Paul Grabein
In Jena ein Student
Paul Grabein

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Ein trüber Tag

Es war zwei Monate später. Im Wohnzimmer des Berendtschen Hauses saß die Mutter mit der Tochter bei einer Handarbeit. So still war es in dem Raume, daß man die leisen Handbewegungen der beiden Frauen beim Nähen hören konnte. Nun aber entfuhr plötzlich der Mutter ein schwerer Seufzer, so daß die Tochter verwundert von ihrer Arbeit zu ihr aufsah.

»Ich weiß gar nicht, wie mir ist.« Die fleißigen Hände sinken lassend, blickte die Mutter auf und zu der Tochter hinüber. »Mich quält heute ein so dunkles Gefühl, wie die Ahnung eines Unglücks. Ich denke immer, daß der dicke Brief, der heute morgen von Helmut an den Vater gekommen ist, irgend etwas Schlimmes enthält.«

»Aber was denn nur?« fragte die Tochter ungläubig. »Wir haben doch erst vor wenigen Tagen eine Postkarte von Helmut erhalten, daß es ihm gut geht. Was soll denn nun inzwischen vorgekommen sein?«

»Ich weiß es auch nicht,« seufzte die Mutter, »aber der Gedanke läßt mich nicht los. Vielleicht ist er doch inzwischen krank geworden oder sonst irgend etwas.« Von ihrer inneren Unruhe gequält, sprang sie plötzlich auf und ging zum Sekretär ihres Mannes hinüber, wo der Brief lag. Mit sehnsüchtigem Blick nahm sie das Schreiben auf. »Ach, wenn der Vater nur erst da wäre!«

»Er muß ja jeden Augenblick kommen,« tröstete die Tochter.

Gerade wie sie diese Worte äußerte, schrillte der Ton der Klingel von der Hausflur ins Zimmer hinein.

»Da ist er schon!«

Einen Augenblick lauschten beide.

»Nein, das ist nicht Vaters Schritt,« entschied die Mutter.

Gleich darauf klopfte es. Auf das »Herein!« der Mutter öffnete sich die Tür und in dem Rahmen derselben erschien Frau Rendant Heinze, die Nachbarin und gute Freundin des Hauses. Eilig trat sie ein, im bloßen Kopf, nur einen Spitzenschal umgeschlagen, mit gerötetem Angesicht, wie jemand, der eine hochwichtige Botschaft bringt. Mit schnellen Schritten trat sie auf Frau Berendt zu und begrüßte sie mit umständlicher Zärtlichkeit.

»Ach Gott, meine liebe Frau Steuerinspektor, es ist ja zu schrecklich! Daß Ihnen das auch gerade mit Ihrem Sohn passieren mußte! Er war doch sonst immer ein so ordentlicher, ruhiger Mensch.«

Frau Berendt, die zur Begrüßung aufgestanden war, sank plötzlich auf ihren Stuhl nieder, ein so furchtbarer Schreck hatte sie bei den Worten des Besuches durchfahren.

»Mein Sohn – ja was denn?« kam es stockend von ihren zitternden Lippen.

»Wie – wissen Sie denn noch gar nichts?« Im höchsten Grade erstaunt, schlug Frau Heinze die Hände ineinander.

»Nein, nein! Aber so reden Sie doch nur, spannen Sie mich doch nicht so auf die Folter,« bat die geängstigte Frau.

Schweigend zog Frau Heinze eine Zeitung aus der Tasche, die sie augenscheinlich für diesen Zweck eigens mitgebracht hatte.

»Hier steht es schon im Blatt,« und mit der prickelnden Freude, die Überbringerin einer so großen Neuigkeit zu sein, entfaltete sie rasch das Zeitungspapier und las nun eine kurze Nachricht vor, die sich unter den Telegrammen befand.

»Weimar, den 11. Juli. Die zweite Strafkammer des hiesigen Landgerichts verurteilte heute die beiden Studiosen Artur Dobler und Helmut Berendt aus Jena wegen Zweikampfes mit tödlichen Waffen zu je drei Monaten Festung.«

Wie vom Donnerschlag gerührt sank Frau Berendt in sich zusammen, dann brach sie in ein heftiges Weinen aus.

