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I. Von einer kleinen Eidechse.

Mater Ignazia hatte mit gewohnter Feierlichkeit ihr lateinisches Kreuz geschlagen. Nun setzte sie sich zurecht und klappte das Buch auf. Der Unterricht konnte beginnen ...

In der Luft zitterte noch etwas von dem Geräusch, mit dem die ganze Klasse sich zugleich niedergelassen hatte und das »Amen« der kleinen Piemontesin Rita, das immer zu spät kam, verleitete ihre Gefährtinnen zu einem leisen Gekicher. Da hob die Nonne den Blick; es wurde still.

Ihrer dreißig saßen sie da: aus allen Provinzen Italiens, der weibliche Frühling seines Adels, soweit er gläubig ist und papsttreu. Der Glanz des sonnigen Apriltages, der draußen Rom vergoldete, fand auch den Weg in den Lehrsaal des Internats und ließ die jungen Mädchen noch einmal so hübsch erscheinen, trotzdem sie eine Art schwarzer Kutten trugen, die aus demselben Stoff und nach dem gleichen Schnitt für alle zurecht gemacht waren, ob nun eine arme Contessina darin stak oder die einzige Erbin eines fürstlichen Vermögens. Gerade nur, daß ein weißes Krägelchen sie von den Novizinnen des Konvents unterschied und da und dort das Geleucht einer weltlichen Erinnerung in Augen, die noch von dem letzten Fest im Vaterhaus träumten.

Die vordersten Bankreihen hielten die Römerinnen besetzt; sie waren hier die Stärksten und nicht bloß der Zahl nach. Der Einfluß ihrer Väter reichte bis an den Stuhl Petri. Diese und jene hatte einen Onkel, der das »Zucchetto« trug. Von dem einen wußte man, daß er auch bei Hof einiges durchzusetzen wußte. Ein anderer wurde sogar als künftiger Papst genannt. Das gab diesen jungen Geschöpfen in den Augen der Nonnen einen Vorzug, dessen sich die anderen nicht rühmen konnten, und so geschah es nicht selten, daß Neapel und Sizilien büßen mußten, was Rom verbrochen hatte.

Neapel und Sizilien drängten sich in der Mitte des Lehrsaals zusammen. Zehn runde Krausköpfe beiläufig, die immer unfrisiert aussahen, immer irgendwo einen Schmutzfleck hatten oder ein Loch. Und Neapel und Sizilien waren laut, waren übermütig, konnten zuweilen sogar ungebärdig werden.

Wenn Neapel und Sizilien »Heimweh« bekamen, warfen sie sich zu Boden und heulten wie junge Tiere. Ihre Angst vor dem »bösen Blick« hatte auch vor den Augen der heiligsten Schwester keinen Respekt. Wurde ein schlimmer Streich ruchbar, konnte man sicher sein, daß die ersten Fäden der Verschwörung nach Neapel und Sizilien führten. So saßen sie da, eine kleine »Camorra«, unter sich immer einig und gegen alle anderen auf der Hut. Aus uralten Geschlechtern auch sie, gerade nur, daß keine einen »Papabile« unter den ihren hatte.

Aber was Neapel und Sizilien auch verbrachen – der Hochmut war ihre Sünde nicht. Der saß unter diesen ephebenschlanken Römerinnen, die ihren Kopf immer so stolz trugen, als säß' er auf einer Säule; mit den Augen immer so geradeaus blickten, als gäb' es auf der ganzen Welt nichts, was einer Römerin Angst einflößen konnte oder Staunen. Ihr Lächeln war das von Statuen. Wenn es in ihren Herzen kochte, blieben sie so ruhig, daß Neapel und Sizilien sich zu fürchten begannen. Und o – diese Bewegung der linken Schulter, mit der solch eine kleine »Principessa« alle Fragen ablehnte, selbst die, warum sie wieder nichts gelernt.

»Das ist ein Hochmut, wie ihn der Teufel im Gesicht trägt!« pflegte die Mater Präfektin zu sagen. Aber was half es? Wenn man die Präfektin in »Rom« so abfahren ließ, fiel sie in – Neapel und Piemont ein, um sich zu rächen. Dann half es der kleinen Rita so wenig, daß sie bloß geschlafen hatte, als es der blassen Chiara nützte, daß der heilige Thomas von Aquino einer ihrer Uronkel war. Piemont blieb die verhaßte Heimat Viktor Emanuels und der heilige Thomas war schon lange tot. Aber wenn der Papst die » sedia gestatoria« bestieg, gingen ihm die Colonna und Orsini und Patrizi voran und Neapel hatte keine anderen Sterne in seiner Nähe, als zwei arme Prälaten, die ihm die »Flabelli« trugen.

»Das richtige Amt für einen Neapolitaner,« wie die junge Chigi neulich gesagt hatte: »Die machen ja immer bloß Wind!«

Die Schulstube war ein länglicher Raum, der von zwei Seiten sein Licht empfing, durch hohe, säulengekoppelte Bogenfenster, die fast bis an den Boden stießen und gewiß keine Gitter hatten, als die Salesianerinnen hier einzogen. Das Kloster stand in einem Teil der Gärten, die Paul III. hier angelegt, der stolze Papst aus dem Hause Farnese, dem der Palatin gerade gut genug war, um über den Ruinen der Cäsarenpaläste einen Lustgarten für sich und seinen Hof zu gewinnen.

So konnte man noch von den hintersten Bänken die immergrünen Wipfel der » orti farnesiani« sehen. Erhob man sich aber und trat ans Fenster, leuchteten die marmornen Säulenstumpfe der palatinischen Ruinen herein: das Peristyl und das Atrium des großen Palastes der Flavier und die »Aula Palatina« – ihr prächtiger Audienzsaal. Die riesigen Farnbüschel, die sich im Marmorbecken des »Nymphäum« angesiedelt, winkten wie grüne Schleier herüber, so oft sie der Wind hob.

Gegen so viel Heidentum hatten die frommen Schwestern sich fast hermetisch abgeschlossen. Wurde in diesem Lehrsaal ein Fenster geöffnet, war es immer jenes, durch das man die Kreuze von San Bonaventura und Sebastiano hereinleuchten sah und nicht das ärgerliche Geschwätz der Kustoden hören konnte, die drüben mit den Fremden über die Ruinen stolperten. Selbst die mutmaßliche Stätte eines Apollotempels, die sich mitten im Garten des Klosters befand, hatte man so viel als möglich der Erde gleichgemacht. Und gingen die Konventualinnen daran vorüber, schlug jede ihr Kreuz und legte die Hand an den Rosenkranz, den der heilige Vater geweiht.

Das Lehrzimmer hatte eine graue Tapete. Die Tapete war modern und überklebte noch einen guten Teil der Decke, um das Ärgernis einiger nackter Genien zu verhüllen, die über einen blumigen Fries hintanzten. Den übrigen Teil der Decke hatte man getüncht und dann schonungslos das Gas eingeleitet. So konnte der üppige Sinnenprunk der Renaissance keiner Seele mehr verderblich werden.

An der Stirnseite des Lehrsaals hing ein mächtiges Kruzifix. Es war so kunstlos als möglich und nichts daran auffallend als die dicken Farbklumpen, die das Blut des Heilands versinnlichen sollten. Und als wär' es daran nicht genug, hatten die frommen Schwestern noch rechts und links von dem Kruzifix zwei große rotseidene Herzen angebracht. In dem einen stak ein Schwert, um das andere wand sich eine Dornenkrone, aus beiden sickerte wieder Blut. Damit dieses Blut aber ja recht sichtbar werde, waren die Herzen auf schwarzem Atlas angeheftet. So ging dem Auge auch kein Tropfen verloren.

