Jeremias Gotthelf
Der Oberamtmann und der Amtsrichter
Jeremias Gotthelf

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»Vor einem Vierteljahr oder mehr erhielt unser Herr ein Schreiben von der Regierung. ›Darin ist etwas, was mich gar nicht interessiert, tut das in die Schublade dort, es sind schon mehr darin‹, sagte der Junker. ›Aber will der Junker Oberamtmann es nicht aufmachen und sehen, was darin ist?‹ frug ich. ›Nicht nötig‹, sagte er, ›weiß das Nötige schon, und am Nähern begehre ich mich nicht zu ärgern. Man hat genug Verdruß, dem man nicht entgehen kann, warum Verdruß nicht meiden, wo es möglich ist? Marsch mit in die Schublade!‹ Unser Herr hatte nämlich wieder einmal über die Schnur gehauen, und es war ihm zu Ohren gekommen, es sei ein braver Abputzer für ihn ob dem Feuer, nun meinte er, er stehe angerichtet im Schreiben. Also marsch mit in die Schublade, die so voll ist, daß man allemal mit dem Schuh Platz machen muß! Einige Zeit nachher kömmt ein Schreiben von oben, wo einem Geschäft nachgefragt und uns sehr ernsthaft die größte Beschleunigung anbefohlen wurde. Man sei der immer sich wiederholenden Verschleppungen satt, hieß es darin unverschämt genug. Wohl, jetzt mein Junker auf und zweg, hoch aufs Roß, jetzt war er einmal ungerecht gerüffelt worden, und wir schrieben einen ganzen Tag an einem Briefe, worin wir so deutlich als möglich zu verstehen gaben, daß man Freude zu haben scheine an Wischern, gerechten und ungerechten, daß man aber diesmal den Balken im eigenen Auge suchen solle. Wir waren recht kühn in unsern Herzen geworden, und der Herr sagte: ›Jetzt können sie auch einmal schmecken drinnen in Bern!‹ Mit umkehrender Post kömmt ein Schreiben daher voll Donner und Blitz, lauter Pistolen und Dolche, daß man von einem Oberamt aus eine solche Sprache führe und noch dazu bei dieser Sache, aus welcher man sehe, wie groß die Unordnung in den Geschäften sein müsse, denn das betreffende Schreiben sei abgegangen und müßte in unsern Händen sein. Wenn so was noch einmal begegne, so werde unumgänglich eine Untersuchung über uns verhängt werden. Ja, das war nicht Spaß, so mir nichts, dir nichts sie abfertigen durften wir nicht. Wir suchten einen ganzen Morgen, kehrten alles siebenmal um, der Junker war in einer stillen Wut, daß ich alle Augenblicke glaubte, er fahre los und speie Feuer. Aber da war nichts zu finden. Endlich fällt mir was plötzlich ein. ›Herr Oberamtmann‹, sage ich, ›wars wohl ein Schreiben, welches nicht geöffnet wurde?‹ ›Warum nicht gar!‹ schneuzte der Herr, öffnet aber doch alsbald die Schublade, reißt das Schreiben auf, und richtig, darin war das Geschäft, über welches berichtet werden sollte. Ja, da standen wir wie die Butter an der Sonne, das Aufbegehren war uns auf einmal vergangen, jetzt, was machen? Da ist der Schreiber dann kommod, der muß herhalten, oder der Landjäger, der das Zimmer aufräumt, durch sie kömmt so ein Schreiben unter andere Schriften oder in ein Protokoll und wird vergessen, aber in Zukunft soll besser Obacht gehalten werden. Aber wohl, seither macht der Herr die Schreiben auf!«

»Aber«, frug der Amtsrichter, »merktet ihr dann nicht, als der Wischer wirklich kam, daß etwas anderes in dem Schreiben stecken mußte?« »Ja, der Wischer kam eben nicht«, antwortete der Schreiber. »Wahrscheinlich war von einem die Rede gewesen, aber unterlassen worden, weil man gefunden haben wird, es trage doch nichts ab.«

Man denke, wenn das alles der Oberamtmann gehört hätte! Darum ists gut, daß der liebe Gott unser Gehör eben recht beschnitten hat, er weiß wohl, warum. Als der Amtsverweser oder Amtsstatthalter mit seinem Gefolge von dannen zog, wunderten sie sich alle, wie es doch gewarmet habe. Er hätte fast Lust, die Kutte auszuziehen, sagte der Polizeier. Er hätte diesen Morgen nicht geglaubt, daß es so bald ändere. Der gute Polizeier hätte aber auch nicht gedacht, daß einige Pfund Fleisch, einige Flaschen Wein in seinen Magen kämen; und was diese Quantitäten in einem alten, leeren Polizeiermagen für Veränderungen hervorbringen können, hatte er längsten nicht mehr erfahren.

