹ dacht' ich noch bei mir. Auch wie im Traum. Und dann: ›Wo bin ich denn?‹ Weil mir zugleich war, als wäre dies alles schon längst, längst vergangen, und ich stünde nun nach Jahren wieder auf demselben Fleck. Ohne zu wollen und ohne zu wissen warum. Nur ein Augenblick war es. Und doch hatt' ich in jenem Augenblick nicht weniger gesehen, als mein ganzes künftiges Schicksal …
Unterdes war Maria in den Garten getreten. Auch mußte ihr der Diener gesagt haben, daß ich da sei und wo ich warte. Denn ihre Schritte wurden immer rascher, und als sie vor mir stand, lag ein rosiger Hauch auf ihren Wangen. Dann streckte sie mir beide Hände entgegen. ›Overhoff … Sie – du hier? Und weißt du auch, daß Brandt vor kurzem nach St. Pölten gefahren ist? Zu dir! Denn nun weiß er alles. Ich selbst hab' es ihm gesagt!‹
Mein Blick ging eine Weile über sie hin. Dann erwiderte ich langsam: ›Er ist also so gnädig, anzunehmen?‹
Sie mochte den Sarkasmus, der aus meinen Worten klang, noch für einen Ausfluß unseres gestrigen Zwistes nehmen. Denn sie schüttelte leise das Haupt und erwiderte: ›Erscheint es dir wirklich so seltsam, daß ein Einsamer, der jahrelang niemanden gehabt als diesen einen, einzigen Menschen, doch auch etwas empfindet, wenn er zum erstenmal erfährt, daß er daran ist, ihn für immer zu verlieren?‹ Und dabei sah sie mich an … wie eine Heilige, sag' ich dir! … Ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken. Obwohl die Lider dieser selben Augen noch rot und verquollen von den Tränen waren, die sie gestern geweint, nach Gott weiß welcher Szene mit Brandt. ›Oh, Lügnerin! Lügnerin!‹ schrie es wieder in mir. Und dann kehrt' ich mich ab. Denn mein erster Impuls war, ihr ins Gesicht zu lachen. So wild und wahnsinnig, wie in jener Nacht, nachdem ich alles erfahren.
Eine Weile war es still zwischen uns. Ich starrte durch die blauen Scheiben. Sie stand hinter mir und atmete ein paarmal tief und schwer auf.
›Natürlich,‹ dacht' ich – ›Heiratssorgen! Die Maitresse, die fürs Leben gern zur Legitimen aufrücken möchte. Und noch immer nicht alles im Trockenen weiß.‹ Herrgott, wie widerlich war das alles … wie gemein! Und wieder kroch mir ein Ekel an die Seele … ein Ekel … Aber ich hielt noch an mich. Ich wollt' sie ein Weilchen weiterziehen: an meinen Drähten. Während sie meinte, daß ich an den ihren zappelte.
›Und wann hast du ihm das alles beigebracht?‹ fragt' ich. Und zugleich wandt' ich mich und blickte ihr fest und starr ins Gesicht. Mein Blick, vielleicht auch die Art, in der ich dieses »beigebracht« hervorstieß, schien sie doch etwas zu verstören. Denn sie blieb, wenigstens was die Zeit anlangte, bei der Wahrheit. ›Gestern abends!‹
›So,‹ nickte ich – ›abends! Und dann bist du – unwohl geworden?‹
Sie wurde bleich. Zum erstenmal. Bis in die Lippen bleich. ›Woher weißt du das?‹ brachte sie endlich hervor. Und dazu trat der Versuch eines Lächelns, ebenso verzerrt, als es mir verlegen erschien.
Aber ich hatte kein Mitleid mit ihr. Sie mußte weiterzappeln. Wie eine Marionette. Mir zum Spaß! Und obwohl meine ganze Sinnlichkeit wieder nach ihr zu schreien begann. In diesem selben Augenblick. Ja, ja, du darfst mir's glauben! Noch nie hatt' ich's so genau als damals erfahren, wie eng die Grausamkeit mit der Wollust verschwistert ist, und wie brutal der Mensch werden kann, wenn er einmal einen völlig Wehrlosen in seinen Händen hat!
›Nun, nun,‹ sprach ich, ›deshalb brauchst du doch nicht so zu erschrecken, daß ich das – auch weiß … Der Gärtner hat es mir eben gesagt. Oder hätt' es vielleicht ein – ein Geheimnis bleiben sollen?‹
Wieder zuckte sie zusammen. Aber diesmal lag in ihren Augen etwas so Gefoltertes und hilflos Flehendes, daß ich mich entschloß, ihr den letzten Hieb zu geben. Und so trat ich ganz dicht an sie heran und sprach: ›So ein Geheimnis wie … wie das andere?‹
›Wie – welches – andere?‹ Sie stieß es hervor – langsam, tonlos, während ihre Augen sich dabei öffneten – immer weiter, immer schreckhafter – mit einem Ausdruck so voll namenloser Qual und tödlicher Angst. Wie ich nur einmal noch einen ähnlichen gesehn habe. Im Antlitz eines zum Tode Verurteilten aus dem Mittelalter, den eine grausame Laune seiner Richter wenige Stunden vor dem letzten Gang porträtieren ließ. Diesen Unseligen, der, alle Schrecken einer Hinrichtung vor Augen, stillsitzen mußte und aushalten! Wenn dich das Bild einmal interessiert … du findest es im Waffensaal des Salzburger Museums, wo es knapp über dem Richtschwert hängt, mit dem der Unselige enthauptet wurde.
Und in solch arme Augen sah ich mit meinem härtesten Blicke hinein, als ich erwiderte: ›Nun, dein Verhältnis mit Brandt!‹
Sie tastete mit beiden Händen um sich, wie jemand, dem der Boden unter den Füßen schwindet. Dann stieß sie etwas hervor. Wie mir schien, dieselben Worte, die ich da eben gesprochen und die sie in ihrer ratlosen Zerstörtheit langsam wiederholte. ›Wahrscheinlich, bis ihr etwas Besseres einfällt!‹ dacht' ich zynisch. Ohne mir zu sagen, daß eine wirkliche Lügnerin – daß die Lügnerin, für die ich sie hielt, doch wohl rascher aus der Klemme gefunden hätte! Aber freilich, meine Worte waren ja auch wie ein Blitzstrahl niedergefahren. Und so konnt' ich mir wohl das Geständnis ersparen, daß ich mich ihretwegen bis zum Lauscher erniedrigt. Was ich sah, genügte mir. Und woher ich es wußte, war meine Sache. Sie aber hatte seit gestern alles getan, um meinen Verdacht zu bestätigen. Das mußte sie sich selbst sagen. Und wie es mir schien, tat sie es auch. In demselben Augenblick, da ich sie anklagte.
