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Stundenlang hatte Gerhard Bertsch beim Schein der Lampe droben über seinen Grubenbildern gesessen. Er hatte sich zu ungestörter Arbeit alles Nötige vom Zechenbureau hier in seine Privatwohnung im Hirschen bringen lassen. Doch nun sprang er auf. Ein letzter Blick flog zu den Zeichnungen. Aufflammende Kampflust – Siegesahnung! Jetzt wußte er's, wo er den Gegner treffen mußte. Und der Angriff sollte nicht auf sich warten lassen. Noch heute nacht sollte er erfolgen. Die Gelegenheit war günstig wie nie: Fast alle die Leute vom Erbstollen, Hannschmidt mit dabei, waren ja als alte Soldaten drunten zum Fest und kamen erst am Morgen wieder zur Frühschicht. Bis dahin konnte alles schon geschehen sein.
So stand Bertsch noch einen Augenblick. Ganz hochgespannter Wille. Dann aber folgte langsam die Entspannung. Er spürte nach dem stundenlangen Berechnen und Kombinieren nun doch ein Verlangen nach Ablenkung. Zudem – sein Auge suchte die Uhr – es galt auch noch über eine Stunde hinwegzukommen, ehe er sein Vorhaben ausführen konnte. Der Schichtwechsel auf dem Erbstollen mußte sich erst vollzogen haben, die Grube drüben leer von Leuten sein, bis auf die paar Reparaturhauer der Nachtschicht. Es war denn wohl das beste, er ging noch nach unten ins Gastzimmer. Bei einer Flasche Wein würde er über diese Zeit des notgedrungenen Wartens am ehesten hinwegkommen.
Aber wie Bertsch durch das schon stille Haus nach unten kam, ins Honoratiorenzimmer, war zu seiner Überraschung hier alles dunkel. Doch sah er noch einen Lichtschein im Nebenraum. So klopfte er denn dort an. Es war das Familienzimmer der Reuschs.
Die Tür ging auf, das Licht fiel zu ihm heraus, und auf der Schwelle stand Marga. En wenig erstaunt sah sie auf Bertsch.
»Sie? Ich glaubte, Sie wären schon oben. Ich habe daher eben hier überall das Licht ausgemacht.«
»Entschuldigen Sie, wenn ich störe. Es ist im übrigen ja auch so spät noch nicht – ich dachte noch eine Flasche Wein bekommen zu können. Doch, wie ich sehe, ist wohl niemand mehr da –«
»Allerdings – der Vater und Hermann sind beide nach Siegen, und die Mamsell ist schon zu Bett.«
»Das wußte ich freilich nicht. Unter diesen Umständen –«
»Deswegen können Sie Ihre Flasche Wein aber doch haben – wenn Ihnen eben daran gelegen ist.«
Wiewohl es nicht gerade sehr dienstbereit herauskam, trat sie doch schon an ihm vorbei in das Herrenstübchen, um dort die große Hängelampe anzustecken. Er folgte ihr langsam.
»Oh – ich möchte Sie in der Tat nicht bemühen, Fräulein Reusch.«
Sie erwiderte nichts. Nun aber fertig, zog sie das feine Spitzentüchlein aus dem Gürtel und säuberte sich sorgfältig die gepflegten Finger von dem Anhauche des Lampenöls. Zwischendurch fragte sie:
»Und was wünschen Sie zu haben?«
Er überlegte einen Augenblick.
»Am liebsten – Sie haben Sekt im Hause?«
Ein Nicken.
»Wenn ich Sie also um eine Flasche bitten darf? Mir wäre heute gerade einmal danach zumute.«
Schweigend ging sie und trug den Wein herzu. Reichte ihm auch noch den Sektbecher hin, sagte dann aber mit leisem Nachdruck:
»Das Weitere muß ich freilich nun Ihnen überlassen.«
»Selbstverständlich.« Er war schon dabei, den Kork zu lösen. »Sie müssen mir nun noch gestatten, Ihnen meinen Dank abzutragen für diese besondere Liebenswürdigkeit. Darf ich Sie bitten, das erste Glas mit mir zu leeren – auf Ihr Wohl?«
Und er reichte ihr bereits den schäumenden Kelch dar.
Ein kurzes Sichbesinnen, dann nahm sie das Glas entgegen, mit einem leichten Neigen des Hauptes, und stieß an mit ihm. Sie nippte auch von dem Wein, aber eben nur so viel, daß der prickelnde Schaum ihr die Lippen netzte. Dann setzte sie den Kelch auf den Tisch und wollte sich wieder zurückziehen. Aber da bat er:
»Würden Sie mir nicht noch ein paar Minuten wenigstens Gesellschaft leisten?«
Sie trat unwillkürlich etwas zurück; doch er fügte hinzu:
»Ich habe heute einmal ein Bedürfnis, noch ein Wort mit jemandem zu sprechen.«
»Wirklich – haben Sie das bisweilen doch?«
»Warum zweifeln Sie daran?«
»Es war Ihnen bisher nichts davon anzumerken, und Sie leben doch nun schon Wochen hier im Haus.«
»Wochen voll harter Arbeit, Fräulein Reusch, da muß alles andere zurücktreten.«
»Das scheint in der Tat so.«
Er hatte inzwischen ihr Glas neu aufgefüllt, nun rückte er ihr mit einer einladenden Bewegung einen Stuhl heran.
»Bitte – lassen Sie mich heute wenigstens gutmachen, was ich in diesen Wochen fehlte.«
Seine Augen suchten sie dabei. Es war das erstemal, daß er sie so ansah. Wirklich, er konnte also auch liebenswürdig sein. Da ließ sie sich schweigend nieder. Nur ein wenig rückte sie mit dem Stuhle doch von ihm ab.
Er lächelte leise dazu und hob dann das Glas zu ihr hin.
»Das ist nett, daß Sie mir über diese Stunde hinweghelfen.«
»Hat sie denn eine so besondere Bedeutung für Sie?«
»Ich hoffe es.« Und er trank mit einem starken Zuge den Kelch leer.
In Marga Reuschs Augen stand ein verwundertes Fragen, aber er schüttelte den Kopf.
