Maxim Gorki
Das Werk der Artamonows
Maxim Gorki

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Erster Teil

Etwa zwei Jahre nach der Aufhebung der Leibeigenschaft, am Tage der Verklärung Christi, fiel den Pfarrkindern der Kirche zum heiligen Nikolaus »auf den Pfählen« während der Messe ein Fremder auf. Er drängte sich durch die Menschenmenge, stieß alle unhöflich an und stellte vor den in der Stadt Driomow am meisten geachteten Heiligenbildern kostbare Kerzen auf. Er war ein kraftstrotzender Mann mit einem großen, geringelten, stark angegrauten Bart, mit einer dichten Kappe dunkler, auf Zigeunerart krauser Haare; die Nase war groß; unter den höckerigen, dichten Brauen blickten verwegen graue, bläulich schimmernde Augen, und man sah, daß die breiten Handflächen bis an die Knie reichten, wenn er die Arme herabhängen ließ. Er trat in der Reihe der angesehenen Stadtbürger zum Kreuz. Das mißfiel den Leuten vor allem, und als die Messe vorüber war, blieben die Honoratioren von Driomow am Kircheneingang stehen, um ihre Gedanken über den Fremden auszutauschen. Die einen meinten, er wäre ein Händler, die andern – ein Dorfvogt, der Stadtälteste, Jewsej Bajmakow, ein friedlicher Mensch von schwacher Gesundheit, aber mit einem guten Herzen, sagte indessen, leicht hüstelnd: »Vermutlich gehört er zum Hofgesinde und ist Leibjäger oder irgend was anderes auf dem Gebiet herrschaftlichen Zeitvertreibs.«

Der Tuchhändler Pomialow, mit dem Spitznamen »die verwitwete Küchenschabe«, ein geschäftiger Lüstling und Liebhaber böser Worte, ein häßlicher, pockennarbiger Mensch, sagte übelwollend: »Habt ihr gesehen, was für lange Tatzen er hat? Und wie er daherschreitet, als ob man seinetwegen auf allen Glockentürmen läutete.«

Der breitschultrige, großnasige Mensch ging mit festen Schritten über die Straße, wie über seinen eigenen Grund und Boden. Er trug ein blaues Wams aus haltbarem Tuch und gute Schaftstiefel aus Juchtenleder, hielt die Hände in den Taschen und preßte die Ellbogen fest gegen die Seiten. Die Bürger beauftragten die Hostienbäckerin Jerdanskaja, herauszubringen, wer dieser Mensch sei, und begaben sich dann beim Glockengeläute in Pomialows Himbeergarten, wohin sie zu Abendtee und Pirogen geladen waren.

Am Nachmittag sahen andere Einwohner von Driomow den Unbekannten jenseits des Flusses auf der »Kuhzunge«, einer Landzunge aus dem Besitz der Fürsten Ratski. Der Mann ging durch das Weidengebüsch, durchmaß die sandige Landzunge mit gleichmäßigen, großen Schritten, blickte unter der vorgehaltenen Handfläche nach der Stadt, auf die Oka und auf deren knotig verschlungenen Nebenfluß, die sumpfige Watarakscha. In Driomow leben vorsichtige Leute, und niemand entschloß sich, ihn anzurufen und zu fragen, wer er sei und was er tue? Man schickte aber doch den Wächter Maschka Stupa, einen Saufbold und Stadtnarren, zu ihm; der zog schamlos, vor allen Leuten und ohne sich vor den Frauen zu genieren, seine Diensthosen aus, behielt aber den zerdrückten Tschako auf dem Kopf. Er durchwatete die schlammige Watarakscha, blies seinen großen Trinkerbauch auf, trat in komischem Gänseschritt auf den Fremden zu und fragte, um sich Mut zu machen, absichtlich laut:

»Wer bist du?«

Man hörte die Antwort des Fremden nicht, Stupa kehrte aber sogleich zu den Seinigen zurück und erzählte:

»Er hat mich gefragt: Warum bist du bloß so scheußlich? Er hat große, böse Augen und sieht wie ein Räuber aus«.

Des Abends berichtete in Pomialows Himbeergarten die Hostienbäckerin Jerdanskaja, eine bekannte Wahrsagerin und »weise Frau« mit einem Kropf, den Honoratioren, indem sie ihre furchtbaren Augen rollte:

»Er heißt Ilja, sein Familiennamen ist Artamonow; er sagte, er wolle wegen seiner Geschäfte ganz bei uns bleiben; ich konnte aber nicht herausbringen, was es für Geschäfte sind. Er ist auf dem Wege über Worgorod gekommen und ist auf demselben Wege nach drei Uhr wieder abgereist.«

Man erfuhr also nichts Besonderes von diesem Menschen, und das war unangenehm, – als hätte jemand des Nachts ans Fenster geklopft und wäre verschwunden, nachdem er wortlos ein kommendes Unheil angekündigt hatte.

Es waren etwa drei Wochen vergangen, und die Narbe im Gedächtnis der Bürger war beinahe verheilt, als plötzlich dieser Artamonow mit drei Begleitern direkt bei Bajmakow erschien und zu ihm sprach, als schlage er mit der Axt drein:

»Da hast du ein paar neue Einwohner, Jewsej Mitritsch. Nimm sie in deine kluge Hand. Bitte, hilf mir, an deiner Seite in einem guten Leben Fuß zu fassen«.

Er erzählte sachlich und kurz, er hätte zu dem Gesinde der Fürsten Ratski auf deren Erbgut im Gouvernement Kursk an dem Flusse Rat gehört; er war der Verwalter des Fürsten Georgi gewesen, kam nach Aufhebung der Leibeigenschaft frei, wurde reich beschenkt und beschloß nun sein eigenes Werk aufzubauen: eine Leinenweberei. Er sei Witwer, seine Söhne hießen: der älteste Pjotr, der Bucklige Nikita; der dritte, Alexej, war sein Neffe, den er aber adoptiert hatte.

»Unsere Bauern bauen wenig Flachs an«, bemerkte Bajmakow nachdenklich.

»Wir werden sie dazu bringen, mehr anzubauen.«

Artamonows Stimme war tief und rauh; wenn er sprach, klang es, als schlage er auf eine große Trommel, während Bajmakow sein Leben lang vorsichtig auf der Erde einherging und leise sprach, als fürchte er jemand Schrecklichen zu wecken. Er betrachtete, mit seinen freundlichen, traurigen, fliederfarbenen Augen blinzelnd, die wie versteinert an der Tür stehenden Kinder Artamonows. Sie waren alle sehr verschieden: der Älteste sah dem Vater ähnlich, er war breitschultrig, hatte zusammengewachsene Brauen und kleine Bärenaugen; Nikita hatte Mädchenaugen, die groß und blau wie sein Hemd waren. Der lockige, rotwangige, schöne Alexej hatte eine klare weiße Haut und blickte gerade und fröhlich drein.

»Kommt einer davon zum Militär?« fragte Bajmakow.

»Nein, ich brauche die Kinder selber; ich habe für sie ein Dokument.«

Und Artamonow winkte den Kindern mit der Hand und befahl:

»Geht hinaus!«

Und als sie, unter Einhaltung der Altersreihenfolge, leise im Gänsemarsch hinausgegangen waren, sagte er, seine schwere Hand auf Bajmakows Knie legend:

»Jewsej Mitritsch, ich komme zugleich als Brautwerber zu dir. Gib deine Tochter meinem Ältesten zur Frau!«

Bajmakow erschrak geradezu, er sprang von der Bank auf und wehrte mit den Händen ab.

»Was fällt dir ein, Gott sei mit dir! Ich sehe dich zum erstenmal, ich weiß nicht, wer du bist und du kommst gleich mit so etwas! Ich habe nur die eine Tochter; es ist für sie noch zu früh zum Heiraten. Du hast sie ja auch nicht gesehen und weißt nicht, wie sie ist . . . Was fällt dir ein?«

Aber Artamonow sprach, in seinen krausen Bart hinein lächelnd:

»Frage den Isprawnik nach mir! Er ist meinem Fürsten sehr verpflichtet, und der Fürst hat ihm geschrieben, er soll mir in allen Dingen beistehen. Du wirst nichts Schlechtes hören, ich rufe die Heiligenbilder als Zeugen an. Ich kenne deine Tochter, ich weiß hier, in deiner Stadt, alles; ich war unbemerkt viermal da und habe mich nach allem erkundigt. Auch mein Ältester war wiederholt hier und hat deine Tochter gesehen. Also sei unbesorgt!«

Bajmakow hatte ein Gefühl, als wäre ein Bär über ihn hergefallen. Er bat den Gast:

»Warte doch . . .«

»Eine Weile kann ich warten . . . aber nicht lange. Meine Jahre sind nicht danach«, sprach der hartnäckige Mann und rief durch das Fenster in den Hof hinaus:

»Kommt, verbeugt euch vor dem Hausherrn.«

Als sie sich verabschiedet hatten und gegangen waren, bekreuzte sich Bajmakow dreimal mit einem erschrockenen Blick auf die Heiligenbilder und flüsterte:

»Der Herr erbarme sich! Was sind das für Menschen? Er bewahre mich vor einem Unglück.«

Er schleppte sich, mit dem Stock klopfend, in den Garten, wo seine Frau und Tochter unter einer Linde Beeren einkochten. Die hübsche, stattliche Frau fragte:

»Was waren das für Burschen auf dem Hof, Mitritsch?«

»Ich weiß nicht. Wo ist Natalia?«

»Sie ist in die Speisekammer gegangen, – Zucker holen.«

»Zucker holen?« wiederholte Bajmakow düster und ließ sich auf die Rasenbank nieder. »Zucker! Nein es ist schon wahr, – diese Freiheit wird den Menschen große Unruhe bringen.«

Die Frau betrachtete ihn forschend und fragte besorgt:

»Was hast du? Ist dir wieder nicht wohl?«

»Ich habe schwere Sorge im Herzen. Ich glaube, dieser Mann ist gekommen, um mich auf Erden abzulösen.«

Die Frau suchte ihn zu beruhigen.

»Was fällt dir denn ein! Kommen jetzt etwa wenig Leute aus dem Dorf in die Stadt?«

»Das ist es ja gerade, daß solche Leute kommen! Ich will dir vorläufig noch nichts sagen, laß mich erst überlegen . . .«

Nach fünf Tagen legte sich Bajmakow ins Bett. Nach weiteren zwölf Tagen starb er, und sein Tod hüllte Artamonow und dessen Söhne in noch tieferen Schatten. Während der Krankheit des Stadtältesten kam Artamonow zweimal zu ihm, und sie unterhielten sich lange, unter vier Augen; beim zweitenmal rief Bajmakow seine Frau herein und sagte mit müde auf der Brust gefalteten Händen:

»Da, sprich mit ihr, ich glaub', ich hab' an irdischen Dingen schon keinen Anteil mehr. Laßt mich ausruhen.«

»Komm' mit, Uljana Iwanowna«, befahl Artamonow und verließ das Zimmer, ohne sich umzusehen, ob die Hausfrau ihm folge.

»Geh', Uljana; es ist wohl vom Schicksal so bestimmt«, riet der Älteste leise der Frau, da er sah, daß sie zögerte, dem Gast zu folgen. Sie war eine kluge, charaktervolle Frau und tat nichts ohne Überlegung; jetzt kam es aber so, daß sie nach einer Stunde zu ihrem Manne zurückkehrte, mit einer Bewegung der schönen, langen Wimpern die Tränen wegschüttelte und sagte:

»Nun, Mitritsch, es scheint wirklich unser Schicksal zu sein, – gib unserer Tochter deinen Segen.«

Am Abend führte sie die prunkvoll gekleidete Tochter zum Bette ihres Mannes; Artamonow schob seinen Sohn zu ihr hin, der Bursche und das Mädchen faßten sich, ohne einander anzusehen, bei den Händen, knieten mit gesenkten Köpfen nieder, und Bajmakow bedeckte sie, schwer atmend, mit einem uralten, perlenübersäten, vom Vater stammenden Heiligenbild:

»Im Namen des Vaters und des Sohnes . . . Herr, versage deine Gnade nicht meinem einzigen Kinde!«

Und er sprach streng zu Artamonow:

»Merke dir, – du trägst vor Gott die Verantwortung für meine Tochter!«

Dieser verneigte sich vor ihm, indem er mit der Hand die Erde berührte.

»Das weiß ich.«

Und ohne seiner künftigen Schwiegertochter ein freundliches Wort zu sagen, sie und den Sohn kaum anblickend, wies er mit dem Kopf nach der Tür:

»Geht.«

Als das Paar nach dem Segen draußen war, setzte er sich zu dem Kranken aufs Bett und sagte mit Bestimmtheit:

»Sei ruhig, es wird alles geschehen, wie es sich gehört. Ich habe siebenunddreißig Jahre lang, ohne je bestraft zu werden, meinen Fürsten gedient. Der Mensch ist aber nicht Gott, der Mensch ist nicht gütig, es ist schwer, ihn zufriedenzustellen. Und auch dir, Gevatterin Uljana, soll es gut gehen, du wirst bei meinen Söhnen Mutterstelle übernehmen, und ich werde ihnen anbefehlen, dich zu achten.«

Bajmakow blickte schweigend in die Ecke auf die Heiligenbilder und weinte. Auch Uljana schluchzte, Artamonow sprach aber ärgerlich:

»Ach, Jewsej Mitritsch, du verläßt uns zu früh. Du hast dich nicht genug geschont. Und ich hätte dich noch so nötig, so dringend nötig!«

Er fuhr sich mit der Hand quer durch den Bart und seufzte geräuschvoll.

»Mir ist dein Wandel bekannt: du bist so klug und ehrlich, du solltest wenigstens noch fünf Jahre mit mir leben. Was wir alles unternehmen würden! Nun, es ist wohl Gottes Wille!«

Uljana schrie klagend:

»Warum krächzst du wie ein Rabe, warum erschreckst du uns? Vielleicht wird es noch . . .«

Artamonow erhob sich jedoch, verneigte sich vor Bajmakow tief, wie vor einem Toten:

»Ich danke für das Vertrauen. Lebt wohl, ich muß zur Oka hinunter, – eine Barke mit Wirtschaftssachen ist angekommen.«

Als er fort war, heulte die Bajmakowa gekränkt auf:

»Nicht ein einziges freundliches Wort hat der ungehobelte Bauer für die seinem Sohne angelobte Braut gehabt!«

Ihr Mann unterbrach sie:

»Gräme dich nicht, störe meine Ruhe nicht!« Und er fügte nach kurzem Überlegen hinzu:

»Halte dich an ihn: dieser Mensch ist sicherlich besser als die hiesigen.«

Bajmakow wurde von der ganzen Stadt ehrenvoll zu Grabe getragen. Die Geistlichkeit aller fünf Kirchen war vertreten. Die Artamonows folgten gleich hinter der Frau und der Tochter des Verstorbenen dem Sarge. Das mißfiel den Städtern; der bucklige Nikita, der hinter seinen Angehörigen ging, hörte, wie man in der Menge brummte:

»Man weiß gar nicht, wer er ist, und doch drängt er sich gleich an die erste Stelle.«

Pomialow rollte seine runden, eichelfarbenen Augen und flüsterte:

»Der verstorbene Jewsej und auch Uljana sind vorsichtige Menschen, sie haben nie etwas ohne Grund getan, folglich ist hier ein Geheimnis: dieser Geier hat sie durch irgend etwas verführt. Würden sie ihn sonst so in die Familie nehmen?«

»Ja–a, es ist eine dunkle Sache.«

»Ich sage ja auch – eine dunkle Sache. Sicher handelt es sich um falsches Geld. Und was für ein heiliges Leben schien Bajmakow doch zu führen, nicht?«

Nikita hörte mit gesenktem Kopf und vorgestrecktem Buckel zu, als erwartete er Schläge. Es war ein stürmischer Tag, der Wind blies hinter der Menge her, der von Hunderten von Füßen aufgewirbelte Staub schwebte wie eine Rauchwolke hinter den Leuten und setzte sich dicht in die fettigen Haare der entblößten Köpfe. Jemand sagte:

»Sieh doch, wie Artamonow von unserem Staub eingepfeffert ist! Der Zigeuner ist ganz grau geworden . . .«

Am zehnten Tage nach der Beerdigung ihres Mannes übergab Uljana Bajmakowa Artamonow ihr Haus und fuhr mit ihrer Tochter ins Kloster. Sowohl er, als seine Söhne schienen von einem Wirbelwind erfaßt zu sein; sie tauchten von früh bis spät vor aller Augen auf, schritten eilig durch die Straßen und bekreuzten sich hastig vor den Kirchen; der Vater war laut und ungestüm, der älteste Sohn düster, schweigsam und sichtlich ängstlich oder schüchtern, der schöne Alexej war herausfordernd gegen die Burschen und zwinkerte frech den Mädchen zu, Nikita schleppte seinen spitzen Buckel bei Sonnenaufgang nach dem andern Ufer hinüber zur »Kuhzunge«, wo Schreiner und Maurer wie Krähen zusammenkamen und eine langgestreckte Backsteinkaserne aufführten; abseits, an der Oka, wurde ein großes, zweistöckiges Haus aus zwölf Zoll dicken Balken gebaut; dieses Haus erinnerte an ein Gefängnis. Des Abends versammelten sich die Einwohner von Driomow am Ufer der Watarakscha, knabberten Kürbis- und Sonnenblumenkerne, lauschten dem Schnarchen und Kreischen der Sägen, dem Scharren der Hobel, den tief eindringenden Schlägen der scharfen Äxte und gedachten spöttisch der Fruchtlosigkeit des Turmbaues von Babel, während Pomialow den Fremden trostreich allerhand Unheil prophezeite.

