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VIII. Novize.

Ende September verließen die Chietti Sorrent. Die Ziani war schon früher abgereist, und erst in der Barke, die sie an Bord brachte, teilte ihr Alba mit, daß auch sie als Novize bei den Salesianerinnen eintreten werde. Sie hatte ihr Geheimnis absichtlich solange bewahrt, um in Sorrent jede weitere Aussprache über ihr Schicksal zu vermeiden. In Gegenwart des Barcaruolo und des Lakais, der Elenas Koffer auf den Dampfer trug, war es dieser nicht leicht möglich, sie um den Grund ihres Entschlusses zu fragen. So geschah, was Alba vorausgesehen: Elenas Erstaunen war so groß, daß sie im ersten Augenblick wie vor den Kopf gestoßen, dasaß. »Auch du?« staunte sie endlich, und dann, fast unwillig: »Aber das ist ja nicht möglich!« Alba fühlte sofort, woran Elena in diesem Augenblicke dachte: an ihre heimlichen Studien in der Grotte und »diese Bücher«, an die sie den naiven Glauben ihrer Kindheit verloren hatte, verloren haben mußte, wenngleich sie sich auch darüber nie so recht ausgesprochen ... Bevor aber Elena noch eine weitere Frage stellen konnte, hielt die Barke schon an dem schwanken Trepplein des Dampfers und Elena mußte da hinauf, die Barke aber sofort wieder abstoßen, um nicht in den hohen Wellengang der Fahrlinie zu geraten.

»Also auf Wiedersehen in – Rom!« rief Elena vom Deck des Schiffes herab, schüttelte jedoch so ungläubig den Kopf dabei, daß Alba beschämt zur Seite sah. Und der starre, durchdringende Blick, mit dem sie von ihr Abschied nahm, als hätte sie ihr Herz und Nieren durchforschen mögen! »Da steckt etwas dahinter, das du mir verschweigst, mir, die dir alles gesagt hat!« Es lag auch ein Vorwurf in diesem Blick und einer, den Alba recht wohl verstand. Elena selbst war ja so aufrichtig gewesen! Aber die Mutter der Ziani war tot und die Fürstin Chietti lebte noch und selbst wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, hätte Alba geschwiegen. Um das war sie stolzer als die Ziani. Mußte sie schon das Glück ihres Lebens dahingeben, um der Seligkeit ihrer Mutter willen, sollte es in eine Tiefe fallen, die ein- für allemal stumm blieb.

Daß auch die Ziani mit einem Geheimnis von ihr schied, davon freilich hatte sie nicht einmal eine Ahnung. Es war Flavios Wunsch gewesen, daß Elena seinen Angehörigen gegenüber nicht das geringste von dem merken lasse, was zwischen ihnen vorgegangen war. Als süßes, undurchdringliches Geheimnis sollte es einstweilen zwischen den Liebenden bestehen, bis Flavio sich wenigstens soviel Freiheit und Selbständigkeit errungen, um seinem Wunsch auch den Eltern gegenüber den nötigen Nachdruck zu geben.

»Auch schreiben kann ich dir nicht,« hatte er gesagt, »ich muß noch ein Jahr ins Konvikt zurück, bleib' du unterdeß ruhig im Kloster. Wie wir beide auch darüber denken, das eine weiß ich, daß du mir dort gut aufgehoben bist; sonst käm' ich vor Eifersucht um.« Und nach einer wilden Umarmung: »Ach, Elena, werd' ich denn diese Zeit überleben können? Du dort – ich da! Sieh wenigstens zu, daß Alba mir von Zeit zu Zeit etwas von dir schreibt! Aber wie viel wird sie denn erfahren von dir – wenn du da drinnen bist und sie zum erstenmal in die Welt hinaustritt?«

Jedes der Worte Flavios hatte sich Elena gemerkt, so lebendig in ihrem Herzen bewahrt, wie sie ihm Wort für Wort von den Lippen getrunken und nun sprach ihr Alba von ihrem Eintritt ins Kloster, teilte ihr etwas mit, wovon ihr eigener Bruder bis gestern noch keine Ahnung gehabt hatte! Vielleicht niemand außer ... Sie wußte nicht, woran es lag, daß sie plötzlich Lucrezias feines Antlitz vor sich zu sehen meinte. Aber der Gedanke, der sich mit dieser Vorstellung verband, kam ihr so jäh und unabweisbar, daß sie mit einem leichten Aufschrei zusammenschrak. Sie preßte wieder die Lippen aufeinander und lauschte zu den Wogen hinab, die eintönig brandend an die Schiffswand schlugen. Sangen sie auch ihr ein Schicksalslied und welches? Wenn in Erfüllung ging, wovon sie Nacht für Nacht träumte, trugen sie dieselben Wogen wieder einmal nach Sorrent zurück. Vielleicht sogar dasselbe Schiff ... in Flavios Arme! Und die Bretter, die sie nun von ihrem Glück fortrissen, brannten unter den Füßen einer ungeduldigen Braut. Dann ... Wann? Ach sie durfte nicht daran denken. Nicht jetzt! Die Lippen, die dort so heiß küssen gelernt, mußten in Rom wieder schweigen, schweigen!

So kam der Tag, da auch Alba wieder vor der wohlbekannten Klosterpforte stand, von Lucrezia selbst dahingeleitet ... »Bin ich es denn auch wirklich?« dachte sie. »Ich, Alba Chietti, die da hinein will, die da drinnen bleiben soll, ihr Leben lang?« Wenn sie aber in das verhärmte Antlitz ihrer Mutter sah, den schuldgequälten Blick der dunklen Augen auf sich ruhen fühlte, die flackernde Angst merkte, die Lucrezia an dem Ernst ihres Entschlusses zweifeln ließ, kam ein heißes Mitleid über sie. Ein Mitleid, das in seinem tiefsten Wesen nicht nur christlicher, sondern auch menschlicher war, als Lucrezias ganze Reue und Frömmigkeit. Und wie langsam eine weit über ihre Jahre hinausgehende Empfindungsfähigkeit in ihr reifte, erschloß sich auch ihr Geist einer immer tieferen Erkenntnis der Menschen und Dinge, so daß sie zuletzt selbst nicht wußte, woher ihr dieser ruhige und leidenschaftslose Blick für alles Geschehen kam: ob aus der Lektüre jener naturwissenschaftlichen Werke oder aus der Schule des eigenen Lebens? Nur der Drang, immer mehr zu wissen, immer heller zu sehen, vermochte ihre junge Seele noch in Erregung zu versetzen. Alles andere glitt an ihr ab, ließ sie kalt wie ein Spiel, das sie nichts anging. Bloß eines hätte sie noch gerne gewußt: Wer ihr Vater war? Aber hatte sie das Recht, eine Frage zu stellen, die das Leben ihrer Mutter im Innersten erschüttern konnte? Um das Opfer eines anderen Lebens wie etwas Selbstverständliches hinzunehmen, mußte man die robuste Naivität dieser Frommen haben, der Frommen, denen nichts heilig war, als ihr Gott und ihr eigenes Seelenheil. Wer die großen Zusammenhänge des Weltganzen zu ahnen begann und Ehrfurcht vor dem Leben hatte, dem baute sich langsam, aber sicher ein anderes Pflichtgefühl in der Seele auf. Der konnte nicht so aufs Geratewohl zertreten und zerreißen, weil ihm eben alles göttlich war, was immer er berühren mochte.