»Ich will einmal an etwas anderes denken. Herrgott, man ist doch auch nicht bloß ein Arbeitstier!«
Und er griff mit einer lebhaften Bewegung nach der Sektflasche.
Sie sah ihm zu, wie er den perlenden Schaum langsam in das schräg geneigte Glas rinnen ließ. Dabei sprach er weiter zu ihr.
»Volle zehn Jahre hab' ich ja nichts weiter gekannt, als Arbeit – nichts als Arbeit. Da kriegt man auch davon einmal genug.«
Ihr Blick ruhte auf seinen Händen; einem Paar starken, großen Händen. Er gewahrte es und streckte sie ihr lächelnd über den Tisch hin.
»Ja, Fräulein Reusch, die wissen, was zupacken heißt.«
Sie nickte, aber mußte dabei denken: Trotz ihrer Größe wohlgebaute Hände – richtige Manneshände. Und etwas Leidenschaftliches lag in dem stark hervortretenden Geäder. Ob er wohl –
»Nun – Sie sind ja so still,« mahnte er.
»Ach – ich muß eben nur denken, wie Sie es so haben aushalten können da drüben. Zehn volle Jahre in solcher Einsamkeit.«
»Ja, es war nicht immer leicht.«
»Was fingen Sie denn nur mit Ihrer freien Zeit an?«
»Die gab es nicht viel. Und wenn es Feierabend war, wurde es auch gleich Nacht. Noch ein paar Zigaretten draußen vorm Haus – dann war der Tag wieder einmal um.«
»Aber die langen Sonntage?«
»Allerdings. Nun – da gab's eben auch zu tun. All die notwendigen Schreibereien, zu denen man in der Woche nicht kam. Na, und blieb wirklich noch so viel Zeit am Nachmittag, so hing man sich die Flinte um und kletterte in den Bergen umher. Daß man vielleicht mal ein Murmeltier schoß oder einen Geier.«
»Mein Gott – was für ein entsetzliches Leben! Und das so tagaus, tagein.«
»Ja, ein Vergnügen war's freilich nicht. Aber ich wußte doch auch, warum ich's tat: Diese zehn Jahre sollten mich frei und unabhängig machen für mein ganzes späteres Leben.«
»Und sie haben es getan?«
»Ja.«
Nur das kurze Wort kam zur Antwort, aber sein ganzer Stolz klang daraus. Ein harter Mannesstolz, dessen höchstes Genügen es war, seinen Willen durchgesetzt zu haben, mit noch so großen Opfern.
Da betrachtete sie ihn mit einem verwunderten Blick und sagte dann:
»Wie anders muß das doch in einem Manne aussehen.«
»Inwiefern?«
»Daß Ihnen die Arbeit so alles andere ersetzen konnte!«
»Alles?«
Bertsch sah sie plötzlich an mit einem eigenen Ausdruck, doch dann zuckte er die Achseln.
Marga aber forschte weiter.
»Haben Sie denn wirklich niemals ein Bedürfnis nach Menschen gehabt da droben?«
»Kaum. Zudem – kam man wirklich mal zusammen, so gab's ein Saufen ohne Ende. Pardon, aber es war so. Und das ist nicht nach meinem Geschmack.«
»Nun ja, die Männer. Aber entbehrten Sie denn nie einen gesellschaftlichen Umgang verfeinerter Art? Auch mit Frauen?«
»Frauen? Ja –« Es war, als löste das Wort in ihm Erinnerungen aus von ganz besonderer Art. Und wieder streifte sein Auge über sie hin mit jenem seltsamen Ausdruck. Wie ein Dehnen und Recken ging es dabei durch seine starken Glieder. »Freilich – die fehlten einem wohl manchmal.«
Marga Reusch fühlte diesen Blick über sich hingleiten, und heiße Quellen schossen unter ihm auf in ihrem jungen Blut. Sie senkte die dunkeln Wimpern, aber das tiefe Atemholen konnte sie doch nicht vor ihm verbergen. Er gewahrte es. Da leuchtete es langsam auf in seinen Augen. Aber er sprach nichts.
Dies Schweigen hatte etwas verwirrendes für Marga. So brach sie denn die Stille mit irgendeinem schnell hingeworfenen Wort:
»Nun, jetzt haben Sie das alles ja hinter sich. Jetzt können Sie das Versäumte doch nachholen.«
»Das will ich auch!«
Wie sonderbar er das sagte? Ihre Finger falteten schneller an dem Spitzentuch in ihrem Schoß. Dann hörte sie ihn wieder einschenken. Einmal – zweimal, auch ihr Glas. Und nun klang es her zu ihr, mit einem seltsam schwingenden Unterton.
»Ich habe in der Tat manches nachzuholen, und Sie sollen mir dabei helfen.«
»Ich?«
Rasch sah sie zu ihm auf.
Lächelnd saß er da, ein wenig zu ihr vorgeneigt; seine Rechte schob ihr den Sektkelch hin.
»Ja, Sie – oder sollten Sie nicht ein ganz guter Führer sein zu diesem Ziele?«
»Zu welchem?«
»Nun – wieder den Weg zu den Menschen zu finden. Zum frohen, leichten Genießen des Augenblicks.«
»Warum gerade ich?«
»Ich habe da eine Stunde in guter Erinnerung – es ist freilich schon ein Weilchen her.«
Sein Auge suchte sie bedeutungsvoll mit einem dunkeln Aufglühn. Sie wich ihm aus, immer stärker beunruhigt.
»Ich weiß nicht, wie Sie das meinen.«
»Besinnen Sie sich wirklich nicht mehr? Damals – bei unserem letzten Beisammensein – auf der Kirmes!«
Ein leises Aufrascheln ihres Kleides. Aber keine Antwort. Da beugte er sich noch näher zu ihr hin.
»Es war das so seltsam damals. – Ich hab' noch manchmal daran denken müssen, Fräulein Marga!«
Doch nun lehnte sie sich zurück, mit kurzer Bewegung. Kalt traf ihn ihr Blick.
»Ich verstehe nicht, was Sie damit sagen wollen.«
»Wirklich nicht?« Er lächelte. »Soll ich Ihre Erinnerungen vielleicht ein wenig auffrischen? Wie –«
»Ich lege keinen Wert auf Erinnerungen. Im übrigen – Sie sind mir vollkommen unverständlich!«
Und sie erhob sich.