»Ich wußte es ja – der Brief, der Brief!« entrang es sich ihren Lippen.

Die Nachbarin wandte sich tröstend zu der armen Frau, sie umarmend, streichelnd und an sich drückend.

»Ach, liebste Frau Berendt, wenn ich das geahnt hätte!« suchte sie die unerwartete Wirkung ihrer Hiobspost abzuschwächen.

Auch der Tochter standen die Tränen in den Augen, und erklärend wandte sie sich nun an die Überbringerin der trostlosen Botschaft.

»Vater hat die Zeitung heute morgen mitgenommen, so daß wir sie gar nicht lesen konnten. O, was wird er nur dazu sagen? Er muß jeden Augenblick heimkommen.«

»So, der Herr Steuerinspektor muß jeden Augenblick kommen?« Frau Heinze schlug sich eiligst das Tuch wieder um den Kopf. »Dann will ich doch lieber wieder gehen. Ich glaube, es ist besser, Sie sind allein, wenn Sie ihm die Botschaft beibringen.« Und mit nochmaligen Beteuerungen ihres Mitleides zog sich die geschwätzige Dame schleunigst zurück.

Einige Minuten waren Mutter und Tochter allein im Zimmer, völlig ihrem Schmerz hingegeben. Vergebens versuchte Hilde, die Mutter aufzurichten.

»Mein armer, unglücklicher Junge!« klagte die arme Frau immer wieder und wieder. »Was wird der Vater dazu sagen?«

»Wir dürfen ihn nicht gleich etwas merken lassen,« riet die Tochter. »Wir müssen es ihm nach und nach beibringen, sonst regt er sich zu furchtbar auf.« Und liebevoll sich zu der Mutter wendend, trocknete sie dieser mit ihrem Taschentuch die Tränen von den Augen und den Wangen.

Da schellte es wieder, diesmal mit scharfem, lauterem Ton, und alsbald nahten sich feste, schwere Tritte.

»Der Vater!« entfuhr es Hildes Lippen, und sie fühlte, wie ihr das Herz plötzlich stockte.

Gleich darauf trat der Steuerinspektor in die Tür. Augenscheinlich abgespannt und verärgert, warf er mit einem Ruck die Mütze auf das Tischchen neben dem Eingang und trocknete sich dann die Stirn, auf der die Schweißperlen glänzten.

»Ein heißer Tag heute!« stieß er ärgerlich hervor, »und dazu gerade heute diese Pferdearbeit! Fünf Stunden habe ich im Sonnenbrande draußen auf dem Bahnhof zu tun gehabt. Na, ich freue mich auf meine Ruhe, ich hab' sie mir ehrlich verdient!« Und schwer ließ sich der große, starke Mann in den Korbsessel, seinen Sorgenstuhl, am oberen Ende des schon gedeckten Tisches nieder.

In ängstlicher Hast sprang die Mutter auf. »Das Essen wird gleich da sein,« versprach sie und eilte hinaus, froh, einen Vorwand zu haben, sich fürs erste den Blicken ihres Mannes entziehen zu können.

Der Steuerinspektor blieb mit der Tochter allein.

Nachdem er seinen Uniformrock aufgeknöpft hatte, setzte er den Kneifer auf die Nase und zog die zusammengefaltete Zeitung aus der Brusttasche.

»Nicht einmal zum Zeitunglesen bin ich beim Frühstück gekommen,« erklärte er, das Blatt auseinander faltend, »es war eine geradezu blödsinnige Hetzerei heute.« Und nun begann er den Blick in die Zeitung zu senken.

Mit banger Furcht hatte Hilde diesem Beginnen zugeschaut. Um Himmels willen, wenn nun der Vater dort so unvorbereitet die Nachricht fand! Nein, das durfte nicht geschehen. Sie faßte sich daher ein Herz und trat schnell an den Vater heran. Schmeichelnd suchte sie ihm das Zeitungsblatt aus der Hand zu nehmen.