Mit dem Protokoll war der Oberamtmann äußerst unzufrieden. Der Schaden auf dem Lewatacker war ihm viel zu kläglich dargestellt. So gehe es, wenn man die Sache nicht selbst mache, auf niemand könne man sich verlassen, zuverlässige Leute seien selten auf der Welt. »Rari nantes in gurgite vasto«, würde der Oberamtmann gesagt haben, wenn Latein seine starke Seite gewesen wäre, wie sie es eben nicht war.

Als sie fort waren, befahl der Amtsrichter, sein Reitwägeli zu rüsten, in der Brunnmatt, wo es am wenigsten gefroren sei, Mutten abzustechen und den Boden des Wägeli damit zu belegen. »Was tausend willst?« frug die Frau Amtsrichterin, die noch keinen näheren Bericht unter vier Augen erhalten, aus der Küche heraus, wo sie die Ordres gehört hatte. »Will morgen auf Bern und, um dem Oberamtmann nicht ungehorsam zu sein, auf meinem Herd bleiben.« Die Frau Amtsrichterin lachte zwar, doch gefiel es ihr nicht ganz. »Du bist wohl alt für sellig Witze! sagte sie. »Mach eine Vorstellung, du kannst so wohl schreiben und dWort stelle, oder wenn du es nicht gerne selbst machst, so laß einen Advokaten kommen, sie beten auch ums täglich Brot, oder wenn sie schon nicht beten, so nehmen sie es doch gern.« »Nichts Schriftliches und erst nichts von Advokaten, die alles auf die lange Bank ziehen!« antwortete der Amtsrichter. »Ich will die Sache über den kurzen nehmen, wie die Schwinger sagen. Ich habe nicht Zeit, zu warten, bis die Schrift abgefaßt, eingegeben, überwiesen, gelesen, Bericht erstattet, Anträge gestellt, beraten und schließlich das Ganze zu besserer Untersuchung und Vervollständigung der Akten zurückgesandt ist. Ich weiß, wie es geht. Ich mache die Sache mündlich ab, und morgen schon ist der ganze Tschuep aus.« »Wie willst es dann machen?« frug die begreiflich gwunderig gewordene Frau. »Das sage ich dir jetzt nicht, sondern erst morgen, wann ich heimkomme.« Damit mußte die Frau sich begnügen, wenn sie schon Frau Amtsrichterin war; dies mögen andere Weiber, die immer alles auf der Stelle wissen wollen und nicht Frau Amtsrichterinnen sind, sich merken.