»Oh – Sie wollen mich schon verlassen?«
»Es ist Zeit. Gut' Nacht.«
Bertsch sah ihr nach, wie sie so ging. Ganz Unnahbarkeit. Als ob sie nie an seiner Brust gelegen, mit wilden Küssen – eine kleine Bacchantin!
Ein wissendes Lächeln umspielte seinen Mund: Komödie – nur, um ihn noch mehr zu reizen. Und er fühlte es heißer durch sein Blut rinnen. Da griff er nach seinem Glase und schlürfte den Sekt; langsam, die Augen geschlossen. Lockend tauchte es vor ihm auf. Viele Jahre hatte er verzichtet auf das, was anderen höchstes Genießen war, auf den süßen, heimlichen Rausch. Aber nun –!
Doch mitten im Zuge brach er ab. Hart setzte seine Rechte das Glas auf den Tisch zurück.
Weibergeschichten? Unsinn! Er hatte wahrhaftig an anderes zu denken. Und wie weggefegt war alles. Seine Miene zeigte wieder den gewohnten Ausdruck gespannter Energie. Er sah nach der Uhr. Gleich zehn – er konnte sich allmählich immer fertigmachen zu seinem Gang. Nun, so hatte ja das Tete-a-tete eben seinen Zweck erfüllt – ihm über die Stunde der Spannung hinweggeholfen. Und Bertsch lächelte kühl und überlegen, wie auch er jetzt hinausging.
Marga Reusch lag in dieser Nacht noch lange ohne Schlaf auf ihrem Lager. Also solchen Eindruck hatte jener flüchtige Moment des Jugendrausches damals bei ihm hinterlassen, daß es heute in ihm, dem zum Manne Gereiften, wieder aufwachte mit dieser Gewalt!
Doch was war es? Nur ein Begehren, das sie erniedrigte, oder –?
Schneller gingen ihre Gedanken, kühner und entschlossener. Wenn es nun das war! Zeigte sich ihr da nicht der Weg, über den sie sich so im unklaren gewesen war?
An Steinsiefens Antrag heute mußte sie plötzlich wieder denken. Und eine Freude überkam sie: Gott sei Dank, daß sie sich nicht fortgeworfen hatte, in einem Anfalle von Müdigkeit! Nun lohnte sich ihr Warten vielleicht.
Da war Gerhard Bertsch doch ein anderer Bewerber. Der bot ihr wirklich, was sie sich als Ziel gesteckt hatte von jeher: Ein studierter Mann in angesehener Stellung, die sich noch heben würde, ganz bedeutend, wenn erst alle seine Pläne hier verwirklicht sein würden.
Und wirklich ein Mann! Sie sah plötzlich wieder seine Hände vor sich. Diese harten Manneshände. Und der Gedanke kam ihr: wie es wohl sein mochte, wenn einen solche Hände umfingen – heiß und fordernd, schneller ging da ihr Atem.
Aber nur für eine kurze Weile. Gleich kehrte ihr die kühle Erwägung zurück. Nicht das war es ja, was sie suchte. Nein – im Gegenteil: Sie mußte Herr der Situation bleiben, das Empfinden bei ihm, das sich ihr heute verraten hatte, klug nützen und lenken, daß es sie an ihr Ziel trug.
Und in der ungebrochenen Stille dieser Nacht wuchs in Marga Reusch der Wunsch zum klarbewußten Willen.
* * *
Schweigend und dunkel lag der Schoß der Erde. Selbst der dumpfe Widerhall der menschlichen Maulwurfsarbeit drang nicht in diese Verlassenheit. In das große, geheimnisvolle Schweigen, das hier eingeschlossen war seit den Urtagen, wo der zuckende Feuerleib der Erde allmählich erstarrte zu Stein und Erz.
Doch nun klang ein Schritt durch die Einsamkeit der Tiefe. Ein fester Mannesschritt. Und vor einem winzigen Licht her strich ein mächtiger Schatten durch den schmalen Gang im Gestein.
Rot rieselte es dem Wanderer in der Grubennacht über die Füße. Wie ein unheimlicher Blutbach. Und ein rötliches Sickern und Tropfen allenthalben an dem Fels, den die Schultern im Gehen streiften. Jetzt aber! Wand es sich nicht dort unten im Wasser, eine riesige, braune Schlange? Doch im herannahenden Licht war es nur ein seltsames, reisigartiges Gewucher, das sein nächtliches Leben in der Seige hier fristete.
Anzeichen verschollener Menschenarbeit tauchten in dem alten Stollen auf. Eine morsche Spurlatte, ein rostzerfressener Förderwagen, klein und einrädrig, wie ihn die Vorväter einst gestoßen, und verfaultes Zimmerwerk. So mürbe das Holz, daß die tastende Hand tief hineinsank. Und verbrämt mit abenteuerlichem Behang: Dunkelbraunem, langem Gefaser von Frauenhaar – Nestern von weißem Schimmel, tausend feinen, winzigen Nädelchen, wie Kristalle zusammengeschlossen – und nun wieder dicken, rotbraunen Tannenzapfen von Schwamm, die geisternde Schatten warfen im drüberhuschenden Licht.
So eng war oft der Gang, daß er sich für das Auge vorn ganz zusammenzuschließen schien. Bis im Näherkommen die Felswände doch immer noch wieder Raum ließen, daß der einsame Wanderer sich durchzwängen konnte. Aber mit Mühe oft nur, denn breit und hochgewachsen war der Mann.
Gerhard Bertsch war es, der hier durch den alten Stollen schritt, allein zur Nachtzeit. Es war der beiden Gruben gemeinsam gehörige Zugang, der droben hoch im Bergwald, mitten in Busch und Ginster, zutage trat. Seit Menschengedenken schon nicht mehr in Betrieb, diente er nur noch für die Luftzufuhr.
Diesen Weg, den kein Fuß mehr betrat, hatte Bertsch gewählt, um sein Vorhaben auszuführen: im feindlichen Lager mit eigenen Augen die Blöße zu erspähen, die er nach den Grubenrissen droben in scharfem Berechnen festgestellt zu haben glaubte.
