Paul Grabein
Du mein Jena!
Paul Grabein

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XIV.

»Lotti – Kind! Was ist denn eigentlich nur heut' mit Dir?«

Die Hofrätin Gerting fragte es mit einem verwunderten Blick auf ihr Töchterlein und liess die Handarbeit sinken. Die Damen sassen in dem zwar altfränkischen, aber sehr anheimelnd eingerichteten Wohnzimmer mit den altersgebräunten Mahagoni-Möbeln. Von der grossen Hängelampe fiel ein heller Schein auf den Sofatisch, an dem Mutter und Tochter sich gegenüber sassen, beide mit einer Nadelarbeit beschäftigt.

Das heisst Fräulein Lottis Beschäftigung mit ihrer Spitzenhäkelei war nur sehr illusorisch. Alle Augenblicke feierten die sonst so flinken, zierlichen Händchen, und die Augen flogen ungeduldig nach dem Regulator über dem Sofa. Schon halb sechs, und noch immer nicht –! Ein leiser, sehnsüchtiger Seufzer entrang sich der Brust des Mädchens, unbewusst so laut, dass er in dem traulich stillen Zimmer deutlich hörbar war. Daher die Frage der Mutter.

»Ich, Mama? Aber gar nichts!« erwiderte das Töchterchen möglichst gleichmütig und neigte sich plötzlich sehr interessiert über ihre Häkelarbeit. Zu dumm! Sie fühlte, dass sie wieder mal puterrot wurde.

Die Hofrätin betrachtete ihr Kind einen Augenblick schweigend mit einem stillprüfenden Blick. Dann war das Seufzen an ihr. Ach Gott, sie ahnte, sie wusste ja nur zu gut, was mit dem Mädel war! Hatte sie doch längst schon bemerkt, was da vorging. Seit der Schlittenpartie neulich spielte die Geschichte. Da war ihr kleiner Wildfang wie ausgewechselt, so verträumt und still, so damenhaft gesetzt und bisweilen sogar elegisch, zu Tränen geneigt. Na, da weiss eine kluge Mutter ja wohl, was die Glocke geschlagen hat.

Aber es war wirklich nicht zum Freuen! Ach nein! Erstens, das Mädel war ja noch so jung, so blutjung, das reine Kind! Es wäre ja die grösste Torheit, wenn sich das jetzt schon binden, auf die schönste Zeit und die Freiheit der Mädchenjahre verzichten wollte. Und dann – er war auch nicht der Richtige, nicht der wenigstens, den sich die Hofrätin einmal für ihr Kind gewünscht hatte. Rudolf – oder Rolf Simmert, wie er sich seit einiger Zeit auch auf seiner Visitenkarte nannte – war ja selber noch ein junger, unreifer Mensch. Mein Gott, in Jena war ja zwar eine Studentenverlobung gar nichts Ungewöhnliches – aber gerade der, dieser so besonders flotte, noch ganz im akademischen Treiben drinsteckende junge Mensch, dazu sein stadtbekanntes elegantes, lebemännisches Auftreten – es war ihr ganz und gar nicht sympathisch. Freilich, eines stand ja hinter ihm, was viel aufwog – das Geld, sein grosses Vermögen. Die Frau an seiner Seite würde einmal vor aller Not des Lebens geschützt sein, ja sogar eine vielbeneidete, glänzende Rolle in der Gesellschaft spielen können. Und Lotti – es war ja nun leider nicht zu ändern – verlangte doch so sehnsüchtig nach diesem bunten, fröhlichen Schein des Lebens!

