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Mit fast sommerlicher Wärme, rückstrahlend von den weißschimmernden Weinbergsmauern und Steinstraßen ringsum, prallte die Sonne vom tiefblauen, stahlgleißenden Himmel hernieder; ein richtiges Südlandswetter, wie es dieses gesegnete Seegestade von Montreux ja meist bis tief in den Herbst hinein aufweist. So warm, ja heiß war es, daß die Damen des Sanatoriums »Au Châtelard« in lichten, leichten Sommerblusen draußen im Garten des Hauses saßen.
Auch Frau Ursula war hier draußen. In Gesellschaft eines jungen Mädchens, eines Fräulein Zindler aus Köln, mit dem sie in den drei Tagen ihres Aufenthalts bereits etwas näher bekannt geworden war, saß sie auf einer Bank in einer Nische von Taxushecken, einem versteckten Plätzchen des geräumigen Gartens, mit einer wahrhaft zauberisch schönen Aussicht auf den See.
Umrahmt von den Wänden der Taxusnische rechts und links zeigte sich hier dem Auge ein Ausschnitt der Landschaft wie ein künstlerisch komponiertes Bild. Im Vordergrund fesselte das Auge der malerische, trutzigwahrhafte und doch anmutige Bau des alten Herrensitzes, der dem Sanatorium den Namen gegeben hatte. Über die sanft gewellten Rebenhügel des Vorlandes hinweg glitt der Blick zum Seegestade hinab, das mit seiner weißschimmernden, in der Sonne gleißenden, ununterbrochenen Reihe von eleganten Villen und Hotels den wunderbar leuchtenden Riesensmaragd des Sees wie eine flimmernde Perlenschnur faßte. Und hinten, wo das transluzide Grün des Sees in ein tiefes, weiches Blau hinüberspielte, stiegen die Bergwände der Savoyischen Alpen auf, in ein duftiges Violett getaucht, Hunderte von feinen Schneeäderchen an ihren Flanken zeigend und die Firnenhäupter in leuchtenden Neuschnee gehüllt.
Frau Ursula saß, in stilles, andachtsvolles Schauen verloren, die Hände im Schoß verschlungen. Ein süßer, unendlich wohltuender Friede wehte sie aus diesem Bilde an. Die wohlige Sonnenwärme löste so mildetröstend alles alte Weh auf, das drinnen in der Brust starrte. Wie seligschön, diese linde, köstliche Sonnenluft zu atmen, zu schauen in diese Wunder eines gütigen Schöpfers!
»Also, gnädige Frau haben sich nun doch entschlossen, hier zu bleiben; ich glaube auch, Sie werden es nicht bereuen.«
Die Worte ihrer Begleiterin störten Ursula aus ihren weltentrückten Sinnen auf. Ja so, sie war ja nicht allein.
»Allerdings, Fräulein Zindler,« erwiderte sie, »mein Mann scheut die Strapazen einer abermaligen Reise.«
In der Tat war es heute von Drenck beschlossen worden, nun doch hier auszuhalten. Als sie am Tage ihrer Ankunft, nach der Begegnung mit Wigand, wieder auf ihr Zimmer gekommen waren, hatten sie sofort Vorbereitungen zum Aufbruch getroffen. Es war ja ganz unmöglich, namentlich Ursulas wegen, hier zu bleiben. So hatten sie denn dem Geschäftsführer des Hauses gegenüber dringende häusliche Angelegenheiten – die soeben ein Brief ihnen mitgeteilt hätte – als Grund für ihren Wiederaufbruch am nächsten Tage vorgeschützt. Aber am Abend hatte sich plötzlich bei Drenck erhöhte Temperatur eingestellt, wohl infolge der Erregung mittags – und so war man denn gezwungen gewesen, fürs erste noch zu bleiben. Ja, der Zustand Drencks hatte es sogar erfordert, daß Wigand zu ihm aufs Zimmer kam, um die nötigen ärztlichen Hilfsmittel zu verschreiben. Nun ging es ja zwar Drenck bereits wieder besser, aber eine längere Reise, die nach Ober-Italien oder etwa nach St. Moritz im Engadin nötig gewesen wäre, verbot sich noch immer für einige Zeit.