Noch war Alba Chietti zu jung, um die Töne dieser feinsten Empfindungsskala auch bewußt als neue Daseinsoffenbarungen zu erfassen, als sittliche Werte, die den modernen Menschen langsam, aber sicher von seinem vergöttlichten Egoismus lösen, um ihn wieder der Erde zurückzugeben und einer Liebe, die das Christentum wohl immer gelehrt hat, doch nie erfüllen konnte. Aber wie sie das alles erlebte – in dumpfem Schmerz und mitleidig stummer Hingebung, war auch sie ein Übergangsmensch, mit all seinen rätselhaften Qualen und seelischen Ekstasen. Und sah sie auf die anderen zurück, hatte sie immer das Gefühl, hoch, hoch über ihnen allen zu schweben – in reiner, erdenferner Höhe, und damit zugleich die Gewißheit, aus dieser rein intellektuellen Kraft heraus ein Opfer bringen zu können, das die Menschen nie sehen und Gott nie belohnen würde. Denn diesen Gott, den Gott, wie ihn die Menschen faßten – ihn würde sie ihr Leben lang betrügen müssen. Gedachte sie aber all dieser künftigen Möglichkeiten, schien es ihr, als könne ihr Leben auch in diesen Mauern einen unendlich reichen Inhalt bekommen, das Schlachtfeld zweier Welten werben, die jeden Augenblick in ein und demselben Menschen aufeinander prallten, um zuletzt das wirkliche Wissen von dem zu geben, was der Mensch wollte und konnte und was allen eigentlich not tat.

Lucrezia hatte vor ihrer Abreise von Neapel noch eine lange Unterredung mit Fra Clemente. Zuletzt durfte auch Alba in das Sprechzimmer treten, um dem Seelenfreund ihrer Mutter die Hand zu küssen. Aber wie erschrak sie, als sie ihn wiedersah: bleich, hager, ein Schatten seiner selbst, stand er da. Ein unheimlicher Brand flackerte in seinen Augen und das milde Seraphlächeln von einst hatte sich in ein nervöses Zucken um die Lippen verwandelt. Schon fühlte man, wie die Härte gegen sich selbst langsam, aber sicher zur Unduldsamkeit gegen andere heranwuchs. Wie lange noch – und auch diese Lippen würden lieber verdammen als segnen.

Zu tiefst erschüttert verließ Alba das Kloster.

Eine ihrer größten Sorgen war es schon in Sorrent gewesen, wie und wo sie im Kloster ihre Bücher, ihr Mikroskop und die wertvollen Präparate würde verbergen können. Die Koffer mit ihrer Ausstattung waren an die Oberin vorausgesandt worden. In diesen ließ sich also nichts unterbringen, so viel Wäsche sie auch enthielten. Im letzten Augenblick kam ihr ein glücklicher Gedanke. Da sie noch nicht dem Konvent angehörte, hatte sie das freie Verfügungsrecht über alles, was ihr an Eßwaren und Obst von zu Hause zuging. In einen solchen Korb, von der treuen Erminia gepackt und selbst ins Kloster getragen, ließen sich auch ihre geistigen Schätze hineinschmuggeln. Es war ihre letzte Bitte an Erminia und die Amme versprach ihr mit einem fanatischen Schwur: »Alles zu tun, um denen dort eine Nase zu drehen.« War doch niemand so unglücklich über Albas Entschluß, ins Kloster zu gehen, als Erminia. Dabei schien sich auch die gute Seele plötzlich ihre eigenen Gedanken zu machen. Ihre Haltung gegen Lucrezia wurde geradezu unfreundlich und mit wachsendem Erstaunen gewahrte Alba, wie viel sich ihre Mutter von Erminia gefallen ließ. Sollte auch in Erminia plötzlich ein Verdacht aufgestiegen sein und einer, den die Fürstin Chietti noch mehr fürchtete, als Albas Fragen? Wie Gewitterschwüle lastete es auf dem stolzen Hause, als Alba, vielleicht zum letztenmal in ihrem Leben, durch das hallende Portal fuhr.

Als sie im Sprechzimmer des Klosters auf Mater Renée warteten, sprach ihre Mutter so hastig und von solch gleichgiltigen Dingen, als ging es der nächstbesten Unterhaltung entgegen. Und wieder dachte Alba: »Sie fürchtet sich, bis zuletzt fürchtet sie sich, daß ich nein sage oder – um meinen Vater frage!« Aber war es möglich, daß man das eigene Kind so geschwätzig zu seiner – Leichenfeier führte? So sehr Alba ihre Mutter auch liebte, fühlte sie doch, wie sich zum erstenmal etwas wie Haß in ihrer Seele regte. War es ihre Schuld, daß sie da war? Konnte man so ruhig zu einem ewigen Tod verfluchen, was man von einer Liebe empfangen, die einmal stärker war, als die Angst vor dem ewigen Tode? Erst die lebenjauchzende Sünde – dann die Reue und zuletzt wieder der fröhliche Handel um die ewige Seligkeit ... Alba konnte nicht umhin, zu denken, daß diese Frommen doch eigentlich die größten Lebenskünstler seien. Sie besaßen Himmel und Erde zugleich.

Da erschien die Gestalt der Oberin hinter dem Sprechgitter, und wieder erschrak Alba. War das noch Mater Renée? Kaum vier Monate waren vergangen, seit Alba sie zum letztenmal gesehen ... und nun stand sie da, als wäre sie eben von einer schweren Krankheit genesen. Keine Spur von Farbe mehr in dem einst rosigen Antlitz, hager und vorgebeugt, die Lider verquollen und getötet, und dieses Hüsteln nach jedem zweiten, dritten Wort. Auch Lucrezia bemerkte es und fragte sofort nach ihrem Befinden.

»Das ist noch von dem heißen Sommer her,« kam es zögernd zurück. »Man konnte ja kaum ein Auge schließen, so schrecklich waren diese Nächte.« Sie begann mit einer Hast und Teilnahme von Albas Eintritt zu reden, die viel zu nervös war, um echt zu sein. Endlich kam der Augenblick, da Mutter und Tochter sich Lebewohl sagen sollten – für ein ganzes langes Jahr. Zum erstenmal in ihrem Leben.

Sie standen sich allein gegenüber. Mater Renée war hinausgegangen, damit nur Gott Zeuge dieser schweren Stunde sei, die für immer auseinanderriß, was er für einander geschaffen ... Eine ganze Weile blieb es still zwischen den beiden, so still, daß man den feinen Metallton des Pendelschwunges hörte und das leise Klirren der Palmenwedel, durch die der Herbstwind ging. In Lucrezias Wangen stieg langsam ein tiefes Rot empor. Was sollte sie noch sagen? Für sie war dieses Opfer schon lange gebracht. Da stand aber ihr Kind und sah sie an.

»O, meine Alba,« hauchte sie, »wie soll ich dir danken? Seit der ersten Stunde deines Lebens hab' ich dich so vor mir gesehen ... als reine, gottgeweihte Jungfrau! Und nun ist es Wirklichkeit.«

Wie ein Messer fuhr es durch Albas Seele. War das alles, was ihre Mutter ihr zu sagen hatte? Jetzt! Diese naive Genugtuung, sie dort zu haben, wo man ein Opfer haben muß, bevor es den letzten Stoß empfängt? Und plötzlich quoll eine unsägliche Bitterkeit in ihr empor. »Sag' das nicht!« Sie schluchzte dabei, doch der Blick, der durch ihre Tränen funkelte, war kein Blick der Liebe mehr.