Über jedes der Herzen zog sich ein Spruch hin, doch nicht in lateinischer oder italienischer Sprache. Die Bilder stammten aus Frankreich, aus einer jener Fabriken, die Jahr für Jahr Hunderttausende solcher Bilder und Bildchen an fromme Anstalten verkauften, zuweilen auch bloß als »Muster ohne Wert« verschickten. Und so war auch die Inschrift dieser Bilder französisch, wie die frommen Sprüchlein, die man auf all den Heiligenbildchen las, die die Schwestern unter ihre Zöglinge verteilten. Alle gleich süßlich oder gleich blutrünstig und immer so unnatürlich als möglich.

Wie der Glanz des römischen Frühlings aber so darüber hinging, schienen diese Wunden wirklich zu bluten und diese Herzen in Wahrheit zu brennen. Sechzig junge Augen starrten darauf hin, so oft die vortragende Konventualin das Zeichen zum Gebete gab. Und wie oft noch? Denn da war doch nichts anderes zu sehn in dem ganzen, weiten, kahlen Raum, als das blutende Kreuz und die brennenden Herzen und das blasse Asketenprofil der Klosterfrauen, die abwechselnd darunter saßen. So kam es, daß all diesen jungen Augen die blutenden Wunden und die zerstochenen Herzen näher waren und natürlicher erschienen, als der ganze blühende Frühling draußen.

Bevor Mater Ignazia zu sprechen anhub, hüstelte sie gewöhnlich. Das taten übrigens alle Klosterfrauen, wie die kleine Piemontesin Rita behauptete. Und ihre Amme hatte ihr auch gesagt, warum: weil sie nie so recht an die Luft kamen, sich nie satt essen und niemals ausschlafen durften und da vorne etwas trügen, damit das nicht wachsen konnte. Die kleine Rita zeigte hierbei auf eine Stelle, wo ihr selber noch nichts wuchs, zog die Brauen empor und hielt lachend die Hand vor den Mund. Es war die rechte Ammenweisheit.

»Wer kann mir etwas von den Eidechsen erzählen?« fragte Mater Ignazia.

Vier Arme fuhren zugleich in die Höhe. Weil aber Rita mit ihren »Amen« wieder zu spät gekommen war und kein Zeichen gab, rief die Lehrerin sie auf.

Rita wußte viel von den Eidechsen oder glaubte wenigstens alles zu wissen, was an solch »kleinen Bestien« wissenswert war. Der Palazzo ihres Vaters in Bastia stammte noch aus dem Mittelalter. Die gewaltigen Mauern, die ihn wie eine Festung umgaben, bargen zwischen ihrem zerborstenen Gestein die Schlupfwinkel unzählbarer Eidechsen, die dort rastlos aus- und einliefen, emporkletterten oder hinabschossen, oft auch nur träg in der Sonne ruhten, mit geschlossenen Lidern und schräg nach außen gestellten Beinchen. Ihr geschäftiges Treiben und Haschen, der metallische Glanz ihrer Farben, die flinken Beinchen, deren vorderes Paar, nach Ritas Meinung, genau wie die Händchen eines »Bambino« aussahen, hatten der kleinen Contessina schon viele vergnügte oder nachdenkliche Stunden bereitet. Je nachdem sie sich im Necken oder im Beobachten der munteren Tierchen gefiel. Stundenlang war sie oft vor solch einer Mauer gelegen und hatte ihnen zugeschaut. Wie sie nach Fliegen und Käfern jappten, sich in Scherz und Ernst verfolgten und zuletzt in blitzschnellem Zick-Zack in irgend einer Mauerritze verschwanden, wobei es schien, als hätten sie eine besondere Sorge, ihr langes Schwänzlein ungefährdet heimzubringen. Was sich gerade so drollig ansah, wie die Hast, mit der sie, kaum in ihrem Schlupfwinkel angelangt, sich sofort umdrehten und das Köpfchen wieder hervorstreckten ... »Ätsch, nun bin ich sicher!« Rita wenigstens verstand es so.

Wollte sie sich aber einen besonders lustigen Tag machen, nahm sie ihren großen weißen Kater Gilly mit. Gilly fing die kleinen Bestien mit einer Passion, als wären es Mäuse. Tat ihnen aber merkwürdigerweise selten etwas zuleide, sondern nahm sie bloß fein um die Mitte und trug sie seiner Herrin zu. Es war immer höchst putzig, wenn er so herankam: den Blick der grauen Augen ernst vor sich gerichtet, zwischen den Zähnen das ängstlich zappelnde Tierchen, dessen Schwänzchen hin und her baumelte, so daß Gilly immer mit einer gewissen Vornehmheit die rosige Katernase hob, um nicht in allzu nahe Berührung mit diesem Schwänzlein zu kommen. Da aber Gilly ein silbernes Glöcklein trug, dessen Gebimmel ihn schon von weitem verriet, wußten die Eidechsen gar bald, was sie zu tun hatten. Ward der helle Silberton auch nur von ferne hörbar – husch saß schon jede in ihrem Mauerspalt und von dem ganzen, lustigen Spuk war nichts zu sehn, als so und so viele Köpfchen, die halb neugierig, halb triumphierend auf den ungewohnten Feind herabsahen.

Mater Ignazia hatte seit zwanzig Jahren sicher weder eine Eidechse noch einen Mann gesehen – was konnte sie da viel von den Eidechsen wissen? So war dem kleinen Leichtsinn nicht nur alles entgangen, was Mater Ignazia zwei Tage vorher von den Eidechsen oder Echsen erzählt, sie hatte es nicht einmal der Mühe wert gefunden, ihr Buch anzuschauen. Die Bücher überhaupt ... Gott bewahre uns davor! »Die kleinen Kinder kommen auch so auf die Welt.«

Dagegen war es Rita zum erstenmal aufgefallen, welch eine merkwürdige Ähnlichkeit doch zwischen dem Gehaben der Mater Präfektin und dem einer – Eidechse bestand! Selbst das schmale, vertrocknete Nonnengesicht, mit den immer lauernd zur Seite gestellten Augen und dem breiten Mund war eigentlich das Gesicht einer Eidechse! Nahm man noch ihren schußlichen Eifer dazu, mit dem sie im ganzen Haus herumraschelte, war die menschliche Eidechse fertig. Da Rita ein besonderes Talent im Zeichnen von Karikaturen besaß, hatte sie sich schon tags vorher darangemacht, fast unter den Augen der Präfektin, was dem Spaß einen besonderen Pfeffer gab und der Klasse ein lustiges Geheimnis mehr. So kam es, daß die Präfektin gerade ihr Schwänzlein erhielt, als Mater Ignazia die kleine Piemontesin aufrief.

Rita, sonst ein Liebling Mater Ignazias, hatte den Anruf nicht erwartet. Mit der Angst eines bösen Gewissens, das sich immer dort getroffen fühlt, wo es sich schuldig weiß, meinte sie zuerst, daß Mater Ignazia ihre heimliche Tätigkeit beobachtet und ihr im nächsten Augenblick die Zeichnung abverlangen werde. Weshalb sie das Blatt so rasch als möglich ihrer Nachbarin zuschob, die es ihrerseits wieder gleich flink weitergab, so daß Ritas Zeichnung schon im nächsten Augenblick am Ende der Bank angelangt war, wo sie zunächst auch blieb. Eine Taktik, die sich bei ähnlichen Anlässen schon oft bewährt hatte und die jeweilige Missetäterin zum Schluß als verfolgte Unschuld erscheinen ließ, was bei der Gewissenszartheit einiger Konventualinnen immer von bester Wirkung war.