Die Hofrätin war wirklich bekümmert. Aber, vielleicht war sie eine rechte Törin, dass sie sich so viel Gedanken deswegen machte. Andere hätten das, was ihr das Herz beschwerte, für das grösste Glück gehalten, das sie mit beiden Händen gepackt und festgehalten hätten, wenn es nur zu ihnen gekommen wäre. Zum Beispiel, die Finanzrätin Feldmann, die ihr gestern erst noch mit süssgiftigem Lächeln diskret Glück gewünscht hatte zu dem Interesse, das Herr Simmert an ihrer Lotti so auffällig bewiese. Natürlich – wäre er nur zu einem ihrer drei, schon angejahrten Mädchen gekommen, da wäre die Verlobung schon längst unter Dach und Fach gebracht! Und so wie die Feldmann dachten gewiss hundert Mütter in Jena, die doch alle nur das Beste ihrer Kinder wollten. Aber trotzdem, trotzdem!

Ja, wenn Simmert ein anderer, ein schon etwas gesetzterer, ruhiger Mensch, ein zuverlässiger Charakter wäre – so von der Art Hellmrichs, dieses prächtigen Menschen, der ja doch auch noch Student war – gewiss, da würde sie ja auch in Gottes Namen Ja und Amen sagen. Und ihren Gedanken nachgebend, kam die Hofrätin unwillkürlich auf den zu sprechen, an den sie im Augenblick gerade dachte:

»Herr Hellmrich lässt sich eigentlich gar nicht mehr bei uns sehen.«

Fräulein Lotti sah nicht von ihrer Häkelei auf, sondern antwortete ziemlich gleichgültig: »Kein Wunder, Mama! Er arbeitet ja doch zum Examen. Und dann, nach dem grossen Krach jetzt! Es würde ihm doch sicher höchst peinlich sein, vielleicht Herrn Simmert hier zu treffen.«

»Schade,« meinte die Rätin mit aufrichtigem Bedauern. »Er ist ein so guter, zuverlässiger Mensch.«

»Aber doch eigentlich furchtbar langweilig,« warf Lotti schnippisch ein. Es verdross sie, dass gerade das Loblied dessen gesungen wurde, der der ärgste Feind ihres heimlichen Liebsten war. Simmert hatte ihr natürlich nur andeutungsweise und in seiner Darstellung von den Vorgängen in der Alemannia Kenntnis gegeben, und so hatte sie denn selbstverständlich davon die Vorstellung bekommen, dass Hellmrich ihrem Freunde himmelschreiendes Unrecht getan hätte. Es drängte sie daher auch jetzt dazu, dem Ausdruck zu geben; so fuhr sie denn fort: »Ausserdem, Mama, ist Herr Hellmrich durchaus nicht so ein Biedermann, wie er immer tut. Du solltest nur wissen, was für eine Rolle er jetzt bei dem ganzen Krach gespielt hat!«

»So, und woher weisst Du denn das?« fragte die Mutter und sie musste unwillkürlich lächeln. »Natürlich doch nur von seinem intimsten Feinde, Herrn Simmert!«

»O bitte, Mama, der urteilt in dieser Sache absolut objektiv!« Sie wiederholte, vor Eifer errötend, Simmerts eigene Worte. »Und alle von den Vandalen sagen es überhaupt!«

»Ach, diese ganze dumme Geschichte!« meinte die Hofrätin ablehnend und zählte, sich über ihre Arbeit beugend, bedächtig die Stiche nach. »Mir tut nur der arme Hellmrich dabei leid, der deswegen noch einmal wieder Student spielen muss. So dicht vor'm Examen! Das wird meiner alten Henriette« – sie meinte Hellmrichs Mutter – »auch wenig Freude machen.«

»Ppp! Er hätt's ja doch gar nicht nötig gehabt,« entgegnete das Haustöchterchen sehr kühl. »Warum tut er's denn? Es zwingt ihn doch keiner dazu!«

Die Mutter sah nun doch auf.

»Du, Lotte, was hat Dir denn eigentlich Hellmrich getan, dass Du gar so schlecht auf ihn zu sprechen bist?«

Das Mädchen kam jedoch nicht in die peinliche Verlegenheit, die geheimen Herzensgründe für ihre neuerliche Antipathie gegen Simmerts ehemaligen Jugendfreund zu enthüllen, denn plötzlich wurde draussen ein starkes Geräusch hörbar. Die Haustür unten im Hausflur fiel krachend ins Schloss, und schnelle Schritte kamen polternd die Treppe heraufgestürmt.