»Aber Alba ... mißversteh' mich nicht.«

»Dann tu' mir nicht weh!«

»Mit diesen Worten hätt' ich dir weh' getan?«

»Doch; weil es mir entsetzlich wäre, zu denken, daß du mich vom ersten Atemzug meines Lebens an immer nur unter einem – Bahrtuch gesehen!«

»Aber Kind ... wenn es – wenn es der Weg zur Seligkeit ist ...«

Alba hielt sich die Ohren zu. »Ich sag' dir, daß ich es nicht hören will!«

»Mein Gott –« stotterte Lucrezia und mit der Hilflosigkeit eines Kindes setzte sie hinzu: »Was hätt' ich denn sagen sollen?«

»Daß du mich so geliebt hast, wie Anita und Flavio ... daß es dich oft froh gemacht hat, wenn ich zu deinen Füßen gespielt hab' oder meine Ärmchen um deinen Hals geschlungen ... daß ich einmal, nur einmal in deinem Leben deinem Herzen näher war, als deinem Gott!«

»Muß ich dir das erst sagen?« murmelte Lucrezia mit einem scheuen Blick.

Da zog Alba ihre Hand an die Lippen. »Leb' wohl, Mama!«

»Leb' wohl!«

Einen Augenblick schien es, als wolle Lucrezia in Tränen ausbrechen, aber es war nur ein Zucken, das ihre Gesichtsmuskeln zu einer Fratze der Qual und Angst verzerrte, dann schwankte sie mühsam hinaus.

Als die Präfektin nach einer Weile eintrat, fand sie Alba in Tränen aufgelöst.

»Es ist Ihnen wohl recht schwer geworden?« fragte sie mit einer Stimme, die teilnahmsvoll klingen sollte.

Alba gab ihr keine Antwort. Da trat ein boshaftes Glinsern in ihre kalten Fischaugen und im Ton salbungsvoller Strenge fuhr sie fort: »Hoffen wir von der Gnade Gottes und der seligsten Jungfrau, daß Sie alles Irdische künftig lächelnd aufopfern werden.«

Das Noviziat hatte begonnen.

Anfangs unterschied es sich nur wenig von dem früheren Dasein im Kloster. Bloß das weiße Krägelchen verschwand von Albas Bluse und auf ihre dunklen Flechten wurde ein weißes Häubchen gesetzt. Ihr Bett kam aus dem Schlafsaal der Zöglinge in das Zimmer der Novizen, und während der Messe kniete sie mit den anderen Schwestern hinter der Klausur. Nur die der Andacht und Gewissenserforschung gewidmeten Stunden hatten sich um die Hälfte vermehrt, und jede Woche einmal sollte sie die Sakramente empfangen. Da Alba sehr musikalisch war, wünschte Mater Renée ihre Ausbildung nach dieser Seite hin zu vervollständigen, damit sie heute oder morgen in einem der zahlreichen Institute des Klosters den Unterricht im Klavierspiel leiten könne. Denn jede Schwester hatte für irgend ein Fach die Prüfung abzulegen. Albas Herzenswunsch wär' es gewesen, sich den naturwissenschaftlichen Disziplinen zuzuwenden. Doch hütete sie sich wohl, dies als einen Wunsch merken zu lassen. Sie hatte zu lang im Kloster gelebt, um nicht zu wissen, daß alles, was einer »Begierde« ähnlich sah, hier unbarmherzig niedergetreten wurde, und daß man die Ausschweifungen des Geistes fast noch schärfer beargwöhnte als jene der Sinne. So vertröstete sich Alba mit der Hoffnung, vielleicht in Annecy, wo sie das zweite Halbjahr ihres Noviziats zubringen sollte, der Erfüllung ihres Wunsches näher zu kommen. Dort, wo es keine Erinnerung an die »Natürliche Schöpfungsgeschichte« gab und noch keine »Brückenechse« den Schlummer der Präfektin gestört hatte.

Eines lag schwer auf ihrer Seele: daß sie hier eingetreten war, ohne sich erst mit Onkel Bartolo auszusprechen. »Bis im Herbst ... bis im Herbst!« hatte sie im Frühling gedacht. Als er aber auf der Durchreise nach seinen sizilianischen Gütern ihre Eltern in Sorrent besuchte, hatte sie erst recht geschwiegen. Es war wenige Tage vor der Abreise Elenas gewesen, also zu einer Zeit, da sich ihr der erste vage Verdacht der Schuld ihrer Mutter bereits zur Gewißheit umgewandelt. Nun war Onkel Bartolo ein unbarmherziger Frager, der allem auf den Grund zu kommen suchte, schon den geringfügigsten Geschehnissen mit der Pedanterie des Unbeschäftigten nachforschte. Seine Dienerschaft wußte Wunder von der Genauigkeit des Padrone zu erzählen, der alles Mögliche übersah und durchgehen ließ, nur über das eigentliche »Warum« nie und von niemandem zu täuschen war.

»Soll ich mich übertölpeln lassen?« pflegte er zu sagen. Es war der Ehrgeiz des »Intellektuellen«, der durchaus immer der Gescheitere sein will. »Ich weiß, daß du monatlich so und so viel stiehlst,« sagte er eines Tages seinem Koch. »Da ich aber weiß, daß du es für die Weiber brauchst und nicht für deine Tasche, mag es hingehen.« Der Koch war sprachlos. Denn wie war der Padrone dahintergekommen? Aber das war eben Bartolos Sache!

So wußte auch Alba, daß er nicht zu fragen aufgehört hätte, bis es zum Geständnis oder zur Lüge gekommen wäre. Zur frommen Lüge von ihrer Berufung zu diesem heiligen Stand, und das hätte Onkel Bartolo ihr glauben sollen? Er, der ihr die Werke und Präparate des berühmten Naturforschers und sein geliebtes Mikroskop zugeschmuggelt, der ihr im ersten Augenblick des Alleinseins mit strahlenden Mienen einen Brief »Signore Millers« zeigte, in dem mit solcher Bewunderung von »ihrer Art zu fragen und zu antworten« die Rede war ...? Er hätte ihr ja ins Gesicht gelacht, der gute Onkel Bartolo! Sie begnügte sich also damit, ihn in ihre Grotte zu führen und dort mit ihm von dem zu reden, was ihrer Seele wirklich nahe ging. Nun hatte er mit dem Herzog von Aosta eine Nordlandsreise angetreten, von der er weiß wann zurückkam; in einem Jahr oder später. Bis dahin aber trug Alba Chietti schon den Schleier. »Für eine Heuchlerin wird er mich halten!« dachte sie bewegt, »oder für eine Närrin, die selbst nicht weiß, was sie denken und glauben soll.« ... Auf keinen Fall aber würde er diesmal dahinterkommen, der kluge Onkel Bartolo; zum erstenmale nicht!

Geradezu erschüttert hatte sie der Abschied von Prospero. Mit welcher Liebe der Gute an ihr hing, bloß weil er glaubte ... O ja, es war etwas Fürchterliches um den Ehebruch der Frau. Er brachte die Lüge selbst ins Haus, mit dem ganzen Gefolge von Betrug, Heuchelei und Komödie. Man mußte nicht einmal so fromm sein wie Lucrezia, um zuletzt in tiefster Seele davor zu erschrecken ... Wie Prospero sie geküßt und an sich gedrückt hatte! Immer wieder ... Der fremde Mann! Da standen ihr ja Flavio und Anita noch näher. Nun wußte sie sich auch den seltsamen Blick zu deuten, mit dem ihre Mutter immer zur Seite geschaut, so oft ihr Mann die heranwachsende Tochter geküßt. O all des Ekels, der über ihre junge Seele hinflutete, ohne daß sie dafür konnte. Ihre Mutter freilich ... der mußte jetzt sein, als wäre ein großes Stück Unrat aus dem Hause draußen; ein für allemal, und was die Seele Lucrezias besonders geängstigt haben mußte: wenn Alba nicht ins Kloster trat, erbte sie eines Tages mit – zu gleichen Teilen. Sie, das Kind eines anderen! Und die Fürstin Chietti war dann auch eine Art Erbschleicherin. Wahrhaftig, gelitten mußte sie haben ...