»Im Frühjahr wird das Wasser diese scheußlichen Gebäude unterwaschen. Es kann auch Feuer ausbrechen: die Schreiner rauchen Tabak, und überall liegen Holzspäne herum.«

Der schwindsüchtige Pope Wasili stimmte ihm zu:

»Sie bauen auf Sand.«

»Sie werden Fabrikarbeiter hertreiben, und dann fängt Saufen, Stehlen und Huren an.«

Der kolossale, vor Fett überquellende, nach allen Seiten aufgedunsene Müller und Schankwirt Luka Barski tröstete mit seiner heiseren Baßstimme:

»Wenn mehr Menschen da sind, findet man leichter sein Auskommen. Das macht nichts, die Leute sollen nur arbeiten.«

Nikita Artamonow belustigte die Stadtbewohner sehr; er rodete und hackte auf einem großen Viereck das Weidengesträuch aus, schöpfte tagelang den fetten Schlamm der Watarakscha, stach im Sumpfe Torf, den er, seinen Buckel himmelwärts hebend, in einem Karren wegbrachte und auf dem Sand in schwarzen Haufen ausbreitete.

»Er legt wohl einen Gemüsegarten an«, rieten die Bürger. »So ein Dummkopf! Kann man denn Sand düngen?«

Bei Sonnenuntergang, wenn die Artamonows im Gänsemarsch, der Vater voran, den Fluß durchwateten und ihren Schatten auf das grünliche Wasser warfen, zeigte Pomialow hin:

»Schaut, schaut, was für einen Schatten der Bucklige hat!«

Und alle sahen, daß der Schatten von Nikita, der als Dritter ging, seltsam schwankte und gewichtiger als der seiner Brüder zu sein schien. Einmal, nach einem reichlichen Regenfall, stieg das Wasser im Fluß, und der Bucklige, der über Algen gestolpert oder in eine Vertiefung geraten war, verschwand im Wasser. Alle Zuschauer auf dem Ufer lachten belustigt, nur Olguschka Orlowa, die dreizehnjährige Tochter des stets betrunkenen Uhrmachers, schrie kläglich:

»Oh, oh, er ertrinkt!«

Sie erhielt einen Stoß in den Nacken:

»Schrei' nicht ohne Grund.«

Alexej, der als Letzter marschierte, tauchte unter, packte Nikita, stellte ihn auf die Füße, und als sie beide naß und mit Schlamm beschmutzt auf das Ufer stiegen, ging Alexej geradeaus auf die Bürger los, so daß sie ihm Platz machten. Jemand sagte ängstlich:

»Sieh' nur einer das wilde Tier an . . .«

»Man liebt uns nicht«, bemerkte Pjotr. Der Vater blickte ihm im Gehen ins Gesicht:

»Laß ihnen Zeit – sie werden uns schon liebgewinnen.«

Und er beschimpfte Nikita:

»Du Vogelscheuche! Paß auf deine Füße auf, und mache dich vor den Leuten nicht lächerlich! Wir sind nicht zur Belustigung da, du Plumpsack!«

Die Artamonows lebten, ohne mit jemand Bekanntschaft zu schließen. Die Wirtschaft besorgte ihnen eine dicke, schwarz gekleidete Alte. Sie band sich ihr Kopftuch so zusammen, daß dessen Enden wie Hörner in die Höhe standen und sprach mit schwerer Zunge so wenig und unverständlich, als wäre sie keine Russin; von ihr konnte man über die Artamonows gar nichts erfahren.

»Sie tun so, als ob sie Mönche wären, diese Räuber . . .«

Man stellte fest, daß der Vater und der älteste Sohn oft in der Umgegend herumfuhren und den Bauern zuredeten, Flachs zu säen. Bei einer dieser Fahrten wurde Ilja Artamonow von flüchtigen Soldaten angefallen; er tötete einen davon mit einer Wurfkugel – einem an einen gegerbten Riemen gebundenen Zweipfundgewicht – und schlug dem zweiten den Schädel ein, der dritte entfloh. Der Isprawnik lobte Artamonow deswegen, während der junge Geistliche der armen Pfarre von Iljinskoje ihm für den Mord eine Buße auferlegte: er mußte vierzig Nächte im Gebet in der Kirche stehend verbringen.

An den Herbstabenden las Nikita dem Vater und den Brüdern aus den Heiligenlegenden und den Belehrungen der Kirchenväter vor, doch unterbrach der Vater ihn häufig:

»Diese Weisheit ist so erhaben, daß unser Verstand sie doch nicht erfassen kann. Wir sind einfache Arbeiter, es ist nicht unsere Sache, darüber nachzudenken, wir sind für ein einfaches Leben geboren. Der verstorbene Fürst Juri hat siebentausend Bücher gelesen und hat sich so in allerlei Gedanken vertieft, daß er auch den Glauben an Gott verloren hat. Er hat alle Länder bereist, wurde von allen Königen empfangen, ein berühmter Mann war er! Als er aber eine Tuchfabrik baute, ging die Sache nicht. Und was er auch anfangen mochte, er brachte es zu nichts. So war er sein ganzes Leben auf das Brot der Bauern angewiesen.«

Er sprach bei dieser Unterhaltung mit Nachdruck und belehrte von neuem seine Kinder:

»Ihr werdet es im Leben schwer haben, ihr seid euch selbst Gesetz und Schutz. Ich habe aber nicht frei gelebt, sondern wie mir befohlen wurde, und ich sah oft: es sollte so manches anders sein, ich konnte aber nichts dagegen tun; es war nicht meine Sache, sondern die der Herrschaft. Ich fürchtete mich nicht nur, etwas auf meine Art zu machen, sondern ich wagte nicht einmal daran zu denken, um meinen Verstand nicht mit dem der Herrschaft durcheinander zu bringen. Hörst du, Pjotr?«

»Jawohl.«

»Na also. Verstehe es recht. Man lebt also, und doch ist es so, als wäre man gar nicht da. Natürlich hat man dabei auch weniger Verantwortung zu tragen, – du gehst ja nicht selbst, sondern man lenkt dich. Es ist leichter, ohne Verantwortung zu leben, doch es kommt dabei wenig Rechtes heraus.«

Manchmal sprach er eine Stunde lang oder zwei und fragte dabei immerzu, ob die Kinder zuhörten. Er sitzt mit herabbaumelnden Beinen auf dem Ofen, gleitet mit den Fingern durch die Bartlöckchen und schmiedet bedächtig ein Glied seiner Wortkette nach dem anderen. In der großen, sauberen Küche herrscht warmes Dunkel, hinter dem Fenster pfeift der Sturm und streichelt mit seidigem Griff die Scheiben. Oder der Frost knistert in dem eisigen Blau. Pjotr sitzt vor einem Talglicht am Tisch, raschelt mit Papieren und klappert leise mit den Kügelchen des Rechenbretts, Alexej hilft ihm, und Nikita flicht kunstvolle Körbe aus Ruten.

»Jetzt hat uns der Zar und Herr die Freiheit gegeben. Das will verstanden sein: wie wurde die Freiheit eingeschätzt? Ohne Berechnung wird nicht einmal ein Schaf aus dem Stall herausgelassen, und hier hat man das ganze Volk, viele Tausende, freigelassen. Das bedeutet: Der Kaiser hat begriffen, daß bei den Herrschaften nicht viel zu holen ist, sie verleben alles selbst. Fürst Georgi ist noch vor der Freiheit selbst draufgekommen und hat zu mir gesagt: unfreiwillige Arbeit ist unvorteilhaft. Und nun vertraut man uns die freie Arbeit an. Jetzt wird auch der Soldat nicht mehr fünfundzwanzig Jahre lang das Gewehr herumschleppen, sondern da heißt es, geh' arbeiten! Jetzt muß jeder zeigen, wofür er taugt. Dem Adel steht das Ende bevor, jetzt seid ihr selber Edelleute, – hört ihr's?«

Uljana Bajmakowa hatte fast drei Monate im Kloster verbracht, und als sie nach Hause zurückkehrte, fragte Artamonow sie gleich am nächsten Tage:

»Werden wir bald Hochzeit feiern?«

Sie war empört und funkelte zornig mit den Augen. »Was fällt dir ein, besinne dich! Seit dem Tode des Vaters ist noch kein halbes Jahr vergangen, und du . . . Weißt du nicht, was Sünde ist?«

Artamonow unterbrach sie aber streng:

»Ich sehe darin keine Sünde, Gevatterin. Die Herrschaften treiben noch ganz andere Dinge, und Gott erträgt es. Ich bin in Verlegenheit; Pjotr benötigt eine Hausfrau.«

Darauf fragte er, wieviel Geld sie besitze. Sie antwortete:

»Mehr als fünfhundert gebe ich meiner Tochter nicht mit!«

»Du wirst schon mehr geben«, sprach der großgewachsene Bauer sicher und gleichgültig, indem er sie unverwandt ansah. Sie saßen einander gegenüber am Tisch. Artamonow stützte sich auf die Ellbogen und versenkte die Finger beider Hände in das dichte Vlies des Bartes, während die Frau sich mit gerunzelten Brauen mißtrauisch aufrichtete. Sie war weit über dreißig, erschien aber bedeutend jünger, und in ihrem satten, rotwangigen Gesicht leuchteten streng die klugen, grau schimmernden Augen. Artamonow erhob sich und stand in gerader Haltung da.

»Du bist schön, Uljana Iwanowna.«

»Und was sagst du mir noch?« fragte sie zornig und spöttisch.

»Weiter nichts!«

Er ging unwillig, mit schwer stampfenden Schritten fort. Die Bajmakowa sah ihm nach und streifte bei der Gelegenheit mit den Augen die Spiegelfläche, indem sie ärgerlich flüsterte:

»Bärtiger Teufel! Was mengt er sich so ein . . .«

Da sie sich vor diesem Menschen in Gefahr fühlte, ging sie zu ihrer Tochter hinauf, traf aber Natalia nicht an, und als sie durchs Fenster blickte, sah sie die Tochter auf dem Hof am Tor. Neben ihr stand Pjotr. Die Bajmakowa lief die Treppe hinunter und rief, am Hauseingang stehenbleibend:

»Natalia – komm nach Hause!«

Pjotr grüßte.

»Es gehört sich nicht, mein guter Junge, daß man sich mit einem Mädchen unterhält, wenn die Mutter nicht dabei ist! Das darf in Zukunft nicht mehr vorkommen.«

»Sie ist mit mir verlobt«, erinnerte Pjotr.

»Das bleibt sich gleich, – wir haben unsere eigenen Sitten«, sagte die Bajmakowa, fragte sich aber selbst dabei:

»Weswegen bin ich zornig? Sollen die jungen Leute sich denn nicht herzen? Das ist nicht recht. Es ist, als ob ich meine eigene Tochter beneidete.«

In der Stube riß sie dennoch die Tochter schmerzhaft am Zopf und verbot ihr, mit dem Bräutigam unter vier Augen zu sprechen.

»Wenn er dir auch angelobt ist, aber – es kommt Regen, es kommt Schnee, es gibt oder es gibt keine Eh'«, sagte sie streng.

Eine unbestimmte Unruhe trübte ihre Gedanken; nach einigen Tagen ging sie zur Jerdanskaja, um sich wahrsagen zu lassen. Zu der dicken, an eine Kirchenglocke erinnernden Wahrsagerin mit dem Kropf trugen alle Frauen der Stadt ihre Sünden, Ängste und Kränkungen.

»Da gibt es nichts weiter zu prophezeien«, sagte die Jerdanskaja. »Ich will dir gerade heraus sagen, mein Herz: halte dich an diesen Mann. Meine Augen steigen mir nicht umsonst bis in die Stirn – ich kenne die Menschen, ich durchschaue sie wie mein Spiel Karten. Sieh doch, wie ihm alles gelingt, alle Geschäfte rollen bei ihm wie eine Kugel, unsere Leute lassen vor Zorn und Neid nur ihren Speichel rinnen. Nein, mein Herz, fürchte dich nicht vor ihm, er lebt nicht wie ein Fuchs, sondern wie ein Bär.«

»Ja, das ist es eben, – wie ein Bär«, stimmte die Witwe bei und erzählte seufzend der Wahrsagerin: »Ich fürchte mich, ich bin gleich beim erstenmal, als er um meine Tochter freite, so erschrocken. Er ist plötzlich, von niemandem gekannt, wie aus einer Wolke heruntergefallen und wollte sich in die Familie eindrängen. Macht man es denn so? Ich weiß noch, – wie er sprach und ich ihm in die frechen Augen sah, mußte ich zu allen seinen Worten ja sagen und mit allem einverstanden sein, als hätte er mich an der Kehle gepackt.«

»Das bedeutet, daß er an seine Kraft glaubt«, erklärte die weise Hostienbäckerin.

Das alles beruhigte jedoch die Bajmakowa nicht, obwohl die Wahrsagerin, die sie aus ihrem dunklen, vom schwülen Heilkräutergeruch gesättigten Zimmer hinausbegleitete, ihr zum Abschied sagte:

»Merke dir: die Dummen haben nur im Märchen Glück . . .«

Sie lobte Artamonow verdächtig laut, so laut und oft, daß sie bestochen zu sein schien. Dagegen sprach die große, dunkle, und wie ein gesalzener Zander aussehende Matriona ganz anders:

»Die ganze Stadt seufzt und stöhnt deinetwegen, Uljana. Wieso fürchtest du dich vor den Fremden nicht? Oh, sei auf der Hut! Nicht umsonst ist der eine Bursche bucklig, – die Eltern haben wohl nicht wenig gesündigt, daß er als Krüppel geboren wurde . . .«

Die Witwe Bajmakowa hatte es schwer, und sie schlug ihre Tochter immer öfter, obwohl sie selbst fühlte, daß sie ihr grundlos zürnte. Sie bemühte sich, ihre Mieter möglichst selten zu sehen. Diese Menschen standen ihr immer häufiger im Wege und verdüsterten durch Unruhe ihr Leben.

Unmerklich war der Winter herangeschlichen und überfiel die Stadt mit dröhnenden Schneestürmen und heftigen Frösten; er verschüttete Straßen und Häuser mit zuckrigen Schneehügeln, setzte den Starhäusern und Kirchturmspitzen Mützen aus Watte auf und schmiedete die Flüsse und das rostige Sumpfwasser in weißes Eisen. Auf dem Eise der Oka wurden Faustkämpfe der Bürger mit den Bauern der umliegenden Dörfer abgehalten. Alexej beteiligte sich an jedem Feiertag an den Kämpfen und kehrte immer zornig und verprügelt nach Hause zurück.

»Wie steht's, Alexej?« fragte Artamonow. »Die Kämpfer hier sind wohl geschickter als die unsrigen?«

Alexej rieb sich die blutunterlaufenen Stellen mit einer Kupfermünze oder mit Eisstücken und schwieg düster, mit den Habichtsaugen funkelnd. Pjotr aber sagte einmal:

»Alexej kämpft geschickt; er wird aber von den eigenen Leuten, den Städtern, geschlagen.«

Ilja Artamonow legte die Faust auf den Tisch und fragte:

»Weswegen?«

»Man liebt uns nicht.«

»Wen? Den Jakow?«

»Uns allesamt liebt man nicht.«

Der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, daß das Licht aus dem Leuchter sprang und erlosch. Im Dunkel schrie er:

»Was sprichst du mir wie ein Mädel immer von Liebe? Ich will solche Worte nicht mehr hören!«

Nikita zündete das Licht wieder an und sagte leise:

»Alexej sollte lieber nicht zu diesen Kämpfen gehen.«

»Damit die Leute spotten: Artamonow hat Angst gekriegt! Schweig, du Mesner! Rotzjunge!«

Nachdem Ilja alle ausgeschimpft hatte, sagte er nach einigen Tagen beim Abendbrot mit freundlichem Brummen:

»Kinder, ihr solltet Bären jagen gehen, das ist ein schöner Zeitvertreib! Ich bin immer mit dem Fürsten Georgi in die Riasaner Wälder gegangen, – da haben wir dem Bärenvolk mit dem Baumspieß den Garaus gemacht. Das war interessant!«

Er kam in Stimmung und erzählte einige Fälle von glücklichen Jagdabenteuern. Nach einer Woche begab er sich mit Pjotr und Alexej in den Wald und tötete einen stämmigen alten Bären. Darauf gingen die Brüder allein hin und jagten die Bärin auf, sie zerriß Alexej die Pelzjoppe und zerkratzte ihm die Hüfte, die Brüder überwältigten sie aber und brachten ein paar Bärenjunge mit heim, das getötete Tier aber ließen sie den Wölfen zur Mahlzeit . . .

»Nun, wie leben deine Artamonows?« fragten die Städter die Bajmakowa.

»Es geht, ganz gut.«

»Ja, ja, – im Winter ist das Schwein ruhig«, bemerkte Pomialow.

Die Witwe wollte es nicht glauben, fühlte aber doch, daß das feindselige Verhalten gegen die Artamonows sie seit einiger Zeit kränkte, und daß dieses Übelwollen auch sie selbst frostig anwehte. Sie sah, daß die Artamonows sich nicht betranken und einig lebten, hartnäckig ihren Geschäften nachgingen und daß man ihnen nichts Schlechtes nachsagen konnte. Sie überwachte scharf ihre Tochter und Pjotr und überzeugte sich, daß der schweigsame, stämmige Bursche sich über sein Alter hinaus ernst benahm. Er bemühte sich nicht, Natalia in einer dunklen Ecke an sich zu pressen, sie zu kitzeln und ihr unanständige Worte ins Ohr zu flüstern, wie es alle Verlobten in der Stadt machten. Das ihr unverständliche zurückhaltende, aber besorgte und anscheinend sogar eifersüchtige Verhalten Pjotrs ihrer Tochter gegenüber beunruhigte sie aber etwas.