»Ach, laß doch, Väterchen, und ruh dich lieber ein bißchen vor dem Essen aus. Nach Tisch, wenn du dein Schläfchen gemacht hast, ist ja noch Zeit genug.«

Aber der Vater ließ sich nicht beirren.

»Nein, nein; man will doch auch wissen, was in der Welt vorgeht,« entschied er und schob sie sanft beiseite, von neuem das Blatt hochnehmend.

Aber Hilde ließ die Hand nicht von der Zeitung und suchte noch einmal ihr Vorhaben durchzusetzen.

Mit ärgerlichem Stirnrunzeln blickte der Steuerinspektor auf; eine derartige Eigenwilligkeit war er in seinem Hause nicht gewöhnt, am allerwenigsten von der immer folgsamen Tochter.

»Na, was soll das?« herrschte er das Mädchen mit scharfem Ton an und richtete dabei den strengen Blick durch die Kneifergläser auf die bleich und verstört vor ihm Stehende.

Nun fiel ihm der ungewöhnliche Ausdruck ihres Gesichts auf.

»Na nu, was ist denn los?« forschte er.

»Ach nichts,« versuchte Hilde auszuweichen. Aber der Vater ließ sich nicht irre machen. Langsam ließ er das Zeitungsblatt auf die Kniee sinken und musterte die Tochter mit durchdringendem Blick. »Da ist irgend etwas nicht in Ordnung. Ich kenne dich doch, Mädel.«

Zum Glück trat gerade in diesem Augenblick die Mutter mit der Suppe herein und hinter ihr die zwei jüngeren Brüder, die sie aus dem hinteren Zimmer von der Schularbeit abgerufen hatte. Mit ihrem feinen Instinkt hatte die Mutter sofort die Situation erraten und beeilte sich daher, der Tochter, die ihr einen heimlich flehenden Blick zuwarf, aus der Not zu helfen.

»So, nun können wir essen,« erklärte sie, setzte hastig die Suppenterrine auf den Tisch und griff dann nach dem Teller des Mannes, um ihn durch die Mahlzeit von weiteren Fragen abzubringen.

»So, das wird dir gut tun nach all der aufreibenden Arbeit heute.« Rasch setzte sie ihm den Teller vor, aber ihre Hand zitterte vor innerer Erregung dabei so heftig, daß der Inhalt des Tellers überfloß.

Stirnrunzelnd betrachtete der Steuerinspektor, dessen Argwohn nun einmal rege geworden war, seine Frau. Auch sie? Er kannte seine Frau zu gut, um nicht zu wissen, daß diese ersichtliche Erregung einen besonderen Grund haben mußte.

»Was ist's mit der Hilde?« wandte er sich, einen Zusammenhang zwischen der Befangenheit von Tochter und Mutter ahnend, jetzt geradewegs an seine Frau.

Ohne den Gatten anzublicken, dessen forschenden Blick sie nun deutlich in ihrem Gesicht spürte, füllte die Mutter mit fliegender Hand den Kindern ihre Teller auf.

»Was soll denn sein? Nichts ist,« erklärte sie ausweichend, doch einen schnellen Blick zur Tochter hinübersendend, die ihre Augen auf den Teller gesenkt hatte. »Das Mädel ist vielleicht von der Hitze ein bißchen abgespannt.«

Da gab's plötzlich einen heftigen Ruck im Sessel, und krachend warf der Vater Löffel und Serviette auf den Tisch.

»Zum Kuckuck, jetzt hab' ich's satt mit der Geheimniskrämerei! Was geht hier vor? Ich will's wissen – also heraus mit der Sprache!«

Frau Berendt wußte nur zu deutlich, was die Glocke geschlagen hatte: Wenn dieser Ton kam, war es vorbei mit jedem Widerstande. So war denn also der schreckliche Augenblick da! Eilig wandte sie sich an die Tochter und die beiden Söhne: »Geht hinaus, Kinder; ich habe mit Vater zu sprechen.«

»Nun, was gibt's?« Mit steigendem Erstaunen hatte der Steuerinspektor die Vorbereitungen seiner Frau zu dieser Mitteilung mit angesehen. »Du tust ja rein gefährlich; was ist denn vorgefallen?«