Wenn Albas Gedanken bei diesen Vorstellungen hielten, tauchte unabweisbar immer dieselbe Frage in ihrer Seele auf: Wer war mein Vater? Wie sah der Unselige aus, der mich ins Leben hineinwarf und meine Mutter so unglücklich machte? In allen Albums hatte sie daheim nachgeblättert; alle Nippes im Boudoir Lucrezias hin und her gewendet und dabei scheinbar harmlose Fragen über das »Woher« gestellt. Fragen, die Lucrezia auffallen mußten, so gewiß als sie ihr wehtaten. Aber – es waren lauter Geschenke Prosperos oder Andenken an gemeinsame Reisen. In den Albums die Photographien von Leuten, die alle noch lebten und im Hause Chietti verkehrten, harmlos und mit der Ruhe eines guten Gewissens. Wohin sie auch griff – sie fingerte immer im Dunkeln herum.

Mit dieser Last auf der Seele, dieser Bitterkeit im Herzen, begann Alba ihre Umgebung zu studieren.

Das Leben im Kloster ging seinen alltäglichen Gang und war vom Morgen bis zum Abend so genau eingeteilt, daß es wie ein Mechanismus ablief ... Stunde für Stunde, Tag für Tag. Man mußte lange Zeit da drinnen sein, um einen Blick für die Nuancen in diesem steten Grau zu bekommen und es bedurfte schon der Scharfsichtigkeit eines Feindes, um zu entdecken, daß es doch nicht lauter Heilige waren, die hier vom ersten Vaterunser bis zum letzten Amen ihr Tagewerk verrichteten. Die durch eine Jahrzehnte lange Askese auf ihr geringstes Maß herabgedrückten Leidenschaften hatten etwas von dem geräuschlosen Flug der Nachtvögel angenommen und blieben im Dunkel der Seele, die sie geboren. Nur wer es verstand, den Blicken nachzugehen, die sich zur Seite stahlen, das Vibrieren des Hasses oder Ärgers noch aus der sanftesten Stimme herauszuhören und selbst die salbungsvollsten Worte auf ihren – Doppelsinn zu prüfen, nur dem enthüllte sich nach und nach das ganze Pandämonium dieser gequälten und zertretenen Menschlichkeiten. Zuletzt aber wußte man nie, was hier Verstellung, Heiligkeit oder – Hysterie war. Denn alle drei verrichteten wahre Wunder. Selbst der Typus, der alle drei gleich naiv in sich vereinigte, war schon vorhanden. Im Leben rasten die Stürme über die Menschen hinweg wie auf dem Meere. Hier wüteten sie in Tiefen, aus denen kein Laut mehr kam. Einige der »Schwestern« gingen in den ersten Jahren oft mit rotgeweinten Augen an ihr Tagewerk, aber weinen hatte sie niemand gehört. Es war wie ein großes unheimliches Schweigen, das Tag für Tag aufs neue seinen Rachen auftat und alles hinabschlang, was hier wie Leben aussah: die Jugend und die Qualen und den Haß und die Angst; nur den Tod ließ es übrig. Starb eine der Schwestern, kam eine seltsame Geschäftigkeit, eine fast freudige Gehobenheit über alle zugleich und machte alle zugleich beredt, als hätte das ganze Leben keinen anderen Sinn als den Tod. Von der Krankheit und den Qualen der armen Dahingegangenen bekam man selten etwas zu hören.

Mater Dominika war seit jener letzten »Vision« fast nicht mehr zum Vorschein gekommen. Eine der »Schwestern« hatte ihr verraten, was sie damals gesagt und getan und die arme Hysterikerin dämmerte nun in ihrer Zelle dahin, tief beschämt und gewiß, daß sie hinfort der Macht des Bösen verfallen wäre. Auch der Nerventee Maestro Tapponis brachte sie zu keiner anderen Meinung über sich selbst. Bei Tag rang sie mit dem Bösen und nachts irrte sie wie ein Gespenst zwischen ihrer Zelle und der Kapelle hin und her. Zuletzt mußte eine der »Winden« Tag und Nacht in ihrer Nähe bleiben. Doktor Tapponi hatte ja so lange als möglich den frommen Glauben der Nonnen geschont. Weil ihm aber selbst allgemach bange wurde, gab er endlich zu verstehen, daß der Augenblick kommen könne, in dem der Ärmsten ein Strick näher läge als der Rosenkranz. Seither wurde sie bewacht.

Ein goldiger Spätherbst lag über Rom, und da die Zöglinge erst nach und nach eintrafen, konnten die Nonnen, die sonst den Unterricht leiteten, sich manche Stunde im Parke des Klosters ergehen, betend oder fromme Angelegenheiten besprechend, nie aber allein oder unbeschäftigt. Auch den Novizen war es gestattet, sich den Schwestern zu gesellen, und besonders Alba war schon mehr als einmal von Mater Renée ins Gespräch gezogen worden, wobei Alba immer die Empfindung hatte, als wolle die Oberin eine Frage an sie stellen, die ihr nur schwer von den Lippen ging.

»Sie weiß, daß wir in Neapel waren, und will wissen, wie es Fra Clemente geht,« dachte Alba; »die Arme!« Aber ihr Widerwille gegen die kranke Welt, die sie umgab, begann schon langsam die schöne Menschlichkeit ihres Empfindens zu versehren, und ihre rein intellektuelle Neugierde war stärker als ihr Mitleid. »Wie wird sie es anstellen, das aus mir herauszubekommen?« dachte sie immer wieder. Wenn Mater Renée von ihrem Sommeraufenthalt zu sprechen begann, erzählte Alba ihr alles und von allem. Nur von Fra Clemente sprach sie kein Wort. Dann geschah immer dasselbe: eine kleine Pause trat ein, während der Blick Mater Renées hilflos in ihrem Antlitz suchte, an ihren Lippen hing, als könne er mit seiner bloßen Sehnsucht den Namen des Geliebten auf Albas Lippen zaubern. Aber Alba lächelte und blieb stumm. Worauf Mater Renée sich immer mit gut gespielter Geschäftigkeit erhob und leise aufseufzend ihr gewohntes »wollen wir also alles dem lieben Gott überlassen!« sagte.

Oft machte sich Alba noch nachts Vorwürfe über ihre Herzlosigkeit. Warum nannte sie nicht wenigstens einmal seinen Namen, um der anderen die Lippen zu entsiegeln? Aber schon fühlte sie, wie man auch mit ihrer Seele zu spielen begann: sie da und dort »prüfte«. Das gab ihr zuletzt eine grausame Überlegenheit. Die wollten mit ihr spielen? Mit Alba Chietti, die trotz ihrer Jugend schon besser schweigen konnte als alle miteinander. Sie mußte lächeln.

Als sie eines Tages wieder so beisammen saßen und die Präfektin sich eben für einen Augenblick entfernt hatte, so daß Alba und Mater Renée allein zurückblieben, fragte die Oberin plötzlich und ohne jede Einleitung: »Hat Ihre Frau Mutter auch in Neapel durch Fra Clemente die heiligen Sakramente empfangen?« Alba lehnte sich zurück und sah sie an. Aber in dem blassen Antlitz änderte sich keine Miene. Die Augen waren mit dem Ausdrucke starrer Gleichgiltigkeit irgend wohin gerichtet. Sie mußte mit sich gekämpft haben, ehe sie sich zu dieser Frage entschloß. Aber wie diese Frage nun gestellt wurde, schien ihr jeder persönliche Anteil zu fehlen.

»Das ist Kunst!« dachte Alba bewundernd. »Eine Kunst, wie sie nur im Schatten der Askese gedeiht!« Kam es diesen Heiligen denn nie zum Bewußtsein, welche Komödie sie mit sich selbst spielten? Sie, für die alles andere auf der Welt bloß Schein und Komödie war.

