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Eke von Selbach stand auf dem Talkopf. Gerade ihr zu Füßen lag drunten der Ort, dessen Stunden nun gezählt waren. Regungslos blickte sie auf die ausgestorbenen Gassen, die verlassenen Häuser. Und jener Stunde mußte sie gedenken, wo sie hier oben mit Gerhard Bertsch gestanden, wo er ihr den großen Plan enthüllt.
Nun war zur Wirklichkeit geworden, was damals nur erst in seinen kühn hinstürmenden Gedanken lebte. Das Große war vollbracht. Aber wie anders, als sie beide es sich damals gedacht – Hand in Hand, mit hochaufschlagendem, glücksgewissem Herzen.
Mit einem leeren Blick schaute sie hinaus über die todgeweihten Gründe drunten, die zum letztenmal der goldene Sonnenschein liebkoste. Doch nun riß sie ein lauter Weckruf aus ihrer Versunkenheit. Von weit her, aber deutlich vernehmbar: Fanfarengeschmetter, dann ein Choral. Feierlich wallten die ernsten, vollen Klänge über das schweigende Tal hin und kehrten in schwächerem Widerhall von den Bergwänden zurück. Drunten an der Sperrmauer begann die festliche Einweihung.
Weit beugte sich Eke über die Brüstung vor. Auf der Höhe neben dem Staudamm ward ihr das buntbewimpelte Festzelt sichtbar. Da zuckte es um den herben Frauenmund. Nun verlebte er dort die große Stunde seines Lebens unter den Tausenden, deren bewundernde Blicks an ihm hingen. Nur sie war ihm fern. Und wie in einer Vision sah ihre Seele, die es in leidvollem Suchen zu ihm hintrieb, was sich dort begab.
Eine glänzende Versammlung, Männer von hohem Rang in jener Welt des äußeren Scheins, mit vornehmer Würde im Schmuck glitzernder Orden und goldprunkender Uniformen. Und zwischen ihnen er – in schlichtem, schwarzem Gewand, aber auf der kühn gewölbten Stirn das höchste Ehrenzeichen, das keine Fürstengnade verleihen kann.
Nach Trompetengeschmetter und Choralklang die großen, tönenden Worte, die dem vollendeten Werke galten, seine gewaltige Bedeutung den herbeiströmenden Tausenden kündeten. Zwischen den stolz hinrollenden Lobhymnen auf den unaufhaltsam vorwärtsdrängenden Siegeszug der Technik freilich auch ein ernster, stiller Seitenblick hin zu dem, was gefallen war unter dem malmenden Tritt des neuen, eisernen Zeitalters: Den Männern von Rödig und ihren Leidensgefährten im Rauhen Grunde, die von ihrer Scholle hätten gehen müssen, ein ehrendes Gedenken ihrer schweren Opfer: »Sie gaben der Ahnen Gräber und den eigenen Herd.« – Doch von den Besiegten hin zum Sieger! Und nun richteten sich die Augen all der Tausende auf ihn, zu dem sich jetzt der vornehme Sprecher wandte, mit huldvoll anerkennender Gebärde. »Da steht er vor uns, der Mann, dessen Haupt der schöpferische Gedanke entsprungen! Seine gigantische Wucht überkommt uns heute voll angesichts dieses Riesenwalls aus Quadern, die dem Anbranden eines entfesselten Ozeans trotzen zu sollen scheinen. Mit fast vermessener Kühnheit ersonnen, doch mit kühlem Scharfsinn durchdacht in seinen Einzelheiten, und mit stählerner Energie dann durchgeführt, allen Hindernissen zum Trotz, in jahrelangem Mühen, so steht heute das vollendete Werk vor uns – sich selber zum Ruhme und dem Manne, der es geschaffen!«
Und wieder Fanfarengeschmetter, brausende Zurufe der Tausende, aber starr steht der, dem die Huldigung gilt. Blaß im Bewußtsein des Augenblicks, doch im Antlitz jede Muskel gestrafft und um die Mundwinkel einen fast herben Zug. Jubel der Menge – nie hat er danach gegeizt. Er weiß, was er wert ist! Und der blendende Ordensstern, den ihm jetzt die Hand des vornehmen Redners an die Brust heftet – was soll ihm das, dem Manne der Arbeit? Wohl hat er sich einmal einen Lohn gedacht in dieser Stunde am Ziel. Aber wo waren die Augen, deren stummes Aufleuchten über die Köpfe der Tausende hinweg sein Herz voller Stolz hätte aufschlagen lassen? –
Und die, der sein Gedenken galt inmitten des brandenden Festjubels, saß einsam in selbstquälerischem Grübeln. Warum hatte alles so kommen müssen? Ach, daß sie damals, wo sie ihr Schicksal noch in der Hand gehabt, so töricht unerfahren gewesen war! Sich selber und dem Manne gegenüber. Warum war ihr damals noch nichts zu eigen von dem Wissen, das ihr dann die Ehe gebracht, in bitterem Leid? Warum nicht ein Funken nur von dem großen Verstehen der alten Frau da drunten, die mit einem einzigen, klugen Wort den Schlüssel gefunden zu seinem Wesen, das sie erschreckt und davongescheucht hatte damals im Aufbäumen ihres törichten Mädchenstolzes. Warum – warum nicht?