»Er wird kein zärtlicher Mann werden.«

Einmal, als sie die Treppe herunterkam, hörte sie unten im Flur die Stimme der Tochter:

»Geht ihr wieder auf Bärenjagd?«

»Wir haben die Absicht. Warum?«

»Es ist so gefährlich. Ein Bär hat doch mal Alexej verwundet!«

»Das ist seine eigene Schuld! Man darf eben nicht hitzig werden. – Sie denken also an mich?«

»Ich habe von Ihnen gar nichts gesagt.«

»So eine Schelmin!« dachte die Mutter, lachend und seufzend. »Und er ist ein Einfaltspinsel.«

Ilja Artamonow sagte ihr immer beharrlicher: »Beeile dich mit der Hochzeit, sonst beeilen sie sich selbst.«

Sie sah, daß Eile not tat. Das Mädchen schlief des Nachts schlecht und konnte ihr körperliches Sehnen nicht mehr verbergen. Zu Ostern brachte sie sie wieder ins Kloster, und als sie einen Monat später heimkehrte, sah sie, daß ihr bis dahin vernachlässigter Garten schön gepflegt war: die Wege waren gejätet, die Baumflechten entfernt, die Beerensträucher beschnitten und festgebunden, und alles war von einer erfahrenen Hand ausgeführt. Als sie den Weg zum Fluß hinunterging, bemerkte sie, daß Nikita, der Bucklige, den vom Frühlingshochwasser unterwaschenen Zaun ausbesserte. Unter dem langen, bis an die Knie reichenden Leinenhemd ragte kläglich der knochige Buckel in die Höhe, der den großen Kopf mit den schlichten hellen Haaren fast verbarg; Nikita hatte sie mit einem Birkenzweig festgebunden, damit sie ihm nicht ins Gesicht fielen. Er erschien inmitten des saftigen Grüns grau und erinnerte an einen alten Einsiedler, der sich bis zur Selbstvergessenheit von der Arbeit hinreißen läßt; er schwang die in der Sonne silbern schimmernde Axt, hieb geschickt einen Pfahl zurecht und sang leise, mit der dünnen Stimme eines Mädchens etwas Kirchliches. Hinter dem Zaun schimmerte grünlich das seidige Wasser, auf dem goldene Sonnenreflexe wie Karauschen spielten.

»Gott zum Gruß!« sagte Uljana mit einer ihr selbst unerwarteten Rührung. Nikita strahlte sie mit dem sanften Leuchten seiner blauen Augen an und erwiderte freundlich:

»Gott zur Hilfe!«

»Hast du den Garten so hergerichtet?«

»Ja.«

»Das hast du aber schön gemacht. Liebst du Gärten?«

Er erzählte kniend in kurzen Worten, sein Herr habe ihn mit neun Jahren zum Gärtner in die Lehre gegeben, und jetzt sei er neunzehn.

»Er ist bucklig, scheint aber nicht böse zu sein«, dachte Uljana.

Als sie am Abend mit ihrer Tochter oben Tee trank, erschien Nikita mit einem Blumenstrauß in der Hand und mit einem Lächeln auf seinem gelblichen, häßlichen, unfrohen Gesicht.

»Belieben Sie diesen Strauß anzunehmen!«

»Wozu das?« staunte die Bajmakowa und betrachtete mißtrauisch die hübsch zusammengestellten Blumen und Gräser. Nikita erklärte ihr, er hätte bei seiner Herrschaft jeden Morgen der Fürstin Blumen bringen müssen.

»So?« sagte die Bajmakowa und hob, leicht errötend, stolz den Kopf.

»Sehe ich denn aus wie eine Fürstin? Sie war wohl sehr schön?«

»Sie sind es ja auch!«

Die Bajmakowa dachte, noch heftiger errötend:

»Am Ende hat der Vater es ihm beigebracht?« – »Nun, also ich danke für die Ehre«, sagte sie, lud Nikita aber nicht zum Tee ein, und als er fort war, dachte sie laut:

»Er hat schöne Augen, – die sind nicht vom Vater, sondern wohl von der Mutter.«

Und sie seufzte:

»Es scheint unser Schicksal zu sein, mit ihnen zu leben.«

Sie redete Artamonow nicht allzusehr zu, mit der Hochzeit bis zum Herbst zu warten, damit das Jahr seit dem Sterbetag ihres Mannes um wäre, sondern erklärte mit Entschiedenheit dem Gevatter:

»Laß du aber dabei deine Hand aus dem Spiel, Ilja Wasiljewitsch! Ich will alles nach unserer schönen, alten Sitte machen. Das ist auch für dich gut: du kommst dadurch mit einemmal unter unsere angesehensten Leute und wirst von allen beachtet werden.«

»Nun,« brummte Artamonow stolz, »man sieht mich auch ohnehin von weitem.«

Sein Hochmut verletzte sie, und sie sprach:

»Man liebt dich hier nicht.«

»Nun, dann wird man mich eben fürchten!«

Und er fügte lächelnd, mit Achselzucken, hinzu:

»Auch Pjotr kommt mir immer mit dieser – Liebe. Ihr seid wunderliche Leute . . .«

»Ich werde auch schon merklich von dieser Abneigung berührt.«

»Beunruhige dich nicht, Gevatterin!«

Artamonow hob seine lange Pranke und preßte die Finger so fest zur Faust zusammen, daß sie rot wurden.

»Ich verstehe es, die Menschen klein zu kriegen! Man wird nicht lange um mich herumspringen, – ich komme auch ohne Liebe aus . . .«

Sie schwieg und dachte mit banger Unruhe:

»Was ist er für ein wildes Tier.«

Nun war ihr gemütliches Haus von den Freundinnen der Tochter, Mädchen aus den besten Familien der Stadt, bevölkert; sie trugen alle altertümliche Brokatsarafane, mit weißen, blasenförmigen Ärmeln aus Mull und dünnem Leinen, mit Einsätzen und mordwinischer Seidenstickerei, und mit Spitzen an den Handgelenken. Sie hatten ziegenlederne oder Saffianschuhe an und hatten sich Bänder in die langen Mädchenzöpfe geflochten. Die Braut erstickte schier in dem schweren Sarafan aus Silberbrokat mit vergoldeten, durchbrochenen Knöpfen vom Kragen bis zum unteren Saum und in dem Umhang aus Goldbrokat, mit weißen und blauen Bändern um die Schultern. Wie zu Eis erstarrt sitzt sie in der vorderen Ecke der Stube, wischt sich mit dem Spitzentuch das schweißige Gesicht und führt laut den Chor an:

»Über die Wiesen, die grü–ünen,
Über die Blumen, die blauen,
Strömt das Frühlingsgewässer,
Die kühle, ach, die trübe Flut . . .«

Die Freundinnen fallen klangvoll und einig in das ersterbende Stöhnen der Mädchenklage ein:

»Mich, Jungfrau, schickt man
Wasser zu holen,
Barfuß und unbeschuht,
Ach, nackend und ohne Kleid . . .«

Alexej lacht und schreit, unsichtbar in dem Haufen der Mädchen:

»Das ist ein komisches Lied! Man hat das Mädchen in Brokat gesteckt wie eine Pute in einen Blecheimer, und ihr schreit: nackend und ohne Kleid!«

Nikita sitzt in der Nähe der Braut; sein neues, blaues Wams ist ihm häßlich, lächerlich vom Buckel in den Nacken gerutscht, seine blauen Augen sind weit geöffnet und blicken Natalia so seltsam an, als fürchtete er, das Mädchen würde sich gleich in nichts auflösen und verschwinden. In der Tür steht, den Rahmen ganz ausfüllend, Matriona Barskaja, rollt die Augen und läßt ihren tiefen Baß ertönen:

»Ihr jammert zu wenig beim Singen, Mädchen!«

Sie macht einen weiten Pferdeschritt und schärft streng ein, wie man nach altem Herkommen zu singen hat, und wie man mit Zittern und Zagen sich zur Trauung vorbereitet.

»Es heißt; ›beim Manne sitzest du wie hinter einer steinernen Mauer‹. Merkt es euch aber: die Mauer ist stark, man kann sie nicht durchhauen, sie ist hoch, man kann nicht hinüberspringen!«

Doch die Mädchen hören ihr nicht recht zu; im Zimmer ist es eng und heiß, sie stoßen die Alte weg und laufen auf den Hof hinaus in den Garten. In ihrer Mitte erscheint, wie eine Biene unter Blumen, Alexej in einem goldfarbenen Seidenhemd und in Pluderhosen aus Plüsch; er ist lustig und lärmt wie ein Betrunkener.

Die Barskaja wirft gekränkt die dicken Lippen auf, glotzt ringsum und begibt sich, den Saum ihres Damastrockes vorn hochhebend, nach oben zu Uljana, der sie prophezeit:

»Deine Tochter ist fröhlich, das ist gegen Vorschrift und Sitte. Fröhlicher Anfang bedeutet ein böses Ende.«

Die Bajmakowa stöbert besorgt im großen, eisenbeschlagenen Koffer herum, vor dem sie kniet; neben ihr, auf der Erde und auf dem Bett ist, wie in einer Jahrmarktsbude, ein Durcheinander von Damast- und Taffetstücken, von Moskauer Kattun, Kaschmirschals, Bändern und gestickten Handtüchern, ein breiter Sonnenstrahl fällt auf die grellen Stoffe, und sie leuchten in bunten Farben wie eine Wolke im Abendrot.

»Es gehört sich für den Bräutigam nicht, vor der Trauung im Hause der Braut zu wohnen. Die Artamonows sollten ausziehen . . .«

»Das hättest du vorher sagen sollen, jetzt ist es zu spät«, brummt Uljana, über den Koffer geneigt, um ihr gekränktes Gesicht zu verbergen, und sie hört die Baßstimme:

»Es hieß von dir, du wärest klug, darum schwieg ich. Ich dachte, du kämst von selbst darauf. Was macht es mir? Für mich handelt es sich nur darum, die Wahrheit zu sagen; wenn die Menschen sie auch nicht annehmen wollen, rechnet der Herrgott es mir doch an.«

Die Barskaja steht wie ein Monument da, ohne den Kopf zu bewegen, als wäre er eine bis an den Rand mit Weisheit gefüllte Schale. Da sie keine Antwort erhält, schiebt sie sich zur Tür hinaus, während Uljana in dem farbigen Feuer der Gewebe kniet und sehnsüchtig und ängstlich flüstert:

»Herr – hilf! Nimm mir nicht den Verstand.«

Wieder ein Rascheln an der Tür, sie steckt eilig den Kopf in den Koffer, um die Tränen zu verbergen. Nikita erscheint:

»Natalia Jewsewna schickt mich, um nachzufragen, ob Sie nicht irgendwelche Hilfe benötigen.«

»Ich danke, mein Lieber . . .«

»Olgunka Orlowa hat sich in der Küche mit Sirup begossen.«

»So, was du nicht sagst? Ein kluges Mädelchen, – das wäre eine Braut für dich . . .«.

»Wer würde mich denn nehmen? . . .«

Und im Garten unter der Linde sitzen am runden Tisch beim Bier Ilja Artamonow, Gawrila Barski, der Taufpate der Braut, Pomialow, der Lederhändler Shitejkin, ein Mensch mit leeren Augen, und der Stellmacher Woroponow. An den Stamm der Linde gelehnt, steht Pjotr, seine dunklen Haare sind reichlich eingefettet, und der Kopf erscheint wie aus Eisen, – er lauscht ehrerbietig der Unterhaltung der Älteren.

»Ihr habt andere Sitten«, sagt der Vater nachdenklich, und Pomialow prahlt:

»Wir sind ja hier das erbeingesessene Volk, wir sind Großrussen!«

»Auch wir sind nicht von heute.«

»Wir haben uralte Gebräuche . . .«

»Es sind viele Mordwinen und Tschuwaschen da . . .«

Kreischend, lachend und sich drängend liefen die Mädchen in den Garten, umringten den Tisch als ein bunter Kranz von Sarafans und begannen das Preislied:

»Heil, Ilja Wasiljewitsch,
Verehrter Gevatter,
Auf der ersten Stufe brichst du dir ein Bein,
Auf der zweiten Stufe brichst du dir das zweite,
Aber auf der dritten brichst du dir den Kopf.«

»Das soll ein Preislied sein!« rief Artamonow erstaunt, sich an seinen Sohn wendend. Pjotr lächelte vorsichtig, betrachtete die Mädchen und zupfte sich am Ohr.

»Hör' nur zu!« rief Barski lachend.

»Noch zu wenig ist's für ihn,
Für den Mädchenräuber . . .«

»Noch zu wenig?« rief Artamonow erregt und sichtlich verlegen und klopfte mit den Fingern auf den Tisch.

Und die Mädchen singen erregt:

»Man schleife dich mit der scharfen Egg'
Man stürze dich vom Berg auf Gestein,
Auf daß du uns nicht betrügst,
Und nicht lobst, nicht preist,
Die fernen, fremden Länder,
Die menschenleeren Dörfer, –
Sie sind mit Kummer besät
Und mit Tränen begossen . . .«

»Das ist es also!« rief Artamonow beleidigt. »Nun, Mädchen, seid nicht böse, ich werde aber doch mein Land preisen: wir haben sanftere Sitten, und unser Volk ist freundlicher. Wir haben sogar einen Spruch: ›Die Swapa und Usosha fließen in den Sejm, Gott sei gepriesen, aber nicht in die Oka!‹«

»Na warte nur, du kennst uns noch nicht«, sagte Barski halb prahlend, halb drohend. »Nun, beschenke die Mädchen!«

»Wieviel soll ich ihnen geben?«

»Soviel du ihnen im Herzen gönnst.«

Als Artamonow den Mädchen aber zwei Silberrubel gab, sagte Pomialow zornig:

»Du hast eine lockere Hand, du Protz!«

»Es ist schwer, es euch recht zu machen!« schrie Ilja auch zornig, und Barski brach in ein dröhnendes Gelächter aus, während Shitejkins Lachen kurz und scharf die Luft durchdrang.

Der Polterabend endete beim Morgengrauen. Die Gäste waren gegangen, fast alle im Hause schliefen. Artamonow saß mit Pjotr und Nikita im Garten, glättete sich den Bart und sprach leise, während seine Augen durch den Garten schweiften und über die rosigen Wolken glitten:

»Ein herbes Volk! Ein unfreundliches Volk! Petrucha, du mußt alles tun, was deine Schwiegermutter will; wenn es auch Weiberdummheiten sein sollten, es muß trotzdem geschehen! Begleitet Alexej die Mädchen? Den Mädchen ist er angenehm, den Burschen aber nicht. Barskis Söhnchen wirft ihm böse Blicke zu . . . jawohl! Du mußt freundlicher sein, Nikita, du verstehst das. Du mußt deinem Vater als Kitt dienen; wenn durch mich irgendwo ein Sprung entsteht, mußt du ihn verschmieren.«

Er blickte mit einem Auge in die große Holzkanne und fuhr mürrisch fort:

»Sie haben alles ausgesoffen; sie trinken wie Pferde. Was meinst du, Pjotr?«

Der Sohn ließ den seidnen Gürtel, ein Geschenk der Braut, durch die Hände gleiten und sagte leise:

»Im Dorf ist es einfacher und ruhiger zu leben.«

»Ja . . . es ist am einfachsten, wenn man den Tag durchschläft . . .«

»Sie ziehen die Hochzeit so hinaus . . .«

»Gedulde dich.«

Endlich brach der große und schwere Tag für Pjotr an. Pjotr sitzt in der Vorderecke der Stube und weiß, daß seine Stirne finster zusammengezogen und gerunzelt ist, er fühlt, daß ihn das in den Augen der Braut nicht verschönt; er kann aber die Brauen nicht voneinander trennen, als wären sie mit einem festen Faden zusammengenäht. Er blickt die Gäste unfreundlich an und schüttelt das Haar; Hopfen wird auf den Tisch und auf Natalias Brautschleier gestreut, auch sie läßt den Kopf hängen und schließt müde die Augen; sie ist sehr bleich, ängstlich wie ein Kind und zittert vor Scham.

»Bitter!« brüllen zum zwanzigsten Male die roten, haarigen, grinsenden Fratzen.

Pjotr wendet sich mit steifem Hals wie ein Wolf um, hebt den Schleier und stößt die trockenen Lippen und die Nase gegen ihre Wange, wobei er die Atlaskühle ihrer Haut und das ängstliche Zittern der Schulter fühlt; Natalia tut ihm leid, und auch er schämt sich, während der dichte Ring der angeheiterten Menschen brüllt:

»Der Bursche versteht es nicht!«

»Richtig auf die Lippen!«

»Ach, ich würde schon richtig küssen . . .«

Eine betrunkene Frauenstimme kreischt:

»Ich werde dich das Küssen schon lehren!«

»Bitter!« brüllt Barski.

Pjotr beißt die Zähne zusammen und berührt die feuchten, zitternden Lippen des Mädchens. Sie ist ganz weiß und scheint wie eine Wolke in der Sonne hinzuschmelzen. Sie sind beide hungrig, man hat ihnen seit gestern nichts zu essen gegeben. Von der Aufregung, von dem scharfen Alkoholgeruch und von zwei Gläsern Donschaumwein fühlt Pjotr sich trunken und fürchtet, seine junge Frau könnte es merken. Alles ringsum wogt und verschwimmt zu einem bunten Haufen, um dann nach allen Seiten zurückzufluten und sich in die roten Blasen unangenehmer Fratzen zu verwandeln. Der Sohn betrachtet zornig und flehend den Vater, Ilja Artamonow ist zerzaust und feuerrot und schreit, in das rosige Gesicht der Bajmakowa blickend:

»Gevatterin, wir wollen mit Met anstoßen! Dein Met ist so süß wie die Hausfrau selbst . . .«

Sie streckt den vollen weißen Arm aus, das goldene Armband mit den bunten Steinen funkelt in der Sonne, und auf der hohen Brust schillern wie Wassertropfen die Perlen. Auch sie hat getrunken, in ihren grauen Augen spielt ein schmachtendes Lächeln, und die halbgeöffneten Lippen bewegen sich verführerisch. Nach dem Anstoßen trinkt sie und verneigt sich vor dem Gevatter, der entzückt den zottigen Kopf schüttelt und brüllt:

»Was du für eine Art hast, Gevatterin! Ein fürstliches Gehaben, Gott strafe mich!«

Pjotr begreift dunkel, daß der Vater sich ungehörig benimmt; er fängt wachsam im betrunkenen Brüllen der Gäste Pomialows höhnische Rufe, die vorwurfsvolle Baßstimme der Barskaja und Shitejkins dünnes Lachen auf.

