Paul Grabein
Du mein Jena!
Paul Grabein

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X.

Hellmrich stand im Laboratorium am Experimentiertisch. Er wollte endlich heute die schwierige Analyse zum Abschluss bringen, die er wegen des Ausflugs vorgestern hatte verschieben müssen. Ganz in seine Arbeit vertieft, achtete er nur auf das Reagenzglas in seiner Linken, dessen Inhalt er über der Gasflamme vorsichtig zum Kochen brachte. Aus der grün-schwärzlichen Flüssigkeit stiegen jetzt brodelnd kleine dunkelrote Bläschen auf, und allmählich begann sich ein fester, gleichfarbiger Bodensatz langsam in dem Glase auszuscheiden. Aha! Seine Vermutung war also doch richtig gewesen: Es war sicher Kupfer in der ihm zur Untersuchung übergebenen Lösung!

Mit gespanntem Interesse sah Hellmrich der weiteren Anhäufung des Niederschlages im Glase zu. Er bemerkte so nicht, wie plötzlich am weissgrauen Winterhimmel draussen die Sonne sich wieder einmal für ein paar Minuten siegreich durchgekämpft hatte und nun neugierig in den altersgebräunten Raum des Laboratoriums lugte, wo gar viel seltsames Glasgerät überall umherlag und durch die flimmernden Sonnenstäubchen die langgestreckten weisslichen Schwaden eines starkriechenden Gases langsam sich hinzogen. Hellmrich achtete auch nicht auf das lebhafte Treiben im Hof draussen – das Laboratorium lag in einem Seitenflügel des alten Stadtschlosses – wo heute die Hengstkörung stattfand und ein paar Dutzend starker, junger Rosse den Herren der Sachverständigenkommission von den Züchtern vorgeführt wurden. Wohl mochte das Klappern der Hufeisen auf dem holprigen Pflaster, das Schnauben und Wiehern der Hengste, die lauten Zurufe der Stallleute, welche die Tiere im Trab über den Schlosshof hin- und zurückführten, an sein Ohr klingen, aber es kam ihm nicht zum Bewusstsein.

So hatte Hellmrich denn auch nicht bemerkt, dass eben jemand ins Laboratorium eingetreten war, und nach einer Erkundigung bei einem der gleich am Eingang arbeitenden Kommilitonen zu ihm gewiesen worden war. Er fuhr daher ordentlich zusammen, als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte, und sein Name genannt wurde. »Hellmrich, – bitte, einen Augenblick!«

Schnell drehte sich der Angeredete um und erkannte Pahlmann. Jedoch schien er über die Störung nicht gerade sehr erfreut, sondern fragte ziemlich kurz: »Ach Du! – Was gibt's denn?«

Pahlmanns breites Biergesicht, das sonst eine unerschütterliche Ruhe aufwies, zeigte heute die Anzeichen einer hohen Erregung. »Entschuldige, Hellmrich!« brachte er rasch vor. »Aber ich muss Dich sofort sprechen. Es gehen grosse Dinge bei uns vor.«

»Ja, was ist denn los?«

»Simmert brachte eben die Nachricht auf die Kneipe, dass der S. C. uns das Paukverhältnis angeboten hat. Er hat daher sofort für heute nachmittag einen Extra-Konvent angesetzt.«

»Wie – gerade heut' nachmittag?« stiess Hellmrich befremdet hervor. »Er weiss doch, dass ich Mittwoch nachmittag immer mein Seminar habe und jetzt absolut da nicht wegbleiben darf!«

»Darum ja gerade!« flüsterte Pahlmann eifrig, und seine Miene verriet, dass er noch Wichtiges zu sagen hatte.

»Wie so – was steckt denn noch dahinter?«

»Das will ich Dir ganz genau sagen,« antwortete schnell der andere. »Ich bin fest überzeugt, der Vertrauensmann des S. C. hat mit Simmert noch ganz etwas anderes besprochen. Das Paukverhältnis ist nur vorgeschützt, um eine unverdächtige Tagesordnung für den Konvent zu haben. Aber in Wirklichkeit handelt es sich heute nachmittag darum, ob wir –«

»Korps werden sollen! – Pahlmann, woher weisst Du das?« In höchstem Masse erregt, drang Hellmrich in den andern ein.

»Ja, etwas Positives weiss ich nicht, natürlich nicht,« berichtete Pahlmann. »Aber ich habe zufällig gehört, dass heute nacht mindestens sieben oder acht von unsern Leuten bei Simmert stundenlang auf der Bude gesessen haben. Und heute beim Frühschoppen steckten sie auch immer wieder die Köpfe zusammen, bis Simmert plötzlich mit der grossen Neuigkeit ankam, die sie dann auffälliger Weise gar nicht überraschend traf.«

»Was? Das wäre ja eine regelrechte Verschwörung, ein Verrat an der Alemannia! – Und ich sollte einfach überrumpelt werden!« Hellmrich stiess es mit zornbebender Stimme hervor, so laut, dass die andern Herren im Laboratorium sich erstaunt nach ihm umsahen. Da dämpfte er denn auf einen Wink Pahlmanns die Stimme.