Eine tiefe Bitterkeit quoll in ihr auf. Was hatte das Leben für einen Sinn, das dem Menschen das Erkennen erst immer nachher gab, wenn es zu spät war, nur, wie um ihn grausam und hohnvoll zu quälen?
Doch plötzlich schrak Eke empor. Der Grund bebte und schütterte unter ihren Füßen, zugleich ein donnernd aufbrüllendes Krachen, als ob die Erde berste bis in ihre Grundfesten. Weit aufgerissen starrten ihre Augen zu Tal, zum Unterdorf hin. Dort drunten eine Feuersäule, riesenhoch, dann kohlschwarze Finsternis. Der Boden war hinauf zum Himmel geschleudert worden, mit allem, was er trug.
Minutenlang stand diese gigantische Rauchwolke in der Luft und verdunkelte die Sonne. Zum Grausen unheimlich. Dann senkte sie sich langsam nieder, ein ungeheurer Aschenregen, und nun zerflatterten die letzten grauen Schleier – das Werk der Zerstörung ward dem Auge offenbar. Und Eke sah: wo eben noch das Dorf gestanden, all die menschlichen Wohnstätten – nichts mehr, nichts! Ein einziges weites Trümmerfeld, grau, schwarz, trostlos. Bloß hier und da spärliche Mauerreste, noch ein Stückchen Wand mit dem erkennbaren Rest einer Fensteröffnung. Nur abseits, drüben am Adligen Hause, ragte es noch aufrecht, der Stumpf des Turmes. Mitten durchgerissen von der Gewalt der Explosion, war die eine Hälfte des unteren Stockwerks stehengeblieben. Wie ein schrecklich verstümmeltes Glied – ein grausiger Anblick.
Regungslos stand Eke und blickte nieder auf die Stätte der Zerstörung. Ein Bild ihres eigenen Innern. Und ihre grenzenlose Verlassenheit ward ihr von diesem Anblick bewußt, wie noch nie in all der Zeit ihres Alleinstehens.
Müde ließ sie sich auf der Bank nieder. Sie sah hinein in sich selber und in ihre Zukunft.
Was sollte mit ihr werden?
Alles, was ihr vertraut und heimisch gewesen, hier war es hingesunken. Die Wasser würden es decken, die nun zu rauschen begannen da drunten. Nichts hielt sie hier mehr. Aber wohin nun mit ihr?
Dies unstete Herumschweifen, wie bisher in ihrem Witwenjahr, war doch nur ein Notbehelf gewesen. Sie war keiner jener leicht beschwingten Zugvögel, die mit der Saison von Ort zu Ort flatterten, wie sie so viel da drunten getroffen. Nein, sie war eine Natur, die Wurzel schlagen mußte, tief und fest, sollte sie weiterleben.
Aber wo fand sie noch einmal Heimatboden?
Lange sann Eke vor sich hin.
Endlich blickte sie wieder auf. Ihr Auge fiel jetzt drüben auf den Berghang über dem Oberdorf. Schwer und massig lagen da die Werkanlagen von Christiansglück. Gefeiert wurde heute auch dort droben. Die Förderräder standen still. Die Aufzüge an den Hochöfen ruhten. Aber aus den Röstöfen, aus den Essen der Kesselhäuser, wo die Feuer nicht erkalten durften, stieg leise und immerwährend der Dampf und floß zusammen zu einem warmen, feuchten Brodem, Dumpf klang das ständige Puffen und Schüttern der Maschinen, das dunkle Rauschen der Kühlwässer von den Hochöfen herüber. Wie ein riesiges Arbeitstier lag das feiernde Werk da. Wie ein Gigant, der von seiner Mühe ermattet am Boden ruht. Aber noch fliegen ihm mit dumpfem Keuchen die Flanken, und über seinem schweißrauchenden Leib zittert heiß die Luft.