»Das ist keine Hochzeit, sondern ein Gericht«, denkt er und hört:

»Schaut, wie dieser Teufel die Uljana betrachtet, ach, ach!«

»Es kommt noch zu einer Hochzeit, aber ohne Popen . . .«

Diese Worte dringen ihm für einen Augenblick ins Ohr, er vergißt sie aber sogleich, wenn Natalia ihn mit dem Knie oder dem Ellbogen berührt und in seinem ganzen Körper ein unruhiges Sehnen hervorruft. Er bemüht sich, sie nicht anzublicken und hält den Kopf unbeweglich; er kann aber mit seinen Augen nicht fertig werden, die hartnäckig zu ihr hinüberschielen.

»Wird das bald ein Ende haben?« flüstert er. Natalia antwortet ebenso:

»Ich weiß nicht.«

»Man muß sich ja schämen . . .«

»Ja«, hört er und freut sich, daß seine junge Frau ebenso wie er fühlt.

Alexej ist bei den Mädchen, sie schmausen im Garten; Nikita sitzt neben dem langen Popen, der einen nassen Bart, und kupferfarbige Augen im pockennarbigen Gesicht hat. Vom Hof und von der Straße schauen die Stadtbewohner zu den offenen Fenstern herein, Dutzende von Köpfen bewegen sich in der blauen Luft und lösen einander jeden Augenblick ab; die geöffneten Mäuler flüstern, zischen, schreien; die Fenster scheinen Säcke zu sein, aus welchen diese lärmenden Köpfe sofort wie Melonen ins Zimmer rollen werden. Nikita fällt besonders der Kopf des Erdarbeiters Tichon Wialow auf; dessen Gesicht hatte breite Backenknochen, rote Flecken und war mit rötlichem, dichten Haar bewachsen. Die auf den ersten Blick farblos erscheinenden Augen flimmerten seltsam und zwinkerten, es bewegten sich aber nur die Pupillen, während die Wimpern regungslos blieben. Auch die dünnen, eigensinnig aufeinander gepreßten Lippen des nicht zu großen, vom krausen Schnurrbart nur leicht verhüllten Mundes waren regungslos. Die Ohren lagen aber häßlich an dem Schädel an. Dieser Mensch stützte sich mit der Brust auf das Fensterbrett und lärmte und schimpfte nicht, wenn man ihn wegzustoßen versuchte, sondern er schob die andern mit einer leisen Bewegung der Achseln und Ellenbogen weg. Seine Schultern waren hoch gewölbt, der Hals verschwand in ihnen und der Kopf wuchs gleichsam aus der Brust heraus, so daß auch er bucklig erschien, und Nikita glaubte in seinem Gesicht etwas Einnehmendes und Gütiges zu sehen.

Ein krummbeiniger Bursche schlug unerwartet und laut ins Tamburin und strich mit dem Finger fest über das Leder; das Tamburin weinte und dröhnte, jemand pfiff und breitete eine zweireihige Harmonika auf den Knien aus, und sogleich drehte sich und stampfte mitten im Zimmer der kleine, rundliche und lockige Brautführer Stepascha Barski und schrie im Takt der Musik:

»He, ihr Mädchen, meine Gegnerinnen,
Schelminnen und Reigentänzerinnen!
Hört ihr meiner Münzen helles Klingen,
Tretet vor und stellt euch vor mich hin!«

Sein Vater richtete sich in seiner ganzen riesigen Größe auf und brüllte:

»Stepascha! Blamiere nicht die Stadt, zeig' es jenen Hühnchen!«

Da sprang Ilja Artamonow auf, schüttelte den wie einen Besen zerzausten Kopf, das Blut strömte ihm ins Gesicht, die Nase war rot wie eine Kohle, und er brüllte Barski ins Gesicht:

»Wir sind keine Hühnchen, wir stammen aus Kursk! Wir wollen noch sehen, wer beim Tanzen den kürzeren zieht! Aljoscha!«

Alexej strahlte, als wäre er lackiert, betrachtete lächelnd den Driomower Tänzer und ging, auf einmal erbleichend, unfaßbar schnell und auf Mädchenart kreischend los.

»Er kennt keine Reime!« schrien die Driomower, und sofort ertönte Artamonows verzweifeltes Brüllen:

»Aljoscha, ich bringe dich um!«

Ohne stehenzubleiben und im Herumwirbeln innezuhalten, steckte Alexej zwei Finger in den Mund, pfiff gellend und sprach klangvoll:

»Bei dem Herren, bei Mokejen
Waren fünferlei Lakaien,
Aber jetzt ist Herr Mokej
Selber auch nur ein Lakai!«

»Da habt ihr's!«, brüllte Artamonow triumphierend.

»Oho!« rief der Pope vielsagend und schüttelte mit erhobenem Finger den Kopf.

»Alexej wird euren Burschen in Grund und Boden tanzen«, sagte Pjotr zu Natalia. Sie antwortete schüchtern:

»Er ist so leichtfüßig.«

Die Väter hetzten die Söhne wie Kampfhähne aufeinander, sie standen halb betrunken Schulter an Schulter beieinander, der eine war groß und plump wie ein Mehlsack, und aus seinen schmalen, roten Ritzen unter den Brauen flossen reichlich die Tränen trunkenen Entzückens. Der andere hatte sich gestrafft, als wäre er im Begriff loszuspringen, bewegte die langen Arme, streichelte sich die Hüften und seine Augen blickten wie wahnsinnig. Pjotr sah, daß sich der Bart des Vaters auf den Backenknochen bewegte und sagte sich:

»Er knirscht mit den Zähnen. Gleich haut er auf jemanden los . . .«

»Der Artamonowsche tanzt häßlich!«, ertönte die Trompetenstimme der Matriona Barskaja. »Er tanzt kläglich! Ohne Figuren!«

Ilja Artamonow lacht ihr ins dunkle, wie eine Pfanne runde Gesicht und in die breite Nase hinein, – Alexej hat gesiegt, Barskis Sohn wankt zur Tür, während Ilja die Bajmakowa grob bei der Hand packt und befiehlt:

»Nun, Gevatterin, komm heraus!«

Sie wehrt bleich mit der freien Hand ab und versucht zornig und bestürzt sich loszureißen:

»Was hast du! Ziemt es sich denn für mich? Was fällt dir ein?«

Die Gäste verstummten schmunzelnd, Pomialow wechselte mit der Barskaja einen Blick, und seine Worte zischten schmalzig:

»Nun, das macht nichts! Erfreue uns, Uljana, tanze! Gott wird verzeihen . . .«

»Ich nehme die Sünde auf mich!« schrie Artamonow. Er schien nüchtern zu werden, zog die Stirne kraus, als hätte er einen Kampf zu bestehen, und bewegte sich gleichsam gegen seinen Willen. Die Bajmakowa wurde ihm entgegengeschoben, die angeheiterte Frau wankte, stolperte, richtete sich dann auf, warf den Kopf zurück und drehte sich im Kreise.

Pjotr hörte erstauntes Geflüster:

»Ach, du mein Gott! Der Mann liegt noch nicht einmal ein Jahr unter der Erde, sie hat aber schon die Tochter verheiratet und tanzt selber!«

Er sah seine Frau nicht an, fühlte aber, daß sie sich für die Mutter schämte und murmelte:

»Der Vater sollte nicht tanzen.«

»Auch die Mutter sollte das nicht tun«, erwiderte sie leise und traurig. Sie war auf die Bank gestiegen und blickte über die Köpfe der einen dichten Kreis bildenden Menschen hinweg, sie verlor das Gleichgewicht und hielt sich mit der Hand an Pjotrs Schulter fest.

»Vorsicht«, sagte er freundlich, ihren Ellbogen stützend.

Durch die offenen Fenster schwebte über den Häuptern der Zuschauer der Widerschein der Abendröte herein, und in diesem rötlichen Licht drehten sich der Mann und die Frau wie Blinde. Im Garten, im Hof und auf der Straße hörte man lachen und schreien, im schwülen Zimmer wurde es aber immer stiller. Das straff gespannte Leder des Tamburins erklang in seltsam dumpfen Tönen, die Harmonika dröhnte, und die beiden flogen noch immer, wie von Flammen erfaßt, krampfhaft im engen Kreise der Burschen und Mädchen herum. Diese sahen dem Tanze schweigend und ernst zu, als handelte es sich um eine außerordentlich wichtige Angelegenheit, die gesetzten Leute waren teilweise in den Hof gegangen, und es blieben nur die Benebelten und die vor Trunkenheit gänzlich Unbeweglichen zurück.

Artamonow stampfte noch einmal auf und hielt inne:

»Nun, du hast mich ganz atemlos gemacht, Uljana Iwanowna!«

Die Frau zuckte zusammen, blieb auch plötzlich wie vor einer Mauer stehen und sagte, sich vor allen im Kreise verneigend:

»Nehmt es mir nicht übel.«

Sie fächelte sich mit dem Taschentuch und verließ sogleich das Zimmer, in das sich statt ihrer die Barskaja hineinschob:

»Das Paar muß jetzt getrennt werden! Nun, Pjotr, komm zu mir; Bräutigamsführer, faßt ihn bei den Händen!«

Der Vater stieß die Führer weg und umschlang die Schultern seines Sohnes mit den langen, schweren Armen:

»Nun geh', Gott gebe dir Glück! Wir wollen einander umarmen!«

Er schob ihn fort, die Führer faßten ihn unter den Armen, die Barskaja ging voran und murmelte, nach allen Seiten ausspuckend:

»Pfu, pfu! Keine Krankheit, kein Kummer, kein Neid, keine Unehre, pfu! Feuer, Wasser zur rechten Zeit, nicht zum Unheil, zum Glück!«

Als Pjotr ihr in Natalias Zimmer folgte, in dem ein prunkvolles Bett vorbereitet war, ließ sich die Alte schwer auf einen Stuhl mitten im Zimmer sinken.

»Höre und vergiß es nicht!« sprach sie feierlich. »Da hast du zwei halbe Rubel, leg sie unter die Fersen, in die Stiefel; wenn Natalia kommt und dir die Stiefel ausziehen will, laß es sie nicht tun . . .«

»Wozu ist das?« fragte Pjotr finster.

»Das ist nicht deine Sache. Dreimal weigerst du dich, beim viertenmal erlaubst du es ihr; sie wird dich dreimal küssen, dann gib ihr die Münzen und sprich: ›ich schenke es dir, meine Sklavin, mein Schicksal!‹ Vergiß es nicht! Zieh dich dann aus und leg dich mit dem Rücken zu ihr hin, sie wird dich aber bitten: ›laß mich zu Bett gehen!‹ Dann mußt du schweigen und ihr erst beim drittenmal die Hand hinstrecken. Hast du verstanden? Nun, und dann . . .«

Pjotr blickte erstaunt in das breite, dunkle Gesicht seiner Lehrmeisterin. Sie leckte sich, mit geblähten Nüstern, die Lippen, wischte sich mit dem Tuch das fette Kinn und den Hals und sprach deutlich rohe, schamlose Worte, indem sie zum Abschied wiederholte: »Glaube ihrem Schreien und Weinen nicht«, dann wankte sie aus dem Zimmer und ließ einen Schnapsgeruch zurück, Pjotr bekam aber einen Zornanfall, – er riß sich die Stiefel von den Füßen, schleuderte sie unter das Bett, entkleidete sich rasch und sprang auf das Lager wie auf ein Pferd. Er biß die Zähne zusammen und fürchtete, infolge der allzu großen Kränkung, die an ihm würgte, in Tränen auszubrechen.

»Diese Teufel!«

Auf den Daunenbetten war es heiß; er sprang auf die Erde, trat ans Fenster und riß es auf, aus dem Garten klang ihm betrunkenes Schreien, Lachen und Mädchengekreisch entgegen; im bläulichen Dunkel, zwischen den Bäumen irrten schwarze menschliche Gestalten herum. Die dünne Spitze des Nikolausturmes stach wie ein Finger aus Messing in den Himmel; es war kein Kreuz darauf, man hatte es zum Vergolden abgenommen. Hinter den Häuserdächern schimmerte traurig die Oka, über der ein Stück des Mondes dahinschmolz – und in der Ferne lagen die schwarzen Massen endloser Wälder. Ihm fiel ein anderes Land ein, – die weite Erde goldener Äcker; er seufzte, auf der Treppe wurde gestampft und gekichert; er sprang wieder ins Bett, die Tür ging auf, es raschelten seidene Bänder, Schuhe knarrten, jemand weinte unter Aufschluchzen; es klappte der vorgelegte Türhaken. Pjotr hob behutsam den Kopf, im Dunkel stand eine weiße Gestalt an der Tür, bewegte gemessen die Hand und verneigte sich fast bis zur Erde.

»Sie betet. Und ich habe nicht gebetet.«

Er hatte aber nicht den Wunsch zu beten.

»Natalia Jewsejewna,« begann er leise, »fürchte dich nicht. Ich habe selbst Angst. Ich bin ganz matt.«

Er strich sich mit beiden Händen die Haare glatt, zupfte sich am Ohr und murmelte:

»Das ist alles nicht nötig, das Stiefelausziehen und all das. Das ist Unsinn. Mir tut das Herz weh, und sie kommt mit diesen Possen. Weine nicht!«

Sie schritt vorsichtig seitwärts zum Fenster hin und sagte leise:

»Sie feiern immer noch . . .«

»Ja.«

Sie fürchteten sich vor etwas, wagten nicht einander nahezukommen, waren beide müde und wechselten lange überflüssige Worte. Beim Morgengrauen knarrte die Treppe, jemand tastete mit der Hand die Wand entlang, Natalia ging zur Tür.

»Laß die Barskaja nicht herein«, flüsterte Pjotr.

»Das ist die Mutter«, sagte Natalia, die Tür öffnend.

Pjotr setzte sich auf dem Bett auf und ließ die Beine herabhängen. Er war mit sich unzufrieden und dachte voll Bangigkeit:

»Ich bin nichts wert, ich habe es nicht gewagt, ich werde noch erleben daß sie mich auslacht . . .«

Die Tür ging auf, Natalia sagte leise:

»Die Mutter ruft dich.«

Sie lehnte sich an den Ofen und war von den weißen Kacheln kaum zu unterscheiden. Pjotr ging zur Tür hinaus, ihn empfing im Dunkel das gekränkte, erschrockene und leidenschaftliche Flüstern der Bajmakowa:

»Was fällt dir denn ein Pjotr Iljitsch? Was treibst du, willst du mich und meine Tochter dem Spott preisgeben? Es tagt ja schon, man wird euch bald wecken kommen, man muß den Leuten das jungfräuliche Hemd zeigen, damit sie sehen, daß meine Tochter ehrbar ist!«

Sie hielt im Sprechen Pjotr mit der einen Hand an der Schulter fest und stieß ihn mit der andern weg, indem sie entrüstet fragte:

»Was bedeutet das denn? Hast du keine Kraft oder keine Lust? Ängstige mich nicht, schweige nicht . . .«

Pjotr sprach mit dumpfer Stimme:

»Sie tut mir so leid. Ich fürchte mich.«

Er sah das Gesicht der Schwiegermutter nicht, es kam ihm aber so vor, als hörte er die Frau kurz auflachen.

»Nein, geh nur, geh und erfülle deine Pflicht als Mann! Bete zum Märtyrer Christophor. Komm, ich will dir einen Kuß geben . . .«

Sie umschlang fest seinen Hals und küßte ihn mit süßen, klebrigen Lippen, wobei ihm warmer Weingeruch entgegenwehte. Er kam nicht dazu, ihren Kuß zu erwidern, – sein lautes Schnalzen traf nur noch die Luft. Als er in die Kammer zurückkehrte, schloß er hinter sich die Tür und streckte entschlossen die Hände aus. Das Mädchen trat vor und geriet in den Ring seiner Arme, wobei sie mit zitternder Stimme sagte:

»Sie ist ein wenig angeheitert.«

Pjotr hatte andere Worte erwartet. Er murmelte, indem er sich rückwärts dem Bette näherte:

»Fürchte dich nicht. Ich bin nicht schön, aber gut . . .«

Sie schmiegte sich immer fester an ihn und flüsterte:

»Die Füße wollen mich nicht mehr tragen . . .«

 

. . . Man feierte in Driomow gern Feste. Die Hochzeit dauerte fünf Tage; man trieb sich vom Morgen bis zur Mitternacht herum, ging in Haufen über die Straßen und von einem Haus ins andere, vom Wirbel der Weindünste erfaßt. Ein besonders reichlicher und protziger Schmaus fand bei Barskis statt, aber Alexej prügelte ihren Sohn dafür durch, daß er den Backfisch Olga Orlowa irgendwie beleidigt hatte. Als Vater und Mutter Barski sich bei Artamonow über Alexej beklagten, staunte dieser:

»Kommt es denn nicht überall vor, daß die Burschen miteinander raufen?«

Er beschenkte die Mädchen freigebig mit Bändern und Naschwerk und die Burschen mit Geld, bewirtete Väter und Mütter bis zur Bewußtlosigkeit mit Getränken und umarmte und zerrte alle herum:

»Ach, ihr Leute! Leben wir oder nicht?«

Er randalierte und trank viel, als löschte er ein innerliches Feuer, wurde aber vom Trinken nicht berauscht und magerte in diesen Tagen sichtlich ab. Er hielt sich abseits von Uljana Bajmakowa, seine Kinder bemerkten jedoch, daß er sie von Zeit zu Zeit zornig und herausfordernd betrachtete. Er prahlte sehr mit seiner Kraft: er zog mit den Garnisonsoldaten um die Wette an einem Stock, überwand beim Ringen einen Feuerwehrmann und drei Maurer, worauf der Erdarbeiter Tichon Wialow zu ihm kam und nicht bat, sondern verlangte:

»Jetzt komme ich dran.«

Artamonow wunderte sich über seine Art und musterte den stämmigen Körper des Erdarbeiters.