Sie war, fortwährend in die Luft greifend, bis an das entgegengesetzte Fenster zurückgetaumelt. Nun hatte sie einen Halt. Ihr Blick aber lag noch immer mit der schwindelnden Angst eines Sterbenden in dem meinen. Und – siehst du – siehst du,« schluchzte Overhoff plötzlich wild heraus, »je mehr sie litt, desto brutaler wurde ich. Denn ich glaubte fest, nur die enttäuschte Spekulantin vor mir zu sehen. Und mit der wollt' ich reden – nun, wie ich eben gewohnt war, mit solchen Weibern zu reden! Dann fand ich, daß auch meine Rolle in der ganzen Komödie bereits anfange, eine lächerliche zu werden. Und – du weißt es ja von früher her … wenn mein Stolz einmal anfing, die Zähne zusammenzubeißen, dann konnt' ich hart werden wie Stahl und schneidend wie eine Klinge. Und so sprach ich: ›Ja, sag' mir … hast du mich wirklich für dumm und verliebt genug gehalten, um anzunehmen, daß nur ich – gerade ich allein, nie dahinter kommen werde? So sprich doch … nur ein Wort, hörst du? Sag' mir meinetwegen, daß du mich angelogen, um doch endlich einmal die Frau eines anständigen Mannes zu werden! Oder – oder weil du mich durchaus besitzen wolltest. Diesen selben Kerl, den du für so bodenlos dumm hieltest! Aber schüttle die Lüge von dir! Daß nicht auch ich hinter dir herlachen muß wie die ganze andere Welt! Und dich für eine Lügnerin und Heuchlerin halten. Wenn … wenn nicht für etwas Schlimmeres!‹
Aber seltsam! Während ich all das hervorstieß, jedes Wort ein Messer, das ihr mitten ins Herz fahren mußte – gerade da fand sie wieder zu sich selbst zurück! Erhob das Haupt, verschränkte die Arme und stand da, wie sie gestern auf der Landstraße vor mir und abends vor Brandt gestanden: mit fest und trotzig geschlossenen Lippen, die dunklen Brauen hochmütig emporgezogen – unnahbar, undurchdringlich. Und dabei schön – schön … wie eine heilige Cäcilia! Ich hatt' es bereits gestern zu spüren gekriegt, wie gefährlich sie mir gerade in dieser Pose war. Der Mann, weißt du, der sich da doppelt gern als Überwinder sehn möchte! Auch konnt' ich mir ja denken, wie schwer ihr ein solches Geständnis von den Lippen gehn mochte. Vielleicht überhaupt nie … Denn die Frauen sind hierin ganz seltsam. Gerade daraus aber konnt' ich wieder ihre ganze Leidenschaft für mich ermessen. Diese Leidenschaft, der auch ich noch nicht Herr war und die mich gerade in diesem Augenblick so mächtig anfiel, daß ich plötzlich alle Gewalt über mich selbst verlor. Und so stürzte ich auf sie zu, riß sie an meine Brust und rief: ›Oder sag's auch nicht! Mach' mich nur glücklich, hörst du? Er ist jetzt fort … kommt vor Abend nicht zurück. Warum sollst du das, was du ihm mit Ekel geben mußt, nicht auch für den übrig haben, den du wirklich liebst?‹ Und dabei suchten meine Lippen ihren Mund, ihren Hals, ihre jungen Brüste. Heiß, dringend. So, weißt du, wie man nicht seine Braut küßt, sondern ein Weib, das man wohl nicht mehr achtet, aber noch immer besitzen möchte. Es war eine einzige Beschimpfung …
»Hast du schon ein angeschossenes Reh klagen gehört?« fragte Overhoff nach einer Weile. Und als ich ihm erschüttert zunickte, sprach er leise: »Es war derselbe Ton, der aus ihrem Innersten brach. Ganz derselbe. Aber ich kam noch immer nicht zu mir. Blieb noch immer das Tier, das nur begehrte, nur zerreißen wollte. Und während sie so in meinen Armen lag, kalt und bewegungslos wie ein Stein, zischte ich: ›So gib sie mir … gib sie mir doch, die Küsse, die er gestern abends – nicht bekommen hat!‹
Da schüttelte sie mich ab. Mit einem Schrei und einer Kraft, die ich diesen zarten Kinderarmen niemals zugetraut hatte. ›Das – das also! …‹
›Und wenn ich es gesehn hätte?‹ schrie ich ihr entgegen. Mit meinen eigenen Augen. Gestern, als du mit ihm dort drinnen saßest?‹
Es war alles auf einmal. Mit der ganzen Brutalität eines Mannes hinausgeschrien, der die weiblichen Possen satt hat und nichts mehr fühlt, nichts mehr kennt als seinen Trieb.
Sie war langsam bis an das rote Fenster dort zurückgewichen. Und plötzlich stand sie wieder da: unnahbar, undurchdringlich. Und nicht einmal ihre Hand bebte, als sie nach der Tür wies. ›Gehn Sie … gehn Sie!‹
›Du willst also leugnen?‹ schrie ich außer mir. ›Bis zuletzt?‹
Ein wunderliches Lächeln schlich um ihren Mund. Ein Lächeln, in dem ein unendliches Weh lag und doch zugleich auch ein böser Hohn. Ein Lächeln, wie ich es weder vorher noch nachher jemals gesehen habe. Dann schloß sie die Augen, und während sie sich langsam abkehrte, sprach sie fest: ›Nein, Sie wissen alles … alles! Aber gehn Sie … hören Sie? Gehn Sie!‹
Als ich mich, schon unter der Tür, noch einmal umwandte, sah ich, daß sie sich mit beiden Armen am Fensterbrett festhielt und am ganzen Körper zitterte. Eine Regung flüchtigen Mitleids überkam mich. Da ich aber im selben Augenblick Schritte hörte und gleich darauf den Gärtner mit dem Arzt herankommen sah, eilt' ich hinaus und dann mit hastigem Gruß an den beiden vorüber. Hier hatt' ich ja wahrhaftig nichts mehr zu suchen …
Und was ich in jenem Augenblick empfand, schien nach und nach auch mein innerstes Wesen zu durchdringen. Die Sache war eben abgetan, wie ich mir sagte. Und des übrigen hatt' ich jetzt einfach der Mann zu bleiben, der ich auch sonst immer war. Und so stellte sich während der nächsten Wochen nicht nur der alte Appetit und der gewohnte Schlaf bei mir ein, ich konnte sogar wieder arbeiten, mit hellem Kopf und vollem Interesse, stundenlang, ohne an etwas anderes zu denken, als an diese meine Arbeit, eben ganz wie früher! Nur die Vollendung des Kaseck hätt' ich gern beschleunigt. Denn ab und zu mußt' ich doch dorthin, und dann war mir immer, als zöge sich etwas in meinem Herzen zusammen. Wie eine Wunde, die noch nicht ganz vernarbt ist. So ein dumpfes unheimliches Schmerzgefühl, dem sich stets auch eine vage Angst gesellte, als könne der Abgrund, den ich so gut verschüttet glaubte, sich doch wieder einmal auftun. Und dann sah ich immer wieder ihr letztes Lächeln vor mir. Hörte den seltsamen Ton, mit dem jenes Geständnis von ihren Lippen kam. Dieses halb höhnische, halb verächtliche: ›Nein, Sie wissen alles, alles!‹
Da ich mich aber sonst ganz wohl fühlte und es auch bleiben wollte, nahm ich mir vor, die letzten Arbeiten am Kaseck einem befreundeten Architekten zu übertragen und mit den ersten Herbsttagen südwärts zu ziehen. Italien hatte mir schon so oft Klarheit und Lebensfreude in die Seele gelächelt. Dazu kamen die Wunder der Kunst, die selbst der Wissende gern immer wieder anstaunt. Und so wollt' ich, meinen Vitruv in der Tasche, wieder einmal über den Brenner fahren. Mochte sich der ausonische Zauber aufs neue bewähren!