Über die Hast, mit der Rita das verräterische Blatt in Sicherheit zu bringen suchte, war ihr aber so ziemlich alles entfallen, was sie von den Eidechsen zu wissen glaubte. Sogar die Frage Mater Ignazias war an ihr vorübergegangen. Und als Brigida San Severe ihr endlich zuflüsterte, um was es sich handle, geriet sie erst recht in Verwirrung. Eidechsen – Eidechsen? Wart ... Aber nein! Sie sah in dieser Situation eine einzige und die hatte den Kopf der Präfektin und raschelte nun irgendwo zwischen den Bänken herum. Das war alles, worauf Rita Dallago sich im Augenblick besinnen konnte.

»Schlimm – sehr schlimm!« sagte Mater Ignazia, wobei ihr eine feine Röte in die Wangen stieg: der zurückgedrängte Ärger der Asketin, der in diesem Fall auch ein gut Teil Beschämung war. Wenn dieses vertrocknete Herz für jemanden eine Zärtlichkeit empfand, war es gerade dieses übermütige Weltkind, das in allem und jedem das Widerspiel ihrer Tugenden war: diese kleine, verlogene, drollige Rita Dallago.

»Gemma Contarini!«

Zwischen den dunklen Häuptern der Römerinnen fuhr ein lichtblonder Kopf empor. Ein Antlitz, das sich wie von einem Goldgrund abhob, so reich und glänzend lag die Fülle der Haare um die feingeäderten Schläfen und die hohe, strenge Stirn. Gemmas Profil war das einer Madonna und zwei große, graue Augen, die zwischen langbefransten Wimpern hervorsahen und nur selten voll aufgeschlagen wurden, liehen dem jungen Antlitz etwas merkwürdig Insichgekehrtes. Auch war Gemma die einzige, die nicht das weiße Krügelchen der Internistinnen trug. So wußte man schon jetzt von ihr, daß sie aus der Schulstube weg in den Konvent der Salesianerinnen treten würde oder, wie die kleine Rita sagte, eine »Poveretta« werden wollte. Das hob sie schon jetzt über ihre Mitschülerinnen empor, wie sie auch den Schwestern näher stand, als diese gerne zeigen mochten. Gemma Contarini war reich.

»Schade nur um ihre Haare!« pflegte Rita immer zu sagen. »Aber die hat sie ohnedies nicht von daheim, ihre Mutter war rabenschwarz und ihr Vater braun und ihre Nona hat Roßhaar auf dem Kopf gehabt. Aber ihre Mama war damals oft in Venedig, da hat sie sich an einem Palma verschaut!«

Auch diese Weisheit stammte von der Amme Ritas und Rita hatte sie ganz übernommen und gab sie sogar mit dem jeweiligen Gezwinker der Amme zum Besten, ohne natürlich zu ahnen, welch einen Kommentar dieses Gezwinker zu den unschuldigen Bildern des Palma gab.

Den Blick gerade vor sich gerichtet, die Hände leicht ineinandergelegt, sagte Gemma Contarini ihr Pensum auf. Was Mater Ignazia vorgetragen hatte und »wie es im Buche stand«, in einem Buche, in dem natürlich nie ein Wort mehr stand, als die Nonne vorgetragen hatte. Der gewohnte Kreis, den alles Wissen hier durchlief, ohne daß sich eine der kleinen Prinzessinnen jemals den Kopf zerbrach, weshalb sie im Internate so viel weniger von all diesen Dingen zu hören bekamen, als ihre Brüder draußen. Freilich, die Mehrzahl dieser Brüder stak auch in irgend einem geistlichen Konvikt. Und dann – es war ja so bequem!

»Die Eidechsen sind Tiere mit schlankem Körper und langem Schwanze und einer Zunge, die an der Wurzel keine Scheide hat. Die Bekleidung des Kopfes besteht aus breiten Schildern, die des drehrunden Schwanzes aus ringförmig angeordneten langen Schuppen. Der Schwanz bricht leicht ab, doch wird er in kurzer Zeit wieder ersetzt. Es sind kleine, bewegliche, kluge Tiere, die besonders die sonnigen Gegenden lieben. Ihre Nahrung besteht aus Insekten, Schnecken und Würmern. Sie halten einen Winterschlaf ... Das Weibchen legt sechs bis acht schmutzig-weiße, weichschalige –«

»Eier –« wollte Gemma noch dazusetzen. Aber Mater Ignazia unterbrach sie. Dieser ewige Hinweis auf die Fortpflanzung war ihr ein Greuel. Wär' es nach ihr gegangen, hätte man in all diesen Büchern weder vom »Eierlegen« noch vom »Werfen« gesprochen. Da es aber nun einmal »im Buch« stand, mußte sie gute Miene zum bösen Spiel machen und so tun, »als wenn gar nichts dabei wäre«. Was sie jedoch nicht hinderte, die Schülerinnen durch irgend eine Zwischenfrage gerade bei diesen Stellen immer zu unterbrechen.

»Haben die Eidechsen Feinde?« hüstelte Mater Ignazia.

»Viele. Besonders die Schlangen.«

»Schön. Und wie viele Arten zählen wir? Beiläufig ...«

»Die gemeine oder Zauneidechse; die grüne Eidechse; die Mauereidechse und die Wald- oder Bergeidechse –«

Wieder wollte Mater Ignazia unterbrechen. Aber der Eifer Gemmas kam ihr zuvor. »Und die Bergeidechse,« wiederholte sie mit erhobener Stimme, »die besonders darum wichtig ist, weil sie lebende Junge –«

Das Hüsteln Mater Ignazias wuchs sich allmählich zu einem Hustenanfall aus, der so stark und andauernd war, daß selbst Gemmas Eifer ihn respektieren mußte. Als der Anfall vorüber war, rief sie ziemlich unwirsch: »Und die wichtigste Art?«

»Die wichtigste Art –?« Ja, wenn Gemma das im Augenblick gewußt hätte! Aber nicht einmal im Buche stand etwas von dieser »wichtigsten Art«. Daß die Klosterfrau in ihrem Eifer, die »lebendiggebärende Bergeidechse« aus der Phantasie der Mädchen wegzuhusten, die »Perleidechse« zur wichtigsten Art erhoben sehn wollte, bloß weil sie »im Süden Europas« lebte und eine vierbeinige Italienerin war – das kapierte wieder Gemmas Eifer nicht.

Da hob sich am äußersten Flügel der Römerinnen eine kleine, braune Hand. »Alba Chietti!« rief Mater Ignazia, die froh war, die unangenehme Pause nicht aufs neue durchhusten zu müssen.

»Und die Brückenechse,« sprudelte Alba hervor, während ein Geleucht kindlichen Triumphes über ihr braunes Antlitz glitt. Denn was sie da sagte, das war weder im Buche zu finden noch hatte Mater Ignazia es vorgetragen. Albas Eifer hatte es entdeckt und so war es auch ganz und gar Albas Verdienst.

Erstaunt hob Mater Ignazia den Kopf. »Brückenechse – Brückenechse ...« Nein. Von der hatte auch sie noch nichts gehört. Da sie sich aber keine Blöße geben wollte, schwieg sie und nestelte bloß an ihrem Schleier herum. Es konnte Zustimmung sein oder Erwartung. Auf keinen Fall vergab sie sich etwas.

Nun riß Albas Eifer alle Dämme nieder. Das Schweigen der Lehrerin, die erstaunt nach ihr gekehrten Antlitze ihrer Gefährtinnen, der Neid in diesen und die Erwartung in jenen Augen – sie spornten an, gaben Mut, rissen hin. Warum sollte sie hier nicht laut sagen, was sie vergangenen Sonntag in einem Buche gelesen, das ihr Onkel zufällig auf dem Tisch liegen gelassen? In diesem schönen, großen Buch mit den vielen Kupfern, davon einzelne ihr allerdings ganz rätselhaft erschienen. Solch seltsame Tierformen hatte sie darin entdeckt.