»Spielst du mit mir, spiel ich mit dir!« dachte Alba wieder. Sie senkte den Blick auf die Arbeit in ihrem Schoß und erwiderte so gleichgiltig als möglich: »Ja.« Ob sie nun weiter fragen wird? dachte sie. Aber Mater Renée blieb stumm. Bloß ihr Atem ging tiefer, schwerer, und als Alba verstohlen emporsah, gewahrte sie einen Ausdruck solch tiefen Kummers im Antlitz der Oberin, daß ihre Härte plötzlich in einem einzigen Mitleid hinschmolz. Wie sie leiden mußte, die Arme! Und da sollte sie weiter schweigen? Es war ja nicht viel, was sie zu sagen hatte und wahrlich nichts Erfreuliches. Aber durch das bloße Nennen eines Namens konnte sie hier die Gegenwart eines Menschen heraufbeschwören, der für die Seele einer Unglücklichen alles war. Wirklich alles? Doch! Eine Heilige hätte nicht so gelitten. In Schmerz und Reue kaufte die einstige Fürstin zurück, was sie einmal wie erlöst von sich geworfen: ihr Menschentum.

Noch war es still. Die Sonne flutete über die Beete und ließ den späten Blumenflor des Herbstes in seiner ganzen Buntheit aufleuchten. Von der Mauer, an der sie saßen, hingen saftgeschwellte, riesige Trauben nieder, deren Beeren den goldfarbigen Ton des Bernsteins hatten. Im dunklen Wipfelrahmen der uralten Steineiche lag das tiefe Blau des Himmels wie ein riesiger Edelstein. Hinter den Hecken scholl das übermütige Lachen Rita Dallagos herüber ... Alles Ruhe, Friede, Sattheit. Und hier dieses arme, hungernde Menschenherz!

»Fra Clemente sieht nicht gut aus!« sprach Alba noch immer so gleichgiltig wie früher, aber um vieles lauter.

»Ah –?« Die blasse Nonne schrak fast zusammen. Ganz wie damals in ihrer Zelle, als Alba diesen Namen genannt, und wie damals zitterte eine versteckte Freude in diesem Ruf ... »Ist er – ist er denn leidend?« fragte Mater Renée mit einem leichten Hüsteln. Es sollte besorgt klingen und sicher war sie auch besorgt. Aber noch größer war ihre Freude, zu hören, daß er litt ... wie sie.

»Er soll so viel studieren!« antwortete Alba emporblickend. Die Oberin machte einen Versuch, diesem Blick standzuhalten, sah aber sofort wieder zur Seite, und während sie ihren Schleier nervös nach vorne zog, meinte sie gedehnt: »Ja, allerdings, es kann auch vom vielen Studieren sein.«

Vielleicht hätte Alba diese Antwort wirklich harmlos gefunden, wenn Mater Renée nicht im selben Augenblick errötet wäre: ein jäher, heißer Brand. Wenn es wirklich nur das Studium wäre und nicht diese herz- und seelenverzehrende Sehnsucht, wie bei ihr? Das mochte sie gedacht haben, und ihr Erröten bezeugte dem jungen Mädchen ihre Angst, sich in der Antwort schon halb und halb verraten zu haben. »Ja, allerdings ... es kann auch vom Studieren sein!«

»Wie tief man hier in die Seelen blicken lernt!« dachte Alba erschüttert. »Und wie die Gewohnheit, sich selbst zu belauern, sie doppelt wehrlos machte im langsamen Fall, daß sie dann mit gebrochenen Flügeln dalagen wie gestürzte Engel und die brutale Macht des Lebens noch einmal so frohlockend über sie hinwegschritt.« Dort Mater Dominika, die mit dem Blick einer Wahnsinnigen umherschlich; hier Mater Renée, die erst als reifes Weib zur Wirklichkeit erwachte. Totwunde Opfer des Lebens beide ... des Lebens, das sie einmal verachten zu dürfen glaubten. Wie würde es einmal dieser Alba Chietti ergehen, die noch so stolz und stark da saß in dem Wahn, dies alles ein Leben lang mit ansehen und mit erdulden zu können? Wo waren sie all die »reinen und unbewegten Wasser«, denen die Seelen der Frommen gleichen sollten? Wenn Alba Mater Benedicta ausnahm, blieb nicht eine zurück, der man die fromme Lüge ihres Seelenfriedens glauben mochte. Möglich, daß Gemma Contarini einmal eine zweite Benedicta wurde. Sie, deren Familie schon eine Heilige aus sich geboren. Aber all diese anderen stummen, blassen, an Geist und Körper verkrüppelten Zwitter eines widernatürlichen Lebens?

Hohe Mauern hatten sie gebaut, damit dieses Leben nicht hereinfände. Gitter zwischen sich und die anderen gelegt und die meertiefe Verachtung der Welt »da draußen«. Wie sehnsüchtige Bräute schrien sie in der Inbrunst ihrer Gebete und Lieder zu Christus empor. Hatte aber Alba nicht schon die Frömmsten erröten gesehen, wenn hinter den Mauern eine tiefe Mannesstimme laut wurde? Was sie nicht zu fühlen wagten, brannten ihnen die eigenen Gedanken ins Gesicht. So stark war das Leben, so mächtig noch sein Phantom!

»Und ich?« dachte Alba.

Noch waren die Beklemmungen des Blutes ihr fremd, ihre Jugend dem Kinde noch näher als dem reifenden Weibe. Und dachte sie an das, was die Menschen Leidenschaft nennen, empfand sie Grauen und Ekel zugleich. Denn für sie war es einstweilen nur die Sünde ihrer Mutter. Gedachte sie aber der Halluzinationen Mater Dominikas – sah sie Mater Renée so verloren in den Gängen herumschleichen und immer stiller und blässer werden, bald nur ein Schatten ihrer selbst – kam doch etwas wie Scheu und Angst über sie. Wenn jedes Weib einmal in seinem Leben so erlag, entweder der Liebe oder der Sehnsucht ... wußte sie, wo und wann auch ihr Schicksal einmal über sie hereinbrechen würde?

»Ich werde studieren!« dachte sie mit dem amazonenhaften Trotz der Intellektuellen. »Immer mehr, immer mehr, und dabei klug sein – o wie klug! Bis sie mich eines Tages zur Oberin wählen. Dann will ich meinen Spaß haben mit ihnen allen, die Unglücklichen aber sollen wieder lachen lernen.«

Da geschah eines Tages etwas Unerwartetes. Die Ercolani trat in den Konvent der Salesianerinnen! Nicht um den Schleier zu nehmen, bloß als Laienschwester, aber doch, um hinfort ein nur mehr Gott zugewandtes Leben zu führen. Ein Brief Fra Clementes hatte sie der Oberin empfohlen. Was in dem Brief stand, erfuhr natürlich keine der Schwestern. Doch aber fiel es allen auf, daß Mater Renée an jenem Tage wie verstört herumging und am nächsten Morgen mit tiefumschatteten Augen erschien, blaß und hohlwangig, als läge eine schlaflose Nacht hinter ihr und so war es auch.

Als die »Winde«, die den Dienst bei der Pforte versah. und auch die Post übernahm, an jenem Tage die Briefe brachte, hatte Mater Renée Mühe, ihre Bewegung zu verbergen. Denn zu oberst lag der Brief mit den so lange bekannten, so bitter entbehrten – so heimlich geliebten Schriftzügen! Ihre Hand bebte, als sie das Papiermesser ergriff, und während ihr Auge wie geistesabwesend das fettgedruckte ›Napoli‹ des Poststempels anstarrte, schlug eine dunkle Röte in ihr Antlitz und kroch bis unter den Schleier, der die Reste des einst so herrlichen Haarschmuckes verbarg, dessen Lockenfülle zur Ehre Gottes gefallen.