Vittingstorff fand meinen Wunsch ganz billig. Hatt' ich doch fast ein Jahr dem Kaseck gewidmet. Und eines Tages standen meine Koffer gepackt, und die Runde unserer Freunde, von Vittingstorff noch einmal zusammengebeten, sollte mir am Abend vor der Reise ein feucht-fröhliches »Lebewohl« sagen.
Von allen, die Vittingstorff geladen hatte, blieb nur Brandt aus. Es war also natürlich, daß das Gespräch der anderen sich zuerst mit ihm beschäftigte. Da ich mir den Grund seines Fernbleibens recht wohl erklären konnte, hatt' ich weiter kein Interesse daran. Horchte aber doch unwillkürlich auf, als plötzlich sein Name mit dem Marias zugleich genannt wurde. Und als kurz darauf Vittingstorff auf mich zutrat und mit einem ganz eigenen Lächeln sagte: ›Legen Sie Ihr Queue nieder, lieber Freund, es steht dafür,‹ traten ich und mein Partner doch immerhin etwas interessiert vom Billard weg und zu den anderen.
Exzellenz Goth, der Mann der alten Hexe, die mir zuerst das Gift ins Ohr geträufelt, führte dort in ziemlich lauter Weise das Wort. Und so groß auch die Gesellschaft war, bald wußten's alle, und wer sich nicht drum scherte, mußte sich's erzählen lassen: Brandt war Bräutigam! ›Mit dieser selben Maria Soltis … nun Sie wissen ja, meine Herren!‹ Und mit der Neuigkeit zugleich machte derselbe Blick und dasselbe ominöse Lächeln die Runde. ›So … so … so!‹ Mich aber meinte Graf Goth besonders ausdrucksvoll dabei ansehen zu müssen, während er händereibend mit seinem Wissen auspackte. Da ich ihm aber das gleichmütigste Gesicht entgegenhielt und weder besonders interessiert noch sehr erstaunt tat, war er verblüfft. Denn nun mochte er darüber nachdenken, wie es komme, daß ich, ohne in Fräulein Soltis vernarrt zu sein, doch noch immer nicht an der Angel einer seiner Töchter hing.
Als ich dann später mit Vittingstorff allein war, meint' ich so nebenbei: ›Was diese Verlobung Brandts anlangt … das wird ja nach allem, was ich gehört, doch wohl nur eine Art Finalisierung sein, nicht?‹
Vittingstorff starrte ins Licht, schüttelte eine Weile nachdenklich das Haupt und erwiderte dann: ›Man hat wohl viel … sehr viel gesprochen. Meistens aber doch nur mißgünstige oder skandalsüchtige Leute. Soviel mir bekannt, befindet sich das Fräulein tatsächlich schon seit ihrer Kindheit im Hause Brandts. Und damals machten sich die Leute wieder ein ganz anderes Verslein dazu. Man glaubte nämlich, daß sie seine Tochter und nicht die seines verstorbenen Freundes wäre. Und Tatsache ist, daß er mit der Gattin dieses Freundes immerhin einen gewissen Kult trieb. Als das Mädchen aber dann heranblühte und die wenigen, die Brandts Verhältnis zu ihren Eltern kannten, wegstarben, ließ man sie ebenso schnell zu seiner Geliebten aufrücken. Was mich betrifft, so muß ich gestehen, daß mir die erste Version immer näher lag. Nun hat er durch seine Verlobung mit Fräulein Soltis allerdings auch hierdurch einen dicken Strich gemacht. Deshalb werd' ich aber noch lange nicht der Meinung der Leute werden. Obwohl mir Brandts Leichtlebigkeit bekannt ist. Denn – wissen Sie, was mir, bei einem doch nun jahrelangen Verkehr in seinem Hause immer besonders vorteilhaft auffiel? Der große Respekt, um nicht zu sagen die aufrichtige Verehrung, die sein Dienstpersonal vor dem Fräulein hatte! Das ist in Häusern, wo es sich nur um eine Halbfrau handelt, sonst nie der Fall. Und so glaub' ich, daß er seinen dummen Streich tatsächlich erst jetzt macht. Denn er ist ja doch ein Greis gegen Maria!‹
Ich aber dachte bei mir: ›Guter Vittingstorff! Ein Kavalier bist du wohl. Aber wenn du wüßtest, was ich weiß, würdest du dir auf deine Menschenkenntnis weniger einbilden!‹
Immerhin schlief ich nicht sehr ruhig in jener Nacht. Es war so vieles wieder aufgerissen und lebendig geworden. Vom Anblick Goths bis zu seiner Neuigkeit und meinem Gespräch mit Vittingstorff. Ich aber tröstete mich und dachte: ›Nur ein paar Stunden noch, dann trägt dich der Eilzug südwärts. Und dies alles versinkt wie ein kurzer, böser Traum!‹
Da fügte es das Schicksal, daß ich Maria noch einmal sah. Am Bahnhof. Bevor der Zug einlief, der mich südwärts trug, passierte der nach Wien laufende die Strecke. Und da ich etwas zu früh gekommen war und der Bediente Gepäck und Karte bereits besorgt hatte, schlenderte ich eben auf dem Perron hin und her wie all die anderen.
Da lief der Wiener Zug ein. Ziemlich zerstreut sah ich hin. Wie jemand, der mit seinen Gedanken schon Gott weiß wo ist. Und so sah ich, was man in solchen Fällen immer sieht: ein paar herabgelassene Koupeefenster, in die sich neugierige oder alberne Menschenantlitze schoben; da und dort ein paar Abschiednehmende, die Reisekappe eines Engländers, den Dreß eines Touristen, die Tonsur eines Landgeistlichen … Momentbilder, wie sie ein Bahnhof auftauchen und ebenso rasch wieder verschwinden läßt.
