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Als die Frau die schönen Erdbeeren betrachtete, dachte sie, wenn die jetzt in der Stadt wären, aus denen löste man viel Geld, so schöne sind dort selten. Aber die Stadt war weit, doch, dachte sie, liebt man vielleicht in den vielen Herrenhäusern da herum Erdbeeren auch mit Zucker als Erdbeerisalat oder auf andere Weise. Wenn man ihnen brächte, wären sie froh darüber. Wie sie merken mochte, tat dies niemand. Die Leute sammelten wohl auch Erdbeeren, aber für sich zu einem Erdbeeristurm, aber nicht zum Verkauf. Sie gedachte, es zu probieren. Geldnot nötete sie, sich nicht lange zu bedenken. Schon am folgenden Tage ging sie ans Werk. Gesammelt waren bald viele, besonders da die Kinder mit Freude und Gschick ihr an die Hand gingen. Desto schwerer ward ihr das Vertragen.
Es kam ihr vor, als sie mit dem Körbchen auswanderte, als wolle sie betteln gehn, und als sie beim ersten Hause, an das sie klopfte, abgewiesen wurde, entfiel ihr aller Mut, sie wäre alsbald heimgelaufen, wenn ihr nicht zufällig, wie man zu sagen pflegt, eine Herrenfrau begegnet wäre, welcher die angetroffenen Erdbeeren äußerst willkommen waren, sie bewunderte und alsbald nach Hause tragen ließ. ›Bringt mir noch mehr‹, sagte die Herrenfrau, ›aber nicht weniger schöne; ich nehme sie gerne. Die Leute hier herum bringen nichts dergleichen zum Hause, ich glaubte, es gebe sie hier nicht. Es sind sicher noch andere Leute froh, wenn man ihnen Erdbeeren bringt.‹
Das war der Anfang eines recht guten Verdienstes. Von da an hieß die Witwe die Erdbeerifrau und war gewissermaßen angesehen und gern gesehen im Lande. Der Tschaggeneigraben, und was dazu gehörte, war eine rechte Schatzkammer voll Erdbeeren und schöner Erdbeeren. Die Erdbeerigwinner machten einander nicht Plätzen ab, die Erdbeerifrau hatte keine Konkurrenten, man gönnte ihr den neuen Verdienst und ließ sie machen. Sie konnte den Beeren vollständig Zeit lassen, auszureifen, brauchte nicht sie halb hart und halb weiß zu nehmen, wenn sie dieselben haben wollte. Ja, Grichtsäß, es ist ein beträchtlicher Unterschied nicht bloß zwischen halb und ganz reifen Erdbeeren, sondern überhaupt zwischen halb und ganz reifen Menschen und Früchten. Ja, und wie es Jahrgänge gibt, wo keine Frucht recht reifet, alle sauer und bitter bleiben, so gibt es Zeiten, wo die Menschen nicht reifen, wo man sie nicht reifen läßt, wo sie bloß unreif Mode sind wie in Deutschland die Stachelbeeren.
Mareili, welches die Erdbeeren entdeckt hatte, war ein eigentlich Erdbeerihexli. Die Entdeckung, die Freude der Mutter darüber, die schönen Batzen, welche sie heimbrachte, taten in dem sinnigen Kind einen eigenen Sinn auf, weckten in ihm ein besonder Leben. Es behielt die Gabe der Entdeckung, es war, als ob es die reichen Erdbeeriflocken in der Luft merke, es hatte ein eigenes Auge, die bescheidene Erdbeere, von denen die schönsten am sittsamsten sich bergen unterm dunkelgrünen Laubdach, zu sehen, eigene Händchen, die saftige Beere zu pflücken, daß auch nicht der Schatten eines Druckes an ihr sichtbar war. Das Erdbeerigwinnen war sein Leben, füllte des Tags seine Gedanken, des Nachts seine Träume, daß es davon redete, die Mutter acht haben mußte, daß das Kind nicht aufstund und schlafend Erdbeeren suchen ging. Wie traurig senkte es sein Köpflein, wenn es regnete; trauriger senkte es kein Erdbeeristüdeli. Ein Bauer, der tausend Garben am Wetter hat, kann nicht so sehnsüchtig harren auf Sonnenwetter, als Mareili harrte. Wie von selbst gab es sich, daß Mareili der Souverän wurde in diesem Gebiete, die kleine Erdbeerikönigin. Die ältern Geschwister erkannten es unbedingt an, achteten auf seine Winke und führten sie aus als dienstbare Geister des Meisters der Geister.