So schritt er denn nun, im Vertrauen auf Lampe und Kompaß, fest darauf los in der Nacht dieser Unterwelt, in dem Labyrinth von Gängen, in denen sich der Unkundige wohl hätte verirren können. Aber von den Knabenjahren an, wo der Vater ihn oftmals mitgenommen, war Bertsch hier vertraut. Die Tiefe hatte keine Schrecken für ihn. Nur Vorsicht zu üben hieß es. Im Laufe der Zeit waren Fahrten und Zimmerung noch morscher geworden. Nicht selten brach unter seinem Fuß, der ihn auf schlüpfriger Leiter in dunkel gähnende Abstürze hinabführte, eine Sprosse weg, oder mit dumpfem Krachen schollerten faule Gesteinsmassen vom First der Strecke hernieder, dicht neben seinem Haupt. Traf es ihn, so mochte er hier wohl verlassen liegen, fern von jeder menschlichen Hilfe, und elend verenden. Aber der Gedanke hieran kam ihm kaum. Und wenn – er konnte ihn auch nicht abhalten. Er war im Kampf – es galt den Sieg!
Ein paarmal schien es indessen, als ob die Mächte der Tiefe ihm Halt geböten. Die Strecken waren im Laufe der Jahrhunderte vom Nagen der gefräßigen Wasser zu Bruch gegangen. Wüste Gesteinstrümmer sperrten ihm den Weg. Oder die Fahrten hörten auf, mitten im Klettern. Der tastende Fuß suchte vergebens drunten nach einem Halt. Die nächste Leiter war wohl abgestürzt in die abgründige Tiefe. Da blieb ihm nichts, als eine Umgehung zu versuchen. Er kletterte durch Überhauen empor in die höhere Sohle, kroch kreuz und quer, durch Gänge und Klüfte, und fand schließlich doch wieder die alte Richtung. Aber es war ein beschwerliches Werk, und der Schweiß perlte ihm auf der Stirn.
Doch endlich war er am Ziel, in dem Grenzgebiet der beiden Gruben, in dem strittigen Gang, verlassen lag er jetzt da. Nur fernab hörte Bertsch drüben auf der Erbstollenseite ein dumpfes Pochen. Wohl ein Reparaturhauer, der bei der Arbeit war. In aller Ruhe konnte er so suchen Und er fand. Mit gewaltsam ausbrechender Freude stellte er fest: Es war, wie er vermutet. Die Kluft droben, bei ihm im Gesenke, strich herunter bis hier in den Nachbarbau. Also war sein Plan ausführbar. Und nun denn ans Werk!
Er schlug sich hindurch, durch Aufbrüche und Überhauen, ins eigene Grubenfeld. Schneller, sicherer schritt er vorwärts, hier, wo ihm jeder Schritt vertraut war. Und bald hörte er auch schon seine Leute. Dumpf klangen die Schläge der Zimmeraxt herüber, und jetzt vernahmen auch sie das Geräusch seiner herannahenden Schritte, verwundert sahen sie auf zu ihm in das Dunkel.
»Hö – oh! Wer kommt denn da?«
Keine Antwort, aber gleich darauf stand Bertsch vor ihnen, im Schein ihrer Lampen.
»Glückauf, Leute! Wieviel seid ihr hier in der Strecke?«
»Unser vier. Aber oben, auf der neunten Sohle, im Alten Mann, sind auch noch ihrer drei.«
»Gut, das genügt! Stellt hier sofort die Arbeit ein. Es gibt Wichtigeres zu tun. Drei Mann kommen mit mir. Der vierte holt die von oben. Nach dem Gesenke, da vorn an der Markscheide! Aber eilt euch!«
Bald waren sie alle zur Stelle, und das Werk begann. Bertsch hieß einen Teil der Leute eine starke Mauer aufführen, die den Schacht des Gesenkes nach der Grundstrecke des eigenen Grubenfeldes hin wasserdicht abschließen sollte. Verwundert machten sie sich an die ungewöhnliche Arbeit. Das hatte doch gar keinen Sinn!
Aber Bertsch achtete nicht auf ihr Staunen. Mit den andern Leuten stieg er in das Gesenke ein und stand nun drunten auf seinem Grunde.
»Wo läuft die Wasserader, die uns gefährlich zu werden drohte?« wandte er sich an den Ältesten der Kameradschaft.
»Hier.« Der Mann deutete auf eine Stelle seitlich im Gestein. »Da muß sie sich längsziehen – hinten drin.«
»Wie groß schätzen Sie die Mächtigkeit der Zwischenwand?«
»Es ist nicht mehr als gut ein Meter, denk' ich. Wir mußten schon sehr Obacht geben beim Abteufen, daß wir sie nicht unversehens anschossen.«
»Um so besser. Also los – treiben Sie Bohrlöcher hier in den Stoß.«
Der Mann sah ihn verdutzt an.
»Ja, ja – wir wollen das Wasser anzapfen. Nur zu!«
Da machten sich die Männer ans Werk. Der Fäustel trieb den Stahl ins Gestein. Hell sang sein metallisches Klingen durch die Stille. Immer tiefer fraß sich der Meißel ins Gebirge hinein. Bohrmehl stäubte heraus und setzte sich den Männern in Haar und Bart, daß sie wie Grauköpfe aussahen. Und oben, auf der Grundstrecke der zehnten Sole, schichtete sich die Mauer auf, Lage um Lage.
Bertsch war bald hier und da, sah nach der Uhr und trieb zur Eile. So rannen die Stunden hin. Es ging dem Morgen zu. Droben über Tag krähten jetzt wohl schon die Hähne. Es war Zeit, daß sie hier fertig wurden. Da endlich ein lauter Ruf, drunten aus der Tiefe des Gesenkes. Eilend kletterte Bertsch, der gerade oben an der Mauer war, die Fahrten hinab.
»Nun – ist's so weit?«
Aber er brauchte keine Antwort. In weitem Bogen spritzte es aus dem Gestein heraus – ein blinkender Wasserstrahl. Da schoß es auch hell aus Bertschs Augen.