Da fiel mein Blick auf eine Hand. Eine vom Handschuh entblößte, kleine Hand. Zart, bleich … hätte nicht ein herrlicher Rubin daran gefunkelt, ich würde geglaubt haben, die Hand eines Kindes zu sehen. Sie hing aus einem offenen Waggonfenster heraus, müde, lässig, schlaff. Und plötzlich war mir, als wäre diese Hand ein Gesicht, das ich schon einmal irgendwo gesehen. Ein Gesicht, das viel, viel – Seele hatte. Ein ganz anderes Gesicht, als alle anderen Menschen es hatten! Und da blickte ich zu jenem Fenster hinein und sah – Marias Profil. Brandt saß ihr gegenüber. Und da er sich gerade, als ich hinblickte, erhob, um mit auffälliger Hast jenes Fenster zu schließen, nahm ich an, daß auch er mich gesehen und erkannt. In demselben Augenblick setzte sich der Zug in Bewegung. Die Hand mit dem Rubin zog sich langsam zurück. Das Fenster klappte ein, der Rubin aber funkelte noch einen ganzen Tag in meiner Seele weiter. Brandts Verlobungsring! ›Und wenn?‹ dacht' ich endlich. ›Du weißt es ja schon seit gestern. Nun hast du's eben auch gesehen. Punktum!‹
Und damit hatte auch der Ring seinen bösen Zauber verloren. Die letzte Flamme war erloschen.
So dacht' ich. Und anfangs schien es auch so. Denn – wirst du mir's glauben? Während des ganzen folgenden Jahres hab' ich auch nicht einmal mehr geträumt von Maria. Und wenn ihr Bild sich vor meine wachen Sinne schieben wollte … Nun, du weißt ja, wie viele Möglichkeiten einem Manne dann offen stehen, um über die Weiber ein Weib zu vergessen. Und ich war in Italien, wo sie so heiß sind wie die Sonne und von der Skrupellosigkeit der alten Heidengötter. Dazu der Verkehr mit den Kollegen, das launige Beisammensein in den Kneipen. Die Feste in der Campagna, zwischen oder auf den antiken Ruinen. Historische Reminiszenzen … Die Glut, die jedem, der italienischen Boden betritt, fortwährend unter den Füßen zu brennen scheint. Nicht zuletzt mein eigenes lateinisches Erbteil, das Blut meiner Mutter … Genug! Ich fühlte mich gar bald wieder als derselbe heidnische Formen- und Farbenanbeter, der ich früher gewesen. Und damit kehrte auch wieder der reuelose Macchiavellismus meiner früheren Lebensführung zurück. Der sich nahm, was er konnte, und niemandem mehr gab, als er mußte. Und so stand ich eines Tages allem, was ich da oben im Norden gedacht, intensiv durchlebt und durchlitten, geradezu wie ein Fremder gegenüber. Und wie einer, der auch für das eigene Leid keine Pietät mehr hat, sondern nur ein leises, feines, überlegenes Lächeln. Seele – Seele …? Nein! Hatt' ich wirklich einmal damit einen Kult getrieben? Mich darüber krank und schlaflos gegrübelt, wie nur je ein alter Beichtvater? Das kam mir nun alles so wunderlich vor, um nicht zu sagen albern. Nein, nein. Wer so einen echten dunkelroten Tropfen lateinischen Blutes in sich hat, für den ist's nichts mit dieser germanischen Liebe, dacht' ich. Dazu müssen auch die Sinne getauft sein. Und die meinen waren gute Heiden geblieben. So mochte ihnen wieder der alte Pan aufspielen! Und er tat es. Freilich nicht immer in Schönheit. Oft klang's dazwischen wie Hufgestampf und Bocksgemecker. Und während ich mich so ganz reuelos wieder gesund liebte und lebte, dacht' ich keinen Augenblick, daß ich selbst etwas Gemeines oder Unschönes täte. Ich, der mit dem Weibe, das ihn geliebt, so fürchterlich und streng ins Gericht gegangen war! Und nun das Weib so vielfach genoß und im Genuß so tief erniedrigte, daß ich mir zuletzt mit einer gewissen Genugtuung sagte, daß ich hinfort auch die Reinste nicht mehr lieben, sondern nur begehren könnte.
Da erhielt ich plötzlich von zu Hause die Nachricht, daß meine Mutter schwer erkrankt sei. Lungenentzündung! Auch wenn ich nicht ihr einziges Kind gewesen wäre, hätte mich das schwer treffen müssen. Hatt' ich mich doch nie so ganz als ihr Kind gefühlt, wie in dem Lande, das sie Heimat nannte! Und so glich meine Abreise geradezu einer Flucht. Alles nur Mögliche wollt' ich aufbieten, um sie wieder gesund zu machen. Und wenn ein neuer Frühling kam, dann sollte sie mit ihrem »Federigo« zusammen die sonnige Heimat besuchen. Und auf ausonischem Boden wieder lachen lernen. Denn sicher hatte der Norden auch ihr nur wehe getan! Das meint' ich nun plötzlich ganz genau zu wissen. Obwohl sie sich nie mit einem Worte beklagt hatte. Und selbst während ihrer Ehe mit meinem etwas pedantischen Vater bloß nur ein schalkhaftes Lächeln gehabt hatte für »diese Menschen, die sind so viel komisch. Aben sie nichts von ihrem Leben. Und was sie können aben, wollen sie nicht. O Dio mio!« Das war der einzige Stoßseufzer, den ich immer von ihr gehört hatte. Und nun empfand ich doppelt, wie viel sie entbehrt haben mußte trotz alledem.
So kam ich zu Hause an. Gerade noch früh genug, um von ihr erkannt zu werden und ihren letzten Händedruck zu empfangen. Dann begannen die Schatten des Todes sich langsam über das Haus zu breiten. Sie war eben in einem zu heiklen Alter, wie mir die Ärzte sagten. Da konnte jeder halbwegs ernste Fall leicht verhängnisvoll werden. Und so stand ich aufs neue vor einem unersetzlichen Verlust und fühlte zum erstenmal, daß es immer einsamer wurde um mich.