»Welch ein Glück, daß ich gerade allein bin!« dachte Mater Renée, die das Hämmern der eigenen Pulse fast nicht zu einem klaren Gedanken kommen ließ ... »Und wie rot ich sein muß.« ... Sie hatte keinen Spiegel, aber das Fieber, das sie nun schüttelte, erzeugte eine Glut, die sich von selbst verriet. Das Papier raschelte unter dem hastigen Schnitt des Messers.

Lange, fast eine Stunde lang, starrten die dunklen Nonnenaugen in den Brief und ihre Hände wandten ihn immer wieder – ihr Blick ging immer langsamer von Zeile zu Zeile ... bis die Glut ihrer Wangen langsam einer fahlen Blässe wich und zuletzt zwei heiße Tränen auf das grobe Papier fielen.

Bei Tische verständigte sie die Konventualinnen von dem Wunsch der Ercolani, als Laienschwester einzutreten. Ruhig, fast geschäftsmäßig wurde alles besprochen; bis auf die Mitgabe, die der Konvent von der neuen Schwester zu erwarten hätte. Daß der Konvent sie aufnahm, war in diesem Falle selbstverständlich. Hatte doch Fra Clemente sie empfohlen, der noch heute verehrte, noch heute unvergessene Fra Clemente!

Auch sonst gab die Tag für Tag sich gleich abwickelnde Hausordnung ihr Gelegenheit, Haltung und Geistesgegenwart zu bewahren. Bloß ihre tiefe Blässe fiel auf und der verstörte Blick, mit dem sie zuweilen vor sich hin sah, wenn sie diesen oder jenen Befehl erteilte.

Als sie aber nach der Abendandacht in ihre Zelle treten durfte ... endlich allein! Mit einem erstickten Schrei brach sie vor ihrem Lager ins Knie. Diesem Lager, von dem sie einst gewähnt, daß ein lilienstreuender Schutzengel es behüte ... und das nun ihren geistigen Fall kannte und all die todtraurigen und doch so süßen Träume, die immer wieder die Gestalt des fernen Geliebten beschworen. Hatte sie nicht zu ihm gesprochen in all diesen Träumen? In all diesen schlaflosen Nächten nicht immer wieder dieselbe süße Frage an ihn gestellt? Aus der ganzen Innigkeit einer keuschbewahrten Seele, in der plötzlich das Weib erwacht war, und was antwortete er ihr?

Die Finger, die das knisternde Papier aus der Tasche des schwarzen Habits hervorwühlten, waren eiskalt. Ihre Knie schlugen wie in einem Schüttelfrost gegen die harten Fliesen, ihre Tränen flossen, noch eh' sie den Brief entfaltet hatte. Fast jedes Wort kannte sie schon, und doch mußte sie jedes wieder in sich trinken, bis es ihr wie Eis auch durch die Seele rann.

»Ehrwürdige Frau Oberin!

Gestatten Sie mir, Ihrer christlichen Liebe mit diesen Zeilen eine Seele ans Herz zu legen, die in den nächsten Tagen an den Frieden Ihrer Pforte pochen wird. Es ist die Prinzessin Ercolani, eine Unglückliche, die den Rest ihres Lebens in Ihrem Kloster beschließen möchte.

Ohne der Weisheit Eurer Ehrwürden und dem Entschlusse des ehrwürdigen Konvents der Salesianerinnen vorgreifen zu wollen, wag' ich es, Ihnen diese nach dem Frieden des Herrn hungernde Seele zu empfehlen – in der Liebe und Gnade des guten Hirten, die unerschöpflich ist von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Damit bleib' ich Euer Ehrwürden und dem ehrwürdigen Konvent der Salesianerinnen in tiefer Demut ergebener

Fra Clemente.«

Sonst nichts. Kein Wort, das nach ihrem Wohl und Wehe fragte, nicht eine Zeile, die fühlbar den Hauch einer wärmeren Empfindung atmete – einer auch noch so verhaltenen Teilnahme für das Schicksal der Verlassenen. Der Nächstbeste, den sie vielleicht einmal irgendwo gesehen, hätte denselben Brief an sie richten können. Der Nächstbeste ...

Er hatte also überwunden – ganz und voll überwunden. Wie es schien, nach einem Kampf, in dem es auch nicht einen Fall gab, nicht eine Sekunde des Selbstvergessens, nicht eine Träne, die dem verlorenen Glück fiel, nach dem sie sich die Hände wund rang. Jeden Augenblick hätte er wieder das Kreuz über sie schlagen können, ohne vor sich oder seinem Gott erröten zu müssen. Wenn sie ihm aber gestanden hätte, was bis dahin ihr Innerstes durchwühlt?

»Was redest du so hart zu meiner Seele?« schrie sie auf, so deutlich meinte sie seine Worte zu hören, die Worte des Mannes, der heilig geblieben war. Wieder stierte sie tränenmüd und stumpf vor sich hin, mit dem Lächeln einer Selbstverachtung, die sich wie von einem Fußtritt hinweggescheucht fühlte. Ach, und es war der Fuß des Geliebten, der ihr so weh tat!

Plötzlich fuhr sie auf. Das Fenster ihrer Zelle stand noch offen und mit schamvollem Schreck gedachte sie der Möglichkeit, von irgend jemandem belauscht und beobachtet worden zu sein.

Mit einem Hauch, der ihr heiß ins eigene Antlitz zurückwehte, verlöschte sie die ärmliche Talgkerze, die ihrer Zelle das nötige Licht gab und stahl sich leise ans Fenster, horchte hinaus, suchte mit ihren Augen die Dunkelheit zu durchbohren. Aber alles blieb still.

So ruhig war die Nacht, daß sie das Plätschern der Fontäne hörte, die im Steineichenrondeau ihre Perlen spielen ließ und den geräuschlosen Flug, mit dem ein Nachtvogel draußen durch die Wipfel strich. Die Luft aber, die ihr das Antlitz kühlte, war eiskalt und die schweren Schattenmassen der Cäsarenpaläste drohten über die Klostermauern zu ihr herüber und begannen ihr von den Sternen und Schauern eines Lebens zu erzählen, das sie zum erstenmal zu ahnen begann.

»Jetzt frei sein!« dachte sie wie in einem Paroxismus, »und hier hinaus können, nach Neapel fahren und mich ihm zu Füßen werfen ... Sieh, dies alles hab' ich für dich gelitten. So tief bin ich gefallen um deinetwillen, nun stoße mich hinweg, wenn du kannst!«

Aber ... war das wirklich die Nonne, die so sprechen konnte? Und wenn sie auch nicht mehr würdig war, den Schleier zu tragen – war das noch die Prinzessin von ..., in deren Adern auch das königliche Blut der Bourbonen floß? Und das lag da und bettelte und ließ sich in Gedanken immer wieder hinwegtreten? Von wem? Von einem volskischen Bauernsohn!

Ihre Zähne schlugen aneinander, die Hände fuhren an die Schläfen und nestelten den Schleier los; rissen die Stirnbinde herab, dieses Zeichen jungfräulicher Reinheit und priesterlicher Hoheit, das eine Unwürdige trug. Aber wenn sie auch alles von sich warf – alles, alles ... das Blut, das in ihren Adern pochte, sang immer wieder seinen süßen Namen. Als laste der Bann eines schwülen Traumes auf ihr, der nicht weichen wollte. Traum und Lüge war, was sie all die Jahre gelebt, bis zu dem Tage, da er von ihr schied. Nun hatte sie das Leben gepackt, starrte ihr die Wahrheit mit brennenden Augen ins Antlitz, schüttelte sie die Natur wie eine Bestie, die ihrem Käfig entronnen. Da, da mußte sie die schrecklichen Wunden der Pranken tragen, die ihr täglich das Herz aufrissen, da, wo die kühle Lourdes-Medaille lag ... Und dieses Ungeheuer trug den süßen Namen – Sehnsucht.