Aber wie der Frühling vergeht, wo die Elfen tanzen, verging auch der Sommer, der Herbst, wo die Erdbeerikönigin regierte in ihrem Gebiete. Traurig senkte sie ihr Köpflein, als sie eines Tages nur noch ein Erdbeeri fand und das letzte. Es weinte ihm lange nach, mußte sich endlich doch ergeben äußerlich. Aber inwendig blieb es Meister, schuf sich in seinem Inwendigen einen großen Erdbeeriberg mit Sonn- und Schattseite, mit tiefem Graben, hohen Tannen, ließ da die Sonne scheinen, Erdbeeri blühen, reifen und wandelte darin des Tags in Gedanken, des Nachts im Traume und pflückte Erdbeeren, so herrlich und süße, wie es keine noch erlebt. Das ist eine schöne Gabe, wenn der Mensch sich innerlich erbauen kann, was äußerlich die Zeit ihm wegschwemmt oder das Geschick nie ihm gibt. Es besitzen sie wenige Menschen, es wissen sie wenige zu schätzen; dagegen ärgern sich viele darob, wenn sie dieselbe bei andern bemerken, und zwar nicht aus Neid, sondern aus Unverstand. Die Mutter ärgerte sich anfänglich auch über dieses Träumen und nannte Mareili oft: ›Du klyne Erdbeerigöhl‹. Am Ende gewöhnte sie sich daran und sagte bloß, es sei ein bsunderbar Kind, nicht eins wie die andern, sie könne sich gar nicht auf dasselbe verstehn.
Wie der Sommer gegangen war, ging auch der Winter, von wegen es geht alles in der Welt, nicht bloß das Helle, sondern auch das Trübe, und wie schön das Helle ist, zeigt erst das Trübe. Es war kein Winter gewesen, in welchem man ums Neujahr Erdbeeren fand, sondern ein harter und strenger, der die Kräfte der Erde festgebunden hielt und mit Nebel oder düstern Bysluftwolken der Sonne das Scheinen vertrieb. Aber wie es strengen Herrn zuweilen geht, ward er rasch und unerwartet vom Throne gestürzt, kam um seine Herrschaft vollständig; ein schöner Frühling stand mitten im Lande, zeigte sich sogar im Tschaggeneigraben, ehe die Menschen nur Zeit hatten, ihm Türe und Fenster aufzutun. Wie die Erde auftaute, ging es auch Mareili, sein Gesichtchen glänzte plötzlich freundlich, fröhlich jauchzte es auf, als es es grünen sah in Busch und Weid, und unermeßlich war seine Freude, als es an einem einsamen Erdbeeristüdeli die erste Blüte fand.
Aber jetzt kam erst die rechte Ungeduld und gramselte ihm in allen Gliedern. Jedes Ding auf Erden will seine Weile haben, und zäh und eigensinnig macht es dran, wie es gewohnt ist, und bis es fertig ist; auch die Erdbeeristüdeli haben ihren eigenen Gang und eigenen Willen, und machtlos dagegen ist des Menschen Ungeduld. Darein konnte Mareili sich fast nicht schicken, was uns nicht wundert, können doch größere Leute, welche Erfahrung haben sollten, so oft nicht in Geduld sich ergeben und in den geordneten Gang der Dinge sich nicht schicken.