Während die letzten traurigen Tage so dahinschlichen, jeder wie unter einem Alpdruck, und die Mienen der zwei Ärzte immer ernster wurden, ihre Antworten immer ausweichender, konnt' ich die Empfindung nicht los werden, als hätt' ich den Jüngeren der beiden schon einmal gesehen. Vor ziemlich langer Zeit schon und kaum flüchtig, aber doch einmal! Nur über das »wo« konnt' ich nicht ins klare kommen. Daß er erst vor kurzem einem ehrenvollen Ruf an die gynäkologische Klinik Folge geleistet, hatte mir unser Hausarzt mitgeteilt, der ihn, da die Krankheit meiner Mutter zugleich mit einem weiblichen Zustand einherging, als Konsilarius erbeten. Das verwirrte meine Erinnerungen aber nur noch mehr. Und die letzten traurigen Tage und Nächte am Lager der Sterbenden nahmen mich dann so ganz hin, daß es mir herzlich gleichgültig wurde, ob ich den Mann schon wirklich einmal gesehen oder nicht. Für mich war er zuletzt nur einer mehr, der nicht helfen konnte.
Erst als er mich eine Woche nach dem Tode meiner Mutter noch einmal aufsuchte, um mir in wirklich herzlicher Weise Trost zuzusprechen, trat mir die Frage über die Lippen, ob er nicht auch eine Erinnerung habe, daß wir Zwei uns schon irgend einmal begegnet wären? Da sah er mich erst groß, fast befremdet an und dann meinte er mit einem plötzlich zur Seite weichenden Blick: ›Gewiß … bei Sektionschef Brandt!‹ Und ihn hätte es wundergenommen, daß ich bis heute nie davon gesprochen. Dann hab' er sich's aber damit erklärt, daß ich, durch das eigene Leid zu tiefst erschüttert, nicht auch noch von fremdem Unglück sprechen mochte. Und so habe er auch geschwiegen.
›Fremdes Unglück?‹ erwiderte ich so kühl und ruhig als möglich. ›Brandt war ja doch in Brautständen, als ich vor einem Jahr von St. Pölten abreiste?‹
›Ja,‹ gab Doktor Lerch immer mit demselben Blick in die Ferne zurück, ›das wohl … Aber so kurz auch die Zeit ist, die dazwischen liegt, von den beiden ist nun auch keines mehr da –‹
›Nicht mehr da? –‹ Ich stammelte es leise nach. Denn ich wußte noch immer nicht, was ich eigentlich von dem allen zu halten hätte. ›Ja – wo sind sie denn?‹ fragt' ich endlich.
Wieder so ein verwunderter, fast ungläubiger Blick. ›Wo? – Tot, beide! Die junge Frau als Opfer einer Frühgeburt, er bald nachher infolge der Aufregungen. Denn – freilich – geliebt muß er das junge Geschöpf über alles haben!‹
›Tot?‹ Ich flog förmlich in die Höhe. Dann fiel ich auf meinen Stuhl zurück. Schwer, blöd, wie vor den Kopf geschlagen. Und niemand hatte mir auch nur ein Wort davon geschrieben!
›Auch der Herr Baron nicht?‹ fragte der Arzt nach einer Weile. Und dann erzählte er mir, daß ihm Vittingstorff bei der Leiche Brandts gesagt, daß er mir sogleich Nachricht davon geben wolle. Denn es sei ein Unglück, das so halb und halb auch mich treffe, da Brandt den Gedanken noch immer nicht aufgegeben hatte, daß ich und nur ich allein der berufene Schöpfer jenes Monumentalbaues wäre …
Das alles aber ging wie Stromgerausch an meinem Ohr vorüber. Nur eines hörte, nur eines fühlt' ich: Sie war tot! Und nun ich sie den Armen Brandts für immer entglitten wußte, nun sie endgültig aus der Welt draußen war und mit ihr alles, was mir und den anderen so lange wehgetan an ihr – nun, wirst du mir's glauben? Nun kam mit einemmal wieder die alte Leidenschaft über mich! Und so heftig, so voll schreiender Sehnsucht und dumpfer Qual, als hätt' sie mich überhaupt nie verlassen, sondern wäre nur wie ein unheimliches Raubtier im tiefsten Dunkel meiner Seele gelegen und hätte gelauert und gewartet und gehungert, um dann zur rechten Zeit hervorzubrechen und mit einem einzigen heimtückischen Sprung sich alles zu holen, was sie wollte. Den ganzen Mann, ich fühlte es! Denn hätt' ich sonst so wehrlos dasitzen können! Nichts sehen, nichts empfinden, als Maria? Und alles vergessen: den fremden Menschen, der mit erstaunten Augen mir gegenübersaß … Die tote Mutter, dieses ganze letzte Jahr, das nur dem Genuß geweiht war und der Freude am Dasein?
Oho, dacht' ich, kommst du mir so? Und dann stand ich auf und schüttelte mich, ging im Zimmer herum und suchte nach einer Phrase, die recht konventionell klingen sollte, recht, recht konventionell, und mußte doch jedes Wort mit meinen Tränen hinunterschlucken, so fest hatte sich die Bestie wieder eingekrallt. Und während in der Stube alles still blieb, hörte ich plötzlich, wie aus weiter, weiter Ferne, Marias Stimme. Und sie sagte klar und deutlich: ›Ich muß mir den wohl anschaun, der mein Schicksal wird!‹ Und als hätte mich der Teufel selbst zu einer Antwort gezwungen, sprach ich langsam: ›Es war doch eine Jagd!‹ Ohne daß ich es wollte, weißt du, und immerhin so laut, daß mich auch der Arzt verstanden haben mußte. Denn plötzlich seh' ich, wie er mir zunickt, und gleich darauf hör' ich, wie er sagt: ›Nun, wenn Sie es ohnedies wissen, dann wird es Sie ja auch nicht wundernehmen, daß beide gerne starben. Sie, weil sie unglücklich war. Er, weil er sich schuldig fühlte.‹
›Meinen Sie wegen des Kindes?‹ fragt' ich rasch. ›Oder wegen des Verhältnisses, das er vor der Ehe mit ihr gehabt?‹ Und damit hatt' ich wenigstens so viel Ruhe gewonnen, daß ich wieder Platz nehmen konnte und dem andern ins Gesicht sehen.
Der aber schüttelte den Kopf. Fest, bestimmt. ›Ein Verhältnis vor der Ehe hat es zwischen den beiden nie gegeben!‹
›Wirklich?‹ Ich versuchte noch einmal zu lächeln, denn … was ich geseh'n hatte, hatt' ich gesehen!
Da legte der Arzt seine Hand auf die meine. ›Nein, nie! Und das brauchen Sie nicht mir zu glauben,‹ setzte er mit tiefem Ernst hinzu, ›ich war ja dort Arzt. Und da könnt' ich im Interesse der Verstorbenen auch schön färben oder lügen. Und es wäre noch nicht das Schlimmste! Aber was ich Ihnen da erzähle, hat mir ein unglücklicher Mensch ins Ohr geschrien. In der fürchterlichen Stunde, die ihm Weib und Kind auf einmal nahm. Und ihm zugleich zeigte, mit welcher Inbrunst das junge Geschöpf den Tod umarmte, um ihm zu entgehen. Und in solchen Augenblicken, mein lieber Herr Overhoff, da lügt man nicht …‹
Ich weiß nicht mehr, was ich dazwischen stammelte. Sah nur, daß der andere mir wieder zunickte, und saß dann wie ein Verdammter, während mir seine Worte an der Seele brannten, jedes für sich eine Flamme der Hölle.