Festigkeit kam da allmählich wieder in Ekes Seele. Arbeit im Dienste anderer, der Armen und Schwachen, der hilflosen Kleinen – war das nicht auch ihre Losung? Sie allein vermochte ihr wohl noch Heilung zu bringen. War es freilich auch nur ein Ersatz für ein anderes, stärkeres Sehnen in den Tiefen ihrer Weibesnatur, es würde immerhin ihrem Leben wieder ein Ziel geben. Und Eke erhob sich. Mit einem letzten, langen Blick nahm sie Abschied von der versinkenden Heimat.
Dann wandte sie sich langsam nach der Richtung der Talsperre hin. Es war inzwischen still dort geworden. Die Feier schien vorüber. Ob er nun wohl kommen würde?
In den Wald hineinlauschend, stand sie. Noch einmal fragte sie sich: War es richtig gewesen, daß sie ihm diese Zeilen geschrieben, ihn um diese Unterredung gebeten hatte?
Gewissenhaft prüfte sie und entschied: Vielleicht war es etwas Ungewöhnliches, aber sicher nichts Unrechtes. Der Ernst der Absicht gab ihr das Recht zu solchem Schritt.
So sah sie mit Ruhe seinem Erscheinen entgegen. Denn sie fühlte, er würde kommen. Und er ließ auch nicht lange mehr auf sich warten. Bald schallten aus dem Wald hinter ihr nahende Schritte, dann rauschten die Zweige auseinander – Gerhard Bertsch stand vor ihr.
Nun sie sich ihm gegenüber fand, so nahe und in tiefer Einsamkeit, fühlte sie doch ihre Sicherheit etwas weichen. Und mehr noch, wie sie jetzt in seine Züge sah. Sie verbargen bei aller Beherrschtheit nur schlecht die innere Erregung. In seinen Augen bebte es, wie ein Hoffen, das noch nicht hervorzubrechen wagte. Es schwang auch aus seiner Stimme, wie er sie begrüßte, stockend und noch unsicher ihr gegenüber.
»Verzeihung – daß ich auf mich warten ließ. Aber ich ging, sobald ich irgend abkommen konnte. Eke, Ihre Zeilen – nein, das ist ja Unsinn so! Sprich mir nachher mein Urteil, wie du willst, aber in dieser Stunde, der einzigen und letzten vielleicht, die mir noch mit dir vergönnt ist, will ich reden, wie mir ums Herz ist. Du weißt ja nicht –«
Doch nun hatte sie sich wieder. Voll sah sie ihn an. Aber eine große, abgeklärte Ruhe war in dem Blick, der ihn suchte. Und leise bewegte sie das Haupt. Ein Abwehren, bei aller Sanftheit fest und bestimmt.
»Gerhard – versteh' meinen Brief nicht falsch. Knüpf' daran nicht Hoffnungen, die ich gleich wieder enttäuschen müßte. Wenn ich dich rief, so geschah es nur, um dir zu sagen, was sich in mir durchgerungen hat in Stunden voll tiefer Bitternis, aber dennoch wohl von Segen. Das Leben hat sein Werk getan auch an mir. Heute denke ich anders über manches, und ich weiß: ich handelte töricht, damals in jener Stunde, die uns trennte.«
Ein Aufzucken in seiner Rechten, als wollte sie sich ihr entgegenstrecken. Doch sie sprach weiter, im gleichen still entschlossenen Ton:
»Es ist nun einmal geschehen und nicht mehr gutzumachen. Aber vielleicht hilft es auch dir leichter hinweg, wenn ich dir sage, Gerhard: ich sehe nur noch Verhängnis, wo ich früher Schuld bei dir sah. Ich weiß, du leidest unter deinem Irren und zerquälst dich in innerer Zerrissenheit. So verlierst du dein Bestes, deine kostbaren, schönen Jahre, die dir Freude bringen sollten und Glück. Das jammert mich, Gerhard, helfen möchte ich dir, wieder mit hellen Augen ins Leben zu blicken, und darum rief ich dich noch einmal. Komm, gib mir deine Hand. Laß mit dieser Stunde alles vergessen sein, was dich quält. Nichts von Schuld und Verzichten. Du hast dir nichts mehr vorzuwerfen. Blick' wieder frei ins Leben, voll frischer Zuversicht, und nimm dir deinen Anteil am Glück – solange es noch Zeit ist.«
Leiser ward ihre Stimme und ein wenig dunkel. Aber nur für einen Augenblick. Dann tönte sie wieder fest und klar.