»Albin kommt!« bemerkte erleichtert Lotte.

»Na, was mag denn der Junge heute haben?« fragte die Mutter leichthin. »Der nimmt ja wohl drei Stufen auf einmal.«

Im nächsten Augenblick wurde die Zimmertür aufgestossen, und ein lang aufgeschossener junger Mensch schoss herein. Erst im Zimmer riss er die Gymnasiastenmütze vom Kopf und warf sie auf die Kommode, und, ehe er noch guten Abend geboten, platzte er schon mit der grossen Neuigkeit heraus, die ihn so eilig hergetrieben hatte.

»Kinder, wisst Ihr das Neuste?« rief er mit rotglühenden Wangen, noch ganz atemlos, aber mit begeistert glänzenden Augen. Und seine Anrede richtete sich eigentlich ausschliesslich an die Schwester, denn er kannte deren Interessen an den Dingen, die er vorbringen wollte.

»Na, was ist denn nur? Junge, Du erschreckst einen ja ordentlich,« meinte, ein bisschen ärgerlich über diese Aufgeregtheit, die Hofrätin.

»'s ist aber auch 'ne Sache!« versicherte der Herr Sekundaner mit höchst wichtiger Miene. »Also, zwischen den Alemannen und den Vandalen hat's mächtige Kontrahagen gesetzt! Lauter Pistolen- und krumme Säbelmensuren! Ich weiss alles von Fritz Unruh, dessen Vetter ist doch Korpsstudent. Und heute haben sie sich auf dem Forst geschossen. Einer soll tot oder furchtbar schwer verwundet sein.«

Ein heller Aufschrei gellte durchs Zimmer, und Lotti Gerting sank kreidebleich auf den Stuhl zurück. Im Handumdrehen war die Mutter aufgesprungen und zu ihr hingeeilt, während Albin, mehr verwundert als erschreckt, die Schwester anstarrte. Nanu, was fiel denn der Lotte ein? So 'ne Dummheiten hatte sie doch noch nie gemacht! Na ja, die Mädels sind doch immer Zimperliesen, wenn sie auch noch so forsch tun. Wenn man bloss mal von Pulver und Blei redet, dann fangen sie gleich an Zeter zu schreien! Und im Hochgefühl seiner überlegenen Mannesnatur blickte der Bruder halb mitleidig, halb verächtlich auf die Schwester, die ein paar Augenblicke regungslos verharrte, dann aber herzzerbrechend zu schluchzen anfing.

Albin schüttelte unwillig den Kopf. Das war doch zu dumm! Er wusste wirklich nicht, was er dazu sagen sollte. Es war ihm daher ganz recht, als ihm die Mutter plötzlich bedeutete, er möchte hinauf auf sein Zimmer gehen und sie mit Lotte allein lassen.

Als Mutter und Tochter allein waren, schlang das Mädchen krampfhaft ihre Arme um den Hals der Hofrätin, und es entrang sich ihrem gequälten Herzen der Angstschrei: »Mama, Mama! Wenn ihm was passiert ist, wenn er –«

Die Hofrätin drückte sanft das tränenüberströmte Gesichtchen an ihre Wange und streichelte zärtlich das Blondhaar ihres Mädels. »Nur ruhig, meine Lotti, mein kleiner Liebling! Wer weiss, was die dummen Jungens da für Unsinn zusammengeschwatzt haben. Musst Dich doch nicht gleich so aufregen, Du Närrchen!«

»Ach, Mama! Wenn es aber doch wahr wäre, wenn er tot wäre – ich könnte ja nicht eine Stunde mehr leben! Ich liebe ihn ja so wahnsinnig!« brach das Mädchen von neuem los, und abermals erschütterte sie ein krampfhaftes Schluchzen.