Am folgenden Morgen war Dienstag, wo in Bern immer ein bedeutender Wochenmarkt ist, an welchem benachbarte Kantone mit Lebensmitteln sich versehen. An diesem Tage gaben die Mitglieder der Regierung ihre Audienzen und hielten in der Regel keine Sitzungen, zu Erleichterung des Landmanns, der, wenn er wegen andern Sachen auf Bern kam, auch bei ihnen seine Geschäfte abtun konnte. Der Amtsrichter fuhr also auf Bern und hielt vor dem Hause eines einflußreichen Ratsherrn, mit dem er in sehr gutem Vernehmen stand. Er sandte einen Buben in den Hausgang, wo in Bern in der Regel die Handhaben der Glockenzüge sind, hieß ihn läuten und, wenn man Bescheid gebe, sagen, der Herr Ratsherr solle so gut sein und hinunterkommen, der Amtsrichter auf der Säublume möchte ein Wort mit ihm reden. Der Junge tat es um einen Batzen, kriegte im Hausgang mit dem Kammerdiener Händel, der meinte, der Bube wolle ihn zum besten halten, bis er den ihm wohlbekannten Amtsrichter auf seinem Wägeli vor dem Hause sah. »Was kömmt Euch in Sinn, Herr Amtsrichter?« sagte Pierre, »der Herr Ratsherr kömmt nicht herunter, das ist nicht der Brauch, steigt ab und kommt herauf, es ist eben niemand bei ihm, der Junge kann Euch das Roß halten.« »Ich darf nicht, Pierre. Bitte, tut mir den Gefallen und sagt dem Herrn, ich ließ ihm dringlich anhalten, hinunterzukommen nur einen Augenblick, hinauf dürfe ich nicht.« Pierre schüttelte bedenklich den Kopf und meldete dem Herrn. Der Herr wußte nicht, was das zu bedeuten hatte; den Amtsrichter kannte er wohl, um zu glauben, er habe nicht bestimmte Gründe, diese Bitte zu stellen, aus Gründen und Pflichtsinn ging er hinunter, aber mit ernstem, strengem Gesicht, mit dem sich nicht spassen ließ. »Verzeiht, Herr Ratsherr, daß ich Euch bemühe, aber ich durfte nicht anders. Des Herrn Oberamtmanns Rehe geschändeten mir meinen Lewat, ich ließ es ihm sagen, er mir abputzen; darauf schoß ich eins, ließ es liegen und ihm es anzeigen, und er verfügte, daß ich bis auf weitern Bescheid nicht ab meinem Herd solle. Darum, hochgeachteter Herr, kann ich nicht ab meinem Wägeli, wo ich, wie Ihr seht, noch auf meinem Herd bin, denn ich bin der Meinung, daß man sich der Obrigkeit unterziehen soll. Aber ich möchte inständig gebeten haben, daß man dem Herrn Oberamtmann melde, er solle mich freilassen, denn gerade jetzt habe ich nicht Zeit, daheim zu sein.« Als der Ratsherr das sah, lachte er gar herzlich über diesen wohlangebrachten Witz und sagte: »Es ist verdammt kalt da, kommt um ein Uhr zu mir zu einer Suppe, da wollen wir das weitere besprechen.« »Aber ich darf nicht ab meinem Herd«, antwortete der Amtsrichter. »Wenn ich es erlaube?« frug der Ratsherr. »Aber Ihr gebt mir doch dann auf alle Fälle ein paar Buchstaben?« bat der Amtsrichter. »Kommt auf alle Fälle und gleich nach halb eins!« antwortete der Ratsherr und ging lachend ins Haus.

Der Amtsrichter fuhr zum »Storchen«, wo der seltsam belegte Boden seines Wägelis Aufmerksamkeit erregte und viele Fragen erzeugte. Es gebe sehr warm, sagte der Amtsrichter, ging seinen Geschäften nach und fand sich zur gesetzten Zeit beim Ratsherrn richtig ein. Derselbe empfing ihn nicht mit ernstem Gesicht, führte ihn ins Kabinett zum Kaminfeuer und ließ sich da erzählen. Der Amtsrichter tat es aufrichtig, redete vom Jagen ums Schloß, daß er aber nicht dabeigewesen, bekannte, daß die gedrohten Würste ihn böse gemacht und verursacht, sein Ärgernis an den Rehen zu nehmen; und weil ihm der Herr Oberamtmann so bösen Bescheid habe zugehen lassen, habe er es probieren wollen, ob die Gesetze was gelten oder nicht. Daß er heute so auf Bern komme, geschehe nicht aus Bosheit, sondern er habe die Verfügung respektieren wollen und doch aus der Sache nicht gern einen Handel erwachsen lassen. Wenn so was einmal schriftlich werde, so werde das Giecht immer größer, und gegen den Oberamtmann habe er eigentlich nichts, wenn er nur nicht so vom Zorn sich hinreißen ließe. Nun sprach auch der Ratsherr freundlich und väterlich, gab dem Amtsrichter recht, bemerkte aber, wie sie beide in ihren amtlichen Stellungen sich in acht nehmen müßten, persönliche Empfindlichkeiten nicht mächtig werden zu lassen, sie müßten sie um ihres Amtes willen unterdrücken, sprach von den guten Eigenschaften des Oberamtmanns, wie das Amt ihm viel zu verdanken hätte, mehr als es wüßte. Das erkannte der Amtsrichter vollkommen an und erklärte, er seinerseits wolle den Handel gern vergessen dahin und daweg, wenn der Herr Oberamtmann es auch tun wollte. Der Herr sei ihm wirklich eigentlich lieb, aber unterntun, das lasse er sich einmal nicht gern, selbst vom eigenen Bruder nicht. Pierre meldete, die Suppe sei serviert.