»Brav, Kerls! Aber nur weiter! Es schafft noch nicht genug. Dick muß es kommen, faustdick. Ersäufen wollen wir denen da drüben den ganzen Pütt!«
Nun begriffen sie mit einemmal, und ihr rauhes Lachen dröhnte von den Felswänden nieder. Dunnerlittchen, der Bertsch – das war einer! Der stand dem Rotfuchs, dem Hannschmidt vom Erbstollen, nicht um ein Haar nach.
Und die alte Kampflust derer vom Rauhen Grund kam über sie alle. Nichts herrlicher, als so dem Nachbar mal ordentlich eins auswischen, mit dem man einen alten Span hatte! Verdoppelt schafften die Fäuste, bohrten, wühlten und rissen am Gestein, daß die Brocken nur so flogen. Stärker, immer stärker ward der Strahl, und immer höher hob sich auf dem Boden des Gesenkes die schäumend wirbelnde Flut. Stieg von den Knöcheln der Männer empor bis zum Knie und immer höher noch, unaufhaltsam. Droben auf der zehnten Sohle aber schloß sich die Mauer, die das Gesenke nach dem eigenen Grubenfelde hin absperrte, und zeigte nur noch ein Loch, gerade groß genug, daß die hier unten sich hindurchzwängen konnten, um dem drohend steigenden Wasser zu entgehen in dem engen Felsenverließ.
Bertsch warf einen Blick dort hinauf und dann zu der quirlenden Flut, die ihnen nun schon gierig um den Leib zu kreisen begann. Es war Zeit zum Rückzug. Da befahl er:
»Raus aus dem Berg!«
Und die Seinen kletterten empor, einer nach dem andern. Er selber aber blieb noch. Mit wuchtigen Streichen schlug er mit der Keilhaue zu und riß noch ein paar gewaltige Brocken aus der Felswand, daß das Wasser jetzt in armdickem Strahl herausschoß. Die bis über die Hüften gestiegene Flut, die ihn umbrauste, machte ihn schon schwankend. Da tat er noch einen letzten, schmetternden Hieb, dann kletterte auch er hinauf zu den Seinen. Unter eilig zupackenden Händen schloß sich nun das Loch in der Wassermauer. Der Staudamm war fertig, das Werk getan. Nun würde alles weiter seinen Lauf nehmen, wie er es berechnet hatte. Da hinter der Mauer würden Wasser steigen und steigen, bis sie die Kluft erreichen und sich dann mit Gier stürzen würden in diesen Abzugskanal, der sie hinüberleitete ins feindliche Gebiet. Da konnten sie nun ungehindert ihr Zerstörungswerk tun, Strecken und Örter erfüllen mit ihrem Schwall, daß an kein Arbeiten mehr zu denken war. Jetzt mochten sie ihn doch ausweiden, den neuen Gang, den sie ihm hatten abjagen wollen!
Mit grimmiger Freude dachte es Bertsch. Sie hatten den Kampf haben wollen, wohlan – da hatten sie ihn. Kam nur darauf an, wer den kürzeren zog!
Und tief holte er Atem. Dann sah er hinab an den triefenden Kleidern, die ihm klatschend um den Leib hingen. Ihm wie den andern. Aber er lachte nur laut. Und dann griff er in die Tasche.
»Hier, Leute, macht Schicht! Fahrt aus und wärmt euch, von innen und außen. Habt's ehrlich verdient. – Glückauf zusammen!«
Damit wandte er sich selber zum Gehen. Doch ihn verlangte nicht nach Ruhe. Droben nur rasch die Kleider gewechselt und dann auf seinen Posten. Der Gegner würde sich wohl bald melden.
* * *
Es waren heiße Sommertage jetzt im Rauhen Grund. Eke entfloh da gern der Schwüle in dem dumpfen Zimmer.
So hatte sie es auch heute morgen getan; denn früh schon fing die Sonne an, herniederzustechen. Sie wußte, wo sie Kühlung finden würde. Den kleinen Bach, den Mühlsiefen ging sie hinauf, noch über die Grundmühle hinaus. In lustigem Zickzack lief dort das Wässerlein durchs Wiesengrün wie ein spielendes Kind und versteckte sich unter schattigem Hasel- und Erlengebüsch.
Hier war's wunderbar frisch, auch heute. Eke suchte sich ein besonders verschwiegenes Plätzchen aus, wo kein Auge sie gewahren konnte. Da ließ sie sich nieder und streckte sich im Schatten des tief überhängenden Blätterdachs im weichen Gras aus. Die Arme unterm Kopf verschränkt, lauschte sie auf das leise Gluckern des Wassers und die Stimmen des Waldes drüben am Berghang. Das dunkle Gurren der Holztauben und den miauenden Jagdschrei eines kreisenden Bussards. Dazu wehte der verlorene Duft eines reifen Kornfeldes herüber, von weit drunten im Talgrund, von fernher kamen ihr auch Erinnerungen und spannen sie traumhaft ein.
Wie oft hatte sie hier auch als Kind gelegen oder ausgelassen ihr Wesen getrieben. Der Siefen barg, so klein er war, reichlich Forellen. Drum hatten die Kinder manchmal heimlich gefischt. Die behenden Tiere standen mit Vorliebe unter den unterwaschenen Rasenufern. Ein behutsamer Griff mit kundiger Hand, und die zappelnde Beute war erwischt. Gar manchmal war's auch ihr geglückt, und kein köstlicheres Gefühl, als die Wonne solch verbotener Jagd. Gerade das heimliche Grauen vor dem Erwischtwerden hatte solch wundervollen Reiz! Und man hatte ja auch immer Glück.
Nur einmal nicht. Mit einem Lächeln mußte sie heut' daran denken. Ganz hier in der Nähe war es gewesen, in den Sommerferien, und der Bertsch-Gerhard bei ihr als getreuer Kumpan, um die erbeuteten Fische nachher rasch abzutun mit blitzschnell knickendem Griff im Nacken. Ein Geschäft, das ihren Mädchenhänden doch widerstrebte. Aber den Fang besorgte sie selber in heller Leidenschaft.