Die Mutter schwieg einen Augenblick. Diese Minute hatte ihr unvermutet bestätigt, was sie freilich ja schon geahnt hatte; aber zugleich hatte sie doch auch erkannt, dass das Mädel da kein Kind mehr war, dass nicht bloss eine oberflächliche Tändelei sie beschäftigte, sondern dass das Herz bei ihr gesprochen hatte, dass die leidenschaftliche Liebe des Weibes in dem Mädchen auferstanden war. Und mit tiefbewegtem Mutterherzen schloss nun die Hofrätin, selber tränenden Auges, die Tochter in die Arme.

»Meine Lotte, mein Herzenskind!« Lange fand sie selber keine anderen Worte, sondern küsste nur in überströmender Liebe und Sorge zärtlich ihr Töchterchen. Dann aber begann sie, ruhiger geworden, auch der Geängsteten wieder Vertrauen einzuflössen. Es brauchte ja doch tatsächlich an dem ganzen Gerede nichts dran zu sein, und wenn wirklich – was Gott verhüten wolle! – dann war es doch längst nicht gesagt, dass gerade Simmert – –

Aber, um sich Gewissheit zu verschaffen, wollte sie schleunigst das Mädchen zu ihm hinausschicken, mit einer Empfehlung, und wenn Herr Simmert nichts vor hätte, so würde sie sich sehr freuen, wenn er ihnen heute abend das Vergnügen machen wollte. Da würde man ja doch wohl irgend etwas erfahren, wenn wirklich Aussergewöhnliches passiert wäre.

»O, Du meine einzig liebe, süsse Mama!« Lotti, jetzt selbst wieder voll neuer Hoffnung, umschlang stürmisch, lange die gute Hofrätin. »Und Du bist also wirklich gar nicht böse, dass – dass ich –« Tief errötend versteckte sie ihr glühendes Gesichtchen am Hals der Mutter.

»Böse – nein, mein liebes Kind! Nur ernst und voll Sorge, ob es Dir wohl zum Segen sein wird. Du bist ja noch so jung und unerfahren, meine Lotte!«

Das Mädchen beeilte sich, in stürmenden Worten der Mutter zu beweisen, dass nur die Liebe zu Simmert sie glücklich machen könne, dass sie doch auch wahrlich kein Kind mehr sei. Dann aber drängte sie zur Abfertigung des Dienstboten mit der Bestellung an Simmert.

Es war ein aufregendes Hangen und Bangen für Fräulein Lotti, bis die Botin wieder zurückkehrte. Das Herz klopfte ihr zum Zerspringen. Bald war es ihr, als ob sie fürchterlich weinen, bald, als ob sie aufjubeln müsse vor ahnungsvoller Seligkeit. Gottlob, die Mutter wusste und billigte nun ja alles. Jetzt stand ja nichts mehr im Wege, und nun würde, nun musste er ja das erlösende, glückjubelnde Wort sprechen, das bisher nur sein stürmischer Händedruck, seine leuchtenden Blicke und seine leise schmeichelnde Stimme angedeutet hatten – das grosse, inhaltsschwere, süsse Geständnis: Ich liebe Dich!

Unruhig huschte Lotti hin und her. Bald war sie im Schlafzimmer, kühlte ihre brennenden Augen und erhitzten Wangen mit Wasser und blickte pochenden Herzens in den Spiegel, ob sie auch nicht gar zu abscheulich aussah mit ihrem verweinten Gesicht – gerade heute! Dann wieder sprang sie der Mutter zu Hilfe, den Tisch im Wohn- und Esszimmer drinnen recht nett zu decken. So – schnell ein paar hübsche Blumentöpfe mit Seidenpapiermanschetten aus ihrem Zimmerchen darauf gesetzt, das sah so anheimelnd aus und hob gleich den ganzen Eindruck der Tafel. Dann wieder eilte sie fort und band ein zierliches Tändelschürzchen vor; hatte er doch neulich gesagt, das stände ihr so gut! Und dann – die Hauptsache – sie steckte einige der prächtigen roten Nelken in den Gürtel, die er ihr vor drei Tagen geschenkt, und die sie zwischen den kühlen Fensterscheiben ihres Stübchens so liebevoll frisch erhalten hatte.