Einen Augenblick rang Frau Berendt noch mit ihren Worten; sie hätte gern umständlich und schonend dem Gatten die schreckliche Mitteilung gemacht. Aber sie sah, wie er bereits in steigender Ungeduld mit den Fingern auf dem Tisch zu trommeln begann, und mußte daher sofort mit der Sprache heraus. Zitternd näherte sie sich ihrem Mann, und ihm die Hände beschwörend auf die Schultern legend, bat sie: »Ich muß dir leider eine sehr traurige Mitteilung machen, aber erschrick nur nicht und sei nicht zu böse: Helmut hat sich geschlagen, und die Sache ist vors Gericht gekommen – er ist gestern zu drei Monaten Festung verurteilt worden.«

Wie vom Donner gerührt saß der Inspektor einen Augenblick da, seine Frau verständnislos anstarrend. Was, hörte er recht? Sein Sohn, der Helmut, gerichtlich bestraft? Und wie mechanisch wiederholte er noch einmal die Worte seiner Frau. Aber als sie nur leise und kummervoll zur Bestätigung mit dem Kopf nickte, da brach der Sturm in ihm los. Krachend fuhr seine Hand auf den Tisch nieder, und er sprang in die Höhe.

»Was, also duelliert, trotz aller unserer Ermahnungen, und nun obendrein noch eingesperrt! Na, das ist ja eine nette Bescherung. Dazu hat man den Burschen groß gezogen!«

Und die Hände auf den Rücken legend, wandte sich der große Mann ab, um mit gewaltigen, wuchtigen Schritten im aufschäumenden Zorn das Zimmer zu durchmessen.

Frau Berendt war inzwischen rasch zum Sekretär gelaufen, wo der Brief Helmuts lag, und trat jetzt in bebender Angst dem Gatten entgegen, ihm den Brief hinhaltend.

»Ach, lies doch nur erst, was der Junge geschrieben hat. Heut vormittag ist dieser Brief von ihm angekommen; gewiß steht da alles drin. Verurteile ihn doch nicht, ohne ihn gehört zu haben.«

Schweigend nahm ihr Berendt den Brief aus der Hand, zerriß den Umschlag und entfaltete das Schreiben. Nun las er mit lauter Stimme den Inhalt des Briefes seiner Frau vor:

»Meine lieben, lieben Eltern!

»Mit einer furchtbaren Mitteilung muß ich heute zu Euch kommen. Mich hat ein entsetzliches Unglück betroffen, nein, eine Schuld – beides. Ich will Euch schreiben, wie alles gekommen ist, und Ihr werdet ja selbst sehen, wie weit die Schuld mich trifft.

Vor etwa acht Wochen, gelegentlich der Schillerfeier, wurde ich von einem Studenten, der mich schon wiederholt in kränkender, ernsthaft beleidigender Weise behandelt hatte, ohne daß ich aber darauf erwidert hätte, in höchst verächtlicher Form vor zahlreichen Zeugen beschimpft. Ich habe darauf, gerade Eurer Ermahnung, geliebte Eltern, eingedenk, mit aller Ruhe und Selbstbeherrschung mir diese Beleidigung verbeten. Aber statt daß er sein Unrecht eingesehen hätte, forderte er mich nun obendrein. Ich habe in diesem Augenblick furchtbar mit mir gekämpft – ich bitte, mir das glauben zu wollen – und, meinem Versprechen eingedenk, hätte ich ja auch alles hinuntergezwungen und dem Menschen in schweigender Verachtung den Rücken gekehrt, aber ich konnte es nicht. Ich wäre mir wie ein Elender, wie ein Feigling vorgekommen vor all den Zeugen des Vorfalls, die erwartungsvoll auf mich sahen. Ich wäre wirklich in allen studentischen Kreisen wie ein Geächteter angesehen worden, wenn ich nicht nach studentischem Gebrauch jetzt die Forderung angenommen hätte. So geschah es denn – ich konnte nicht anders, so wahr ich diese Zeilen an Euch schreibe.