Doch mitten im besten Gange – schon drei gefangene Forellen hingen am Sperrholz an der schmiegsamen Haselrute im Wasser – hatte es plötzlich hinter ihnen im Buschwerk gerauscht. Des Oheims Hühnerhund! Und nun stand er selber vor den beiden ertappten Sündern, denen das Herz laut an die Rippen pochte. Denn Henner von Grunds Jähzorn war gefürchtet weithin im Rauhen Grund. Erst unlängst hatte er einen Mann, den er in seinem Revier beim Wildern mit der Rehschlinge ertappt, in blinder Wut zu Boden geschlagen, daß er wochenlang daniedergelegen hatte.
Schreckensstarr blickten daher die beiden auf den Gefürchteten, dessen scharfes Auge sofort die gefangenen Tiere im Wasser entdeckt hatte. Mit einem Rucke hatte er die Haselrute herausgerissen.
»Wer von euch war's?«
Noch heute erschauerte sie, wie ihm dabei die Schläfenader dick angelaufen war, und seine Rechte nach dem Gürtel fuhr, nach der schweren Dressurpeitsche. Wie eine Ohnmacht hatte es über sie kommen wollen. Im selben Augenblicke war's an ihr Ohr geklungen:
»Ich!«
Der neue Schreck riß ihr die Augen wieder auf. Da sah sie den Gerhard vor dem Rasenden stehen, totenblaß, aber mit zusammengebissenen Zähnen, und die furchtbare Peitsche schon über seinem Kopfe. Doch im nächsten Moment hing sie dem Oheim an dem erhobenen Arm.
»Es ist nicht wahr – ich war's!«
Eine schreckliche Ewigkeit war's ihr gewesen, bis dann endlich dröhnend die Antwort gekommen war:
»So scher' dich weg, du Lümmel. Aber daß ich dich nie wieder hier am Siefen sehe! Und du? Na, wir sprechen uns nachher. Jetzt marsch – nach Haus!«
Vierundzwanzig Stunden hatte sie damals dann eingesperrt gesessen drunten im tiefsten Keller des Adligen Hauses, mit seinen feuchten Mauern, an denen die Ratten entlang huschten. Fast gestorben war sie vor Ekel. Aber sie hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als dem Oheim ein gutes Wort gegeben mit Bitten und Betteln, trotzdem die alte Marthe ein paarmal sich heimlich zu ihr geschlichen und sie dazu flehentlich ermahnt hatte. – Ja, so war sie damals gewesen.
Lächeln mußte Eke von Grund, wie sie heute an all das dachte. Jugendwildheiten und Torheiten, ohne Bedeutung für die Gegenwart. Nur das eine – mit dem Gerhard Bertsch!
Es kam ihr jetzt, nach rund fünfzehn Jahren, erst eigentlich recht zum Bewußtsein, wie leicht sie sein ritterliches Einspringen damals hingenommen hatte. Nicht einmal ein Wort des Dankes hernach, als sie sich dann wiedersahen. Nur ein Lachen, ein Gedenken an das gemeinsame böse Abenteuer. Wie eben Kinder sind.
Heute dagegen erst schätzte sie sein Verhalten nach seinem wahren Werte. Er, der Fünfzehnjährige, Sekundaner damals schon, hatte ein hochentwickeltes Ehrgefühl gehabt. Wäre es zu der Züchtigung gekommen, es hätte ihn vielleicht ins Wasser getrieben – bei seiner Leidenschaftlichkeit. An einem seidenen Faden hatte es so am Ende gehangen, daß aus der Kindertorheit nicht eine Tragödie geworden war.
Ernster wurde da Eke von Grunds Sinnen. Ihre Gedanken weilten weiter bei Gerhard Bertsch, aber bei dem Manne, der er heute war, und suchten an dessen Bild vertraute Züge aus der Jugendzeit. Doch fanden sie nicht. Seltsam, wie ein ganz Fremder erschien er ihr. Woran das wohl lag? War er ihr nur durch die Jahre so ferngerückt, oder war er wirklich ein anderer geworden?
Endlich kam sie zu dem Schlusse: Es lag doch wohl an ihm. An der Beherrschtheit, um nicht zu sagen, Verschlossenheit seines Wesens, die jedes Näherkommen abwehrte wie ein stählerner Schild. Aber wie mochte es dahinter aussehen?
Lange gingen diese Gedanken in Eke von Grund um. Doch als sie sich dessen endlich bewußt wurde, kam es ihr fast wie ein Unwille über sich selber. Gerhard Bertschs Person war denn doch nicht von solchem Gewicht für sie. Und sie erhob sich aus ihrem stillen Winkel. Es war ja auch Zeit, daß sie nach Hause ging. Bald würde der Oheim zum Frühstück heimkommen; da durfte sie nicht auf sich warten lassen. –
Henner von Grund war vom Pürschgang zurück. Nun saß er behaglich bei Tisch und ließ sich von Eke versorgen. Es war das ein gewichtiges Geschäft für ihn, diese Stärkung nach dem Weidwerke, und sie fiel nach guter Westfalenart nicht zu gering aus. Die Tafel war besetzt mit allem, was Keller, Küche und Räucherkammer des Adligen Hauses beherbergten, und es war nicht wohlgetan, den Hausherrn bei dieser Beschäftigung zu stören. So zogen sich denn die buschigen, grauen Brauen Henners sofort bedenklich hoch, als Anne-Marie, das Hausmädchen, jetzt eintrat mit der Meldung, Steiger Hannschmidt sei da. Und kurz ward ihr Bescheid:
»Soll warten.«
»Aber es wäre eilig – meint er.«
»Hab' ich nach seiner Meinung gefragt? Raus!«
Schnell zog sich das Mädchen zurück. Doch nach einer Weile erschien es wieder in der Tür. Es wagte indessen nicht, näherzutreten, sondern blickte hilfesuchend zu dem Fräulein hin.
Eke verstand, und ruhig wandte sie sich an den Oheim, der so saß, daß er dem Mädchen den breiten Rücken zukehrte.
»Hannschmidt scheint doch eine recht dringliche Mitteilung für dich zu haben.«
Ihrem Blick folgend, fuhr der Hausherr herum.