»Was ist mit dir: bist du stark oder bist du nur ein Prahlhans?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte jener ernst.

Sie packten einander beim Gürtel und stampften lange auf einem Fleck herum. Ilja blickte über Wialows Schulter auf die Frauen und blinzelte ihnen schamlos zu. Er war größer, aber schmäler als der Erdarbeiter und etwas besser gebaut. Wialow stemmte die Schulter gegen des andern Brust und bemühte sich, den Gegner aufzuheben und über sich hinüberzuwerfen. Ilja erriet das und rief ihm zu:

»Du bist nicht schlau, Bruder, du bist nicht schlau!« Und auf einmal schrie er auf und schleuderte Tichon mit solcher Gewalt über seinen Kopf hinüber, daß er sich beim Sturz auf die Erde beide Beine verletzte. Der Erdarbeiter sagte beschämt, als er im Grase saß und sich den Schweiß vom Gesicht wischte:

»Er ist stark.«

»Das sehen wir«, wurde ihm spöttisch erwidert.

»Er hat Kraft«, wiederholte Wialow.

Ilja streckte ihm die Hand hin:

»Steh auf!«

Der Erdarbeiter versuchte aufzustehen, ohne die Hand zu nehmen, er konnte es aber nicht und streckte wieder die Beine aus, indem er der Menge mit seltsamen, gleichsam hinschmelzenden Augen nachblickte. Nikita kam auf ihn zu und fragte teilnahmsvoll:

»Tut es weh? Soll ich helfen?«

Der Arbeiter lächelte:

»Die Knochen schmerzen. Ich bin ja stärker als dein Vater, aber nicht so geschickt. Nun, wollen wir ihnen folgen, Nikita Iljitsch, du bist ein schlichter Mensch!«

Er faßte den Buckligen freundschaftlich unter den Arm und schloß sich der Menge an, wobei er mit den Füßen aufstampfte und so den Schmerz zu beschwichtigen hoffte.

. . . Die durch schlaflose Nächte ermatteten Neuvermählten schoben sich willenlos, den Menschen zur Schau, inmitten der bunten, lärmenden, betrunkenen Menge durch die Straßen; sie aßen und tranken, gerieten bei den schamlosen Scherzen in Verlegenheit, bemühten sich krampfhaft, einander nicht anzusehen und schwiegen, als wären sie sich fremd, während sie Arm in Arm herumgingen oder, wie immer, nebeneinander saßen. Das gefiel Matriona Barskaja sehr, die Ilja und Uljana prahlerisch befragte:

»Ist dein Sohn nicht gut abgerichtet? Das will ich meinen! Sieh nur, Uljana, wie ich deine Tochter erzogen habe! Und dein Schwiegersohn? Er stolziert wie ein Pfau einher, als ginge ihn das ganze gar nichts an!«

Wenn Pjotr und Natalia aber heimgingen schlafen, warfen sie zugleich mit den Kleidern alles ab, was man ihnen aufgezwungen hatte und was sie demütig auf sich genommen hatten, und besprachen den verflossenen Tag:

»Wie bei euch aber getrunken wird!« staunte Pjotr.

»Trinkt man denn bei euch weniger?« fragte die junge Frau.

»Dürfen die Bauern denn so trinken?«

»Ihr seht gar nicht wie Bauern aus.«

»Wir gehörten zum Hofgesinde. Das ist schon beinahe so gut wie Edelleute.«

Manchmal umfaßten sie einander und setzten sich ans Fenster. Sie atmeten die appetitlichen Gartengerüche ein und schwiegen:

»Warum schweigst du?« fragte leise die junge Frau. Ihr Mann erwiderte ebenso leise:

»Ich habe keine Lust, gewöhnliche Worte zu sagen.«

Er wünschte ungewöhnliche Worte zu hören; doch kannte Natalia keine. Wenn er ihr aber von der grenzenlosen Weite und Freiheit der goldenen Steppen erzählte, fragte sie:

»Gibt es denn dort keine Wälder oder sonst irgend etwas? Oh, wie schrecklich muß das sein!«

»Der Schrecken lebt in den Wäldern«, sagte Pjotr etwas gelangweilt. »Was findest du denn an der Steppe schrecklich? Dort ist die Erde, dort ist der Himmel, dort bin ich . . .«

Als sie einmal so am Fenster saßen und schweigend die Sternennacht bewunderten, hörten sie im Garten, beim Badehaus ein Rumoren, – jemand lief da, streifte und zerbrach die Ruten der Himbeersträucher, darauf ertönte ein leiser, zorniger Ausruf:

»Was fällt dir ein, du Teufel?«

Natalia sprang erschrocken auf.

»Das ist ja die Mutter!«

Pjotr beugte sich zum Fenster hinaus, das er durch seinen breiten Rücken verstellte; er sah, daß sein Vater seine Schwiegermutter umfaßt hielt, sie gegen die Badehauswand preßte und auf die Erde zu werfen versuchte, während sie mit den Händen rasch ausholte, ihn auf den Kopf schlug und atemlos laut flüsterte:

»Laß mich, ich schreie sonst!«

Und dann schrie sie mit ganz fremder Stimme:

»Liebster, rühr' mich nicht an! Hab' Mitleid . . .«

Pjotr schloß geräuschlos das Fenster und nahm seine Frau auf den Schoß.

»Schau nicht hin.«

Sie zappelte in seinen Armen und rief:

»Was ist das, wer ist's?«

»Der Vater«, sagte Pjotr, sie fest an sich pressend. »Verstehst du denn nicht?«

»Ach, was ist das bloß?« flüsterte sie voll Scham und Angst. Ihr Mann trug sie zum Bett und sagte demütig:

»Wir dürfen über die Eltern nicht zu Gericht sitzen.«

Natalia hielt sich mit den Händen den Kopf und jammerte, sich hin und her wiegend:

»Welche Sünde!«

»Es ist nicht unsere Sünde«, sagte Pjotr und dachte an die Worte des Vaters: ›die Herrschaft hat sich noch ganz andere Dinge erlaubt‹. »So ist es sogar besser: nun wird er sich nicht über dich hermachen. Für die Alten ist das eine einfache Sache; für sie ist es eine geringe Sünde, sich mit der Schwiegertochter abzugeben. Weine nicht.«

Sie sagte unter Tränen:

»Schon als sie tanzten, dachte ich es mir . . . Und wie, wenn er Gewalt anwendet, was soll dann bei uns werden?«

Doch sie schlief bald ein, von der Aufregung ermattet und ohne sich auszukleiden. Pjotr öffnete das Fenster und blickte forschend in den Garten; es war niemand da, und er atmete den den Morgen verkündenden Wind ein, während die Bäume das vom Wohlgeruch erfüllte Dunkel in Bewegung setzten. Er ließ das Fenster offenstehen, legte sich neben seine Frau und dachte, ohne die Augen zu schließen, über das Vorgefallene nach. Wie schön wäre es, mit Natalia in einem kleinen Gutshaus zu leben! . . .

. . . Natalia erwachte bald; ihr schien, das Mitleid mit der Mutter und die ihretwegen erduldete Kränkung hätten sie geweckt. Sie ging barfuß und im bloßen Hemd nach unten. Die des Nachts stets geschlossene Tür zum Zimmer der Mutter stand halb offen, was die junge Frau noch mehr erschreckte. Als sie aber in die Ecke bückte, wo sich das Bett der Mutter befand, sah sie unter dem Laken eine weiße Erhöhung und auf dem Kissen die ausgebreiteten dunklen Haare.

»Sie schläft. Sie hat geweint und sich abgehärmt . . .«

Natalia mußte irgend etwas beginnen, die gekränkte Mutter irgendwie trösten. Sie ging in den Garten; das kalte, taunasse Gras kitzelte die Füße; soeben war hinter dem Wald die Sonne aufgestiegen, deren schräge Strahlen die Augen blendeten. Sie wärmten kaum. Sie pflückte ein vom Tau versilbertes Huflattichblatt, hielt es erst an die eine und dann an die andere Wange, und als sie ihr Gesicht erfrischt hatte, begann sie Träubchen roter Johannisbeeren zu pflücken und in das Blatt hineinzutun, während sie ohne Zorn an den Schwiegervater dachte. Er pflegte sie mit der schweren Hand auf den Rücken zu klopfen und dabei schmunzelnd zu fragen:

»Nun, wie steht es, lebst du? Atmest du? Nun gut, lebe nur!«

Er schien für sie keine anderen Worte zu haben, das freundliche Tätscheln beleidigte sie aber ein wenig, so pflegt man Pferde zu liebkosen.

»So ein Räuber!« dachte sie und zwang sich, an den Schwiegervater feindselig zu denken..

Es sangen die Finken und Rotkehlchen, es zwitscherten die Zeisige, die Baumblätter raschelten leise und seidig, irgendwo am Stadtrande blies ein Schäfer, vom Ufer der Watarakscha, wo die Fabrik lag, tönten Menschenstimmen herüber und schwebten langsam durch die helle Stille. Irgend etwas schnappte zu, Natalia erhob, zusammenzuckend, den Kopf, – über ihr, auf einem Apfelbaum, hing eine Vogelfalle, ein Zeisig zappelte zwischen den dünnen Ruten.

»Wer fängt hier Vögel? Etwa Nikita?«

Irgendwo knackte ein trockener Ast.

Als sie ins Haus zurückkehrte und in das Zimmer der Mutter hineinsah, lag diese mit nach oben gewendetem Gesicht wach da. Sie hob erstaunt die Augenbrauen und schob die eine Hand unter den Kopf.

»Wer ist da . . . Was hast du?« fragte sie beunruhigt, sich auf dem Ellenbogen aufrichtend.

»Nichts! Hier habe ich dir Johannisbeeren zum Tee gepflückt.«

Auf dem Tisch neben dem Bett lag eine große, fast leere Karaffe mit Kwas, der über das Tischtuch gegossen war, der Stöpsel lag auf der Erde. Die strengen, hellen Augen der Mutter waren von bläulichen Schatten umringt, aber nicht von Tränen verschwollen, wie Natalia erwartet hatte; die Augen selbst erschienen dunkler, sie hatten sich vertieft und ihr sonst etwas hochmütiger Blick erschien heute fremd, kam aus der Ferne, war zerstreut.

»Die Mücken lassen mich nicht schlafen, ich will mich lieber in die Scheune legen,« sagte die Mutter und wickelte den Hals in das Laken. »Sie haben mich ganz zerbissen. Warum bist du denn so früh aufgestanden? Warum läufst du barfuß im Tau herum? Dein Rock ist ganz naß. Du wirst dich erkälten . . .«

Die Mutter sprach unfreundlich, widerwillig und aus irgendwelchen eigenen Gedanken heraus. Die Unruhe der Tochter wurde allmählich von einer nicht wohlwollenden und scharfen weiblichen Neugierde abgelöst.

»Beim Erwachen habe ich an dich gedacht . . . ich habe von dir geträumt.«

»Was dachtest du?« erkundigte sich die Mutter, auf die Zimmerdecke blickend.

»Du schläfst jetzt ganz allein, ohne mich . . .«

Es kam Natalia vor, als ob die Wangen der Mutter sich röteten, und als sie lächelnd sagte: »Ich bin nicht ängstlich«, schien ihr dieses Lächeln nicht aufrichtig zu sein.

»Nun geh, Liebling. Deiner ist schon wach, hörst du? er stampft mit den Füßen«, befahl die Mutter, die Augen schließend.

Während Natalia langsam die Treppen emporstieg, dachte sie angewidert und beinahe feindselig:

»Er hat bei ihr geschlafen; den Kwas hat er getrunken! Ihr Hals ist fleckig, das sind keine Mückenstiche, das sind Kußspuren. Ich will Petja aber nichts davon sagen. Sie will in der Scheune schlafen. Und doch hat sie geschrien . . .«

»Wo warst du?« fragte Pjotr, seiner Frau forschend ins Gesicht blickend. Sie senkte die Augen, da sie sich schuldig fühlte.

»Ich habe Johannisbeeren gepflückt und war dann bei der Mutter.«

»Nun, was ist mit ihr?«

»Es scheint nichts zu sein . . .«

»So?« sagte Pjotr, sich am Ohr zupfend. »So!«

Er seufzte lächelnd und rieb sich das rothaarige Kinn:

»Die dumme Barskaja scheint wohl die Wahrheit gesagt zu haben: glaube weder ihrem Schreien, noch ihren Tränen . . .«

Darauf fragte er streng:

»Hast du Nikita gesehen?«

»Nein.«

»Wieso denn nicht? Da ist er ja, er fängt im Garten Vögel.«

»Ach,« rief Natalia ängstlich, »und ich bin so, im bloßen Hemd, hinausgelaufen.«

»Das ist es ja eben . . .«

»Wann schläft er eigentlich?«

Pjotr ächzte laut beim Stiefelanziehen. Seine Frau lächelte, ihn von der Seite anblickend, und sagte:

»Er ist zwar bucklig, hat aber doch was Angenehmes, mehr als Alexej . . .«

Der junge Ehemann ächzte nochmals, aber leiser . . .

. . . Jeden Morgen, beim Sonnenaufgang, wenn der Schäfer seine Herde sammelte und dabei schwermütig auf der langen Flöte aus Birkenrinde blies, begann jenseits des Flusses das Hämmern der Äxte, und die Städter, die ihre Kühe und Schafe auf die Straße hinaustrieben, sagten spöttisch zueinander:

»Kaum daß der Morgen graut, geht es schon los, hört ihr? Die Habgier ist der ärgste Feind der Ruhe.«

Manchmal kam es Ilja Artamonow so vor, als habe er die träge Feindseligkeit der Stadt schon überwunden; die Driomower zogen vor ihm ehrerbietig die Mützen und hörten aufmerksam seine Erzählungen von den Fürsten Ratski an, aber stets bemerkte dabei der eine oder der andere nicht ohne Stolz:

»Bei uns sind die Herrschaften einfacher, ärmer, aber strenger als bei euch!«

Des Abends und an den Feiertagen saß er im schönen, schattigen Garten der Schenke Barskis am Ufer der Oka und sagte zu den reichen und angesehenen Bürgern von Driomow:

»Mein Unternehmen wird für euch alle von Vorteil sein.«

»Das walte Gott!« erwiderte Pomialow mit einem kurzen, hündischen Auflachen, und man war sich nicht im klaren, ob er freundlich lecken oder beißen würde. Sein verschwommenes Gesicht war teilweise in einem hanfartigen Bart verborgen, die graue Nase schnüffelte mißtrauisch überall herum, und der Blick der eichelfarbenen Augen war tückisch.

»Das walte Gott!« wiederholte er. »Wir haben zwar auch ohne dich nicht schlecht gelebt, vielleicht werden wir aber auch mit dir irgendwie leben.«

Artamonow runzelte die Stirn:

»Du sprichst zweideutig und nicht freundschaftlich.«

Barski schreit lachend:

»Er ist nun einmal so!«

Barski hat an Stelle seines Gesichts spärliche, hochrote Fleischstücke, sein ungeheurer Kopf, der Hals, die Wangen und Hände, – alles an ihm ist dicht mit grobhaarigem Bärenfell bewachsen, die Ohren sind unsichtbar, die überflüssigen Augen sind in Fettpolstern verborgen.

»Meine ganze Kraft ist in Fett übergegangen«, sagt er lachend und öffnet weit den mit stumpfen Zähnen angefüllten Rachen.

Der Stellmacher Woroponow betrachtet Artamonow mit seinen sehr hellen Augen und belehrt ihn mit klangloser Stimme:

»Man muß seine eigenen Angelegenheiten besorgen, darf aber auch die göttlichen nicht vergessen. Es heißt: ›Martha, Martha, du hast viel Sorge und Mühe; eins aber ist not!‹«

Seine hellen und gleichsam leeren Augen blickten so, als ahne Woroponow irgend etwas und als würde er sogleich durch ein ungewöhnliches Wort verblüffen. Manchmal schien er auch einen Anlauf dazu zu nehmen:

»Natürlich hat auch Christus Brot genossen, so daß Martha . . .«

»Halt,« unterbrach ihn der Lederhändler und Kirchenälteste Shitejkin, »wo willst du hinaus?«

Woroponow verstummte und bewegte seine grauen Ohren. Ilja fragte den Lederhändler:

»Verstehst du etwas von meinem Unternehmen?«

»Wozu denn?« staunte Shitejkin aufrichtig. »Das ist doch deine Sache; da mußt du sie auch verstehen, du seltsamer Kauz! Du hast deine Sache und ich die meinige.«

Artamonow trank starkes Bier und blickte durch die Bäume auf den trüben Streifen der Oka und auf die links aus dem Tannenwald und aus den Sümpfen sich zierlich als grüne Schlange hervorwindende Watarakscha. Dort, auf der Landzunge, auf dem gelben Brokat des Sandes, leuchten ölig die Holzabfälle und Hobelspäne, schimmert rot der Backstein, und inmitten des niedergetretenen Weidengesträuchs breitet sich die langgestreckte, fleischfarbene Fabrik aus, die an einen Sarg ohne Deckel erinnert. In der Sonne funkelt der mit dunklem, noch ungestrichenem Eisenblech gedeckte Schuppen, und der gelbe Rohbau des zweistöckigen Hauses scheint mit seinen in den heißen Himmel emporragenden, straff gespannten, goldenen Dachstuhlsparren wie Wachs dahinzuschmelzen. – Alexej hatte treffend bemerkt, das Haus erinnere aus der Ferne an eine Harfe. Alexej lebt dort, in einiger Entfernung von den Burschen und Mädchen der Stadt; es ist schwer, mit ihm auszukommen, er ist zänkisch und jähzornig. Pjotr ist schwerfälliger als er, in ihm ist etwas Trübes; er begreift noch nicht, was alles ein kühner Mensch vollbringen kann.