»Stammesgeschichte der vierfüßigen Wirbeltiere« war eines der Kapitel überschrieben. In seinem Untertitel fand sie auch die Reptilien. Und da man in der Klasse gerade dabei hielt, hatte sie das ganze Kapitel zu Ende gelesen. Während ihr Onkel und ihr Vater im Spielsaal daneben rauchten und stritten. Wie sie immer taten, so oft sie zusammenkamen und so gerne sie sich auch mochten. Denn Albas Vater war »päpstlich«, ihr Onkel aber ein »Königlicher«. Als sie die fünfundzwanzig Seiten zu Ende gelesen, brannten ihre Wangen, glühten ihre Augen und der venezianische Spiegel gegenüber zeigte ihr ein Antlitz, das sie fast nicht erkannte. Als wär' sie in einem Märchenlande gewesen, und hätte gleich daraus entdeckt, daß dieses Märchenland eigentlich dieselbe Wirklichkeit sei, in der auch Alba Chietti atmete. Nur daß sie bisher keine Ahnung davon gehabt hatte. Nein, wahrhaftig! Denn das war ja alles so ganz anders, als man es im Kloster lehrte. Über das »Warum« gab sich ihre kindliche Unbefangenheit allerdings keine Rechenschaft. Sie hatten eben andere Bücher hier oder immer dieselben. Wie würden sie aufhorchen, wenn sie nun das neueste hörten!

Alba besaß ein gutes und stets dienstfertiges Gedächtnis. So war ihr fast alles haften geblieben. Und in dem Eifer, mehr vorbringen zu können, als die anderen wußten, hatte sie sogar einige Stellen auswendig gelernt.

»Die Brückenechse, die nur auf den Inseln Neuseelands heimisch und auch da nur noch selten ist. Von besonderer Wichtigkeit aber deshalb, weil sie noch gewisse Charaktere der Lurche zeigt; also einer niedriger stehenden Klasse der Wirbeltiere.«

Mater Ignazia hob den Kopf und starrte Alba an; sie schob den Schleier hinter die Ohren, wie sie immer tat, wenn sie meinte, nicht recht gehört zu haben. Endlich lächelte sie: »Ein Reptil, das Charaktere der Lurche zeigt?« Und weil Mater Ignazia lächelte, lachte mit einem Male die ganze Klasse. Das schadenfroh-überlegene Lachen der Mehrzahl, das eben so beschämend als aufreizend wirkt. Und mitten unter den Lachenden stand Alba; stand da, in ihrer ganzen, wehrlosen Backfischlänge. Allen Blicken preisgegeben und in ihrer verletzten Eitelkeit plötzlich so feinhörig, daß auch das leiseste Spottgezischel ihr Ohr fand.

Ein dunkles Rot schlug in ihre Wangen. Einen Augenblick blieb ihr selbst der Atem aus. Eine andere hätte vielleicht mitgelacht. Aber Alba Chietti war stolz. Und noch größer als ihr Stolz war ihr Gerechtigkeitsgefühl, das sie jede unverdiente Kränkung doppelt bitter empfinden ließ. Und daß diese Kränkung unverdient war, wußte im Augenblick niemand besser als Alba Chietti. Denn ... was wußten die Lachenden überhaupt von diesen Dingen? Mater Ignazia mitinbegriffen? So schlug die Erkenntnis mit der Leuchtkraft eines Blitzes in Albas Seele. Wenn sie auch nicht mehr in jenem Buche gelesen hatte, als diese fünfundzwanzig Seiten. Damit gewann sie aber wieder ihre Ruhe zurück und mit der Ruhe das Bewußtsein, sich Genugtuung verschaffen zu können. Eine Genugtuung, die für die anderen eine einzige Beschämung werden sollte. Wenn auch Mater Ignazia unter all diesen anderen saß.

»Ein Reptil mit Lurchcharakteren – mit Lurchcharakteren ...« zischelte, lachte, stichelte es noch immer um sie herum. Selbst Mater Ignazia schüttelte den Kopf und lächelte ihr nachsichtiges Lächeln, wie über eine Sache, die ein für allemal abgetan war.

Alba stand noch immer regungslos. Doch die Röte ihrer Wangen war allmählich einer tiefen Blässe gewichen. Die dunklen Brauen schoben sich ineinander, ein Zug herber Willensstärke legte sich um den jungen Mund, nur ihre Hände bebten noch leise. Doch die Bewegung, mit der sie die Linke plötzlich herabfallen ließ, das Lächeln, mit dem sie nun ihrerseits dem Lachen der anderen begegnete; dieser ganze, an sich gehaltene Stolz, der wie die Pose eines innersten Triumphes aussah – sie hatten etwas so rätselhaft Zwingendes an sich, daß es mit einem Male stille wurde um Alba. So jäh und seltsam still, daß selbst Mater Ignazia verwundert emporsah.

Und in diese Stille hinein sprach Alba ruhig: »Lurchcharaktere deshalb, weil die Brückenechse nach ihrer äußeren Körperform und inneren Organisation in der Mitte zwischen ihren salamanderähnlichen Amphibienahnen und unseren heutigen Eidechsen steht, als letzte Zeugin der Existenz paläozoischer Stammreptilien.«

Die Klasse horchte auf. Mater Ignazia biß sich in die Lippen. »Paläozoische Stammreptilien?« Nein. Das waren Worte, die sie nie in ihrem Leben gehört, eine Tierordnung, von der sie sich nie etwas hatte träumen lassen. Wär' ihr eine Bombe an den Kopf geflogen, es hätte nicht schlimmer sein können ... Was aber tun? Zuletzt entschloß sie sich, über den ihr fremden Begriff hinwegzugehen und sich an das zu halten, was ihr wieder als das Unsinnigste erschienen war: ein Reptil, das Amphibien unter seinen Ahnen hatte – man denke! Solche Märchen konnte sie hier doch nicht erzählen lassen.

»Und wie sollen wir uns das beiläufig vorstellen?« lachte sie ärgerlich auf, »daß aus Kaulquappen zuletzt Frösche werden, wissen wir. Es ist das die immer wiederkehrende Entwicklung dieses Tieres: aus dem Ei des Frosches schlüpfen die Larven oder Kaulquappen. Die Kaulquappe wird zum Frosch. Aber daß aus einem Froschei jemals eine Eidechse geworden wäre oder ein anderes Reptil ... hat das schon jemand gehört auf der Welt oder gar gesehen? Wir wollen hier doch Naturgeschichte lernen und keine Märchen erzählen. Sonst könnt' ich ja gleich die Geschichte von dem Ei zum Besten geben, aus dem ein Basilisk geschlüpft ist, weil es ein – Hahn gelegt hat!« Und Mater Ignazia lachte auf und mit ihr die ganze Klasse; zum zweitenmal.

Wieder blieb Alba einen Augenblick still. Ließ im Geist an sich vorübergleiten, was sie gelesen. Forschte in ihrer ehrlichen Art dem nach, was Mater Ignazia als Irrtum aufzeigte und so unsäglich lächerlich fand. Aber nein ... Sie hatte auch kein Wort vergessen. Und was sie gesagt, in jenem Buche gefunden. Wort für Wort. So wie sie es eben gesagt. Und je länger sie darüber nachdachte, desto klarer erschien es ihr wieder. Nicht etwa, weil es in diesem Buche stand, sondern weil der Gelehrte, der es geschrieben, die Natur selbst als Zeugin der Wahrheit aufrufen konnte, die er verkündete. Und während Mater Ignazia sich noch den Kopf zerbrach, welche Bewandtnis es denn mit diesen »Paläozoischen Stammreptilien« haben könne – zeichnete Albas Gedächtnis eine ganze Bildertafel seltsamer Tierformen in die Luft ... Die versteinerten Abdrücke jener Arten, die auch einmal in der Daseinsreihe der Lebendigen gestanden. So gut und leibhaftig, als Mater Ignazia und Alba Chietti!