Und nun endlich kam Minna, das Mädchen, zurück. Lotte stürzte ihr schon auf der Treppe entgegen und hielt sich, vor Erregung am ganzen Leib bebend, am Geländer fest. O Gott sei Dank! Er war zu Hause gewesen – heil und unversehrt – und hatte dankend angenommen! In einem halben Stündchen würde er sich erlauben, bei den Damen zu erscheinen.

Lotti hätte die alte brave Minna jauchzend umarmen mögen, vor unsäglichem Jubel, vor innigem Dank gegen das Schicksal, das es so gut mit ihr gemeint hatte. Sie flog dann wenigstens der Mutter in die Arme mit der Glücksbotschaft. –

Ach, diese endlos langsam hinschleichende Zeit! Diese schreckliche halbe Stunde wollte ja gar kein Ende nehmen!

Dann aber, endlich, ein kurzes Anreissen der Hausklingel unten – das Herz drohte Lotti still zu stehen: Das war er! Nun klopfte es an. Das junge Mädchen war allein im Zimmer – die Mutter hatte noch einmal in der Küche nach dem Rechten sehen wollen – o Gott, ihr war mit einem Mal so schwindlig im Köpfchen, dass sie sich am Stuhl festhalten musste. Recht laut, so selig hatte sie ihm heute ihr »Herein« zurufen wollen, und jetzt klang ihm ein zaghafter, zitternder Laut entgegen.

Nun stand er vor ihr. Mit einem einzigen, schnellen Blick, der seine ganze Gestalt in zärtlichster Sorge umfasste, vergewisserte sie sich, dass der Geliebte wirklich ganz unversehrt vor ihr stand, dann aber senkte sie scheu die Augen, und eine tiefe Glut begann ihr ins Antlitz zu steigen. War ihr doch, als hätte er ihre Angst und Liebe eben in ihren Augen lesen müssen, und eine mädchenhafte Scham über dieses Verraten ihres Gefühls überkam sie.

Verwundert schaute Simmert auf Charlotte Gerting nieder. Ihm war, als sehe er sie heute ganz anders! Das war ja nicht mehr die allerliebste, neckische Kameradin, mit der er anfangs so gern einen Scherz getrieben, nicht mehr bloss das bildhübsche, frische Mädel, dessen Eroberung dann seiner Eitelkeit geschmeichelt hatte – nein, da war heute so etwas Weiches, echt Weibliches, etwas Ernstes, fast Hoheitsvolles und doch so unendlich Süsses an diesem liebreizenden Geschöpfchen, wie er es noch nie zuvor an ihr bemerkt hatte. Simmert hatte sich, namentlich in den letzten Jahren, eine ziemlich freie Sittenauffassung dem weiblichen Geschlecht gegenüber zu eigen gemacht; aber trotzdem packte ihn das heute mit unwiderstehlicher Gewalt. So rein, so süss, so jungfräulich-heisse Glut ihm im Herzen entfachend, aber doch ohne jeden hässlichen, niedrigen Wunsch – so war ihm noch nie ein Mädchen erschienen. Ja, wahrhaftig! In diesem Augenblick kam es ihm zum Bewusstsein: Bisher mochte er nur mit ihr getändelt haben – jetzt aber liebte er sie!

Und nun, wie sie so dastand, rosig erglüht, in bangem, zitterndem Harren, ohne Wort, aber doch so viel verratend – da hielt es ihn nicht mehr. Im nächsten Augenblick war er dicht bei ihr. Erschauernd fühlte sie die Nähe seiner Gestalt, und jetzt ergriff er ihre kleine, weiche Hand. Sie war eiskalt.