Und so erfuhr ich alles … alles … Bis auf die letzten Worte Marias. Diese fürchterlichen, letzten Worte. ›Nun ist sie aus – die Jagd!‹ Und dann erzählte er mir, wie Brandt an ihrem Lager zusammengebrochen sei. Erst schwer und sprachlos, wie einer, den der Schlag gerührt. Um dann in einen plötzlichen Paroxismus zu geraten, der ihn alles vergessen ließ. Die Diener und den Arzt und – sich selbst. So daß er sprach und sprach und immer aufs neue sich anklagte, unter einem Geschluchz, wie es vielleicht noch nie eine Mannesbrust erschüttert. ›Und so machte er mir Geständnisse,‹ sprach Doktor Lerch, ›die zu fordern ich wahrhaftig nie ein Recht gehabt hätte. Die aber, eben weil sie so elementar aus ihm hervorbrachen, mir doch mit einemmal die ganze Wahrheit enthüllten. Daß er Maria schon lang und leidenschaftlich geliebt – aber nie den Mut gefunden hätte, ihr dies zu sagen. Daß sie ihn eines Tages mit der Enthüllung überrascht, daß sie bereits gewählt habe. Da hätte ihn die Besinnung verlassen, er hätte sein Alter vergessen, die Rücksicht, die er ihr schuldig war. Den Schreck, den ihr sein plötzliches Geständnis verursachen mußte. Und so war er einfach auf sie losgestürzt und hätte ihr unter wilden Küssen seine Leidenschaft eingestanden. Das, und ein Wortwechsel, der vorangegangen, hätte sie aber derart erschüttert, daß sie wie tot in seinen Armen zusammengebrochen wäre. Das hätte sich an jenem Abend ereignet, da man auch ihn, den Arzt, noch spät nachts ins Haus geholt. Und am Lager der Bewußtlosen habe er sich zugeschworen, was in seinen Kräften läge, zu tun, um sie dies alles wieder vergessen zu machen. Tags darauf aber müsse derjenige, dem ihr Herz gehörte, sich noch viel schlimmer an ihr vergangen haben. Denn als Brandt nach Hause gekommen sei, hätte sie selbst ihm fest und ruhig erklärt, daß zwischen ihr und jenem anderen alles zu Ende sei, und sie nun bereit wäre, seine Frau zu werden, damit die Leute recht haben, wie sie sagte. Sie, die sich früher nie um die Leute gekümmert hatte.
Nun wär' es wohl seine Pflicht gewesen, zwischen ihr und demjenigen, den sie liebte, zu vermitteln. Da sie aber bei ihrem Entschluß beharrte, und umgekehrt, auch für ihn die Versuchung nur zu stark war, hätte er nur mehr den einen Gedanken gehabt, Maria so bald als möglich ganz zu besitzen. Während ihrer kurzen Ehe hätte er dann wohl erkannt, daß das Bild des anderen noch immer in ihrer Seele lebte. Und daß alles Liebe, das sie ihm tat, nur aus einer Art Trotz gegen den anderen quoll. Auch das Kind müsse sie nur deshalb ersehnt haben, um so zwischen dem Mann, den sie nicht vergessen konnte, und dem Gatten, den sie eigentlich verabscheute, eine reine Zuflucht für ihre zermarterte Seele zu finden. Denn als es dann kam und ihr den Tod brachte, sei sie mit denselben rätselhaften Worten gestorben, die sie während ihrer kurzen Ehe so oft vor sich hingesprochen. Mit einer Genugtuung, die ihm in die Seele schnitt, und demselben traurigen Lächeln, das sie nun auch ins Grab hinunternehme. ›Und da auch Sie von der »Jagd« zuvor sprachen,‹ schloß Doktor Lerch, ›nahm ich an, daß Brandt auch Ihnen vielleicht einiges gestanden. Dann erinnerte ich mich, daß ich Sie gerade am Tage nach jener für Brandt und Maria zugleich verhängnisvollen Nacht dort zuerst gesehen. Und das gab meiner Vermutung ein weiteres Recht. Waren Sie doch, wie ich später erfuhr, ein besonderer Schützling Brandts. Auf jeden Fall aber hielt ich es für die Pflicht eines Ehrenmannes, einer Toten die letzte Liebe zu erweisen, und ihr Andenken für diejenigen rein zu halten, an deren Meinung ihr vielleicht doch etwas gelegen sein konnte!‹
Damit schüttelte er mir die Hand und ging. Tat er bloß so – oder befand er sich über die Rolle, die ich in der ganzen Geschichte gespielt, wirklich im unklaren? Ich weiß es noch heute nicht. Und als er damals ging, war es mir auch herzlich gleichgültig. Von nun an, das fühlte ich – von nun an gehörte ich den Furien!
Doch darfst du nicht glauben, daß sie mir deshalb gleich die Schwelle gestürmt hätten. Im Gegenteil … sie kamen langsam, kamen einzeln, kamen höflich, bis –« er sah zur Seite, scheu, starr, dann schien es wie ein Schauer an ihm niederzurieseln – »bis sie mich in der Falle hatten!
So kam mir eines Tages zuerst die Sehnsucht, dieses Haus wieder zu sehen. Das war doch natürlich, nicht wahr? Und menschlich. Deshalb braucht man noch lange nicht an Dämone zu denken, die einen hierher lockten. Ebenso absichtlich als heimtückisch. Wenn man einen Menschen so geliebt hat, wie ich Maria, ihm so namenloses Unrecht getan! Und dann eines Tages erfährt, daß er einfach nicht mehr da ist. Unerreichbar. Selbst für die demütigste Reue … nun? Was wäre da natürlicher, als seinem Andenken nachzugehen? Seine Spur zu suchen, wie ein verirrter Hund. Allerdings war auch ihr Grab da. Dort aber lag sie neben Brandt … war sie »Frau Brandt«, noch in der Inschrift des Grabsteins. Du begreifst, daß ich nicht dahin mochte … nicht dahin konnte. Obwohl ich es täglich mit frischen Blumen schmücken ließ.