So war man zunächst also ja doch zum weiteren Verweilen in Wigands Nähe gezwungen, und da er in den letzten Tagen doch schon ein paarmal wieder in Berührung mit ihnen gekommen war, so mochte es in Gottes Namen denn auch noch so lange weitergehen, bis Drenck wieder ohne jeden Schaden fort konnte. Ein paar Wochen würde es zur Not eben einmal gehen müssen.
Ursula war ihrerseits bisher jeder Begegnung mit Wigand aus dem Wege gegangen. Sie hatte sich bei seinen ärztlichen Besuchen auf Drencks Zimmer stets in das Nebengemach zurückgezogen. Wigand hatte sich übrigens bei diesen Visiten, bei denen ihn stets sein Assistent begleitete, auch sehr korrekt benommen, so daß Drenck die unangenehme Situation sehr erleichtert worden war. Zum Überfluß konnte man ja auch fernerhin noch ein Weiteres tun und sich die Mahlzeiten auf dem Zimmer servieren lassen. So ging man ja jeder Berührung mit Wigand aus dem Wege.
Alle diese Gründe hatte heute morgen Drenck seiner Frau entwickelt, und diese hatte sich schließlich darein gefügt; es mußte ja eben um Freds willen sein. Freilich blieb es trotz allem für Ursula ein ungeheures Opfer. Wenn sie Wigand auch wirklich in diesen paar Wochen kaum sehen sollte, es blieb gerade schon genug, mit ihm unter einem Dache zu hausen, stündlich in der Angst und Aufregung zu leben, ihm doch unerwartet einmal zu begegnen, vielleicht sogar allein, an entlegenem Ort.
Aus diesem Grunde ganz besonders hatte Ursula sich an Fräulein Zindler geschlossen. Das junge Mädchen, das sich in seiner leichten rheinischen Art für die »süße, kleine Frau« gleich von der ersten Stunde an lebhaft interessierte – war diese doch auch mit ihr das einzige jugendliche weibliche Element im Hause – war Ursula mit einer herzlichen Liebenswürdigkeit entgegengekommen und hatte ihr schon allerlei von sich und den übrigen Sanatoriumsgästen berichtet. Fräulein Zindler selbst mußte eines Lungenspitzenkatarrhs wegen schon den zweiten Winter in »Au Châtelard« verleben; aber sie nahm das mit ihrem glücklichen Frohmut nicht ernst. Sie fühlte sich hier vielmehr äußerst wohl, war sie doch mit dem Hauspersonal und seiner Leitung sowie mit manchem Stammgast des Sanatoriums gut bekannt, und hoffte sie doch, sicher nach Beendigung dieser zweiten Winterstation wieder ganz hergestellt zu sein.
»O, der Winter ist so wundervoll hier,« schwärmte Fräulein Zindler. »Wenn erst der Schnee liegt und das Schlittenfahren mit den Luges von Les Avants herunter beginnt! Es macht zu viel Spaß, selbst wenn man mal umschlägt. Und Ihrem Herrn Gemahl, gnädige Frau, wird der Aufenthalt hier schon gut bekommen. Ich habe in der einen Saison hier auch ganz enorme Fortschritte gemacht – dreizehn Pfund zugenommen. Kolossal, nicht?«
Frau Ursula zog mit freundlichem Lächeln die zutrauliche, kleine Begleiterin an sich. Sie selbst war ja nur ein paar Jahre älter; aber wie alt, wie gereift durch bitteres Leid war sie gegen jene!
Einen Augenblick saßen die beiden Frauen, traulich aneinander geschmiegt, und blickten vor sich hin in das Sonnengeflimmer des Gartens, da fuhr Fräulein Zindler plötzlich lebhaft auf.
»Der Doktor!« Sie machte unwillkürlich eine Handbewegung nach dem unteren Ende des Gartens, und eine leichte Röte stieg fliegend in dem zartrosigen Gesichtchen auf. In der Tat: dort unten kam Doktor Wigand gegangen, langsamen Schrittes, den Hut in der Hand, mit etwas nach vorn gebeugter Haltung, wie ein müder Mann, der nach angestrengter Arbeit sich nun unbeobachtet einmal ein paar Minuten gehen läßt.
»Ach Gott! Wie angegriffen er wieder ist!«
Der ungewöhnlich herzliche Ton des Mitleids machte Ursula zu ihrer Begleiterin aufsehen, und nun nahm sie auch die Röte in deren Antlitz wahr, während ihre Blicke mit heimlicher Zärtlichkeit an der Gestalt des dort unten schreitenden Mannes hingen. Kein Zweifel! Das junge Mädchen nahm an Wigand ein ernsteres Interesse. Ein plötzliches dumpfes Weh stieg in Ursula auf: wenn ihre Begleiterin ahnte, was ihr dieser Mann da einmal gewesen war.