»So, das war's, was ich dir sagen wollte. Und wo es geschehen, ist mir selber leichter ums Herz. Nun kann ich ruhig weg von hier. Und damit laß uns denn nun jeder fortab seinen Weg gehen. Allein, aber ohne Bitterkeit gegen den andern.«
Sie wollte mit einem leisen Druck ihrer Hand von ihm scheiden, doch er ließ sie nicht.
»Eke!«
Ein Ton war es, der klang fernher, aus sel'ger Zeit. Die Farbe wich da von ihren Wangen. Doch abwehrend schüttelte sie das Haupt.
Aber seine beiden Hände hielten sie, und es strömte von ihnen wieder die alte, siegesfrohe Kraft aus.
»Wenn es so ist – warum dann allein unsere Wege gehen?«
»Zu viel steht zwischen uns –« im Erinnern daran kam ein wehes Schüttern in ihre Stimme – »bei dir wie mir.«
»Aber nichts, das nicht vergessen werden könnte, das nicht zusammenbräche wie die morschen Trümmer da drunten, wenn wir nur wollen!«
Wieder nur das stumme, traurige Abwehren. Doch seine aufrüttelnden Hände sandten gesteigerte Lebensströme hinüber in ihre matten Pulse.
»Eke! Muß ich es jetzt umgekehrt dir zurufen? Kraft und Wille überwinden alles! Was steht denn in Wahrheit noch zwischen uns, wenn wir beide uns wieder frei ins Auge sehen können, Hand in Hand? Nichts, Eke, nichts! Blasse Schatten, die uns nicht schrecken können. Alles andere aber, was wir selber uns angetan, es ist ausgelöscht in dieser Stunde, nach unserm festen, ehrlichen Wollen. Nur das eine gilt: wir lieben uns! Nein, leugne es nicht. Dein Auge spricht wahrer als jedes Wort: du liebst mich – trotz allem. Und ich? Ich liebe dich, wie einst, wie immer. Eke – ich nehm' dich! Mit gutem Recht: mein warst du, mein bist du – mein!«
Und ehe sich ihr noch eine Antwort entrungen, hatte er sie schon an sich gerissen und küßte sie. Küßte sie wie damals. In stürmischem Begehren. Wie ein Frühlingssturm brauste es hin über sie. Sein ungestüm forderndes Werben. Aber heute floh sie nicht mehr, von Schrecken verwirrt. Geschlossenen Auges ruhte sie in seinem Arm und genoß erschauernd das Glück der Erfüllung.
* * *
Die Wasser stiegen im Rauhen Grund. Welle auf Welle des Flusses rannte gegen die Brustwehr des Staudammes, sprang wütend hoch an den steinernen Quadern und warf sich gegen die eisernen Schleusentore der Durchlässe. Aber unerschütterlich hielt das Menschenwerk dem Rasen der empörten Naturgewalten stand. Da wirbelten die bestürzten Wassermassen, wild aufschäumend in ohnmächtiger Wut, eine Weile vor dem unüberwindlichen Hindernis umher und brachen dann seitlich aus, in plötzlichem Entschluß. Auf die Flur warfen sie sich, auf die Felder und Wiesen längs des Flusses. Das war auch willkommene Beute. Stets hatten sie ja im Vorbeieilen mit gieriger Zunge nach diesen Ufern geleckt. Nun war ihnen das Opfer verfallen – endlich.
Hei, das war ein wild lustiges Rennen – frei und ungehindert über die Äcker, auf denen der Mensch bisher so schneckenlangsam und mühselig seine Furchen gezogen. Unaufhaltsam, weiter, immer weiter, über die ganze Talbreite, bis hin an den Fuß der Berge. Aber auch hier noch kein Anhalten. Holla – nein, jetzt ging es erst recht an. An den Bergflanken kletterten die toll gewordenen Wogen hinauf, in aufschäumender Lust. Zoll um Zoll, Fuß um Fuß. Und begriffen es jauchzend: alles war ihnen überlassen – alles. Flur und Feld, Haus und Hof, Baum und Strauch. Hoiho! so gute Tage hatten die wilden Wasser lange nicht mehr gehabt. Seit den Urzeiten nicht, wo die Ozeane langsam zurückgewichen waren von Berg und Tal und allmählich das große Grünen und Leben begonnen auf dem kahlen Steinleib der Erde.