Wie konnten Menschen leugnen, was die Erde durch Jahrmillionen im Gedächtnis behalten hatte? Und war dieses Gedächtnis auch nur ein großer, dunkler Schoß ... Er schlang ja auch die Menschen hinab und ihre Reiche und Städte. Aber waren diese Städte und Völker darum weniger dagewesen? Dieses Pompeji, das man immer noch ausgrub? Und seine stumme Schwesterstadt, die noch unter der Erde schlief? Ganze Statuen hatte man aus der Tiefe hervorgezogen. Bilder, deren Farben noch leuchteten, wie der letzte Blick ihrer Besitzer sie leuchten gesehn. Warum sollten gerade die »paläozoischen Stammreptilien« nicht dagewesen sein? Warum so und so viele Ahnen totgeschwiegen werden, deren Urenkelin noch heute in Neuseeland herumlief? Und wenn die Versteinerungen den Beweis dafür erbrachten, daß es wirklich einmal Lurche gegeben, die sich langsam in jene Arten umwandelten, die man heute Reptilien nannte – konnte Mater Ignazia daran etwas ändern?

»Weil sie nichts davon weiß!« sagte sich Alba aufs neue. So sollte sie's wissen! Wenn sie schon da oben saß und lehrte.

Ein forschender Ausdruck trat in ihr Auge. Die vorwurfsvolle Enttäuschung der Jugend, die zum erstenmal an einem verehrten Lehrer irre wird. Das Lachen Schwester Ignazias hatte bloß ihre Eitelkeit verletzt. Die Unwissenheit der geliebten Lehrerin tat ihrer Seele weh, traf ihren Glauben. Aber waren ihre Eltern dann nicht gerade so unwissend? Oder hatte man sie eigens hereingegeben, damit sie es bleibe? Schon im nächsten Augenblick schämte sich Alba dieses Verdachtes. Mit der zarten Scham einer tiefgläubigen Seele, die niemandem Unrecht tun will. Welch ein törichter Einfall, Mater Ignazia für eine Heuchlerin zu halten, die absichtlich leugnete, was der ganzen Welt als Wahrheit galt. Das hätte doch so gar keinen Zweck gehabt. Und Mater Ignazias Gesicht war so ehrlich, ehrlich bis auf die Falten, die ein Leben voll innerlicher Kämpfe und äußerlicher Beherrschung ihr ins Antlitz gegraben. Wie aufrichtig hatte nur ihr Lachen geklungen, und wie grundgütig, trotz seines Spottes. Hätten nur die anderen nicht mitgelacht, sie nicht so angeschaut, mit diesem »Hussah«-Blick der Jugend, der kein Erbarmen kennt. Vielleicht hätte sie es über sich gebracht, zu schweigen. Aber so ... sie war eine Chietti!

Immerhin suchte sie nach einer Form, die Mater Ignazia so wenig als möglich verletzen konnte. Den anderen freilich mußte sie zeigen, daß sie keinen Unsinn dahergeschwätzt hatte. Das stand einmal fest.

Mit einem tiefen Atemzug setzte sie ein. Und während ihr Auge, wie um Entschuldigung bittend zu der geliebten Lehrerin emporsah, sprach sie: »Die Metamorphose des Frosches ist ja eben der Beweis dafür –«

»Wofür?« fragte Ignazia mit einem leichten Stirnrunzeln. Denn, wie gesagt, auf das Ei ging sie nicht gerne zurück

»Dafür, daß die Schwanzlurche sich vorher aus den Kiemenlurchen entwickelt haben.«

»Nun hör' mir einer das Kind!« rief Mater Ignazia. »Weil die Kaulquappen zufällig ein Schwänzchen haben, sollen sie von den Salamandern abstammen. Und die Salamander, wenn ich recht verstanden habe –?«

»Von den Fischen,« ergänzte Alba.

»Bloß weil der Frosch einmal in seinem Leben ein Schwänzchen hat?«

Wieder begann es um Alba zu kichern. Einige Antlitze wurden sogar puterrot. So sehr kitzelte es alle, aufs neue loszuplatzen. Doch das Antlitz der Lehrerin blieb diesmal ernst. Wie war es möglich, daß Alba sich in einen solchen Wirrwarr hineingeschwatzt hatte ... die sonst so kluge Alba? Das war ja eine Weisheit, wie aus einem Märchenbuch heraus. Wenn man schon nichts Schlimmeres annahm, etwa ein Buch, das auf dem Index stand oder sonst ein Traktätlein aus dem ruchlosen Lexikon des Teufels. Dazu die aufhorchende Klasse ... Nun hieß es vorsichtig sein und Alba entweder zum Schweigen bringen oder in Verwirrung, vor allem aber so klug als möglich umgehen, was man selbst nicht wußte.

Doch Alba stand plötzlich ganz steifbeinig da. Denn so hilflos ihr Blick auch die Lehrerin anflehte, ihr ja nicht übel zu nehmen, was ihr Mund sage, dieser Mund selbst war nicht mehr zum Schweigen zu bringen. Mitten in das Gekicher der anderen hinein sprach sie fest: »Nicht weil der Frosch einmal im Leben ein Schwänzchen besitzt, sondern weil das Schwänzchen, das er einmal im Leben besitzt, die Form einer früheren Entwicklung verrät und wiederholt.«

»Meinetwegen,« erwiderte Mater Ignazia mit der Miene überlegener Resignation. »Nun möcht' ich aber bloß wissen, weshalb diese ehrgeizigen Lurche gerade bei der Eidechse Halt gemacht haben?«

»Das haben sie auch nicht!« kam es sicher zurück und in einem Ton, aus dem Albas Freude herausklang, endlich verstanden zu werden.

»Was denn?«

»Weil sich später wieder die Schlangen und Meerschlangen aus der alten Stammesgruppe entwickelt haben. Und ganz zuletzt die Vögel die durch ihren inneren Bau und ihre Keimesentwicklung den Reptilien so nahe verwandt sind, daß sie ohne Zweifel aus einem Zweig dieser Klasse ihren Ursprung genommen haben.«

Mit aller Mühe hatten Albas Gefährtinnen bisher ihr Lachen zurückgedrängt. Nun platzten sie los. Vögel, die sich aus Reptilien entwickelt hatten ... Warmblütler, die einmal Kaltblütler gewesen – arme Alba! Welch ein schlimmer Vetter hatte ihr diesen Unsinn aufgeschwatzt? Da fand man sich ja früher in der Hölle des Dante zurecht! Und dreißig jugendliche Kehlen lachten – nein, sie jauchzten ordentlich vor Vergnügen, so daß die Präfektin, die immer auf den Gängen herumschlich, ganz leise die Tür öffnete und mit einem halb erstaunten, halb unwilligen Blick hereinsah ... nicht zuletzt nach der Vortragenden.

Aber Mater Ignazia war so aufgeregt, daß sie nicht einmal das Erscheinen der frommen Schleicherin bemerkte ... Hoch und bleich stand sie da – auf den Lippen ein Wort, von dem ihre ganze Seele zu fiebern schien. Selbst ihre Hände bebten. Von dem schwarzen Schleier bis zu dem Saum des dunklen Gewandes vibrierte eine einzige Erschütterung, so mächtig und stark, daß ihr anfangs fast die Stimme versagte.