Hier aber … Also fuhr ich eines Tages heraus. Es war ein Spätherbsttag, wie jener, der mich vor einem Jahre nach Italien geführt. Dasselbe Wetter … dieselbe stille Wienerwaldlandschaft. Alles schon verlassen. Die sommerlichen Pfade einsam und von welken Blättern bedeckt. In der Luft das feuchte kühle Geriesel eines melancholischen Nebeltages. – Gut. Ich fahr' also heraus. Steig' aus. Ganz wie andere Menschen auch. Und keinen Augenblick mit der Empfindung, daß ich das, was ich tue, nicht etwa aus eigenem Antrieb täte. Daß ich all die Zeit her nur an Maria gedacht, nur von Maria geträumt hatte, wirst auch du selbstverständlich finden. Und daß ich sie auf dem Wege da hinaus erst recht an meiner Seite fühlte, war ja auch noch begreiflich, nicht wahr? Aber wart' nur, wart'! Ich sollte bald noch anderes erfahren und zu spüren bekommen. Schon damals!
Also … wie ich aussteig' und so ganz von ungefähr noch einmal nach dem Zug zurückschaue, der mich hergebracht, was seh' ich an einem der geöffneten Coupéfenster? Ihre Hand. Ganz dieselbe kleine blasse Kinderhand. Und ganz wie damals. Mit demselben Rubin am Goldfinger. Ich bleib' stehn, wisch' mir die Augen, schau' noch einmal hin. ›Assoziation,‹ denk' ich. Und hab' doch im selben Augenblick die gleiche Empfindung, wie damals vor dem blauen Fenster hier. Daß dies für mich von nun an eine unentrinnbare Wirklichkeit sein wird. Vielleicht wär' es gut gewesen, damals umzukehren. Rasch, atemlos … wie jemand, dem es anfängt, langsam unheimlich zu werden. Aber zu der Angst, die mir damals leise die Seele beschlich, kam plötzlich noch etwas anderes, Stärkeres. Die Sehnsucht nach jenem blauen Fenster! Ihre Hand hatt' ich wiedergesehn. Dort fand ich vielleicht auch ihr süßes Antlitz wieder, ihre weiche, kindliche Gestalt. Sie – ganz, ganz! Und dann fing ich geradewegs zu laufen an.
Als ich vor das Tor kam, war es geschlossen, die Fenster verhangen. Eine Tafel über der Tür besagte, daß dieses Haus zu vermieten oder zu verkaufen sei. Die Schlüssel und nähere Auskunft fände man dort und dort. Nun, ich kannte die Adresse. Es war der Wirt des Ortes. Derselbe, bei dem ich jene fürchterlichste Nacht meines Lebens durchlitten. Und so ging ich denselben Weg noch einmal.
Die Begleitung des Wirtes lehnte ich ab. Erbat mir nur die Schlüssel, die mir als einem Wohlbekannten auch sofort ausgefolgt wurden. Und dann wieder zurück. In einem Atem. Und voll einer Sehnsucht, die ich nicht einmal für die Lebende empfunden.
So komm' ich wieder vors Haus, schließ' das Tor auf, sperr' es wieder zu – nur um ja allein zu sein. Ganz allein. Alles ist still um mich, wie in jener Wetternacht. Wie in jener Nacht dasselbe Geriesel in den nassen Büschen, derselbe Wind längs der Hecken hinseufzend. Dasselbe Brett über dem Rinnstein. Alles Tote noch da oder wieder lebendig. Nur sie nicht mehr …
So komm' ich bis ans Haus. ›Tup – tup – tup –‹, wo hab' ich das schon gehört? Richtig, die Blechverschalung, auf die aus irgend einer Traufe nur dieser eine Tropfen niederfällt. Ganz wie damals …
Und plötzlich zuckt es auf wie ein fahler Schein über die einsame Welt um mich. Sonnenlicht hinter den Wolken! Und da weiß ich schon nicht mehr, was Vergangenheit war und Gegenwart ist. Ich steh' im Pavillon mit den bunten Scheiben und schau' durch das blaue Glas auf die stille Bergwiese hinaus.
Etwas ist doch anders daran als damals. Die Herbstzeitlosen blühen! So dicht, so reich, daß es wie ein lila Seidentuch über der Wiese liegt. Und das gibt mir, wenigstens einen Augenblick, wieder die Empfindung der Zeit zurück, in der ich lebe.
Aber da beginnt sich mit einemmal die graue Hängeweide im Wind zu bewegen. Die Zweige drehn sich ordentlich um sich selbst – so wunderlich und schattenhaft. Wo hab' ich das nur schon gesehen – dieses schemenhafte Gleiten und dieses – dieses Grau?
Und da tritt – Maria hervor! Deutlich seh' ich sie … wie sie näher kommt, immer näher. Blaß, mit gesenktem Haupt, erst am Waldrand vorüber, dann um jene Weide herum, bis sie plötzlich mitten in der blauen Scheibe steht wie damals. Die Herbstzeitlosen blühen zu ihren Füßen … ›Colchicum!‹ denk' ich – ganz mechanisch. Und gleich darauf ist's, als spräche jemand leise an meiner Seite: ›Die Schatten, die Schatten!‹ Und ein kühler Hauch geht über mich hin. Meine Haare sträuben sich … ich fühl' es. Aber ich kann nicht mehr fort. Ich steh' und steh' und schau' und schau', und sie kommt näher und näher ›Maria!‹ will ich rufen. Und hab' dabei die Empfindung, als müsse sie dann das Haupt heben und mich anblicken. Aber ich kann ihren Namen nicht aussprechen auf der Stelle dort. Ich hab' es bis heute nicht können und werde es nie. Denn dort, weißt du, dort gehöre ich ganz den Furien!«
Ich rief ihn an, um ihn – wenigstens für einen Augenblick – der Hölle seiner Erinnerungen zu entreißen Doch er schüttelte bloß den Kopf. »Oh, glaubst du, daß mich das quält –? Was man so Qual heißt? Nein, sag' ich dir! Es gibt Furien, die einen mit solchen Dingen locken wie mit Honig! Man kann gar nicht genug kriegen davon! Wenn man auch schaudernd ahnt, daß er vergiftet ist. Haha … weißt du, was ich tat, nachdem ich zwei Stunden so dagestanden und Maria immer wieder herankommen gesehen, so nah, so greifbar nah, und doch so ewig ferne? Also … ich fuhr nach Wien, meldete mich bei dem Brandtschen Masseverwalter und kaufte die Villa. Wie sie lag und stand. Noch am selben Tage. Dann fuhr ich wieder heraus, nahm einstweilen beim Wirt Quartier, und siehst du – so toll war ich schon – und ging dann eine ganze Nacht hier herum. Von der Treppe über die Terrasse – von da in den Saal mit dem goldbraunen Jagdfries. Aus dem Saal ins Speisezimmer, von dort über einen Korridor in ein Gemach, das ich plötzlich mit einem wilden Schrei als das Schlafzimmer Marias erkenne! Dort steck' ich alle Kerzen an. Dieselben, die auch ihr noch geleuchtet. Ich setz' mich an den Tisch, an dem sie gesessen. Ich blättere in einer Mappe, deren Löschpapier noch die Abdrücke ihrer Schriftzüge weist. Ich entdeckte in einem Album ein Bild aus ihrer Kinderzeit, und meine eigene Erinnerung tritt als Richter gegen mich auf und zwingt mich, zu bekennen, daß sie dasselbe reine Kind war, noch in meinen Armen. Ich öffne einen Schrank – ihr Sommerhut mit den Mohnblumen liegt im obersten Fach. Daneben ein grauer, zerknüllter Seidenschal – derselbe, den sie getragen damals, als ich sie von mir stieß. – Und plötzlich kommt zu all meinem Schmerz, zu all meiner Reue ein so unheimlich körperliches Begehren nach ihr, daß ich ihr Bett aufreiße, mein Haupt zwischen die Kissen wühle und nichts empfinde, nichts atme als – sie!