Ja, alles ward ihnen zur Beute, den schäumenden, kreisenden Wassern, die nun den Rauhen Grund überrannen Tag und Nacht. Schon deckte ein langgestreckter Seespiegel das Wiesental. Und droben, im sicheren Schutz der Berghöhen, standen Tausende von Menschen, herbeigeeilt von nah und fern, und sahen dem wachsenden Werk der Vernichtung zu. Aber aus dem großen Sterben dort würde Leben erblühen – größer noch, unendlich viel gewaltiger als das, was dort versank vor ihren Augen. Und im stummen Hinstarren packte es sie, schauernde Andacht, ein stolz schwellendes Ahnen: immer mehr, immer herrlicher erfüllte sich die uralte Verheißung an das Menschengeschlecht: Herr zu werden der Erde und Meister ihrer schöpferischen Kräfte.
So blickten sie nieder und sahen, wie die gefräßigen Wasser drunten das Dorf umkreisten wie hungrige Wölfe, immer näher heranschlichen, immer höher emporsprangen. Nach und nach fielen ihrer Gier immer mehr Opfer. Hier eine unterspülte Wand, dort ein wankender Mauerrest.
Mit steigender Spannung richteten sich die Blicke der Tausende endlich auf den Turmstumpf vor dem Dorf, beim Adligen Hause. Trutzig ragte er allein noch schließlich empor und hielt den wutschäumenden Angreifern Widerpart. Auf dem geborstenen, rauchgeschwärzten Mauerkranz oben schimmerte es bisweilen hell auf und blinkte silberweiß im Sonnenlicht. Nun erkannte man: Tauben! Treu der Stätte, wo sie so lange Hausung und Nahrung gefunden, konnten sie sich nicht trennen von dem Ort, trotz seiner Verwüstung, von Zeit zu Zeit zwar flatterten sie auf, kreisten wie suchend über der Trümmerstätte und den steigenden Wassern, aber immer wieder ließen sie sich auf der Ruine des Turms nieder, ihrer letzten Zuflucht. Aber wie lange noch? Und mitleidsvoll spähte alles auf den Berghöhen hin zu den armen Tieren.
Doch nun! Was ging plötzlich für ein Raunen durch die Menschenmenge und lief, weit um das ganze Talrund, von Mund zu Mund, von Gruppe zu Gruppe, die dort stand? Und ein Grauen schlich leise ihm nach. War es denn möglich? Auch ein Mensch sollte dort noch weilen in dem alten Gemäuer, das jede Minute vom Zusammenbruch ereilt werden konnte? Ein armer, hilfloser Kranker oder Alter, den sie vergessen hatten, gestern bei dem großen Räumungswerk!
Erschrocken sah einer den andern an. Doch dann kamen Zweifel. Ha nicht denkbar! Aber einige beharrten erregt. Doch, doch, ganz deutlich hatte man ihn vorhin gesehen, wie er eine Weile an der Fensterhöhle gestanden hatte – ganz gewiß, eine menschliche Gestalt!
Auch zu dem Hause droben am Waldesrand über Christiansglück drang die Kunde. Dort standen auf dem Balkon Eke und Gerhard, nahe beieinander. So schauten auch sie hinab auf die steigenden Wasser. Nun drang das dunkle Gerücht hinauf bis zu ihnen.
»Wie – ein Mensch dort drunten?«
Erschrocken blickte Eke Bertsch an. Der schüttelte ungläubig den Kopf, nahm aber doch den Feldstecher und beobachtete scharf die Ruine, plötzlich aber ein Zusammenzucken.
»Siehst du was?«
Ein betroffenes Nicken.
»Es ist so – ein Mann ist dort im Turm.«
»Großer Gott!«
Doch nur einen Augenblick dieses fassungslose Entsetzen bei Eke. Dann rief sie erregt:
»Man muß hin – auf der Stelle.«
Aber Gerhard war schon fort von ihrer Seite, bereits drinnen im Zimmer am Telephon. So hörte sie gerade noch seinen Befehl zum Werk hinüber:
»Also sofort das Auto fertigmachen. In drei Minuten bin ich drüben.«
Und er eilte hinunter zur Garderobe. Doch da trat Eke neben ihn.