Über Artamonows Gesicht gleitet ein Schatten, er blickt, unter den dichten Brauen lächelnd, auf die Städter. Dieses Volk ist nicht viel wert, sie bekunden in ihren Geschäften nur schwächliche Gier, echtes Draufgängertum fehlt ihnen aber.

Des Nachts, wenn die Stadt wie tot schläft, schleicht Artamonow, als wäre er ein Dieb, über das Flußufer und über Hinterhöfe in den Garten der Witwe Bajmakowa. In der warmen Luft summen die Mücken und scheinen über die Erde den appetitlichen Geruch von Gurken, Äpfeln und Dill zu verbreiten. Der Mond rollt inmitten grauer Wolken hin, der Fluß wird von Schatten liebkost, Artamonow steigt über die Hecke in den Garten und gelangt leise in den Hof. Jetzt ist er in der dunklen Scheune, aus einer Ecke empfängt ihn ängstliches Flüstern:

»Bist du unbemerkt hereingekommen?«

Er wirft die Kleider ab und brummt zornig:

»Es ist so ärgerlich, daß ich mich verstecken muß! Bin ich denn ein grüner Junge?«

»Dann mußt du dir eben keine Geliebte nehmen.«

»Ich wäre froh, wenn ich keine hätte, aber Gott hat mir eine gegeben.«

»Ach, was sprichst du, du Ketzer! Wir beide handeln gegen Gottes Willen . . .«

»Nun gut! Das kommt später dran. Ach, Uljana, was für Menschen es hier bei euch gibt . . .«

»Laß das, gräme dich nicht«, flüsterte die Frau und tröstete ihn lange und mit wilder Gier durch ihre Liebkosungen. Nachdem sie sich ausgeruht hatte, erzählte sie ihm eingehend von den Leuten: wer zu fürchten wäre, wer klug und wer ehrlos wäre, und wer übriges Geld hätte.

»Pomialow und Woroponow wissen, daß du viel Holz brauchst und wollen die Wälder in der Umgegend zusammenkaufen, um dich an die Wand zu drücken.«

»Sie kommen zu spät, der Fürst hat die Wälder mir verkauft.«

Um sie herum und über ihnen herrscht undurchdringlich schwarzes Dunkel, sie sehen nicht einmal ihre Augen und flüstern tonlos. Es riecht nach Heu und nach Birkenbesen; aus dem Keller steigt angenehme, feuchte Kühle auf. Schwere, wie aus Blei gegossene Stille umspannt die Stadt, manchmal huscht eine Ratte vorbei, junge Mäuse piepsen, und die zerbrochene Glocke des Nikolausturmes wirft stündlich traurige, krankhaft zitternde Töne in das Dunkel.

»Wie stattlich du bist!« ruft Artamonow entzückt aus und streichelt den heißen, üppigen Körper der Frau. »Und so kräftig! Du hast wohl wenig Kinder geboren?«

»Außer Natalia waren es zwei. Sie waren zu schwach und sind gestorben.«

»Das bedeutet, daß dein Mann nicht viel wert war . . .«

»Du wirst es nicht glauben,« flüstert sie, »ich wußte ja vor dir garnicht, was Liebe ist. Meine Freundinnen und die Frauen erzählten manchmal davon, ich glaubte es aber nicht, ich dachte: sie lügen aus Scham, und legte mich wie auf die Folter ins Bett. Ich betete zu Gott: er sollte einschlafen und mich nicht anrühren! Er war ein guter Mensch, still und klug, Gott hatte ihm aber kein Talent für die Liebe gegeben.«

Ihre Worte erregen und überraschen Artamonow. Er brummt, ihre üppigen Brüste streichelnd:

»Ich wußte gar nicht, daß sowas vorkommt. Ich dachte: jeder Mann sei dem Weibe angenehm.«

Er fühlt sich stärker und klüger neben dieser Frau, die bei Tag stets die gleichmäßig ruhige und vernünftige Hausfrau ist und die in der Stadt wegen ihres Verstandes und weil sie lesen und schreiben kann, geachtet wird. Einmal sagte er, durch ihre mädchenhaften Liebkosungen entzückt:

»Ich verstehe, was für Unannehmlichkeiten du dich aussetzt. Wir haben einen Fehler begangen, indem wir unsere Kinder miteinander verheirateten: ich hätte lieber dich nehmen sollen . . .«

»Du hast gute Kinder, und es wäre weiter kein Unglück, wenn sie etwas über uns erfahren sollten. Aber wenn die Stadt davon Wind bekäme . . .« Sie zitterte am ganzen Leib.

»Was macht denn das?« flüsterte Ilja.

Einmal fragte sie neugierig:

»Sag einmal: du hast ja einen Menschen umgebracht, träumst du nicht von ihm?«

Ilja antwortete, sich gleichzeitig den Bart kratzend:

»Nein, ich schlafe fest, ich träume nicht. Wovon sollte ich auch träumen? Ich habe nicht einmal gesehen, wer er war. Man schlug mich so, daß ich mich mit Mühe auf den Beinen hielt; da schleuderte ich irgendwem die Wurfkugel an den Schädel, dann einem andern, – der dritte lief davon.«

Er seufzte und brummte gekränkt:

»Man wird von irgendwelchen Dummköpfen überfallen und muß sich ihretwegen vor Gott verantworten.«

Er lag einige Minuten schweigend da.

»Schläfst du?«

»Nein.«

»Geh, es wird schon Tag! Willst du jetzt auf den Bauplatz? Ach, du kommst ja durch mich ganz von Kräften . . .«

»Habe keine Angst, es hat für die Werktage genügt, da wird es auch für den Feiertag reichen«, prahlte Artamonow und kleidete sich an.

Artamonow geht durch die Kühle und durch das perlmutterfarbene Dunkel des Frühmorgens; er schreitet über seinen Grund, hält die Hände auf dem Rücken unter dem Kaftan, der wie ein Hahnenschwanz in die Höhe steht, zerstampft mit dem schweren Fuß Holzstücke und Hobelspäne und denkt:

»Man muß Aljoscha sich austoben lassen, er soll sich die Hörner ablaufen. Ein schwieriger, aber guter Kerl.«

Er legt sich auf den Sand oder auf einen Spänehaufen und schläft rasch ein. Auf dem grünlichen Himmel entbrennt freudig das Morgenrot; jetzt rollt die Sonne prahlend den Pfauenschwanz ihrer Strahlen über der Erde auseinander und folgt ihm dann selbst in goldenem Schimmer nach; die Arbeiter sind erwacht und warnen einander beim Anblick des ausgestreckten großen Körpers:

»Pst! Hier! . . .«

Tichon Wialow mit den breiten Backenknochen hält einen Eisenspaten auf der Schulter und sieht Artamonow mit den blinzelnden Augen so an, als wollte er über ihn hinübersteigen, als traute er sich aber nicht recht.

Die ameisenartige Geschäftigkeit der Leute, das Schreien und Klopfen weckten den großen Mann nicht, der mit zum Himmel gewandtem Gesicht wie eine stumpfe Säge schnarchte. Der Erdarbeiter geht weg und sieht sich blinzelnd um, als hätte ihn jemand auf den Kopf geschlagen. Alexej tritt in weißem Leinenhemd und blauen Hosen aus dem Hause; leise, als schwebte er durch die Luft, geht er baden und weicht vorsichtig dem Onkel aus, da er ihn durch das leise Knistern der Holzspäne unter den Füßen zu wecken fürchtet. Nikita ist schon beim Morgengrauen in den Wald gefahren; er bringt von dort fast täglich etwa zwei Fuhren Humuserde mit, die er auf der für den Garten freigemachten Stelle ablädt; er hat schon Birken, Ebereschen, Ahorn- und Faulbäume gesetzt und gräbt jetzt in den Sand tiefe Gruben, die er mit Dünger, Schlamm und Lehm füllt; das ist für die Obstbäume. An den Feiertagen hilft ihm Tichon Wialow bei der Arbeit.

»Gärten anlegen ist eine harmlose Sache«, sagt er.

Pjotr Artamonow geht, sich am Ohr zupfend, herum und beaufsichtigt die Arbeit. Die Säge schnarcht, sich mit Behagen ins Holz hineinfressend, die Hobel pfeifen und kratzen, die Äxte hauen dröhnend, man hört das appetitliche Aufklatschen des Kalkes und das Schluchzen des Schleifsteins, der die Axtschneide beleckt. Die Schreiner singen beim Heben der Balken »Das Lied von der Eiche«, und eine junge Stimme läßt laut ertönen:

»Sachari kam zur Base,
Schlug Marja auf die Nase . . .«

»Sie singen rohe Lieder«, sagt Pjotr zum Erdarbeiter Wialow. Der antwortet, bis zu den Knien im Sande stehend:

»Es bleibt sich gleich, was man singt . . .«

»Wieso denn?«

»Worte haben keine Seele.«

»Ein seltsamer Mensch«, dachte Pjotr, sich wegwendend, und erinnerte sich, daß Wialow, als der Vater ihm die Stelle eines Arbeiteraufsehers anbot, auf seine Füße sah und antwortete:

»Nein, ich tauge nicht für so etwas; ich verstehe es nicht, den Leuten zu befehlen. Stell' mich lieber als Hausknecht an . . .«

Der Vater hatte über ihn tüchtig geschimpft.

. . . Es kam der kalte, nasse Herbst, die Gärten bedeckten sich mit Rost, auch die an schwarzes Eisen erinnernden Wälder wiesen fuchsrote Rostflecken auf, es pfiff ein feuchter Wind und jagte die blassen, zertretenen Holzspäne in den Fluß. Jeden Morgen fuhren mit Flachs beladene, von zottigen Pferden gezogene Wagen vor dem Schuppen vor. Pjotr übernahm die Ware und paßte besorgt auf, daß diese finsteren, bärtigen Bauern keinen »schwitzenden« – des Gewichtes wegen mit Wasser benetzten – Flachs unterschoben und die einfache Ware nicht zum Preise der »langfaserigen« verkauften. Er kam mit den Bauern schwer aus; der ungeduldige Alexej schimpfte wütend mit ihnen herum. Der Vater war nach Moskau gereist, gleich darauf begab sich auch die Schwiegermutter, angeblich zur Wallfahrt, dorthin. Des Abends, beim Tee und Abendbrot beklagte sich Alexej zornig:

»Es ist langweilig, hier zu leben. Ich liebe die hiesigen Leute nicht . . .«

Dadurch brachte er Pjotr immer auf.

»Es liegt wohl auch an dir! Du suchst mit allen Händel, du prahlst gerne.«

»Ich habe Grund dazu, – da prahle ich eben.«

Er schüttelte die Locken, streckte die Schultern, hob die Brust hoch und betrachtete mit frech blinzelnden Augen die Brüder und die Schwägerin. Natalia wich ihm aus, als fürchtete sie etwas an ihm, und sprach zurückhaltend mit ihm.

Am Nachmittag, wenn ihr Mann und Alexej wieder an die Arbeit gingen, begab sie sich in Nikitas kleines, mönchisches Zimmer und setzte sich, eine Näharbeit in den Händen, in den Sessel, den der Bucklige für sie kunstvoll aus Birkenholz angefertigt hatte. Nikita hatte die Kontorarbeiten übernommen und schrieb und rechnete von früh bis spät; wenn aber Natalia erschien, unterbrach er seine Tätigkeit und erzählte ihr davon, wie die Fürsten lebten, und was für Blumen in ihren Treibhäusern wuchsen. Seine hohe Mädchenstimme klang gespannt und freundlich, und seine blauen Augen blickten zum Fenster hinaus, an dem Gesicht der jungen Frau vorbei, die, über die Näharbeit gebeugt, so versonnen schwieg, wie ein Mensch, der mit sich allein ist. Sie saßen eine bis zwei Stunden da, fast ohne einander anzublicken; ab und zu umfing aber Nikita die Schwägerin vorsichtig und wie unwillkürlich mit der freundlichen Wärme seiner blauen Augen, und seine großen Hundeohren röteten sich merklich. Sein gleitender Blick veranlaßte manchmal die junge Frau, den Schwager auch anzusehen und ihm ein gnädiges Lächeln zu schenken, das seltsam war; manchmal fühlte Nikita darin ein Erraten dessen, was ihn bewegte, manchmal erschien ihm dieses Lächeln aber gekränkt und kränkend, und er senkte im Schuldgefühl die Augen.

Vor dem Fenster rauscht und plätschert der Regen und wäscht die verwelkten Farben des Sommers weg, man hört Alexej schreien, das kürzlich in einer Hofecke festgekettete Bärenjunge brüllen und die Arbeiterinnen in kurzen Schlägen den Flachs schwingen. Alexej tritt lärmend ein; er ist naß und schmutzig, seine Mütze sitzt ihm im Nacken, und doch erinnert er an einen Frühlingstag. Er erzählt lachend, daß Tichon Wialow sich mit der Axt einen Finger abgehackt habe.

»Er tut, als sei es zufällig geschehen, und dabei ist es eine klare Sache: er fürchtet sich vor dem Militär. Ich würde aber gerne Soldat werden, wenn ich nur von hier wegkäme.« Und er brummt finster wie das Bärenjunge:

»Ich bin zu den Teufeln auf den Hinterhof geraten . . .«

Darauf streckt er gebieterisch die Hand aus:

»Gib mir fünfzehn Kopeken, ich gehe in die Stadt.«

»Wozu?«

»Das ist nicht deine Sache.«

Er trällert im Weggehen:

»Das Mädel geht den Liebsten suchen,
Es bringt ihm eine Menge Kuchen . . .«

»Ach, er wird so lange herumspielen, bis es zu etwas Bösem kommt!« sagt Natalia. »Meine Freundinnen sehen ihn oft mit Olgunka Orlowa, und die ist noch nicht fünfzehn, hat keine Mutter, und ihr Vater ist ein Trunkenbold . . .«

Es mißfällt Nikita, wie sie das sagt; er hört in ihren Worten ein Übermaß von Traurigkeit und Unruhe und etwas wie Neid.

Der Bucklige blickt schweigend zum Fenster hinaus, in der nassen Luft wiegen sich die Tatzen der Fichten und schütteln von den grünen Nadeln quecksilberne Regentropfen herab. Er hat diese Fichten gepflanzt; alle Bäume um das Haus herum sind von seinen Händen eingesetzt worden . . .

Pjotr tritt müde und mürrisch ein.

»Es ist Zeit, Tee zu trinken, Natalia.«

»Es ist noch früh.«

»Ich sage, es ist Zeit!« schreit er, und als seine Frau draußen ist, setzt er sich auf ihren Platz und brummt und klagt:

»Der Vater hat mir das ganze Werk auf die Schultern geladen. Ich drehe mich wie ein Rad und weiß nicht, wohin es mich treibt. Wenn bei mir aber nicht alles klappt, krieg' ich es von ihm . . .«

Nikita spricht zu ihm sanft und vorsichtig von Alexej und von der kleinen Orlowa; der Bruder wehrt aber mit der Hand ab, sichtlich ohne auf seine Worte zu hören.

»Ich habe keine Zeit, mich mit Mädchen abzugeben! Ich sehe sogar meine Frau nur des Nachts, halb im Schlaf, bei Tag bin ich blind wie eine Eule. Du hast Dummheiten im Kopf . . .«

Und er zupft sich am Ohr und fügt vorsichtig hinzu:

»So ein Werk ist nichts für unsereinen. Wir sollten lieber in die Steppe ziehen, dort Grund und Boden kaufen und wie Bauern leben . . . Es wäre weniger Lärm und mehr Nutzen dabei . . .«

Ilja Artamonow kehrte fröhlich und verjüngt nach Hause zurück. Er hatte sich den Bart stutzen lassen und seine Schultern gingen noch mehr in die Breite, seine Augen leuchteten heller, und seine ganze Person sah wie ein neu geschmiedeter Pflug aus. Er machte sich's wie ein gnädiger Herr auf dem Sofa bequem und sagte:

»Unsere Arbeit muß im Soldatenschritt marschieren. Es wird für euch, für eure Kinder und Enkel genug zu tun geben. Für dreihundert Jahre reicht es! Von uns, von den Artamonows, muß eine große Verbesserung der ganzen Weltwirtschaft ausgehen!«

Er betastete Natalia mit den Augen und rief ihr zu:

»Wirst du aber dick, Natalia! Wenn's ein Junge wird, schenk' ich dir was Schönes!«

Abends, beim Schlafengehen, sagte Natalia zu ihrem Mann:

»Es ist schön, wenn der Vater lustig ist.«

Er schielte zu ihr hinüber und erwiderte unfreundlich:

»Es muß wohl schön sein, er hat dir ja ein Geschenk versprochen.«

Aber nach zwei, drei Wochen wurde Artamonow still und nachdenklich; Natalia fragte Nikita:

»Weswegen zürnt der Vater?«

»Ich weiß nicht. Man wird aus ihm nicht klug.«

An demselben Abend beim Tee erklärte Alexej plötzlich klipp und klar:

»Väterchen, gib mich zum Militär!«

»W–wohin?« fragte Ilja stotternd.