»Und die – und die – Schlangen?« stieß sie endlich hervor. Mit einem Schlage wurde es still. Nur Rita Dallago rieb sich hinten vergnügt die Hände, froh, über diesen Sturm vergessen zu werden.

»Die Schlangen!« wiederholte Mater Ignazia. Mit einer feierlichen Bewegung beider Hände hob sie das silberne Kruzifix ihres Rosenkranzes empor und während sie es der schweigenden Klasse entgegenhielt, sprach sie: »Sag' mir, welche Schlange dir das zugezischelt hat, damit du darüber die Versucherin vergäßest, die schon im Paradies ihre Künste geübt und von Gott dem Herrn in dieser Form geschaffen ward, lang, eh' es Bücher gab, aber zwei unschuldige Menschen, die der Teufel versuchen konnte, wie heute dich. Willst du ihm glauben oder deinem Heiland?« Ihre Stimme überschlug sich.

Die Klasse hielt förmlich den Atem an, so plötzlich war das gekommen, so erschütternd wirkte es. Unter denen, die da saßen, gab es nur wenige, die es Alba gönnten. Gemeine Instinkte waren hier wirklich selten. Was die gute Rasse nicht adelte, hielt die Kultur der Seele im Zaum. Einigen war diese Szene sogar unangenehm, aus dem eingeborenen Instinkt der vornehmen Dame heraus, die jedes lärmende Preisgeben einer Empfindung vermeidet und pöbelhaft findet. Diese jungen Geschöpfe, seit ihrer Kindheit gewohnt, sich lautlos zu gehaben und lautlos bedient zu werden ... den Ton der eigenen Stimmen in hochgewölbten Sälen verhallen zu hören, wie eingehüllt von all diesen prächtigen Gobelins und goldgestickten Tapeten, die schon die Stimmen so und so vieler Geschlechter gedämpft und in sich getrunken hatten – sie wären um keinen Preis jemals so weit aus sich herausgetreten. Lachen konnte man ja. Damit war noch nichts gesagt, aber nur keine Worte, die Lärm machten. Keine Szenen, das tat der Poseur auf der Bühne und der »Prete« auf der Kanzel ... Diesmal aber fühlten alle, daß Mater Ignazia recht habe.

Dunkle Blicke voll Groll und stillen Vorwurfes glitten zu Alba hinüber. Wie war es möglich, daß eine der Ihren sich so weit vergessen konnte? Das war ja so gut wie eine Gotteslästerung! Und in einigen dieser jungen Augen flammte es auf – hart, fanatisch. Der fast zwei Jahrtausende alte Glaube ihrer Väter.

Alba stand da wie vom Donner gerührt. Was hatte sie getan! Wie weit sich hinreißen lassen, bloß um Recht zu behalten ... Das erste Kapitel der Genesis fiel ihr ein, das sie auch einmal auswendig gelernt, noch heute Wort für Wort kannte wie den Inhalt jenes Kapitels von den Reptilien. War es denn möglich, daß sie den Abgrund nicht gesehen, der die beiden Bücher trennte? Die Wahrheit, zu der sie sich bei der Taufe bekannt hatte, in deren Namen sie zum Tisch des Herrn trat – und diese zweite, diese so ganz – andere Wahrheit? Wie ein Schwindel trat es ihr ins Blut, sauste in ihren Ohren, tanzte in ihren Augen. War das die schwere Klosterpforte, die der Frühlingssturm unten so dröhnend zuwarf? Oder war da unmittelbar hinter ihr ein großes Tor dröhnend zugefallen? Das Tor einer Heimat, in der sie gelebt hatte bis heute, ahnungslos selig! Und nun stand sie draußen und wußte nicht mehr wohin.

Was war denn geschehn? Das war ja noch dieselbe Stube, mit demselben Kruzifix und dem Antlitz der Nonne davor. Auf diesem selben Platz war sie acht Tage vorher gekniet ... hatte die Gebete der Exerzitien hergesagt und die ganze Passion durchlebt. Und dann ... ja dann war sie nach Hause gekommen und hatte jenes Buch gesehen und gelesen und hatte daran Gefallen gefunden und sich dies und das gemerkt in ihrer Eitelkeit, bloß um mehr zu wissen als die anderen. Hatte sich der Teufel nicht immer auf diesem Wege in die Seelen geschlichen? Und wie freudig hatte sie eingewilligt!

»Wo hast du das gelesen?«

Es war die Stimme Mater Ignazias. Aber sie schlug ganz fremd an ihr Ohr, als käme sie aus einer weiten, weiten Ferne, in der andere Menschen lebten und eine andere Sprache geredet wurde.

»In welchem Buche, mein' ich,« wiederholte die Lehrerin, da Alba noch immer schwieg und sie anstarrte.

»Es – es gehört nicht mir, bitte!« brachte sie endlich hervor.

»Wie bist du dann dazugekommen?«

»Mein Onkel hat es bei uns vergessen. Da hab' ich es gelesen. Das – das Kapitel von den Reptilien.«

Mater Ignazia wollte etwas sagen, aber sie würgte es hinab. Dieser königlich gesinnte Onkel Albas war allen ein Greuel, nicht bloß dem papsttreuen Adel, auch dem Kloster, das seine Nichte erzog. Aber wenn der papsttreue Adel oder das Kloster bei Hof oder irgend einer Regierungsstelle etwas durchsetzen wollten, wandten sich alle an den »Ketzer«. Was dem Verlästerten nicht wenig Spaß machte und ihn immer mehr in seiner Meinung bestärkte, daß »ohne den Teufel nicht einmal eine Kirche gebaut werden könne«.

»Und warum hast du darin gelesen?« forschte Mater Ignazia weiter. Und da Alba aufs neue schwieg, brach der verschluckte Ärger über den »Königlichen« an einer anderen Stelle hervor. »Um mehr zu wissen, nicht wahr? Wie du immer tust ... Siehst du nun, wie der Böse dich endlich gefangen hat. Was?«

Alba war ja derselben Meinung. Wäre derselben Meinung gewesen, auch wenn Mater Ignazia weniger geschrien hätte. Das sagten ihre bleichen Wangen, ihre bebenden Lippen, der verstörte Ausdruck dieses sonst so vornehm-ruhigen Antlitzes, auf dem im Augenblick die ganze Not einer jungen Seele lag. Aber die Nonne glaubte, daß auch ihr Schweigen nichts anderes wäre als der alte Hochmut, den wollte sie einmal tödlich treffen und mit ihm die Schlange, die sein Antlitz trug. Während ihr Gesicht sich wieder in die starren, asketischen Falten legte, sprach sie kalt: »Alba Chietti bleibt zur Strafe während der ganzen Stunde stehen. Nach dem Unterricht schreibt sie fünfmal das erste Kapitel der Genesis ab. Abends betet sie allein und daß ihre Mutter erfahre, welche Bücher sie liest, werd' ich selbst besorgen.«

Ruhig und leise hüstelnd sprach Mater Ignazia das herunter, mit der kühlen Eintönigkeit ihrer Würde, die so bald nicht wieder etwas in Harnisch bringen sollte. Und das »verstanden«, das sie daran hängte, war auch bloß ein Gewohnheitsschnörkel.