Der Morgen dämmerte schon, als Mater Renee, aus einem wirren Halbschlummer erwachend, sich wieder auf sich selbst besann. »Man hat mich begraben!« dachte sie, noch halb zwischen Schlaf und Wachen. So steif und kalt waren ihre Glieder. Dann kam sie zu sich und gewahrte, daß sie bei offenem Fenster geschlafen hatte ... die ganze Nacht.

»Andere bekommen das Fieber, wenn sie das tun, und sterben daran, aber ich, ich werde sicher weiter leben müssen.«

Alba war nicht wenig erstaunt, sich eines Tages der Ercolani gegenüber zu sehen, der Ercolani, von der sie mehr wußte, als alle hier ahnten. Was suchte die in einem Kloster? Sie, die ein unwürdiger Priester um ihren Glauben betrogen?

»Das ist das Werk Fra Clementes!« fuhr es ihr durch den Sinn und mit einer Art scheuer Bewunderung gedachte sie der Macht, die von diesem stillen, blassen Mönch ausging. Gewiß war auch er der einzige, der um die Sünde ihrer Mutter wußte. Ob er es auch war, der sie, Alba – hinter diese Mauern verbannte? Dafür hatte er zu wenig Genugtuung gezeigt, als Lucrezia ihm von Albas Entschluß sprach. Aber bedurfte es denn hiezu eines bestimmten Entschlusses? Das Christentum ihrer Mutter war auch das Christentum dieses Mönches, und fühllos, wie er über die eigenen Leidenschaften hinweggeschritten war, hatte er sicher auch die Seele ihrer – Mutter zertreten. Bis sie so schwach und verängstigt und willenlos war, daß sie auch das letzte von sich stieß, in dem sie ihre Sünde noch lieben mußte ... jenes Mannes Kind.

»Ob er meinen Vater kennt?« fragte sich Alba wieder und je länger sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher schien es ihr. Aber natürlich würde er noch hartnäckiger schweigen als ihre Mutter, er, dem das Siegel der Beichte für immer den Mund schloß. »Wie dunkle Brunnen ohne Grund sind die Seelen dieser Priester,« hatte Bartolo Chietti einmal gesagt, »mir graut vor ihnen, und wär' es nur um dessentwillen, was die Menschen da alles hineinwerfen.«

Wie viel die Ercolani in die Seele Fra Clementes hineingeworfen, wußte Alba, und weil sie es wußte, erschien ihr diese Bekehrung immer aufs neue als ein Wunder. Aber der Ercolani schien es bitterer Ernst.

Immerhin glaubte Alba zu bemerken, daß der rechte Friede der Seele noch nicht über sie gekommen war. Während der täglichen Andachten stierte sie in einer Art vor sich hin, die fast etwas Unheimliches hatte. »Wie eine Besessene,« dachte Alba, »die immer nur das eine sieht.« Sprach man sie an, schrak sie wie eine Erwachende in sich zusammen und konnte zuweilen recht seltsame Antworten geben. Von Zeit zu Zeit verließ sie das Haus, was ihr als Laienschwester gestattet war. Meist galten diese Besuche ihrer Mutter, und stets kehrte sie etwas heiterer zurück. So oft sie aber den Bruder des Papstes besuchte, der ein alter Freund ihrer Familie war, kam sie ganz verstört und fahrig heim und lief oft stundenlang allein im Garten umher, den Blick fest in die Erde gebohrt, mit den kräftigen Füßen erregt die welken Blätter zur Seite schiebend, die der Spätherbst gemach schon da und dort aufzuhäufen begann. Auch pflegte sie in solcher Stimmung oft ziemlich laut mit sich selbst zu sprechen. Natürlich nur, wenn sie sich allein wähnte. Und als Alba einmal von ungefähr hinter ihr herging, konnte sie deutlich hören, wie die Ercolani sagte: »Wieder hab' ich's nicht über das Herz gebracht ... wieder nicht. Warum ich nur so viel hinlaufe, wenn ich nie den Mut dazu finde?«

»Den Mut wozu?« fragte sich Alba. Da schlug ihr die Erinnerung plötzlich wie ein Blitz ins Gedächtnis. Hatte die Ercolani in jenem Gespräch mit ihrer Mutter nicht geschworen, daß jener Ruchlose nie und nimmer Kardinal werden dürfe? Darum ihre vielen Besuche beim Bruder Leos XIII. Er sollte seinen erlauchten Bruder wahrscheinlich davor bewahren, jenen Unwürdigen unter die »Porporati« auszunehmen. Und er mußte schon nahe daran sein. Hatte doch selbst der Hausgeistliche des Klosters gelegentlich eines Gespräches mit der Oberin ihn als einen derjenigen genannt, die demnächst das »Zucchetto« bekamen. Das mochte die Ercolani so verstören, um so mehr verstören, als sie selbst augenscheinlich noch nicht den Mut gefunden hatte, dem Bruder des Papstes von jenem Unwürdigen zu sprechen. Denn konnte sie von ihm sprechen, ohne die eigene Schande preiszugeben?

»Die Arme!« dachte Alba erschüttert und wieder fiel es ihr schwer auf die Seele, welch schreckliches Schicksal doch die Liebe für das Weib werden könne. Dieser hatte sie nur den Haß gelassen.

Aber auch sonst begann Alba mit immer schärferen Augen um sich zu blicken, und gerade die weltvergessenen Stunden der Andacht enthüllten ihrer feindseligen Aufmerksamkeit so manches, was einer naivgläubigen Seele nie aufgefallen wäre. So zunächst die Art, wie die einzelnen sich im Gebete hingaben. Da war diese Präfektin. Mit ingrimmig herabgezogenen Mundwinkeln, den Blick unentwegt in ihr Offizium gesenkt, betete sie herunter, was heruntergebetet werden mußte und der schrille Ton ihrer Stimme zitterte scharf und fadendünn aus dem Chor der anderen. Sie betete nicht bloß mit, sie führte an, wachte gleichsam noch im Gebete darüber, daß alles so erledigt wurde, wie es erledigt werden mußte, Buchstabe für Buchstabe, Kopfneigung um Kopfneigung. Nie floh ein Seufzer von ihren Lippen, einer jener scheuen, nicht zu bewachenden Seufzer, wie sie sich oft unwillkürlich von den Lippen der Andächtigen losringen. Kalt und fanatisch wie ihr Blick, war auch ihre Andacht. »Das bin ich dir schuldig, Herr,« schien ihr Gebet zu sagen, »und ich gebe wohl acht, daß auch die anderen ihre Schuldigkeit tun.« Mehr hatte sie nicht zu geben, vertrocknet und ledern, wie ihre Seele war.