»Ich mag nicht länger hier leben . . .«

»Geht hinaus!« befahl Artamonow den Kindern. Als aber auch Alexej zur Tür ging, rief er ihm zu:

»Halt, Aljoschka!«

Er hielt die Hände auf dem Rücken verschränkt und betrachtete lange den Burschen mit zuckenden Augenbrauen, dann sagte er:

»Und ich glaubte, ich hätte an dir was Besonderes!«

»Ich kann mich hier nicht einleben.«

»Das ist nicht wahr. Dein richtiger Platz ist hier. Deine Mutter hat dich mir zur freien Verfügung übergeben, geh!«

Alexej tat einen Schritt, als wäre er gefesselt, der Onkel packte ihn aber bei der Schulter:

»Man müßte mit dir anders reden. Mein Vater hat mit mir mit der Faust gesprochen. Geh!«

Dann rief er ihn nochmals zurück und fügte mit Nachdruck hinzu:

»Du sollst etwas Großes werden, verstanden? Ich will von dir in Zukunft keinen Sterbenslaut mehr hören . . .«

Als er allein war, stand er, den Bart in der Faust zusammenpressend, lange am Fenster und sah zu, wie der nasse, graue Schnee zu Boden fiel. Als es aber draußen dunkel wie in einem Keller wurde, ging er in die Stadt. Das Tor der Bajmakowa war schon geschlossen. Er klopfte ans Fenster. Uljana öffnete ihm selbst und fragte ärgerlich:

»Wann kommst du denn eigentlich?«

Er trat, ohne zu antworten und ohne sich auszukleiden, ins Zimmer, warf seine Mütze auf die Erde, setzte sich an den Tisch, stützte sich auf die Ellbogen, vergrub die Finger in den Bart und erzählte von Alexej:

»Er ist mir fremd. Meine Schwester hat sich mit dem gnädigen Herrn abgegeben. Das zeigt sich nun.«

Uljana sah nach, ob die Fensterläden dicht geschlossen waren und löschte das Licht. Nur in der Ecke vor den Heiligenbildern leuchtete es schwach aus dem blauen Lämpchen im Silbergestell.

»Verheirate ihn bald, dann bindest du ihn«, sagte sie.

»Ja, das wäre nötig. Das ist aber noch nicht alles. Pjotr hat gar nichts Forsches, das ist das Unglück! Ohne Courage kann man aber weder gebären noch töten. Er arbeitet, als wäre es nicht für sich selbst, sondern für den gnädigen Herrn, er ist noch immer der Leibeigene, er fühlt die Freiheit nicht, verstehst du? Ich spreche nicht von Nikita: der ist ein armer Kerl und hat nur Gärten und Blumen im Sinn. Ich erwartete, Alexej würde sich der Sache richtig annehmen.«

Die Bajmakowa beruhigte ihn:

»Du regst dich zu früh auf. Warte, bis das Rad sich flotter dreht, dann reißt es alle mit, und sie kommen in Schwung.«

Sie unterhielten sich bis zur Mitternacht Seite an Seite in der warmen Stille des Zimmers, in dessen Ecke die trübe Wolke bläulichen Lichtes wogte und die schüchterne Feuerblume zitterte. Bei seinen Klagen über den Mangel an geschäftlichem Schneid bei den Kindern vergaß Artamonow auch die Städter nicht:

»Sie sind engherzige Menschen.«

»Man liebt dich nicht, weil du Erfolg hast. Wir Frauen lieben euch deswegen, Männern aber ist fremder Erfolg ein Dorn im Auge.«

Uljana Bajmakowa verstand zu trösten und zu beruhigen. Ilja Artamonow räusperte sich dagegen nur unwillig, als sie ihm sagte:

»Ich fürchte nur eines wie den Tod: von dir schwanger zu werden . . .«

»In Moskau gibt es noch zu tun, da brennt alles lichterloh!« fuhr er fort, erhob sich und umfaßte sie. »Ach, wärest du doch ein Mann . . .«

»Leb wohl, mein Trauter, geh!«

Er küßte sie innig und ging . . .

. . . In der Butterwoche brachte die Jerdanskaja Alexej zerlumpt, verprügelt und besinnungslos in einem Schlitten aus der Stadt nach Hause. Sie und Nikita rieben seinen Körper lange Zeit mit geriebenem Meerrettich und mit Sprit. Er stöhnte nur und sprach kein Wort. Artamonow fuhr wie ein wildes Tier im Zimmer herum, krempelte sich die Hemdärmel auf, ließ sie wieder herunter und knirschte mit den Zähnen. Als Alexej aber zu sich kam, brüllte er ihn mit geballten Fäusten an:

»Wer hat es getan? Sprich!«

Alexej öffnete kläglich sein böses, verschwollenes Auge und krächzte, Blut spuckend und nach Atem ringend:

»Gebt mir den Gnadenstoß . . .«

Die erschrockene Natalia weinte laut, der Schwiegervater stampfte mit dem Fuß auf und schrie sie an:

»Still! Hinaus!«

Alexej packte seinen Kopf mit den Händen, als wollte er ihn abreißen und stöhnte.

Dann warf er sich mit ausgebreiteten Armen auf die Seite und erstarrte mit offenem, blutigem, schnarchendem Mund; auf dem Tisch beim Bett flimmerte das Licht, über den verunstalteten Körper krochen Schatten, und Alexej schien immer schwärzer und verschwollener zu werden. Zu seinen Füßen standen schweigend und bedrückt die Brüder, der Vater schritt durch das Zimmer und fragte jemanden:

»Ist es denn möglich, daß er nicht am Leben bleibt, he?«

Nach acht Tagen stand Alexej aber auf, er hustete, hatte Auswurf und spuckte Blut; er ging oft ins Dampfbad und trank gepfefferten Branntwein; in seinen Augen glühte ein düsteres, dunkles Feuer, was sie noch verschönte. Er selbst wollte nicht sagen, wer ihn verprügelt hatte. Die Jerdanskaja brachte jedoch in Erfahrung, daß ihn Stepan Barski, zwei Feuerwehrleute und ein Mordwine, Woroponows Hausknecht, so zugerichtet hatten. Als Artamonow Alexej fragte, ob das stimme, antwortete er:

»Ich weiß nicht.«

»Du lügst!«

»Ich habe es nicht gesehen; ich glaube, sie haben mir von rückwärts einen Kaftan oder sonst irgend was über den Kopf geworfen.«

»Du verbirgst irgend etwas«, meinte Artamonow. Alexej sah ihm mit böse flackernden Augen ins Gesicht und sagte:

»Ich werde schon wieder gesund werden.«

»Iß mehr!« riet Artamonow und brummte sich in den Bart:

»Dafür sollte man ihnen den roten Hahn aufs Dach setzen und ihnen die Pfoten braten!«

Er behandelte Alexej noch aufmerksamer und in seiner rauhen Art freundlicher. Er stellte seine eigene Arbeit zur Schau und verbarg nicht die Absicht, die Kinder durch seine Leidenschaft zum Schaffen zu begeistern.

»Macht alles, habt vor nichts Scheu!« belehrte er sie, tat vieles, was er nicht zu tun brauchte und legte bei allem die aufmerksame Geschicklichkeit eines Tieres an den Tag. Das erlaubte ihm genau festzustellen, wo der Widerstand seiner Kraft gegenüber am hartnäckigsten war und wie man ihn am leichtesten überwinden konnte.

Die Schwangerschaft der Schwiegertochter zog sich unnatürlich in die Länge, und als Natalia nach zwei qualvollen Tagen am dritten ein Mädchen gebar, sagte er betrübt:

»Nun, das will ja nichts heißen . . .«

»Danke Gott für die Gnade,« sagte Uljana streng. »Heute ist der Tag der flachstragenden Jelena.«

»Stimmt das auch?«

Er griff nach dem Kalender, sah hinein und freute sich wie ein Kind:

»Führe mich zu meiner Tochter!«

Er legte der Schwiegertochter ein Rubinenohrgehänge und fünf Dukaten auf die Brust und rief aus:

»Da hast du! Wenn es auch kein Junge geworden ist, – mir ist es doch recht!«

Und er fragte Pjotr:

»Nun, was ist, du Fischblut? Freust du dich? Ich hab' mich so gefreut, als du geboren wurdest!«

Pjotr blickte ängstlich in das blutleere, gequälte, fast fremde Gesicht seiner Frau; ihre müden Augen lagen tief in schwarzen Höhlen und blickten von dort aus so auf Menschen und Dinge, als erinnerten sie sich an längst Vergessenes; sie beleckte, langsam die Zunge bewegend, die zerbissenen Lippen.

»Warum schweigt sie?« fragte er die Schwiegermutter.

»Sie hat lange genug geschrien«, erklärte Uljana und stieß ihn aus dem Zimmer hinaus.

Zweimal vierundzwanzig Stunden hatte er bei Tag und bei Nacht das Wehklagen seiner Frau angehört; zuerst hatte er sie bedauert und hatte befürchtet, daß sie sterben würde, dann wurde er durch ihr Schreien betäubt und durch den Trubel im Hause abgestumpft und war nun zu müde, um zu fürchten und zu bedauern. Er hatte nur das Bestreben, möglichst weit fortzugehen, wohin das Jammern der Frau nicht drang; es gelang ihm jedoch nicht, dem zu entgehen, das Kreischen erklang irgendwo mitten in seinem Kopf und erregte ungewöhnliche Gedanken. Und überall, wo er hingehen mochte, sah er Nikita mit einer Axt oder mit einem eisernen Spaten in Händen: der Bucklige hackte und zimmerte etwas zurecht, grub Löcher und lief in der lautlosen Art eines Maulwurfs irgendwohin; er schien sich im Kreise zu bewegen, denn man stieß immer auf ihn.

»Sie wird vielleicht gar nicht niederkommen«, sagte Pjotr zu seinem Bruder. Der Bucklige versenkte den Spaten in den Sand und fragte:

»Was meint die Hebamme?«

»Sie tröstet und verspricht. Warum zitterst du?«

»Ich habe Zahnschmerzen.«

Am Abend nach der Niederkunft saß er mit Nikita und Tichon auf den Stufen des Hauseinganges und erzählte, nachdenklich lächelnd:

»Meine Schwiegermutter legte mir das Kind in den Arm, ich fühlte vor Freude gar kein Gewicht und hätte meine Tochter fast zur Zimmerdecke hinaufgeschleudert. Es ist schwer zu begreifen: es ist etwas so Kleines und verursacht solche ungeheuren Qualen.«

Tichon Wialow kratzte sich die Backen und sagte ruhig, wie immer:

»Alle Menschenqualen entstehen durch etwas Kleines.«

»Wieso denn?« fragte Nikita streng. Der Hausknecht antwortete, gleichgültig gähnend:

»Ja, es ist nun schon mal so . . .«

Aus dem Hause wurde zum Abendbrot gerufen.

Das Kind war groß und schwer zur Welt gekommen, starb aber nach fünf Monaten an einer Kohlengasvergiftung; auch die Mutter wäre beinahe gestorben, da auch sie etwas von der Vergiftung abbekam.

»Nun, laß nur«, tröstete der Vater Pjotr auf dem Kirchhof. »Sie wird wieder gebären. Und wir haben jetzt ein eigenes Grab hier, das heißt, wir haben unseren Anker hier tief versenkt. Du hast das, was dir gehört bei dir und unter dir, auf der Erde und unter der Erde, – das gibt dem Menschen festen Halt!«

Pjotr nickte und sah seine Frau an; mit plump gebeugtem Rücken blickte sie sich vor die Füße, auf den kleinen Hügel, auf den Nikita ganz vertieft mit dem Spaten losschlug. Sie wischte sich mit den Fingern so krampfhaft schnell die Tränen von den Wangen, als fürchtete sie, sich an ihrer verschwollenen, roten Nase zu verbrennen und flüsterte:

»O Gott, o Gott . . .«

Alexej ging zwischen den Kreuzen im Kreise herum und las die Aufschriften; er war abgemagert und sah älter aus, als er war. Sein Gesicht war nicht das eines Bauern und erschien durch die darauf sprießenden dunklen Haare verbrannt und rußig, die dreisten, tief unter schwarzen Brauen liegenden Augen blickten alle unfreundlich an; er sprach mit etwas dumpfer Stimme von oben herab und wie mit beabsichtigter Undeutlichkeit. Wenn er aber gefragt wurde, kreischte er:

»Du verstehst mich nicht?«

Und schimpfte. In sein Verhältnis zu den Brüdern kam etwas Häßliches, Höhnisches. Er schrie Natalia wie eine Arbeiterin an, und wenn Nikita vorwurfsvoll zu ihm sagte:

»Du beleidigst Natascha grundlos«, erwiderte er:

»Ich bin eben ein kranker Mensch.«

»Sie ist ja so sanft.«

»Dann soll sie's nur ertragen.«

Von seiner Krankheit sprach Alexej oft und fast immer mit Stolz, als wäre sie ein Vorzug, der ihn von den anderen Menschen unterschied.

Als er mit dem Onkel vom Kirchhof zurückkehrte, sagte er zu ihm:

»Wir müßten uns unseren eigenen Kirchhof anlegen. Es ist selbst für einen Toten unschicklich, mit diesem Volk beisammenzuliegen.«

Artamonow schmunzelte.

»Wir werden das schon einrichten. Wir werden alles haben: eine Kirche, einen Kirchhof, eine Schule, ein Krankenhaus! Warte nur ab!«

Als sie über die Watarakschabrücke gingen, stand dort, sich am Geländer haltend, jemand, der wie ein Bettler aussah. Er trug einen fuchsroten, schäbigen Kaftan und sah aus wie ein durch Trinken herabgekommener Beamter. In seinem schwammigen, mit grauen, rasierten Borsten bewachsenen Gesicht bewegten sich behaarte Lippen und ließen die Reste schwarzer Zähne sehen; die nassen Äuglein leuchteten nur trübe. Artamonow wandte sich ab und spuckte aus; als er aber bemerkte, daß Alexej diesem scheußlichen Menschen ungewöhnlich freundlich zunickte, fragte er:

»Wer ist denn das?«

»Der Uhrmacher Orlow.«

»Man sieht, daß er etwas Besonderes ist!«

»Er ist klug«, sagte Alexej mit Nachdruck. »Man hat ihn zu Tode gehetzt.«

Artamonow schielte zu seinem Neffen hinüber und schwieg.

Es kam ein trockener und heißer Sommer. Jenseits der Oka brannten die Wälder, bei Tag schwebte über der Erde eine opalfarbene Wolke beißenden Rauches, des Nachts war der kahle Mond unangenehm rot; die Sterne, die im Nebel ihre Strahlen verloren hatten, sahen wie Köpfe von Messingnägeln aus; das den trüben Himmel widerspiegelnde Flußwasser erinnerte an Schwaden kalten und dichten unterirdischen Rauches.

Nach dem Abendbrot tranken die Artamonows, atemlos vor Hitze, im Garten, im Halbring der Ahorne, Tee. Die Bäume entwickelten sich gut, doch konnten die üppigen Kronen mit ihren durchbrochenen Blättern in dieser dunstigen Nacht keinen Schatten spenden. Die Grillen zirpten, an Blechspielzeug erinnernde Käfer brummten, der Samowar summte. Natalia hatte die oberen Knöpfe ihrer Jacke aufgemacht und schenkte schweigend Tee ein. Die Haut ihrer Brust hatte den warmen Ton von Butter; der Bucklige saß mit gesenktem Kopf da und hobelte Stangen für Vogelkäfige zurecht. Pjotr zupfte sich am Ohrläppchen und sagte leise:

»Es ist gefährlich, die Menschen zu reizen, der Vater reizt sie aber immer.«

Alexej blickte mit trockenem Hüsteln in der Richtung der Stadt und schien mit vorgestrecktem Hals auf etwas zu warten.

In der Stadt ertönte die Glocke.

»Ist das die Sturmglocke? Feuer?« fragte Alexej, mit der Handfläche die Stirn berührend und aufspringend.

»Was hast du? Der Glöckner läßt ja nur die Uhr schlagen.«

Alexej erhob sich und ging, Nikita sagte aber leise nach einem Schweigen:

»Er träumt immer von Feuer.«

»Er ist böse geworden«, bemerkte Natalia vorsichtig. »Dabei war doch früher soviel Heiterkeit in ihm!«

Pjotr machte, wie es einem Älteren ziemt, beiden in eindringlicher Weise Vorwürfe:

»Ihr seht ihn beide so dumm an; euer Mitleid beleidigt ihn. Komm schlafen, Natalia.«

Sie gingen. Der Bucklige blickte ihnen nach, erhob sich gleichfalls, ging in die Laube, wo er auf Heu schlief und setzte sich auf die Schwelle. Die Laube stand auf einem Rasenhügel. Man sah von hier aus über dem Zaun hin die dunkle Häuserherde der Stadt, die von den Glockentürmen und dem Feuerwehrturm bewacht wurde. Die Dienstboten räumten den Tisch ab, die Tassen klapperten. Am Zaun kamen Weber vorbei, einer trug ein Zugnetz, ein anderer klapperte mit einem eisernen Eimer, ein dritter schlug aus einem Zündstein Feuer und bemühte sich, Zunder zum Brennen zu bringen, um seine Pfeife anzurauchen. Ein Hund knurrte. Tichon Wialows ruhige Stimme unterbrach die Stille:

»Wer kommt da?«

Die Stille war straff wie ein Trommelleder über die Erde gespannt, so daß selbst das leise Knirschen des Sandes unter den Füßen der Weber unangenehm deutlich wiederhallte. Nikita gefiel diese Lautlosigkeit der Nächte sehr. Je vollkommener sie war, desto mehr richtete er die ganze Kraft seiner Phantasie auf Natalia, desto heller leuchteten die lieben, stets etwas erschrockenen oder erstaunten Augen. Und er konnte sich leicht verschiedene, für ihn glückliche Ereignisse ersinnen: jetzt hat er einen kostbaren Schatz gefunden und übergibt ihn Pjotr, und der tritt ihm Natalia ab. Oder: sie werden von Räubern überfallen, und er begeht solche außergewöhnliche Heldentaten, daß Vater und Bruder ihm zum Lohn von selbst Natalia überlassen. Es bricht eine Seuche aus und von der ganzen Familie bleiben nur zwei am Leben: er selbst und Natalia! Dann wollte er ihr zeigen, daß ihr Glück nur in seiner Seele verborgen lag.