»Wieso soll Herr Dr. Wigand angegriffen sein? Er macht doch sonst gar nicht den Eindruck?« forschte Frau Ursula, aber leichthin, mit gewöhnlichem Konversationston.
»O, er läßt sich natürlich nichts anmerken, wenn er unter Menschen ist,« erklärte mit rührendem Eifer seine kleine Verehrerin. »Aber ich weiß es besser. Er arbeitet über seine Kräfte. Selbst sein Assistent gibt es ja zu. Sechzig Patienten im Hause, von denen er fast die Hälfte speziell behandelt mit Elektrizität, schwedischer Massage, Vibrationstherapie, das kann ja auf die Dauer auch der Stärkste nicht aushalten. Er gönnt sich ja auch nicht die geringste Erholung. Von morgens sechs an, wo er manche schon im Bett behandelt, bis abends elf und oft noch länger ist er beständig in Tätigkeit. Sonntags nachmittags mal eine Stunde Spazierengehen – das ist alles! Ist das nicht ein trübseliges Leben? Und dazu noch den Ärger mit den verdrehten Menschen hier! Namentlich mit den alten Frauenzimmern. Da ist z. B. so eine alte, verdrehte Miß – wissen Sie? Die gräßliche, alte Vogelscheuche links unten an unserem Tisch, die immer mit Augen, so groß wie ein Teller, zu ihm hinaufschmachtet! Die Person ist ja ganz verrückt nach ihm. Jeden Tag fehlt ihr was anderes: heute hat sie Schmerzen im Kopf, morgen in der Nase, übermorgen im großen Zeh, oder Gott weiß sonst wo, bloß damit sie einen Grund hat, ihn zu sich holen zu lassen. Immer auf ihr Zimmer natürlich. Sie glauben gar nicht, wie ungeniert diese Person ist!« Flüsternd neigte Fräulein Zindler ihren Mund dicht zu Ursulas Ohr. »Jeden Abend, noch ganz spät, empfängt sie ihn auf der Chaiselongue, in einer verführerischen Matinee mit neckischen Spitzen und Schleifchen – dieses alte Gestell, ich bitte Sie – und stöhnt ihm von ihren unerträglichen Kopfschmerzen vor – ich weiß das alles von Rosa, dem Zimmermädchen. – Sie ruht nicht eher, als bis er ihr die Schläfe vibriert, oft eine halbe Stunde lang. Dann erst behauptet sie, schlafen zu können. Ist das nicht geradezu empörend, den armen, abgehetzten Menschen so anzuspannen?«
Ursula hatte schweigend den Ausbruch warmherziger Entrüstung mit angehört; ihr Auge hatte dabei Wigands Züge aus der Entfernung zu durchdringen versucht. Und wirklich, soviel sie erkennen konnte, schien ein müder, bitterer Ausdruck in seinem Antlitz zu nisten. Ein brennender Drang kam da plötzlich über sie. Eines mußte sie wissen: was war die Ursache dieser Müdigkeit? Ihr gereifter Frauenverstand sagte ihr, daß ein Mann wie Wigand um körperlicher Abspannung willen nicht so aussah, daß er – wenn ihn die Arbeit wirklich zu überwältigen drohte – Manns genug war, sie vernunftgemäß einzuschränken. Nein, hier lag ein anderes vor: er wollte es so haben, er wollte arbeiten bis zum Zusammensinken, um zu vergessen.