Als der Amtsrichter ins Speisezimmer trat, stand ihm sein Oberamtmann gegenüber. Dieser war nämlich, als sein Zorn verraucht war und er das Protokoll gelesen, nach und nach verlegen geworden. Wo aus jetzt, was machen? Er hatte den Amtsrichter an der Hand, der Gesetz und Recht ganz gut kannte. Er entschloß sich endlich, obschon mit großem Widerstreben und auf dringlich Bitten seiner Frau, zu tun, was er in Notfällen schon mehr als einmal mit gutem Erfolg getan, nämlich nach Bern zur Beichte zu fahren, das heißt, zu einigen einflußreichen Mitgliedern zu gehen und zu sagen: »Ihr Herren, seht, so bin ich drin, wie machen, um so ungeschlagen als möglich darauszukommen? Helft mir, wenn es euer guter Wille wäre!« Nun lasen ihm die Herren, Verwandte oder Freunde, ein scharf Kapitel und halfen ihm bestmöglichst, aber in der Regel nicht parteiisch, nicht gewalttätig, sondern sie zeigten ihm den Weg oder halfen ihm aus der Patsche kommen ohne Verletzung des Rechts, aber auf die Weise, wie er sich und das Ansehen der Obrigkeit, deren Stellvertreter er war, am wenigsten blamierte. So war er auch jetzt zu dem Herrn Ratsherrn, der sein Vetter war, gekommen und hatte seine Verlegenheit geklagt; der hatte ihm scharf zugesprochen, wie er durch solche Torheiten die Regierung kompromittiere, die einflußreichsten Männer auf dem Lande vor den Kopf stoße, statt allem aufzubieten, sie anhänglich zu machen oder zu erhalten. Wer der Republik treu dienen wolle, müsse seine Persönlichkeit opfern können und nicht bloß im Krieg, sondern eben in solch scheinbaren Kleinigkeiten usw.

Der Oberamtmann bekam einen hochroten Kopf, beugte sich indessen der ihm wohlbekannten Überlegenheit des Vetters und fragte endlich: »Aber und jetzt?« »Wißt Ihr was, Vetter, esset heute bei mir zMittag! Ich weiß zwar wohl, Ihr esset nicht gern irgendwo à l'hazard du pot, aber so einmal zur Seltenheit wird nit z'töten gehen.« »Ja, Vetter, so ist es bös refüsieren; wenn Ihr also erlaubt, werde ich mich zu rechter Zeit einfinden«, antwortete der Oberamtmann. Er wurde, als er kam, zu seiner Cousine, der Frau Ratsherrin geführt und war ebenso überrascht als der Amtsrichter, sie standen sich da verblüfft gegenüber und wußten nichts miteinander anzufangen, doch das dauerte nur einen Augenblick. Der Vetter Ratsherr sagte: »Gället, Vetter, das ist brav von mir, daß ich Euch den Amtsrichter bringe, ich wußte, daß ihr gute Freunde seid, und daß ich Euch keinen angenehmern Tischgenossen bringen konnte als ihn.« Es waren beide, der Amtsrichter und der Oberamtmann, nicht dumm und begriffen den Herrn Ratsherrn vollkommen, es wurde ein scharmant Mittagessen. Auch hatte die Cousine Ratsherrin dafür gesorgt, daß der Vetter vom Lande das à l'hazard du pot nicht merkte, und der Vetter Ratsherr schonte seine Weine nicht, war sehr fleißig mit Anstoßen und Gesundheitmachen, und von der ganzen Geschichte war nie die Rede mehr.

Als der Oberamtmann und der Amtsrichter zur Haustür hinausgingen, der eine die Stadt auf-, der andere die Stadt hinunterwollte nach ihren Fuhrwerken, gab der erstere dem letztern die Hand und sagte, es würde ihn sehr freuen, wenn er ihn bald bei sich sehen würde. Wenn der Herr Oberamtmann es erlaube, werde er mit vielen Freuden nächstens kommen, antwortete der Amtsrichter.

Die Sache muß sich auch auf die Länge recht gut gemacht haben, denn als im nächsten Jahr der Oberst mit dem Amtsrichter jagte, war der Oberamtmann auch dabei.


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