»Bist du schon wieder da?«
»Entschuldigen der gnädige Herr nur vielmals – doch Herr Hannschmidt wollte absolut –«
»So soll er reinkommen, in Dreideubels Namen! Aber daß man nicht mal diese halbe Stunde seine Ruhe haben kann!«
Sein Zornblick schoß jetzt zu der Nichte hinüber, als machte er sie verantwortlich dafür. Eke aber sah ihm fest ins Gesicht, und als das Mädchen eilends wieder zur Tür hinaus war, sagte sie mit ihrer ruhigen Bestimmtheit:
»Du wirst mir die Anne-Marie auch bald wieder hinausgegrault haben, Onkel; das arme Ding zittert ja vor dir.«
»Dumme Gans! So soll sie sich eben scheren.«
»Und ich kann sehen, wie ich ein neues Mädchen bekomme. Hier im Dorf doch wirklich nicht so einfach. Außerdem will schon gar keine mehr erst her zu uns. Das Adlige Haus ist verschrien im ganzen Rauhen Grund.«
»Weiberkram! Laß mich in Ruh' damit. Ist deine Sache.«
Das Eintreten Hannschmidts enthob Eke der Antwort. Stirnrunzelnd empfing Herr von Grund den Steiger.
»Na, wo brennt's denn?«
»Brennen tut's freilich nit, Herr von Grund, aber das Wasser kömmt uns über'n Hals.«
»Das Wasser?«
»Ja – es ist über Nacht eingebrochen, alle Baue auf der elften Sohle stehen uns voll, schon kniehoch.«
»Was denn?« Henner von Grund warf Messer und Gabel hin. »Aber wo kommt denn das her – mit einemmal?«
»Vom Nachbarfeld her kommt's.«
»Von drüben? Ah – nun versteh' ich. Diese gottverdammten Schufte!«
Der rotbärtige Steiger nickte. In verbissenem Grimm, daß er einen Gegner gefunden, der es mit ihm aufnahm, ja ihm vielleicht sogar noch über war.
Henner von Grund fuhr auf.
»Da können wir aber doch nicht ruhig zusehen! Haben Sie denn nicht gleich –?«
»Gewiß, seit früh sieben sind wir schon am Pumpen, aber wir können das Wasser nit bewältigen mit unserer alten Maschine. Das rennt ja nur immer so. Ich muß meine Leute bald herausholen, wegen der Gefahr.«
»Verdammt nicht noch mal!« Der Gutsherr schmetterte mit der Faust auf den Tisch, daß alle Schüsseln und Teller erklirrten, und nun sprang er empor. Seine schweren Jagdstiefel stapften eilends zum Fenster. Laut dröhnte seine Stimme über den Hof.
»Kallmann – anspannen. Aber Galopp!«
Und nun kehrte er sich wieder dem Steiger zu.
»Ich fahre sofort aufs Bergrevier!«
Hannschmidt nickte zustimmend.
»Ja, Eile tut not.«
Ein paar Minuten später rasselte der Jagdwagen schon vom Hof und stob davon, auf der Straße nach Siegen, und es war noch nicht Mittag, da hielt er schon wieder im Ort droben vor Zeche »Christiansglück«. Henner von Grund in Begleitung des Bergrats trat bei Bertsch ins Bureau ein. Langsam erhob sich dieser, verneigte sich vor dem grüßenden Revierbeamten und sah den Repräsentanten des Erbstollens an, der steif und störrisch vor ihm stand.
»Nun, was verschafft mir die Ehre?«
Der leise Spott stachelte Henner von Grund auf.
»Das werden Sie selber wohl am besten wissen,« schrie er ihn an. »Glauben Sie, Sie können Schindluder mit uns spielen, Herr?«
»Wenn hier in der Tat von solch einem Spiele die Rede sein dürfte, so hätten Sie damit angefangen, Herr von Grund. Sie wollen das doch nicht vergessen.«
»Meine Herren, so kommen wir ja nicht weiter,« vermittelte der Bergrat und wandte sich dann an Bertsch. »Also, Herr Bertsch, es handelt sich um eine Beschwerde des Repräsentanten vom Erbstollen hier. Wie Herr von Grund behauptet, sollen ihm durch Ihr Verschulden Wasser in sein Grubenfeld einbrechen, und zwar in einem solchen Umfange, daß der ganze Betrieb dadurch bedroht wird.«
»Das bedaure ich außerordentlich,« der unverkennbare Spott ließ Henner von Grund eine Röte auf die Stirn schießen, »aber ich werde an dieser Tatsache leider nichts ändern können.«
»Die Gegenpartei mutmaßt, ja behauptet, es läge eine schikanöse Absicht Ihrerseits vor und dringt auf Beseitigung der Maßnahmen, die zu diesem Wassereinbruche geführt haben.«
»Was die Gegenpartei mutmaßt, ist mir vollkommen gleichgültig. Die betreffenden Maßnahmen aber waren im Interesse meiner eigenen Grube geboten. Ich habe daher nicht die mindeste Veranlassung, sie aufzuheben.«
»Herr Bertsch, ich möchte Ihnen doch nahelegen – wie gesagt – so kommen wir doch nicht vom Fleck!«
»Herr Bergrat, noch einmal – ich bedaure!«
»Ja, dann, meine Herren,« und der Revierbeamte hob seine Stimme, »bleibt mir nichts weiter übrig, als die Anordnung zu treffen, daß Sie beiderseits bis zum Austrage der Sache den Betrieb an Ihrer Markscheide, innerhalb zehn Meter von der Grenze, einzustellen haben.«
»Damit,« Bertsch verneigte sich mit überlegenem Lächeln zu dem Beamten hin. »Bin ich ganz einverstanden.«
»Aber ich nicht!« schrie Henner von Grund. »Was nutzt mir das? Inzwischen läuft das Wasser immer lustig weiter und ersäuft mir die ganze Grube.«
»So prozessieren Sie doch!«
Sarkastisch gab Bertsch jetzt dem andern das Wort zurück, das ihm jener damals boshaft zugerufen. Dick schwollen dem Gutsherrn die Adern an der Schläfe an.
»Herr, wir sprechen uns noch!«
Und er drohte zu Bertsch hin. Aber der lächelte nur schweigend im Gefühl seiner Überlegenheit.
Der Bergrat, froh, daß er die leidige Geschichte auf diese Weise für sich erledigt, sah von einem zum andern.