»Ich begleite dich.«
»Liebe – das ist Männerwerk.«
»Du gehst in Gefahr. Laß sie mich teilen.«
»Eke!«
Bittend ergriff er ihre Hand. Aber sie beharrte.
»Ich lasse dich nun nicht mehr, Gerhard.«
Da verstummte er. Aber sein Blick traf sie, aufleuchtend in heiligem Glück. Seine Gefährtin – auch in Not und Tod. Schweigend half er ihr in den Mantel, dann eilten sie hinaus, hinüber zum Werk.
Auf dem Zechenplatz hielt schon der Wagen mit laut arbeitendem Motor. Seine eisernen Flanken vibrierten unter den Stößen; ein edler Renner voll zitternder Begier, loszustürmen.
»Vorwärts – Maximalgeschwindigkeit!«
Und die Maschine sprang an, schoß davon. Eine Staubwolke war alles, was den Nachschauenden noch sichtbar war.
Das war kein Fahren mehr – nein, ein Fliegen. Unwillkürlich griff Eke nach einem Halt.
140 Kilometer! Die Räder berührten nur noch in sprunghaften Intervallen den Boden. Ein Rasen, ein Stürmen. Rückwärts sausten Bäume, Wegsteine, die Linie der Chaussee – eine einzige, sich toll abspulende Schnur. Mit ratternder Gier fraß das Auto die Ferne in sich hinein. Kaum gesehen, war sie auch schon verschlungen. Mehr her – nur mehr! Und dazu der rasende Herzschlag des Motors. Wie ein dumpfer Wirbel: immer schneller, atemraubender, die Seele anpeitschend zu einem Rausch, fiebertoll, wie dies Rasen selber. Eine Ekstase sondergleichen: wir fliegen – wir fliegen! Kein Hindernis, keine Entfernung! Nur vorwärts, vorwärts! Schneller – noch schneller! Und bei alledem ein Untergedanke, ganz klar und doch ohne Schrecken: ein Versagen des Steuers, ein Reißen der Pneumatik, und wir liegen im Staube, mit zerschmettertem Hirn. Aber was tut's? Das Fieber in uns ist stärker, dies dämonisch aufjauchzende Glücksgefühl – dahinzufliegen, losgelöst von Erdenschwere, hinausgerückt über alle Grenzen der Natur!
Mit neuem Erstarren sah es die dichtgedrängte Menge droben auf den Berghöhen, was sollte diese tolle Fahrt drunten im Tal, anscheinend geradeaus in die Fluten hinein?
Aber jetzt verhielt das Auto und stoppte. Tausende von Augen folgten den beiden Gestalten, die dem Wagen entstiegen.
Eke wußte einen Zugang zu dem Turm, der vielleicht noch gangbar war. Auf dem alten Wall neben dem Graben. Und wirklich – er ragte noch etwa handhoch aus dem schäumend quirlenden Strudel, der die Stätte des Adligen Hauses umbrandete.
Auf diesem schmalen Pfade eilten sie hin zu dem Turm. Nun standen sie vor ihm. An dem erhaltenen Stumpf befand sich auch noch der Anbau mit der Wendeltreppe, die in das obere Geschoß geführt hatte. Durch die klaffende Bresche, die die Sprengung gelegt, drang ihr Blick frei in das Innere des alten Gemäuers mit seinen mehr als meterstarken Wänden. Hier war einst Henner von Grunds Jagdzimmer gewesen. In Fetzen hing setzt die braune Ledertapete hernieder. Ein wüster Schutthaufen deckte den Estrich – abgestürzte Massen vom Deckengewölbe.
Trotz ihres Grauens wollte Eke den Fuß über die geborstene Schwelle setzen – wo weilte denn nur der Unglückliche, dem die Rettung galt?
Aber Gerhard hielt sie zurück. Jeden Augenblick konnte ja ein neuer Nachsturz von oben erfolgen. Und nun rief er laut hinein in die Ruine:
»Hierher! Hier ist der Ausweg!«
Eine Weile Totenstille in dem verlassenen Gemäuer. Nur das dumpfe Rauschen der Wasser, die da draußen stiegen, langsam, Linie um Linie, aber siegesgewiß.