Neben ihr Mater Ignazia ... Sie hüstelte und näselte ebenso vor sich hin, ganz wie während des Unterrichtes, brav und pflichttreu, der geborene Schulmeister. In allen Dingen nett und genau, gab es für sie nichts Ärgerlicheres als den Anblick von Staub oder Schmutz. Nun war die Schwester Sakristanin eine viel zu gottbeflissene Seele, um sich mit den Notwendigkeiten dieses Lebens mehr zu beschäftigen, als ihre ununterbrochene Beschaulichkeit gestattete. So kam es, daß der Zustand der Bänke immer etwas zu wünschen übrig ließ und ein teuflischer Zufall oder das Vertrauen in die große Seelengüte Mater Ignazias fügte es, daß gerade ihr Betpult immer das staubigste war. Oft und oft hatte sie sich schon vorgenommen, der Schwester Sakristanin ein Wort darüber zu sagen, in aller Demut und schwesterlichen Liebe natürlich, doch war es in Wirklichkeit nie dazu gekommen. Wozu hatte man seine Geduld, wenn man dem lieben Gott dergleichen nicht aufopfern konnte? Aber ansehen – nein, ansehen konnte sie dergleichen nicht und nun war es lustig, zu beobachten, welch drolligen Kampf ihre Andacht jedesmal mit dem aufgehäuften Staub zu bestehen hatte. Wie ihr Blick immer wieder vom Offizium hinwegglitt um nach der unseligen Stelle zu sehen: erst mit einer Art Ingrimm über die wieder gestörte Sammlung; dann mit der »Ergebung im Herrn«, zuletzt aber wie ein hypnotisierter Schulmeister. Bis sie sich nicht mehr helfen konnte und mit einem scheuen Blick nach rechts und links ihr Taschentuch zog, um zu tun, was zu tun eigentlich die Sache einer anderen gewesen wäre. Oft und oft schon hatten sich die dienenden Schwestern, die in der Waschküche hantierten, über den seltsamen Zustand gewundert, in dem Mater Ignazias Taschentücher herabkamen. Weil Mater Ignazia aber auch den Unterricht im Zeichnen leitete, meinten sie immer, die Spuren des vielen Bleistiftspitzens in ihren Taschentüchern zu finden. Und da sich im Grunde hier jede Heilige nur so weit um die andere bekümmerte, als sie ihr nicht im Wege stand, fand es niemand notwendig, Mater Ignazia zu fragen, weshalb gerade ihre Taschentücher immer die schmutzigsten waren.

Wie ein Fest war es, Mater Benedicta beten zu sehen: einen Abglanz, der nicht von dieser Welt schien, auf ihrem Antlitz, um die Lippen ein fast kindliches Lächeln, die schönen, schmalen Hände wie zwei Lilien an die Brust gelegt – dann und wann in einem Blick sich verlierend, der eine Seele voll reinsten Eifers zu ihrem Gott trug.

»So müßten die Erzengel vor ihrem Schöpfer stehn,« dachte Alba. Glitt ihr Blick nach Gemma Contarini – fand sie dieselbe Schönheit in Haltung und Hingabe, das Leuchten eines Friedens, um den sie beide beneidete.

Ganz seltsam verhielt sich Mater Renée. Scheinbar bei der Andacht, fühlte Alba doch, daß die Gesichte ihrer Seele andere waren – andere sein mußten. Die Art, wie sie oft plötzlich in sich zusammenfuhr ... der Blick, mit dem sie emporsah, und der so gar nichts mit dem Inhalt der Worte zu tun hatte, die ihre Lippen mechanisch herstammelten, selbst ihre scheuesten Bewegungen verrieten der Wissenden, bei wem ihre Seele weilte. Ein Gebet, das Gotteslästerung war oder eine unsägliche Qual oder beides zugleich. Mater Renée selbst schien dies zuweilen in einem Anfall schreckhafter Reue zu empfinden, und dann suchten ihre Lippen oft mit leidenschaftlicher Inbrunst ein Heiligenbild ihres Gebetbuches, um sich lang und wie verzweifelnd darauf zu pressen. Als besänne sie sich plötzlich in ihrer Hilflosigkeit des süßen Friedens, der einst auch ihre Seele umsponnen und flehte die um Verzeihung an, zu denen sie einst gebetet. Aber sie gaben ihr keine Antwort mehr.

Und all die anderen? Ja, das waren eben die – Vielen, Durchschnitt ... Masse, die blökende Herde, die ihre Nöten, ihre Angst und ihre Wünsche hatte und immer ein einziges Gewitter emporsteigen sah: den Bösen und seine Heerscharen.

Doch aber mußte sich Alba gestehen, daß in diesen stundenlang währenden und sich regelmäßig wiederholenden Andachten auch eine seltsame Gewalt lag. Etwas, das allmählich unterwarf, den Starken schwach und Schwache taumelig machen konnte und selbst in den Widerstrebenden Schauer und Empfindungen weckte, die mit der Zeit vielleicht nicht spurlos vorübergingen.

Der tiefe, Weihrauch atmende Friede im Dämmer des Chors, das braune Gestühl selbst, in dem so viel Jugend und Schönheit sich für immer hingab, die verstohlenen Seufzer der noch Ringenden, die sich wie die Wohlgerüche köstlicher Opferbrände zu den Füßen des Gekreuzigten emporstahlen, die tiefe Glaubensinbrunst in den Blicken der Vollendeten ... und zuletzt immer der wie auf Taubenschwingen sich langsam emporhebende Nonnengesang, in dem dies alles sich noch einmal so geheimnisvoll zu vermengen und geläutert emporzusteigen schien, diese von Mendelssohn eigens für dieses Kloster komponierten »Motetten« ... Die Tage, in denen Alba Chietti selbst so gebetet hatte, so beten konnte, lagen nicht fern genug, um ihre vom Kampf noch wunde Seele nicht auch zuweilen dem Zauber dieser Stimmungen zugänglich zu machen. Und fühlte sie auch stets aufs neue mit aufatmender Genugtuung, daß es eben doch bloß Stimmungen waren – eine Frage blieb es, ob ihre Seele stark genug war, zuletzt nicht der »Narkose« zu geben, was sie dem Glauben versagte: ihren Willen und ihre geistige Gesundheit.

Täglich rätselhafter erschien ihr Elena. Was war mit der nur vorgegangen, daß sie plötzlich alles so ruhig hinnahm, so willig ertrug – und selbst in den Augen der Präfektin bestand?

»Du bist ja ordentlich glücklich jetzt!« sagte Alba eines Tages.

»Und ob ich es bin!« erwiderte Elena mit auffunkelndem Blick. Bevor aber Alba weiter fragen konnte, huschte sie schon davon wie jemand, der nicht weiter gefragt werden will.

»Wie seltsam!« dachte Alba, während sie der Enteilenden mit einem langen Blick nachsah. Da trat Mater Ignazia auf sie zu – rasch, scheinbar verstört.

»O bitte, sagen Sie einer der ›Winden‹, daß sofort zu Doktor Tapponi geschickt werden möge. Unsere arme Frau Oberin –«

Alba fühlte, wie ihr etwas die Kehle zusammenschnürte, etwas, das Angst war und Mitleid und zugleich auch der geheime Schauer kommender Dinge.

»Was ist mit ihr?« stammelte sie tonlos.

»O – einstweilen bloß ein heftiger Fieberschauer, und wenn es dem lieben Gott gefällt, kann es ja auch nur ein Katarrh werden. Jedenfalls muß ihre Zelle sofort geheizt werden ... sofort.«

In derselben kalten Zelle aber, die Mater Ignazia soeben verlassen hatte, lag die Tochter eines der ältesten Geschlechter Frankreichs auf ihrem harten Lager. Ihre Wangen glühten vom Brand des aufsteigenden Fiebers, ihre Augen waren geschlossen, eine fahle Leichenfarbe überzog das feine Antlitz, als wären die Schatten all der Nächte darüber gesunken, die Mater Renée durchwacht und durchrungen. Und so heftig auch der Frost des Fiebers ihre zarten Glieder schüttelte – er vermochte es nicht, ihre Hände auseinander zu reißen, die sich starr und fest, wie zu einem letzten Gebet umklammerten:

»Laß' mich daran sterben, o Gott!«


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