»Das war gut, Pahlmann, dass Du kamst. Gott sei Dank, dass es noch nicht zu spät ist!«

Schnell zog Hellmrich seinen Leinenkittel aus und machte sich zum Weggehen fertig. So sehr ihn seine Arbeit auch hier erforderte, noch nötiger brauchte ihn jetzt die Alemannia, seine liebe, alte Alemannia, für die er über acht Semester sich mit jedem Herzschlag eingesetzt hatte, deren Blühen und Wachsen zu der jetzigen stolzen Macht mit sein Werk war, und gegen deren Wurzel jetzt der Todesstreich getan werden sollte. Der aber, der ihn vollführen wollte, war sein eigener Jugendfreund, sein Leibfuchs! Ein bitteres Weh stieg in diesem Augenblick in Hellmrich auf; der Schlag traf ihn schwer, im Innersten. Schweigend, fast düster, schritt er nun neben Pahlmann auf der Strasse hin. Dann aber gewann sein ruhiger, und gerecht denkender Sinn noch einmal die Oberhand.

»Weisst Du, Pastor, vielleicht tun wir Simmert doch Unrecht – trotz allem verdächtigen Anschein. Solche Perfidie, nein! Das trau' ich ihm doch nicht zu!«

Pahlmann zuckte die Achseln. »Es wird sich ja heute nachmittag im Konvent zeigen.«

»Nein! So lange kann ich nicht mit diesem schweren Verdacht gegen ihn herumlaufen,« rief Hellmrich erregt aus. »Gleich muss ich Simmert sprechen und ihn Auge in Auge fragen! – Wo ist er jetzt wohl?«

»Bei sich zu Hause. Er ging mit mir vorhin zu gleicher Zeit von der Kneipe.«

»Gut! So will ich jetzt sofort zu ihm. Und Du gehst zu allen unsern alten Leuten und zitierst sie heute in den Konvent. Sag' ihnen, was auf dem Spiel steht, dass keiner bei der Entscheidung fehle!«

Mit aufgeregtem Händedruck verabschiedete sich Hellmrich von Pahlmann und schritt dann eilig die Saalgasse hinab, nach dem Johannistor zu. Simmert wohnte nämlich, seitdem er von den Husaren zurückgekommen war, nicht mehr in seiner alten, verhältnismässig bescheidenen Wohnung am unteren Graben, sondern hatte sich ein luxuriös eingerichtetes Quartier von drei Zimmern in einer Villa draussen im Professorenviertel am Landgrafenberge gemietet.

Nun war Hellmrich vor dem Hause angekommen. Er sah, dass ein Fenster im ersten Stock, in einem von Simmerts Zimmern, offen stand und, seiner Ungeduld nachgebend, pfiff er laut das Signal der Alemannen. Er wollte sofort wissen, ob Simmert schon zu Hause sei. Und richtig, im nächsten Augenblick erschien ein Arm, der den Fensterflügel weiter öffnen wollte, um nach dem Ankömmling unten zu sehen. Doch einen Augenblick später verschwand der Arm wieder. Sonderbar, dachte Hellmrich bei sich. Es war doch sicher Simmert selbst gewesen, der ans Fenster gekommen war. Da bemerkte er einen Spiegel, einen sogenannten »Spion« an dem Fensterkreuz und nun begriff er: Sein Leibfuchs hatte ihn im letzten Augenblick noch in dem Spiegel erkannt und wollte sich einfach nicht sehen lassen. Ah, also wirklich! Mit klopfendem Herzen sprang Hellmrich die Stufen zum ersten Stock empor. Er wollte doch ganz klar sehen!

Jetzt stand er vor Simmerts Tür. Entgegen dem gemütlichen Brauch Jenas, wo kein Student ein Abschliessen seiner Bude kennt, war dieses elegante Garçon-Logis, das eine halbe, in sich abgeschlossene Etage darstellte, verschlossen. Hellmrich klingelte, und drinnen schlug die Dogge Simmerts heftig an; aber niemand kam und öffnete. Noch ein zweites Mal und lang anhaltend, heftig, klingelte Hellmrich, denn er glaubte gehört zu haben, wie eine gedämpfte Stimme Lord zur Ruhe verwies. Doch auch jetzt wurde nicht aufgemacht. Da wusste Hellmrich, dass sein Leibfuchs nicht öffnen und Rede stehen wollte. So war es denn doch wohl so, wie Pahlmann geargwöhnt hatte.

Langsam wandte sich Hellmrich von der Tür ab, aber dann schritt er energisch, mit schnellen Schritten aus dem Hause. Gut! – Simmert wollte es nicht anders; nun sollte er ihm heut' nachmittag vor allen andern Rede stehen. Und wehe ihm, wenn er ein falsches Spiel getrieben!



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