Im Antlitz Albas aber prägte sich plötzlich ein tödliches Entsetzen aus. Es war keine Scham, es war keine Angst, es war ein Schauen und Begreifen und Abwehren zugleich. Denn während Mater Ignazia ihre Strafe diktierte, sah Albas Auge plötzlich wieder jene Tafel mit den versteinerten Tieren vor sich ... Und da war sie ja, die Schlange, die einmal Füße besessen hatte, wie die Eidechse, deren Abdruck sich jedoch erst in einer viel, viel späteren geologischen Schichte vorfand. Lange, nachdem die Fische da waren und die Lurche und die Saurier und durch Hunderttausende von Jahren getrennt! Log die Erde? Log die Bibel? Log die ganze Welt? Ihr war, als hätte sie keinen Boden mehr unter den Füßen. Wie taumelnd griff sie in die Luft, ihre weit ausgerissenen Augen bohrten sich förmlich in das Antlitz der Nonne, mit einem Ausdruck solcher Angst, daß Mater Ignazia fast erschrak.

»Aber – aber – aber ...« stammelte sie noch. Doch ihre ringende Seele schrie umsonst nach einer Antwort. Die blasse Frau, die dort unter dem Kreuze saß, hatte ihr nichts mehr zu sagen.

Wie eine Erstarrung kam es über Alba: etwas Dumpfes, Schweres, das sich gleich einer ungeheuren Last auf ihre Seele legte, sie niederdrückte und doch auch wieder zu einem seltsamen Widerstand reizte. Zu einem Widerstand freilich, der noch keine Worte fand, erst als bloße Empfindung da war, aber mitten in dem Sturm ihrer Seele zuweilen einen Gedanken aufblitzen ließ, der wie eine grelle Flamme durch die Dunkelheit zuckte, in der sie bis heute gelebt und geworden, als schwände ein Teil ihres eigenen Wesens dahin. Genau so war ihr zu Mute und sie sah zu und konnte nichts daran ändern; nichts davon aushalten, wurde sich selbst immer fremder und fremder.

Dieses »Am Pranger stehn« mitten unter den anderen ... wie hätte es sie noch vor kurzem beschämt, erschüttert, vernichtet. Es geschah ihr ja heute zum erstenmal und nicht im Traum hatte sie bis heute daran gedacht, daß es ihr überhaupt jemals geschehen könnte. Nun war es so weit gekommen. Warum schämte sie sich nicht? Ob das auch der Teufel war, der von ihr Besitz ergriffen hatte? Ja, aber – warum fürchtete sie sich dann nicht? Sah nur immer diese Tafel vor sich, mit den versteinerten Resten der Tiere, von denen die Bibel nichts erzählte.

»Wenn es nach Rom ginge, würde man noch heute alle großen Menschen verbrennen; verbrennen oder an den Pranger stellen.« Das hatte ihr Onkel in einem Streit mit ihrem Vater einmal so hingeworfen. Damals hatte es bloß ihr Gedächtnis behalten, heute flammte es mit einemmal vor ihrer Seele auf, schien darin einen Widerhall zu finden und eine Stimme, die es leise verteidigte. Alba erschrak. Wenn das nicht der Teufel war! Mit aller Kraft lenkte sie ihre Gedanken ab, auch von dem, was ihr widerfahren war. Der Unterricht ging weiter ... Sie konnte ja zuhören. Sollte es sogar, aber auf einmal waren all ihre Gedanken draußen. Nicht bei dem Frühling, der so verlockend hereingrüßte ... nein, bei einer ganz bestimmten Stelle, die sie von ihrem Platz aus nicht einmal sehn konnte. Aber dort, das wußte sie ... dort hatten einmal die »lebenden Fackeln des Nero« gebrannt, und diese Fackeln waren Christen gewesen. So hatten die Christen nicht immer recht gehabt auf dieser Welt?

Wohin sie wieder kam mit ihren Gedanken! Die heiligen Märtyrer so anzusehn, als wären auch sie einmal Ketzer gewesen, wie die, von denen ihr Onkel so gerne sprach.

» Dio mio!« betete sie leise vor sich hin; ihr Blick flüchtete nach dem Kruzifix; in alle fünf Wunden des Heilands bohrte er sich ein; flehte um Hilfe, Geduld, Demut.

Aber während sie auf den Trost wartete, der ihr von dort kommen sollte, fiel es ihr plötzlich auf, wie unkünstlerisch doch dieses Kruzifix aussah! Daß ihr das noch nie aufgefallen war bis heute! Und ihre Augen, die der frühe Anblick der Kunstschätze ihrer Familie für die Schönheit empfänglich gemacht, fühlten sich förmlich verletzt. Warum brachte man nicht ein anderes Kruzifix an diese Stelle? Brachte in jedem Lehrsaal diese zwei roten Herzen an, die da hingen, wie frisch aus dem Leib eines Menschen herausgerissen?

Da schrak sie zusammen. War das nicht wieder Sünde? Aber wußte sie denn überhaupt noch, was Gut und Böse war, Lüge und Wahrheit? Heiße Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie fürchtete aufzuschreien, wenn sie sich gehn ließ. So trank ihre Seele auch diese Tränen in sich.

Erst eine heftige Bewegung Mater Ignazias entriß sie ihrem Brüten. Irgend etwas mußte geschehn sein. Da hinten, in den letzten Bänken. Und schon eilte die Klosterfrau an ihr vorüber ... so rasch, daß der schwarze Schleier nach hinten flog und der Rosenkranz an ihrem Gürtel klirrend gegen die Bank schlug.

War Mater Ignazia einmal aufgebracht, bemerkte sie alles, auch das, was sie sonst gutmütig übersah. Ihre Augen waren die schärfsten des ganzen Konvents. Weil ihr Herz aber eines der besten war, schaute sie nicht allzuviel herum mit diesen Augen. Hielt sie es aber für ihre Pflicht, der Klasse wieder einmal den Meister zu zeigen, dann sah sie »auch durchs Holz«, wie Rita Dallago sagte. Und so hatte sie auch jetzt – »durchs Holz geschaut«. Und mit Hilfe dieses Blickes die Bank entdeckt, in der man Ritas Karikatur weitergab.

Natürlich vermochte auch der Blick Mater Ignazias nicht durch und durch zu dringen. Um so scharfsichtiger las sie in den Antlitzen ihrer Schülerinnen, wußte, wie jede einzelne sich gehabte, wenn sie etwas tat, was sie nicht tun sollte. So kam es, daß hier ein Blick und dort ein Lächeln genügten, um sie aufmerksam zu machen. Mund und Augen dieser oder jener verrieten ihr, was in dieser oder jener Bank getrieben wurde, wenn die Hände auch noch so ruhig im Schoß zu liegen schienen.

Da saß die magere Malipiero. So schlau die Kleine sonst auch schien, so hilflos war sie, wenn sie etwas Komisches sah. Da gab es kein Zurückhalten. Das Lachen der Malipiero war sprichwörtlich im Konvent. Durfte sie aber nicht lachen, schnitt sie Grimassen, daß Gott erbarm'! Und bei einer solchen Grimasse hatte Mater Ignazia sie ertappt.

»Was habt ihr dort?«

Ein böser Zufall fügte es, daß die Karikatur der Präfektin in diesem Augenblick bereits am Ende der Bank war, also nicht mehr leicht weitergebracht werden konnte. Auch das hatte Mater Ignazia sogleich in der Nase und so stieß sie wie ein Sperber auf die Letzte der Bank los. »Ziani!«

Jeder Widerstand wäre hier zum Handgemenge geworden. Das wußte die Ziani. Dann war noch etwas ... Etwas, von dem niemand eine Ahnung hatte, das nur die Nonnen wußten und die arme Ziani dunkel fühlte ... Mit der Herkunft der Ziani war nicht alles in Richtigkeit. Sie konnte keinen »ordentlichen Babbo nennen«, wie Rita Dallago gesagt hätte. Trug sie auch einen alten Namen – es war der Name einer Tante, die sie aus Erbarmen adoptiert hatte, weil ihre Nichte bei der Geburt dieses Kindes gestorben war, nicht im Palazzo ihrer Eltern, die sie verstoßen hatten, sondern weit draußen in einer schmutzigen Vorstadt Neapels. Wo es dunkle Häuser gab und hexenhafte Weiber, die gegen ein gutes Entgelt »solche« Kinder zur Welt bringen halfen, in die Kirche trugen und diskret für immer vergaßen.