»Ja, meine Herren – dann gäbe es hier wohl einstweilen nichts weiter zu tun. – Glückauf!«
Und er zog den Hut.
Ohne Gruß, in kochendem Grimm, folgte ihm Henner von Grund.
* * *
Es kam, wie Gerhard Bertsch es berechnet und die Gegner befürchtet hatten: Die Wasserader, die mit dem Grundwasserstrom in Verbindung stand, erwies sich als rein unerschöpflich, und die ihr entquellenden Fluten taten ihr Werk im Erbstollen. Ohnmächtig blieben alle Anstrengungen Hannschmidts und seiner Leute, ihrer Herr zu werden. Das rann und strömte Tag und Nacht, füllte die Strecken und Abbaue und brachte sie vielfach zu Bruch. Immer weiter mußte man zurückweichen vor dem andringenden Wasser. Es trieb die Menschen schließlich aus der Grube ganz heraus – die Arbeit mußte eingestellt werden auf dem Erbstollen.
Es war eine Angelegenheit, die bald nicht nur den Ort, nein, den ganzen Rauhen Grund in Mitleidenschaft zog und in Aufregung versetzte. Überall waren ja ein paar Familien davon betroffen, wo die Männer nun notgedrungen feiern mußten. Der ausfallende Lohn fehlte da bald im Haus wie in seinem weiteren Umlaufsgebiet: Krämer, Schlächter, Bäcker und Gewerbetreibende klagten.
Da erhob sich ein Murren, und eine Erbitterung wuchs heran gegen den Urheber dieser Sorgen – Gerhard Bertsch, den »Amerikaner«, wie sie ihn alle hier nannten im Land. Und trieb er's nicht auch recht wie so einer von da drüben? Kalt und rücksichtslos schritt er über andere hinweg. Was fragte er nach Hunger und Not!
Freilich hatten die von der gegnerischen Partei es nicht an Schritten fehlen lassen. Sie hatten sich an das Oberbergamt gewandt. Dies aber hatte die Anordnung des Revierbeamten für richtig befunden und sah sich im übrigen außerstande, hier einzugreifen. Damit war die Sache auf den Gerichtsweg verwiesen. Doch der konnte Jahre, unter Umständen lange Jahre in Anspruch nehmen, bis zum endgültigen Entscheid. Bis dahin würde aber der Erbstollen völliger Verwüstung und dem wirtschaftlichen Zusammenbruch verfallen sein.
So gingen nicht nur die arbeitslosen Bergleute, sondern auch die Gewerken des Erbstollens mit ernsten Gesichtern umher. Bis auf Henner von Grund und Hannes Reusch waren es ja meist kleinere Besitzer, die die Kuxe in Händen hatten. Hier wurde eine Vermögensschädigung und der Fortfall der gewohnten Dividende schmerzlich empfunden.
Aber auch dem Hannes Reusch kamen allerlei Gedanken. War es klug, die Sache so auf die Spitze zu treiben? Man riskierte alles und gewann, selbst wenn es wirklich gut ging, nicht allzuviel. Dagegen boten sich, wenn man gescheit war und seinen Vorteil wahrnahm in diesem kritischen Zeitpunkt, vielleicht große Aussichten – gerade ihm persönlich. Und der Hannes Reusch ward sehr nachdenklich. Denn er war ein kluger Mann gewesen, zeit seines Lebens.
Auch Magri hörte in diesen Wochen von Vater und Bruder, wenn sie im Familienzimmer vertraulich sprachen, mancherlei. Aber sie achtete nur wenig darauf. Für Geschäfte hatte sie kein Interesse. Darauf verstand sich der Vater ja wie nur einer. Was sie von dem allen anging, das war etwas anderes. Nur wenn Gerhard Bertschs Name genannt wurde, dann horchte sie auf und lauschte. Mit einem seltsamen Doppelgefühl.
Blieb er Sieger in diesem Kampf der beiden Gruben, dann hatte er offenbar eine große, sehr große Zukunft und wurde der erste Mann hier im Lande. Der Frau, die er einmal in sein Haus führen würde, bot sich eine glänzende Aussicht.
Aber es war nicht das allein. Wenn sie so die geheime Furcht der beiden Männer herausfühlte vor Bertschs Überlegenheit, dann stieg es leise in ihr auf. Ein eigenes Gefühl, das sie wohlig überrieselte. Wie damals bei dem Gedanken, daß seine Hand sie berührte mit herrisch forderndem Griff.
Selten nur bekam sie ihn in dieser Zeit zu sehen. Seine Arbeit nahm ihn offenbar ganz in Anspruch. Das machte sie bisweilen ungeduldig. Hatte er denn niemals Zeit übrig für anderes? War das erwachende Interesse für sie etwa wieder vorübergegangen bei ihm?
Vergebens suchte ihr Auge mit dunkelm Fragen in seinen Zügen, wenn er ihr einmal im Hause begegnete. Immer nur ein kühler Gruß, ein Blick, flüchtig und fremd, als wäre jene Stunde neulich nie gewesen.
Da zeigte auch Marga Reusch ihm ihre Prinzessinnenmiene. Kaum, daß sich ihr Kopf überhaupt zum Gegengruß neigte. Doch ihr Stolz begehrte im Innern leidenschaftlich auf. Sollte ihr das geschehen, daß nur die Laune einer müßigen Stunde ein Spiel mit ihr getrieben?
Ganz blaß wurde das schöne Mädchen bei diesem Gedanken. Alles an ihr zitterte. Aber nur der Sturm eines Augenblicks war's; eines unbedachten Augenblicks, wo sie der klare Blick ihrer Klugheit verließ. Schnell kehrte ihr die wieder zurück und sagte ihr: sie mußte ihm Ruhe lassen. Er stand ja mitten im Entscheidungskampfe. Da schwieg alles andere in ihm. Das war so Mannesart. Aber dann, nachher! Wenn ihm alle Sinne noch fieberten vom Kampfrausch und doch schon die lachende Sorglosigkeit des Siegers ihn einlullte – dann würde ihre Stunde kommen. Die Stunde, wo der Starke, indem er die zarte Beute spielend an sich zu reißen wähnte, sich selber die Fesseln überstreifen ließ – leise, leise.
* * *