Nun, es hat aber auch alles seinen Nutzen. Die kleine Erdbeerenkönigin, die in ihrem Blangen fast alle Tage nach reifen Beeren suchte, lernte ihr Gebiet besser kennen. Dies ist ein großer Vorteil, namentlich für Königinnen, große und kleine, welchen es oft begegnet, daß sie bloß an den Früchten sich erlustigen, aber nie in den Boden kommen, auf welchem sie wachsen, und es ist namentlich für eine Hausfrau nichts fataler, als wenn sie die Bäume nicht kennt, auf welchen das Obst wächst, Birnen auf Nußbäumen sucht und Pfersiche da, wo die Tannzapfen wachsen, oder einmal wie jene Frau Pfarrerin buchene Tannzapfen bestellt. Der kleinen Königin wuchsen dabei auch Augen, welche nicht bloß Erdbeeristüdeli und die Beeren daran sahen, sondern auch die Tiere alle, welche ihr Gebiet bewohnten, die Hasen und Eichhörnchen, die Amseln und Drosseln, die Rinderstaren und Herrenvögel usw. Sie wußte, wo jedesmal, wenn sie kam, Amseln waren, fand bald auch die Nester, ward ihnen auch alle Tage eine bekanntere Erscheinung, vor der sie erst flogen, wenn ihr Tritt ihnen von weitem hörbar war, später immer mehr ihre freundliche Harmlosigkeit erfassend, die Zweige des Tannenbuschlis, unter dem sie brüteten, auseinanderbiegen, sich begucken ließen, ohne abzufliegen. Solche Nestchen waren seine Geheimnisse, welche es niemand verriet. Die Entdeckungen jedes Nestchens, auf dem so ein dunkler Vogel saß mit dem gelben Schnabel und den sinnigen Augen, machten ihm größere Freude als dem Seefahrer die Entdeckung irgendeiner unbekannten Insel in den schwarzen, weißen, stillen, eisigen Meeren. Das Nestlein betrachtete es als sein Eigentum, ein Schlößlein seiner Vasallen. Aber gütiger als manche andere Herrin ließ es das Nestchen unberührt, nahm die Jungen nicht aus, noch weniger jung und alt zusammen, es begnügte sich am Augenschein, und später sperrten dumme Jungen die weiten Schnäbel auf, wenn sie was nahen hörten, und schluckten, was es brachte, als obs von Mutter oder Vater wäre, die dummen Jungen machten keinen Unterschied. An der Sonne sah es die Häsin mit ihren Jungen spielen. Wenn die schüchternen Jungen bei seinem Nahen in die Sträuche schlüpften oder ins Moos sich duckten, blieb die graue, kluge Alte noch lange sitzen, die langen Ohren über den Rücken gelegt, als ob sie zum Tanze anspringen wolle einem hoffärtigen Mädchen gleich. Dies machte ihm die Ungeduld weniger peinlich, und wenn schon nicht Erdbeeren, fand und sah es doch alle Tage was Neues.
Endlich röteleten die Beeren, endlich fand Mareili eins und wieder eins zum Versuchen, endlich gabs ein Krättchen voll; der erste Batzen erschien wieder willkommen wie der erste Storch im Frühjahr. Die Beeren mehrten sich, doch langsam. Mareili konnte keine Beere unreif brechen, sie mußte ihm willig und gerne ins Händchen fallen, mußte groß, dunkel, süß und saftvoll sein, und wie es taten auch seine Geschwister. Wenn dann am Abend die Mutter die gesammelten Beeren Heerschau passieren ließ, Kries und Gras daraustat, die Portionen in Krättchen verteilte, sahen die Beeren so frisch und kerngesund aus, daß es eine Freude war. Die Kinder sahen zu und jubelten, es war, als ob sie jede Beere kannten. ›Dies habe ich gefunden!‹ rief eins, ›ich dies!‹ das andere, ›dies bei der langen Birke‹, ›dies unter dem alten Haselstock‹, ›dies am Reckholderknübeli‹, so tönte es, bis die Mutter fertig war.