Und von dem Augenblick an bin ich so gut wie ein Verdammter. Ich bin – einer Toten verfallen. Ich kann nicht mehr zurück. Weiß, daß es Wahnsinn ist oder wird. Spür' ihn herankriechen … immer näher … immer sicherer. Aber – ich bin in der Falle! Auch das ist eine Jagd, siehst du? Und wer weiß, wie bald der drinnen noch einmal sein »Halali!« blasen wird!«
Während Overhoff dies sprach, strich ein leichter Windhauch an uns vorüber, der Terrasse zu. Und gleich darauf rührten sich, wie von unsichtbaren Händen emporgehoben, die weißen Spitzenvorhänge an den Fenstern, begannen die Flammen der Lampen und Kerzen zu zittern und mit ihnen die Schatten, die über das weiße Kleid Marias krochen. Kam sie nicht wirklich heraus, um sich zwischen uns zu setzen? Lautlos, aber allmächtig, wie sie hier aus und einging? Wenn sie nicht schon zwischen uns saß!
Und plötzlich schüttelte mich dasselbe Grauen, das früher seinen Leib durchrieselt. Glaubt' ich, des Atems eine Spur zu fühlen, der hier kam und ging, um jedesmal ein Stückchen Leben mit sich zu nehmen. Immer mehr, immer mehr. Und in fiebernder Angst rief ich plötzlich:
»Nein, Overhoff, nein, das darf nicht so weiter gehen, hörst du? Hast du mich deines Vertrauens wert gefunden, so mußt du dir nun auch raten lassen von mir. Und – und helfen?«
»Helfen?« Er lächelte bloß. Aber es war ein Lächeln, das mir selbst den Glauben nahm. Im gleichen Augenblick. Als wäre alles Menschliche hier demselben Gesetze verfallen, ohne Rettung, ein für allemal …
»Doch, doch,« stammelte ich, wieder mit demselben Grauen in der Seele. »Und weißt du wie? Nach Italien mußt du wieder! Ganz wie damals –«
Da lachte er – lachte, wie ich noch nie einen Menschen lachen gehört. Laut, grimmig, und doch so losgelöst von jedem Daseinsgefühl, daß es wie ein Triumphschrei der Selbstzerstörung klang.
»Nach Italien – so? Und du glaubst, daß ich das nicht auch schon versucht habe? Sogar – sogar ein paarmal? Hahaha! Nun, und was glaubst du, wie weit ich da allemal gekommen bin? Bis nach St. Pölten! Lustig, wie? Aber dort hat sich dann immer wieder eine gewisse Hand mit einem Rubin am Finger aus einem Coupéfenster gestreckt. Und aus war's dann! Denn nach dem Anblick gab's für mich dann immer nur eine Sehnsucht: dieses gottverdammte blaue Fenster dort!«
»Du dürftest eben nicht allein reisen. Müßtest dir eine Gesellschaft gefallen lassen. Jemanden, der noch seinen ganzen, gesunden Willen hat. Sagen wir – mich zum Beispiel. Nun? Overhoff! Bei unserer Jugend bitt' ich dich darum! Bei allem, was du warst und wieder sein könntest –«
Er blickte mich starr an. Dann glomm ein düsterer Brand in seinen Augen auf. Und endlich sprach er heiser: »Wünsch' dir das nicht. Ich wäre ein schlimmer Weggenosse –«
»Glaub' nicht, daß mich das schreckt –«
»So?« höhnte er. »Nun … möglich, daß du die Beharrlichkeit hättest, mich weiter zu bringen, immer weiter. Aber siehst du … Eines Tages würd' ich dich dann doch töten dafür. Mit diesen meinen Händen –«
Und der Ton, in dem er es sprach, der Blick, der an mir emporkroch, bevor ich mich noch seiner bemächtigt, sagte mir alles. Auch, daß er so weit war.
Einen Augenblick blieb es stille zwischen uns. Eine Stille, von der die Luft zitterte, als hätten unsichtbare Hände von einer Seele zur andern gegriffen und so auf ihre Weise deutlich gemacht, wovon die Sprache verstummte. Dann nickte Overhoff leise vor sich hin und sprach voll unendlicher Müdigkeit: » Siehst du!«
Und mir war bei Gott, als wüßt' ich nun alles.
»Und was wirst du jetzt tun?« forschte ich, als ich mich langsam erhob.
»Heut' bin ich wohl etwas müde. Da genügt eine Morphiuminjektion –«
»Damit operierst du?«
Seine Mundwinkel zuckten. Dann sah er mir fest in die Augen. »Das ist wie mit der Sehnsucht, weißt du? Wer anfängt, kann nicht mehr aufhören! Und so gibst du täglich ein Stückchen Kraft und Willen weg, bis sie deine Kraft haben und deinen Willen. Und dann tun sie eben, was solche Dämone immer tun. Sie töten dich. Durch die eigene Kraft und mit dem eigenen Willen. Gott, es ist ja auch ein Ende!«
»Darf ich dich noch einmal besuchen?« fragt' ich leise.
Er lächelte. Herb – ungastlich. »Wenn ich zu Hause bin!«
Das waren seine letzten Worte. Dann fanden sich nur mehr unsere Hände zu einem langen, langen Druck. Es war ein Abschied fürs Leben!
Als die Pforte hinter mir ins Schloß fiel, sah ich noch einmal zurück. Und plötzlich leuchteten dieselben Verse vor mir auf, die uns heut' von dem goldenen Spruchbande des »Kaseck« begrüßt hatten:
Der du eintrittst in diese Hallen –
Sei der Sehnsucht und Liebe verfallen!
So schreiben wir über fremde Türen, was heut' oder morgen unser eigenes Schicksal wird …