Noch einmal ein Rufen Bertschs, stärker noch, warnender – da endlich ein Geräusch wie von Schritten, von der Wendeltreppe her, und jetzt löste es sich aus dem Dämmerlicht drinnen. Eine hagere Gestalt trat langsam auf die beiden zu, umhüllt von einem wettergeblichenen, einst schwarzen Pelerinenmantel. Unter dem Schlapphut glühten mit wirrem Leuchten ein paar tiefliegende, dunkle Augen.
»Tillmann – Ihr!«
Betroffen erkannte Bertsch den Hirten. Doch dann winkte er ihm, eilig drängend.
»Was schafft Ihr hier? Fort – fort!«
Aber der Alte schüttelte mit einer ruhigen Gebärde den Kopf. –
»Wie? Ihr wollt bleiben?«
Nur ein gelassenes Nicken.
Eke starrte verständnislos Gerhard an. Der freilich begriff. Schon lange hatte es ja droben in Rödig geheißen, mit dem Tillmann ginge es nicht mehr. Immer verschrobener wurde der Alte. Gänzlich wirr im Kopf. Drum wollten sie sich auch einen neuen Hirten kommen lassen zum Frühjahr. Und der Tillmann sollte ins Armenhaus.
Nun sah er es mit eigenen Augen: die Leute sprachen wahr. Es war nicht mehr richtig mit dem Tillmann.
Doch während er es noch dachte – plötzlich ein dumpfes Krachen! Weißer Gischt sprühte hoch auf, an der Außenseite des Turmstumpfs. Unter dem gierigen Nagen der Wasser hatte sich an der Bruchstelle abermals ein Stück Mauerwerks gelöst. Ein unheimliches Warnsignal.
Ein Grausen packte Eke. Ihr Arm streckte sich beschwörend zu dem Alten aus.
»Um Gottes willen – fort, fort!«
Der Ruf des Entsetzens lenkte Tillmanns Blick auf die junge Frau, die dort stand im düsteren Rahmen des geborstenen Gemäuers. Eine blonde Lichtgestalt, wie ein Sendbote des Lebens. Und plötzlich sank der Schleier vor seinen Augen. Ein Erinnern kam an die Stunde, wo die dort ihm einmal Gutes erwiesen, und langsam hob er die Hand gegen sie. Wie ein Grüßen und ein ernstes Mahnen zugleich: Hier ist kein Ort für die, die noch etwas erwarten vom Leben.
»Tillmann, nehmt doch Vernunft an!« Noch einmal drängte Bertsch. »Kommt mit uns!«
Da öffnete sich endlich der schweigsame Mund. Doch nur zu drei kargen Worten:
»Wohin? – Ins Armenhaus?«
Gerhard verstummte.
Aber Tillmann richtete sich jetzt hoch auf. Sein Blick ging herum in dem einstigen Gemach Henner von Grunds, mit einem dunkeln, stolzen Aufflackern. Und es war den beiden, als hörten sie seine unausgesprochenen Gedanken:
Nein – hier bleib' ich, wo ich hingehöre! All mein Leben hindurch hab' ich nur daran gedacht, daß ich einmal Herr sein sollt' in diesem Hause. Nun ist's doch noch so gekommen. Hab' ich's nicht immer gesagt? Es gibt doch noch ein Recht auf der Welt! Der, der mir's streitig gemacht hat, er ist ins Grab gesunken, vor mir. An seiner Leiche hab' ich gestanden. Und jetzt steh' ich hier auf seinem Grund und Boden. Nun ist er mein, nun bin ich Herr. Und keiner wird mich mehr forttreiben – keiner!
Drohend schoß es jetzt aus seinem Blick zu Bertsch hin. Wieder stand das wirre Glühen in den tiefliegenden Augen.
Da gab Gerhard es auf. Entschlossen legte sich sein Arm um Eke. Aus dem Leibe des jungen Weibes an seiner Seite pulste ihm warm das Leben entgegen. Fort von hier – von der Schwelle der Vernichtung!
Aber er fühlte ihr Zögern. Bang hing ihr Blick an dem Alten, der dort stand, starr und unbeweglich.