»Sie mögen ja recht haben, liebes Fräulein Zindler,« ruhig erwiderte es Ursula, aber ihr Herz klopfte in fiebernder Erwartung, eine Gewißheit zu erhalten. »Doch ich verstehe nur nicht, warum der Herr Doktor sich nicht einen Teil der Arbeitslast abwälzt – auf seinen Assistenten oder sonstwie.«
»Sehen Sie, gnädige Frau, das habe ich mich auch schon immer gefragt!« Lebhaft fuhr das junge Mädchen zu Ursula herum, und mit gedämpfter Stimme fuhr sie dann nach einer Weile des Zögerns fort, als gäbe sie ein lange sorgsam gehütetes Herzensgeheimnis preis. »Wissen Sie, was ich mir denke – und auch viele andere Damen hier im Hause?«
Ursula machte eine gelassen, fragende Gebärde: »Nun?«
»Er will sich betäuben, ja vielleicht aufreiben – er hat eine unglückliche Liebe in seiner Heimat, in Deutschland!«
Alles Blut schoß plötzlich Ursula zum Herzen, daß sie einen bohrenden Schmerz dort fühlte und ihr Antlitz sich entfärbte. Nicht allein die Worte ihrer Begleiterin waren schuld daran; nein, im selben Augenblick hatte auch Wigand, den Weg unten verlassend, eine Schwenkung gemacht, und kam herauf, gerade auf sie zu. Er hatte sie, mit seinem zu Boden gesenkten Blick, offenbar noch gar nicht hier in der Taxusnische bemerkt.
»O – fein! Er kommt zu uns her!« frohlockte leise Fräulein Zindler.
Mit einer hastigen Bewegung fuhr Ursula von der Bank empor, so daß ihre Begleiterin sie überrascht ansah. Um jeden Argwohn abzulenken, zog Ursula schnell die Uhr aus dem Gürtel.
»Mein Gott, gleich zwölf! Da wird mein Mann schon schön auf mich warten.« Und sie machte Miene, sich eiligst von Fräulein Zindler zu verabschieden.
In diesem Augenblick aber stutzte Wigand und verlangsamte seine Schritte. Das plötzliche Aufspringen Ursulas hatte seine Blicke nach der Nische gezogen. Er erkannte die beiden Damen, und sofort übersah er die Situation. Natürlich! Ursula, die ihm seit jenem ersten unvermeidlichen Begegnen konsequent aus dem Weg gegangen war, wollte bei seiner Annäherung schleunigst entfliehen.
Ein Ausdruck tiefster Bitterkeit erschien einen Moment lang auf seinem Gesicht, und sein Auge suchte das Ursulas: Keine Sorge! Ich will dich nicht vertreiben. Ich gehe schon wieder meines Weges. Aber schon im nächsten Augenblick, während er nur den Damen aus der Entfernung eine leichte Verbeugung zum Gruß machte, nahmen seine Züge eine Miene kalter Verachtung an. Die Frau da sollte nicht denken, daß er etwa absichtlich eine Begegnung mit ihr gesucht habe. O nein! Dazu war ihm jede Neigung benommen, nachdem er ihren wahren Charakter, ihr falsches Spiel damals endlich durchschaut hatte.
So hielt Wigand denn allmählich seine Schritte ganz an, fuhr sich über die Stirn, wie jemand, dem plötzlich etwas einfällt, und ging dann, umkehrend, mit straffer Haltung, schnell zurück, nach der Dependance hinüber.
»O, wie schade!« Stark enttäuscht rief es Fräulein Zindler aus, dem sich Entfernenden mit Blicken lebhaftesten Bedauerns nachschauend. »Ich hatte mich schon gefreut, ein paar Minuten mit ihm zu verplaudern! – Aber, was mag er nur haben? Ist es Ihnen nicht auch aufgefallen,« sie wandte sich plötzlich an ihre Begleiterin, »seine Miene wurde mit einem Male ganz finster! Was mag ihm nur so plötzlich durch den Kopf geschossen sein?«
Der arglos fragende Blick des jungen Mädchens drohte Frau Ursula doch zu verwirren.
»Ich habe nichts bemerkt,« wich sie aus. »Sie haben sich wohl getäuscht. – Aber Sie müssen mich wirklich nun entschuldigen,« verabschiedete sie sich schnell, »mein Mann wird sonst ungeduldig. Auf Wiedersehen, liebes Fräulein Zindler.«
Eilig ging sie davon, dem Hause zu, im tiefsten Innern verstört. Dieses flüchtige Begegnen, der einzige, aber so beredte Blick Wigands hatte eine qualvolle Jagd ihrer Gedanken hervorgerufen: Hatte die kleine Schwätzerin da eben wirklich recht gehabt – litt Wigand wirklich so unter der Zerstörung seiner Hoffnungen, unter dem Verlust ihrer Person? Aber wenn – was hatte da dieser Blick zu bedeuten gehabt, dieser nur allzu deutliche Ausdruck einer kalten Verachtung?
Wer löste ihr das Rätsel, das ihre Seele bis zum Grund aufzuwühlen drohte?