Als diese nun wieder mit neuen Erdbeeren hausieren ging und leichtern Herzens, war sie überall eine willkommene Erscheinung. ›Mama, Mutter, die Erdbeerifrau ist wieder da, die so schöne hat‹, schrien in vielen Häusern die Kinder, und Mama kam selbst, hieß die Frau willkommen, sagte, sie hätte schon gefürchtet, sie komme in diesem Jahre nicht wieder, da schon lange Erdbeeren kamen, aber nicht halb so schöne, als sie gebracht. So sammelte sie Lorbeeren, die taten ihr im Herzen wohl. ›Wir lassen sie reifen, ich und meine Kinder‹, sagte sie, ›wir dürfen kein unreif Beeri abbrechen; wenn wir schon wollten, Mareili täte es nicht.‹ Wenn dann die Leute wissen wollten, wer das Mareili sei, das da regiere, so erzählte die Mutter mit Andacht von dem bsonderbaren Kinde, welches nicht sei wie die andern, sondern wie sie noch keines gesehen, darum es ihr auch so großen Kummer mache, dieweil sie gehört, solche Kinder lebten nicht lange. Dann bettelten die Kinder dies und jenes der Mama ab für Mareili und ließen ihm Botschaft werden, das nächste Mal solle es die Mutter begleiten, sie möchten es auch einmal sehen. Kam die Mutter am Abend heim, mußte sie die Geschichte des Tages erzählen, die Häuser beschreiben, in denen sie gewesen, und wiederholen, was die Leute gesagt, so daß die Kinder ganz genau bekannt wurden mit den Kunden der Mutter. Wenn sie die Botschaft an Mareili ausrichtete, so freute dieses Mareili, die andern Kinder nicht weniger, und keins fragte: ›Lassen sie mich nicht auch grüßen, soll ich nicht auch zu ihnen kommen?‹ Es war ihnen, als verstände es sich von selbst, daß dieses nur Mareili gelte, welches dann aber auch den bessern Teil der Geschenke an sie gelangen ließ. Die Mutter zu begleiten, weigerte es sich lange, es ging lieber zu seinen bekannten Erdbeeristüdeli als zu den unbekannten Menschen.
Einmal hatte es hart geregnet bis in den Vormittag hinein, Erdbeeren konnte man nicht gwinnen, wollte man nicht die Stüdeli verderben, die Beeren vercharen. Die Mutter wollte einige Körbchen vertragen, nur in kleinerm Kreise, da endlich ließ Mareili sich bewegen, sie einmal zu begleiten. Wie ein junges Reh, welches aus dem Walde ins offene Feld setzt mit gespitzten Ohren und aufgesperrten Augen, so trippelte Mareili in die Welt hinaus. Als es an der Mutter Schürze und hinter derselben halb verborgen zum Hause des ersten Kunden kam, ertönte alsbald durchs ganze Haus das Geschrei: ›DsMareili ist da, dsErdbeeri Mareili!‹ Und von diesem Tage an hieß es das Erdbeeri Mareili bis auf den heutigen Tag. Damals war es ungefähr acht Jahre alt und soll ein schönes Kind gewesen sein mit dunkelblauen Augen, halb scheu, halb wild, länglichtem Gesicht, verschlossenem Munde, blondhaarig und schweigsam. Mit weit offenen Augen sah es bald an die Menschen, die um ihns sich sammelten, bald zu der Mutter auf. Auf die ungezählten Fragen antwortete es nur, durch die Mutter gestoßen, lächelte und dankte für Guttaten, welche man ihm erwies, reichte langsam das Händchen, wenn man es verlangte, antwortete den Kindern auf ihr so freundliches Gerede mit freundlichen Blicken.
Ähnliches wiederholte sich in den meisten Häusern, an einigen Orten machte man über das Mareili laut Bemerkungen, als ob es taubstumm sei, hie und da freilich quasi welsch, das aber doch fast so verständlich wie deutsch klang. Es wurde dem Kind nach und nach unheimlich, angst, es erwildete und zog nach heim, keine Geschenke und Versprechen hielten es mehr. Es wäre der Mutter ausgerissen, wenn sie nicht den Rückweg eingeschlagen hätte. ›O Mutter, ists noch weit bis heim, o Mutter, sind wir nicht verirret?‹ jammerte es in einem fort. Es beruhigte sich erst, als sie ihr Häuschen sahen; denn bis dahin hatte es nicht einmal glauben wollen, daß sie wirklich im Tschaggeneigraben wanderten. Sie hatten einen reichen Erntetag gehabt. Mareili hatte große Freude, mit dem Besten seine Geschwister glücklich zu machen, und doch wollte Mareili nicht mehr mit der Mutter gehen: ›Mag das Gred und Gstürm nicht mehr hören und das Weltschen nicht; oh, erdbeeren ist viel schöner‹, sagte es. Umsonst frugen seine Geschwister: ›Mareili, willst nicht noch einmal gehen?‹, umsonst ließ man ihm von allen Seiten anbieten, man hätte etwas für ihns, es solle es holen. ›Mag nicht‹, sagte Erdbeeri Mareili, und dabei blieb es.