Und dann ist das Schreckliche gekommen. Beim Austrag der Mensur, die vielleicht für mich unblutig verlaufen wäre, erschien der Gendarm, wir wurden abgefaßt, und so ist denn die unglückselige Angelegenheit vor Gericht gekommen. Mein erster Gedanke war natürlich, Euch, liebe Eltern, sofort von diesem Ereignis Kenntnis zu geben. Aber nach langem Kampf hielt mich der Gedanke davon ab, daß vielleicht die Anzeige doch noch unterdrückt werden könnte und ich Euch so lange Monate qualvoller Aufregung ersparen wollte. In Hangen und Bangen verlebte ich eine furchtbare Zeit, bis mich dann vor vierzehn Tagen die Vorladung zur Gerichtsverhandlung traf und mir jeden Zweifel darüber benahm, daß ich dem Gesetz verfallen war. Nun hatte ich aber im letzten Winkel meiner Seele immer noch die dunkle Hoffnung, ich würde als der beleidigte und herausgeforderte Teil vielleicht nur geringfügig bestraft werden, und so entschloß ich mich denn, so lange mit meiner Mitteilung an Euch zurückzuhalten, bis der Richterspruch gefallen war. Heute ist dies nun geschehen; vor einer halben Stunde hat das Gericht seinen Spruch abgegeben, und ich bin für überführt erachtet worden, mich des Zweikampfs mit tödlichen Waffen schuldig gemacht zu haben, wofür über mich eine Strafe von drei Monaten Festungshaft verhängt worden ist.

Meine geliebten Eltern, ich bin wie niedergeschmettert. Alles dreht sich in mir; ich weiß selbst nicht, was ich soll. Nur das eine Gefühl habe ich, daß ich jetzt zu Euch reden, Euch rückhaltlos alles berichten, meine Schuld eingestehen muß und nichts beschönigen darf. Ich weiß ja nur zu gut, was dieser furchtbare Schlag für Euch bedeutet, namentlich für Dich, lieber Vater, der Du so streng auf Recht und Ehre hältst und Dir in Deinem ganzen Leben niemals auch nur die leiseste Übertretung hast zu Schulden kommen lassen. Ich weiß, wie ich Dich in Deinem Vaterstolz, in Deiner Beamtenehre gekränkt habe. Und so schrecklich erscheint mir jetzt mein Vergehen, daß ich nicht den Mut finde, Euch schon um Verzeihung zu bitten. Zu sehr wirst Du ja unter der Wunde leiden, die ich Dir beibringe. Ich bitte Dich daher nur, mein lieber, lieber Vater, übersieh nicht, daß ich ohne meine Schuld zu all diesem gekommen, daß ich in eine Zwangslage geraten bin, aus der ich mir nicht anders zu helfen wußte, als wie es geschehen ist. Die unseligen Folgen jenes Augenblicks, wo ich die Forderung notgedrungen annahm, habe ich ja natürlich niemals vorher ahnen können.

Bitte, bitte, laßt bald von Euch hören, liebe Eltern, wenn es auch nur wenige Zeilen sind, denn ich vergehe in furchtbarer Aufregung, wie Ihr die Sache aufnehmen werdet.

Euer unglücklicher Sohn

Helmut.«

Langsam entsank das Schreiben der Hand des Steuerinspektors, und eine Weile blickte dieser noch auf das Papier zu seinen Füßen. Dann aber ging ein Zucken durch seine mächtige Gestalt und, heftig mit dem Fuße aufstampfend, trat er auf das Schreiben.

»Also das sind die Früchte zwanzigjähriger Erziehung, tausendfältiger Ermahnungen und guter Lehren. Haha!« – grimmig lachte der Inspektor auf. »Nun hat man mit all dem sich einen Sohn erzogen, der einem Schmach und Schande ins Haus bringt!« Und von seinem aufbrandenden Empfinden überwältigt, begann der Steuerinspektor wieder nach seiner Art durchs Zimmer zu stürmen.

»Reg' dich doch nicht so furchtbar auf,« flehte Frau Berendt.