So war es bei der Geburt Elenas zugegangen. Die Großtante hatte sich ihrer angenommen, aber nur, um sie hierher zu bringen, damit die arme Elena eines Tages endgültig vergessen werde und mit ihr der dunkle Fleck im Wappen der X. Elena sollte Nonne werden.

Die Oberin des Konvents wußte alles. Die Präfektin ahnte mehr, als die Oberin ihr gesagt hatte und verfolgte dieses arme Kind »der Sünde« mit dem ganzen Haß der Asketin und Hysterikerin. Elena versprach eine Schönheit zu werden ... das war in den Augen ihrer Feindin eine Sünde mehr an ihr. Ein Blendwerk des Teufels, der dieses Blut nicht zur Ruhe kommen lassen wollte. Sie war hochmütig und trotzig. Wie durfte sie es sein? Nicht einmal das Kloster nahm gerne »solche« Novizinnen an. Wär' ihre Tante nicht reich gewesen ... um Christi willen hätte man sie hier nie eingelassen. Das war böse Saat und die mußte man ausroden, bevor es zu spät wurde. So geschah es, daß keine der Schülerinnen so oft in die Zelle der Präfektin beordert wurde wie Elena. Was dort mit ihr geschah, hatte noch niemand erfahren. Elena schwieg; nur totenblaß war sie immer, so oft sie von dort zurückkam, ihre Unterlippe ganz blau von der Gewalt, mit der sich die Zähne darin eingegraben. Um auch dort – stumm zu bleiben? Wer wußte es!

So viel freilich merkten alle, daß die beiden sich haßten. Nur ... je pöbelhafter die Wut der Präfektin ausbrach, desto stiller und vornehmer blieb Elena Ziani, sah sie bloß an oder lächelte. Noch nie hatte Elena etwas geleugnet, um einer Strafe zu entgehen und oft die Schuld der ganzen Klasse auf sich genommen. Deshalb wurde sie von allen geliebt, verstanden freilich von keiner. »Warum ist sie so töricht?« meinten die Klugen und zuckten die Achseln. Die gesunde Selbstsucht ihrer Jugend fand seinen anderen Ausdruck für dieses Verhalten. Elena selbst hatte immer geschwiegen bis heute, immer geschwiegen.

Auch jetzt tat sie nichts, um das Verhängnis von sich abzuwenden und als die Nonne die Hand nach dem Blatt streckte, reichte sie es willig hin. Ihr Blick bohrte sich ins Antlitz der Nonne, fest, neugierig, schadenfroh.

Fast hätte Mater Ignazia selbst aufgelacht, so gut war die Präfektin getroffen: der stier lauernde Blick, der boshafte Zug um den breiten Mund, die schnüffelnd eingezogenen Nüstern und an diesem Kopf der langgestreckte Eidechsenleib mit dem schlaff herabhängenden Schwänzchen. »Als wenn sie irgendwo auf der Lauer läge!« dachte Mater Ignazia nicht ohne Genugtuung: »Wortschnapperin die!« Aber – sie dachte es eben nur. Und weil die unselige Karikatur sie zur unfrommen Kritik einer Konventualin verleitet, brach ihr Zorn im nächsten Augenblick nur noch heftiger hervor.

»Wer hat das –?« Sie wollte sagen, »gezeichnet«, hängte aber nach einem irritierten Hüsteln ein verlegenes »hergeschmiert« daran.

Die ganze Klasse wußte, daß Rita Dallago die Schuldige war und eigentlich dachte es auch Mater Ignazia. Aber so sehr die Präfektin die arme Elena haßte – so sehr liebte Mater Ignazia diesen »Diavoletto« Rita. Sie wollte ihr also ein Geständnis ermöglichen und damit eine leichtere Strafe.

Rita fühlte das. Und so dumm in ihren Augen diese Ziani auch war ... mit ihrem ewigen Schweigen und ihrer unweiblichen Großmut ... für so töricht, sich als die Urheberin dieses Blattes zu bekennen, hielt sie Elena doch nicht. Zudem waren aller Blicke auf sie gerichtet; da blieb schon nichts übrig, als sich zu erheben und »ich« zu sagen. Und sie erhob sich.

Mater Ignazia sah es, ihre Gefährtinnen sah'n es. Aber Ritas »ich« sprach – Elena Ziani aus ... Laut, fest, und mit einem Triumph in der Stimme, der so böse klang, daß man ihm glauben durfte.

»Du ... und das ist wirklich wahr?« stotterte Mater Ignazia, überrascht und doch auch erleichtert. Sie glaubte es zwar noch immer nicht recht, aber wußten nicht alle, wie Elena und die Präfektin zueinander standen? War Rita Dallago auch die beste Zeichnerin der Klasse – ihre beste Hasserin war Elena Ziani. Mater Ignazia hätte keine Italienerin sein müssen, um das nicht schon längst zu fühlen. Und hier hatte der Haß den Griffel geführt, gut – so gut, als wär' es ein Dolch gewesen!

»Und das will eine Klosterfrau werden!« rief Mater Ignazia erzürnt. »Weißt du was? Ich werde dieses Blatt der Mater Präfektin geben!«

Noch immer ruhte Elenas Blick auf der Nonne, fest, durchdringend, als stäch' er ihr bis in die Seele hinab. Sie lächelte; es war nur ein ganz leises, ganz vages Lächeln, aber Mater Ignazia errötete.

»Will sie mich auf die Probe stellen?« dachte sie. Und wieder stieg ein leiser Zweifel in ihr auf, ob nicht am Ende doch diese Rita ...? Aber nein, Elenas Lächeln war zu böse gewesen, fast so, als hätte sie sagen wollen: »Drum hab' ich das ja gemacht, damit sie es zu sehen bekommt!« Konnte ein Kind schon so hassen? fragte sich Mater Ignazia mit einem leichten Schauer. Aber freilich ... welch ein Kind war das!

In diesem Augenblick dröhnte der Mittagsschuß der Engelsburg über Rom hin, dumpf, feierlich, langsam verrollend. Eine Weile blieb es still. Dann begannen die Glocken der ewigen Stadt zu läuten. Erst ferne, nun immer näher ... die Stimme Sankt Peters – Sankt Onofrios und Santa Cecilias, jenseits des Tiber herüberklingend, bis die Glocken der Kirchen, die sich nächst dem Palatin erheben, das stille Nonnenhaus wie mit einem tönenden Kreis umzogen: Santa Francesca Romana, San Giovanni e Paolo – San Giorgio in Velabro und hoch vom Kapitol herab die eherne Stimme der »Ara-Coeli«.

Mater Ignazia bekreuzte sich, mit ihr die ganze Klasse. Und während sie das übliche »Angelus« sprachen, mischte sich der fromme Gesang der Konventualinnen in ihre Worte, die sich in der Kapelle zur Mittagsandacht versammelten.

» Ave Maria – gratia plena ...« Wie Taubenflügel hoben sich ihre Stimmen zur Höhe – weiß und rein, als wäre nichts Irdisches mehr an ihnen.

Leis' und geheimnisvoll verzitterten dazwischen die letzten Klänge der Glocken Roms.


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