»Laß ihn. Er hat recht!« Ernst klang es zu Eke hin. »Diese letzte Stunde gibt ihm, worum ein ganzes Leben ihn betrogen. Gönn' es ihm!«
Unter den mahnenden Worten wich die qualvolle Spannung in Eke, und wie sie jetzt noch einmal hinsah auf Tillmann von Grund, den Todgeweihten in dem todgeweihten Hause seiner Väter, packte es sie an. Fast ein Schauer der Ehrfurcht. Nur ein armer, wirrer Narr, und doch – war er nicht treuer seinem Blut als sie alle vielleicht, die einst den Namen des Grunds trugen? Da kam es laut von ihren Lippen:
»Leb' wohl, Tillmann von Grund – leb' wohl!«
Der Alte sah nicht mehr her zu ihr. Sein Blick war wieder in sich gekehrt, wie abgewandt der Welt und all ihrer Nichtigkeit. So schritt er langsam zurück, von wo er erschienen, und entschwand im Dunkel.
»Komm!«
Mit starker Hand zog Gerhard Bertsch die mit sich, die nun ihm zu eigen war.
Und es war hohe Zeit. Der schmale Damm, auf dem sie sich zurückflüchteten, war inzwischen schon vielfach durchbrochen. Die Wasser gurgelten hohl in den Breschen und fraßen gierig weiter an dem nachbröckelnden Erdreich. Tief atmete Bertsch auf, als er glücklich mit Eke drüben war, wieder im Bereich des festen Landes. Dort trug sie der Wagen nach Hause zurück.
Vom Balkon aus sahen sie dann wieder hinab ins weite Tal. Aber ihre Blicke hingen nur an einem Punkt. Unverwandt, stumm, in einem gefaßten, tiefernsten Erwarten.
Plötzlich aber zuckte Eke zusammen. Ihre Hand wies hin zu dem dunkeln Turmstumpf dort drunten in der quirlenden Seeflut – ein Wanken des massigen Gemäuers! Wie ein silberweißer Schleier löste es sich im selben Augenblick von dem düsteren Mauerkranz und schwebte kreisend über ihm – die aufgestörten, ängstlich flatternden Tauben. Ein Neigen – langsam, schwer legte sich der Turm zur Seite. Und nun eine aufgepeitschte Riesenwoge, die hoch zum Himmel sprang, verschwunden war im Flutengrab das alte Wahrzeichen des Hauses derer von Grund. Mit ihm der letzte Träger ihres Namens.
Stumm faltete Eke die Hände. So sah sie hinaus, bis das wilde Wirbeln der schäumenden Wasser allmählich erstarb. Über dem Strudel kreiste hoch in der Luft noch eine Weile hellschimmernd der Schwarm der Tauben. Als aber die dunkeln Fluten nichts wiedergaben von dem, was sie verschlungen, da strichen die Tiere endlich ab.
»Nun suchen auch sie sich eine neue Heimat.«
Es war das erste Wort, das Eke wieder sprach, und dicht schmiegte sie sich an den Mann ihr zur Seite.
Doch dann wies sie hinaus, wo über den Bergen die Sonne versank. Noch glühten in einem letzten heroischen Aufflammen am Abendhimmel ihre purpurgoldenen Lebensströme. Aber darüber standen düsterschwere Wolkengebilde, langgestreckt – wie riesenhafte Särge. Da sagte sie, aus beklommener Brust:
»Ist es nicht, als ob auch die Natur trauerte über all das, was hier versank?«
Fest legte Gerhard Bertsch seinen Arm um ihre Schulter.
»Ja – viel ist versunken. Eine Welt voll enger Traulichkeit. Aber ihre Zeit war erfüllt. Und eine neue steigt empor aus den Wassern, die sie begruben. – Laß uns dorthin sehen!«
Und er wandte ihr Haupt von der Richtung der sterbenden Sonne fort, zur anderen Seite des Tals, wo die Talsperre sich erhob. Vom letzten Abendschein übergossen, schimmerten die weißen Bauten herüber, und, sie alle überragend, die feierlichen, edlen Formen des Kraftwerks. Wie ein Tempel, überstrahlt von der Glut der Opferbrände, stieg der gewaltige Bau empor, groß, ernst, in machtvollem Schweigen. Und ein Tempel in Wahrheit. In seinen hohen Hallen hütete er die Feuerfunken ungeheurer, schöpferischer Kräfte, die in zuckenden Wellen hinausströmen würden, weit über die Lande – Leben zeugend fort und fort, pulsendes, treibendes, schaffendes Leben der aufwärts ringenden Menschheit!
Da lehnte Eke ihr Haupt voll Zuversicht an die breite Brust des Mannes, dessen Augen mit einem stolzen Leuchten hinaussahen über die langsam versinkenden Fluten des Rauhen Grundes.