»Fräulein Lotti – Lotti! Was ist Ihnen?« fragte er leise, und sie spürte den Hauch seiner zitternden Stimme an ihrem Ohr.

»Ach, ich habe ja eine Angst – eine solche Todesangst um Sie ausgestanden,« brach es nun leidenschaftlich von ihren Lippen, und tränenerfüllte Augen blickten zu ihm auf. »Wegen des Duells!«

»Ich? – Ja, aber woher wissen Sie? Und das – und darum haben Sie sich geängstigt?« fragte er weiter, und noch fester presste er ihre Hand. »Fräulein Lotti! Und wenn mir wirklich etwas Menschliches passiert wäre –«

»Dann hätte ich nicht mehr länger leben können!« Leise, aber fest, mit einem rührend schmerzlichen Ernst in dem blass gewordenen Gesichtchen hatte es das Mädchen gesagt. Da riss er sie stürmisch an sich.

»Lotti, meine süsse Lotti! Dann liebst Du mich, dann bist Du mein?! Sag' ja, sag' ja!«

Ihre Antwort klang nur wie ein Hauch an sein Ohr; aber es reichte hin, ihn mit einem wonnigen Gefühl des befriedigten Mannesstolzes, des erfüllten Liebessehnens zu durchrieseln. »Mein Mädel – mein einziges – angebetetes – kleines – süsses Mädel!« Und seine stürmischen Küsse raubten ihr schier den Atem.

Da klinkte es an der Tür, und sie fuhren erschrocken auseinander. Aber ihr Aussehen sagte der eintretenden Hofrätin genug. Einen Augenblick standen die beiden jungen Menschen in fassungsloser Verlegenheit vor ihr. Dann sagte Frau Gerting freundlich zu der Tochter: »Lotti, lass mich einen Augenblick allein mit Herrn Simmert. Ich merke, er hat mir gewiss etwas zu sagen.«

Eilends, aber noch mit einem Blick liebkosend den Geliebten grüssend, lief das Mädchen zur Tür hinaus, und die Hofrätin begann die ernste Unterhaltung zwischen ihr und dem jungen Manne, dem sie das Glück ihres Kindes anvertrauen sollte. Sie sprach mit tief bewegtem Herzen und verhehlte ihm keines ihrer Bedenken.

Simmert, noch immer ganz unter dem Bann von Lottes Liebreiz, dazu unter dem Trieb eines neuen, ihm plötzlich schmeichelnden Gefühls, dass er als offizieller Verlobter eine sehr interessante Rolle spielen würde, beeilte sich, alle Sorgen der Mutter zu entkräften. Natürlich würde er nun in mancher Beziehung seine Lebensweise ändern, er wisse selbstverständlich, was er seiner Braut schuldig sei, und überdies – man würde ja doch noch nicht gleich heiraten, sondern erst in ein paar Jahren, wenn er Referendar sein würde. Da hätte ja die Frau Hofrat hinreichend Zeit, ihn genau kennen zu lernen, und sich die Gewissheit zu verschaffen, dass ihr Fräulein Tochter fürs Leben gut geborgen sein würde.

So sprach Simmert. Es klang aufrichtig, was er sagte, und der respektvolle Ton des wohlerzogenen jungen Mannes gewann gleichfalls das Herz der Hofrätin. So erhob sie sich denn, trat vor Simmert hin und reichte ihm beide Hände: »Nun, so nehmen Sie denn mein Kind hin! Ich vertraue Ihnen mein Liebstes an. Aber machen Sie es mir glücklich!«

Simmert führte ihre Rechte an seine Lippen: »Ich versichere es Ihnen, Mama,« gelobte er. Da drückte sie ihm einen mütterlichen Kuss auf die Stirn. »In Gottes Namen denn, Rolf! Rufen Sie Lotti herein!«



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