Frau Berendt, über deren bleiche Wangen die Tränen liefen, hob schweigend den Brief auf und suchte mit mütterlicher Zärtlichkeit die zerknitterten und zerstampften Seiten zu glätten. Ihr war zu Mute, als wenn den armen unglücklichen Sohn da eben eine körperliche Mißhandlung getroffen hätte. Auf seinem Weg vor ihr Halt machend, herrschte sie der Steuerinspektor an: »Woher wußtest du denn übrigens schon von der Sache?«

»Frau Heinze war gerade hier,« erwiderte Frau Berendt gehorsam, ohne die Folgen ihrer Antwort zu überdenken, »sie hatte es schon in der Zeitung gelesen.«

Im nächsten Augenblick allerdings packte sie ein tödlicher Schrecken, als sie die Folgen dieser unbedachten Auskunft sah.

»Was?« In donnerndem Ton drang grollend die Stimme Berendts aus seiner mächtigen Brust. »Also in der Zeitung wird die Sache schon herumgetragen, mein guter Name, den ich mein ganzes Leben lang hoch und heilig gehalten habe? Durch die Zeitungen erfahren andere Leute die Sache eher als der eigene Vater? Ach, das ist zu viel! Der Bursche verdient ja, daß man sonst etwas mit ihm täte.« Und ingrimmig schüttelte der im Tiefsten gekränkte Vater die Faust wider den abwesenden Sohn.

»Aber ums Himmels willen, reg' dich doch nicht so furchtbar auf,« flehte Frau Berendt, ihm in den erhobenen Arm fallend. »Gewiß, Helmut hat unrecht getan, doppelt unrecht, weil er uns so lange die Sache verschwieg. Aber er hat es doch gewiß nicht aus Angst und Feigheit getan, sondern nur um uns zu schonen; dafür kenne ich doch den Jungen zu gut.«

Aber der Steuerinspektor war nicht zu besänftigen.

»Nein,« donnerte er, »wenn ich schon alles verzeihen und verstehen könnte, aber niemals diese Heimlichkeit; das hab' ich nie ausstehen können! Wenn das Vertrauen bei einem Kinde zum eigenen Vater so gering ist, dann hört eben alles auf! – Nein, da gibt's kein Entschuldigen mehr und kein Verzeihen. Ich bin fertig mit dem Jungen, und ich rühre keine Hand mehr für ihn. – Dazu habe ich mich gequält, Jahr für Jahr, Tag um Tag, um den Jungen studieren zu lassen! So manchen Bissen hat man sich dazu vom Munde absparen müssen, und das nun ist der Erfolg! – Aber gut, er soll die Suppe auslöffeln, die er sich eingebrockt hat; er hat's ja nicht anders haben wollen. Aus ist's jetzt natürlich mit dem Studium! Ich habe kein Geld dazu, um meinen Herrn Sohn fechten und raufen und auf der Festung durchfüttern zu lassen – den Spaß mögen, sich andere leisten, aber nicht ich. Ich werde kurzerhand der Sache ein Ende machen! Er wird seine Strafe absitzen, sogleich, und dann tue ich ihn in ein Geschäft nach Erfurt. Ich habe Bekannte dort, die die Sache vermitteln werden. Da mag er sehen, daß er so bald wie möglich zu eigenem Gelde kommt und mir nicht länger auf der Tasche liegt. Gleich werde ich's ihm schreiben; er soll wissen, woran er ist.«

Und mit schnellen Schritten wandte sich der Steuerinspektor der Tür zum Nebenzimmer zu.

Noch einen letzten Versuch machte die geängstigte Frau, um den erzürnten Mann umzustimmen; aber scharf fiel ihr dieser ins Wort: »Ruhig! Ich will nichts mehr hören; es bleibt bei dem, was ich gesagt habe. Und nun sorge dafür, daß mich keiner drinnen stört – mein letztes Wort ist gesprochen!«

Krachend schloß sich die Tür hinter dem Steuerinspektor, und seine Frau sank auf einen Stuhl am Tische nieder. In einem erlösenden Schluchzen machte sich die so lange gewaltsam zurückgehaltene Angst und Verzweiflung bei ihr nun endlich Bahn.

 


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