Es war schon nach Mitternacht, als er bemerkte, daß über der Herde der Stadthäuser aus den regungslosen Gärten noch eine Wolke erstand und langsam zum dunkelgrauen, trüben Himmel emporstieg; eine Minute später war sie von unten hochrot erleuchtet. Er begriff, daß das eine Feuersbrunst war, und lief zum Hause; da sah er, wie Alexej rasch über eine Leiter auf das Dach des Schuppens stieg.

»Feuer!« schrie Nikita. Alexej antwortete, immer höher steigend:

»Ich weiß schon. Was willst du denn?«

»Du hast es erwartet«, erinnerte sich der Bucklige und blieb erstaunt mitten im Hofe stehen.

»Und wenn ich es erwartet habe? Was besagt das? Bei einer solchen Dürre gibt es immer Feuer.«

»Wir müssen die Weber wecken . . .«

Tichon hatte sie aber schon geweckt, und sie liefen einer hinter dem andern mit lustigem Geschrei zum Flusse.

»Komm zu mir herauf«, forderte Alexej, oben auf dem Dachfirst sitzend, ihn auf. Der Bucklige kam gehorsam nach und sagte:

»Wenn nur Natascha nicht erschrickt.«

»Fürchtest du nicht, daß Pjotr dir mal den Buckel vollhaut?«

»Wofür?« fragte Nikita leise und vernahm:

»Sieh dir die Augen nicht nach seiner Frau aus?«

Der Bucklige konnte lange kein Wort erwidern. Ihm schien, er gleite vom Dach und müsse sofort fallen und auf die Erde aufschlagen.

»Was redest du? Überlege doch«, murmelte er.

»Nun, schon gut! Ich sehe ja . . . Fürchte dich nicht«, sagte Alexej so fröhlich, wie er schon seit langem nicht war. Er blickte unter der vorgehaltenen Handfläche auf die dicken Feuerzungen, die sich schaukelten, die Stille durchbrachen, sie dumpf erdröhnen ließen, und erzählte lebhaft:

»Es brennt bei Barski. Sie haben an die zwanzig Fässer Teer auf dem Hof. Das Feuer erreicht die Nachbarn nicht, die Gärten halten es auf.«

»Wir müssen hinlaufen«, denkt Nikita und blickt in die Ferne, in das vom Feuer zerrissene Dunkel. Dort, in der rötlichen Luft standen wie aus Eisen gehämmerte Bäume, über die rötliche Erde liefen geschäftig kleine, spielzeugartige Menschen, man sah auch, wie sie lange, dünne Stangen ins Feuer schoben.

»Es brennt schön«, lobte Alexej.

»Ich gehe ins Kloster«, dachte der Bucklige.

Auf dem Hof brummte Pjotr schläfrig und zornig; als Antwort ertönten träge Tichon Wialows Worte und wie in einem Rahmen stand am Fenster des Hauses Natalia und bekreuzte sich.

Nikita saß so lange auf dem Dach, bis auf der Feuerstätte ein Kohlenhaufen goldig aufleuchtete und die schwarzen Säulen der Ofenrohre umfing. Dann stieg er auf die Erde hinab, ging aus dem Tor und stieß mit dem nassen und rußigen Vater zusammen, der ohne Mütze, im zerrissenen Wams daherkam.

»Wohin?« schrie der Vater mit außergewöhnlicher Wut und stieß Nikita in den Hof zurück. Als er aber Alexejs weiße Gestalt auf dem Dach erblickte, befahl er noch wütender:

»Was hockst du da oben? Steig herab! Du mußt deine Gesundheit schonen, Dummkopf . . .«

Nikita ging in den Garten, setzte sich dort vor dem Fenster des Vaters auf eine Bank und hörte bald darauf, wie der Vater mit Gewalt die Tür zuschlug und halblaut mit dumpfer Stimme fragte:

»Willst du dich zugrunde richten? Und Schande über mich bringen, he? Ich schlag dich tot . . .«

Alexej antwortete kreischend:

»Du hast mich selbst darauf gebracht.«

»Schweig! Danke Gott, daß jener Schuft der Sprache beraubt ist . . .«

Nikita erhob sich und ging leise, aber eilig in die Gartenecke, zur Laube.

Des Morgens erzählte der Vater beim Tee:

»Es ist Brandstiftung! Als der Schuldige wurde dieser Trunkenbold, der Uhrmacher, festgestellt. Man hat ihn verprügelt, er wird gewiß sterben. Barski hat ihn wohl zugrunde gerichtet, und er war auf seinen Sohn Stiopka böse. Es ist eine dunkle Sache!«

Alexej trank ruhig seine Milch. Nikita aber fühlte, daß ihm die Hände zitterten, und er steckte sie zwischen die Knie und preßte sie fest zusammen. Der Vater, der diese Bewegung bemerkte, fragte:

»Warum duckst du dich so?«

»Mir ist nicht wohl.«

»Euch allen ist nicht wohl. Bloß ich bin gesund . . .«

Er stieß zornig das nicht geleerte Teeglas von sich und ging.

Artamonows Werk bevölkerte sich rasch; zwei Werst von der Fabrik entfernt wurden auf den mit Ginster bedeckten Hügeln, inmitten des spärlichen Tannengehölzes kleine, niedrige Hütten ohne Höfe und Zäune erbaut, die von weitem an Bienenkörbe erinnerten. Für einsame und unverheiratete Arbeiter baute Artamonow über einem nicht zu tiefen Hohlweg, dem Bett eines ausgetrockneten Flusses, dessen Namen man vergessen hatte, eine langgestreckte Baracke mit einem einseitig geneigten Dach und mit drei Schornsteinen darauf. Die Fenster waren klein, um die Wärme zu erhalten; sie verliehen der Baracke eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Stall, und die Arbeiter benannten sie »Der Hengstpalast«.

Ilja Artamonow prahlte immer lauter, ohne aber den Hochmut der Reichen anzunehmen. Er war im Verkehr mit den Arbeitern schlicht, schmauste auf ihren Hochzeiten, taufte ihre Kinder und plauderte gern an Feiertagen mit den alten Webern; sie lehrten ihn, die Bauern zu veranlassen, den Flachs auf früheren Äckern und in abgebrannten Wäldern zu säen, was sich als sehr günstig erwies. Die alten Weber waren über das Entgegenkommen des Prinzipals entzückt und belehrten die Jugend, da sie in ihm noch den Bauer sahen, dem das Schicksal gnädig lächelte:

»Seht, wie man Geschäfte führen muß!«

Ilja Artamonow belehrte dagegen seine Kinder:

»Bauern und Arbeiter sind vernünftiger als Bürger. Die Städter haben schwaches Fleisch und einen abgenutzten Verstand; der Städter ist gierig und feige. Bei ihm ist alles kleinlich und nichts von Dauer. Die Städter können nie Maß halten; der Bauer verbleibt aber unverrückbar in den Grenzen der Wahrheit, ohne sich hin- und hertreiben zu lassen. Auch seine Wahrheit ist einfach: zum Beispiel: Gott, Brot, der Zar! Der Bauer ist in allem einfach, haltet euch an ihn! Du sprichst zu kühl mit den Arbeitern, Pjotr, und immer nur von der Arbeit, – das gehört sich nicht, man muß auch über Dummheiten zu plaudern verstehen. Man muß scherzen können: ein lustiger Mensch wird besser verstanden.«

»Ich verstehe nicht zu scherzen«, sagte Pjotr und zupfte sich gewohnheitsmäßig am Ohr.

»So lerne es. Ein Scherz ist im Augenblick erdacht und wirkt eine Stunde lang nach. Auch Alexej geht mit den Leuten ungeschickt um, er schreit immer gleich und hat an allem etwas auszusetzen . . .«

»Sie sind alle Schwindler und Faulpelze«, erwiderte Alexej herausfordernd.

Artamonow schrie ihn streng an:

»Was weißt du viel von den Menschen?« Dabei lächelte er sich aber in den Bart hinein und hielt sich, um das Lächeln zu verbergen, die Hand vor; es fiel ihm ein, wie kühn und verständig Alexej mit den Städtern über den Kirchhof gestritten hatte: die Driomower wollten Artamonows Arbeiter nicht auf ihrem Kirchhof beerdigen lassen. Man war genötigt, Pomialow einen großen Teil seines Erlengehölzes abzukaufen und einen eigenen Kirchhof anzulegen.

»Ein Kirchhof«, sann Tichon Wialow nach, als er mit Nikita die dünnen, schwächlichen Bäume wegschlug. »Wir überlegen uns die Sache nicht. Kirchhöfe sind Höfe, wo man eine Ewigkeit lang zu Gast ist. Kirchhöfe sind Häuser, Städte.«

Nikita sah, daß Wialow leicht und geschickt arbeitete und dabei mehr Verstand bewies als in seinen dunklen und stets unerwarteten Worten lag. Er fand, ebenso wie der Vater, bei jeder Sache rasch den Punkt des geringsten Widerstandes, sparte an Kraft und wirkte durch List. Doch war der Unterschied deutlich sichtbar: Der Vater packte alles mit Eifer an, während Wialow anscheinend ungern und nur aus Gnade arbeitete, wie ein Mensch, der weiß, daß er zu etwas Besserem befähigt ist. Er sprach auch ebenso: wenig, herablassend, mit Nachdruck, mit einer gewissen Lässigkeit und in Andeutungen: »Ich weiß noch sehr viel, ich könnte noch ganz andere Dinge sagen . . .«

Und immer glaubte Nikita in seinen Worten irgendwelche Andeutungen zu hören, die in ihm Ärger, Furcht und eine scharfe, unruhige Neugierde in bezug auf diesen Menschen erregten.

»Du weißt viel«, sagte er zu Wialow. Der erwiderte ohne Hast:

»Darum lebe ich auch. Es schadet nicht, daß ich viel weiß, – ich weiß es nur für mich selbst. Mein Wissen ist bei einem Geizhals im Koffer versteckt, – es ist für niemanden sichtbar, sei nur ruhig . . .«

Es war nicht zu merken, daß Tichon die Menschen nach ihren Gedanken ausfragte; er prüfte sie nur zudringlich mit den vogelartigen, blinzelnden Augen und, nachdem er die fremden Gedanken gleichsam herausgesaugt hatte, sprach er plötzlich von Dingen, die er nicht hätte wissen sollen. Manchmal wünschte Nikita, Wialow möchte sich die Zunge abbeißen, er möchte sie sich ebenso abhacken, wie er es mit seinem Finger gemacht hatte, – er hatte sich auch den Finger nicht so abgehackt, wie er es hätte tun sollen: es war der Ringfinger und nicht an der rechten, sondern an der linken Hand. Der Vater, Pjotr und alle übrigen hielten ihn für dumm, Nikita war aber anderer Ansicht. In ihm wuchs immer mehr das gemischte Gefühl von Neugierde und von Furcht diesem seltsamen Mann mit den breiten Backenknochen gegenüber. Das Gefühl der Furcht verstärkte sich besonders, als Wialow auf dem Rückwege aus dem Walde plötzlich zu Nikita sagte:

»Und du grämst dich immerzu! Du solltest es ihr doch sagen, du seltsamer Kauz! Sie wird mit dir Mitleid haben, sie scheint gut zu sein.«

Der Bucklige blieb stehen, vor Schreck erstarrte ihm das Herz. Die Füße waren wie versteinert, und er murmelte fassungslos:

»Was soll ich sagen? Wem?«

Wialow blickte ihn an und schritt weiter. Nikita packte ihn beim Hemdärmel, da stieß Tichon verächtlich seine Hand weg.

»Nun, warum heuchelst du?«

Nikita warf die im Walde ausgegrabene Birke von der Schulter auf die Erde, er wollte Tichon in das rauhe Gesicht schlagen und ihn zum Schweigen bringen, doch der blickte mit blinzelnden Augen in die Ferne und sprach ruhig, als wäre es etwas ganz Gewöhnliches:

»Und wenn sie auch nicht gut ist, kann sie sich doch dir zuliebe eine Stunde lang so stellen. Die Weiber sind neugierig, eine jede will einen andern Mann auskosten und erfahren, ob es etwas gibt, das noch süßer als Zucker ist. Braucht denn unsereiner viel? Eins, zwei – und man ist satt und gesund! Du verzehrst dich aber! Versuch' doch, es ihr zu sagen, – vielleicht ist sie einverstanden.«

Nikita glaubte aus seinen Worten ein Gefühl freundschaftlichen Mitleids herauszuhören; das kam ihm neu und fremd vor und verursachte ihm ein bitteres Brennen in der Kehle. Zugleich schien ihm aber, daß Tichon ihn entkleidete und entblößte.

»Du hast dir etwas Unsinniges ausgedacht«, sagte er.

In der Stadt läuteten die Glocken und riefen zur Abendmesse. Tichon schüttelte die Bäume auf seiner Schulter, ging, mit dem eisernen Spaten auf die Erde klopfend, weiter und sagte ebenso ruhig:

»Du brauchst von mir nichts zu befürchten. Du tust mir ja leid, du bist ein angenehmer, eigenartiger Mensch. Ihr Artamonows seid alle sehr eigenartig. Du hast in deinem Charakter gar nichts von einem Buckligen und bist doch bucklig.«

Nikitas Schrecken schmolz in heißer Trauer dahin, die ihm die Augen trübte, ihn wie einen Betrunkenen stolpern ließ und in ihm den Wunsch wachrief, sich lang auf die Erde zu legen und sich auszuruhen. Er bat leise:

»Schweige davon.«

»Ich habe ja gesagt: es ist wie in einem Koffer verschlossen.«

»Vergiß es! Laß dir vor ihr nichts entschlüpfen.«

»Ich spreche mit ihr nie. Wozu sollte ich es ihr sagen?«

Beide legten den Heimweg schweigend zurück. Die blauen Augen des Buckligen waren jetzt größer, runder und trauriger, er sah an den Menschen vorbei, hinter ihre Schultern, er wurde noch schweigsamer und unscheinbarer. Natalia merkte irgend etwas:

»Warum gehst du so traurig herum?« fragte sie.

Nikita antwortete:

»Es gibt viel zu tun.«

Er ging schnell weg. Das verletzte Natalia; sie hatte schon mehr als einmal gefühlt, daß der Schwager mit ihr nicht so freundlich wie früher war. Sie führte ein langweiliges Leben. Im Laufe von vier Jahren hatte sie zwei Mädchen geboren und war schon wieder schwanger.

»Warum bringst du lauter Mädchen zur Welt, was soll man mit ihnen anfangen?« brummte der Schwiegervater, als sie mit dem zweiten niederkam und schenkte ihr diesmal nichts. Er beklagte sich bei Pjotr:

»Ich brauche Jungs – keine Schwiegersöhne. Habe ich denn das Werk für fremde Leute in Gang gebracht?«

Jedes Wort des Schwiegervaters weckte in der Frau ein Schuldgefühl; sie wußte, daß auch ihr Mann unzufrieden mit ihr war. Wenn sie des Nachts neben ihm lag, blickte sie durchs Fenster auf die fernen Sterne, strich sich über den Leib und bat im stillen:

»Herr – schenk' mir ein Söhnchen . . .«

Manchmal wollte sie aber ihrem Mann und dem Schwiegervater laut ins Gesicht schreien:

»Mit Absicht, euch zum Trotz will ich Mädchen gebären!«

Und in ihr erstand der Wunsch, irgendetwas Seltsames, allen Unerwartetes, Gutes zu tun, damit alle Menschen freundlicher zu ihr seien, oder aber etwas ganz Böses, damit sie alle erschräken. Doch sie konnte sich weder das Gute, noch das Böse ausdenken.

Sie stand beim Morgengrauen auf, ging in die Küche hinunter und bereitete zusammen mit der Köchin den Imbiß zum Tee. Dann lief sie nach oben, um die Kinder zu füttern, darauf gab sie dem Schwiegervater, dem Mann und den Schwägern ihren Tee, fütterte wieder die Kinder, nähte, besserte für alle die Wäsche aus und ging nach dem Essen mit den Kindern in den Garten, wo sie bis zum Abendtee blieb. In den Garten sahen kecke Spulerinnen hinein und bewunderten schmeichlerisch die Schönheit der kleinen Mädchen. Natalia lächelte, glaubte aber dem Lob nicht, – ihre Kinder erschienen ihr häßlich.

Manchmal tauchte zwischen den Bäumen Nikita auf, der einzige Mensch, der zu ihr freundlich gewesen war. Wenn sie ihn aber jetzt aufforderte, bei ihr zu sitzen, antwortete er mit schuldiger Miene:

»Verzeih, ich habe keine Zeit.«

In ihr erstand unmerklich ein kränkender Gedanke: der Bucklige sei mit ihr nicht aufrichtig freundlich gewesen; ihr Mann habe ihn nur als Wächter angestellt, um ihr und Alexej aufzupassen. Sie fürchtete sich vor Alexej, denn er gefiel ihr; sie wußte, der schöne Schwager brauchte nur zu wollen, und sie würde nicht widerstehen. Er wollte aber nicht, er schien sie nicht einmal zu sehen; das beleidigte sie und erregte in ihr feindselige Gefühle gegen den kecken, schlagfertigen Alexej.

Um fünf Uhr wurde Tee getrunken, um acht Abendbrot gegessen. Dann wusch Natalia die Kleinen, fütterte sie und brachte sie zu Bett; sie betete lange auf den Knien und legte sich zu ihrem Mann in der Hoffnung, einen Sohn zu empfangen, wenn der Mann im Bett brummte:

»Jetzt ist's genug. Komm ins Bett!«

Sie bekreuzte sich eilig, unterbrach das Gebet, ging zu ihm und legte sich gehorsam nieder. Manchmal, sehr selten, scherzte Pjotr:

»Warum betest du so viel? Du kannst dir doch nicht alles erbitten, – es reicht sonst für die andern nicht . . .«

Wenn sie des Nachts durch das Weinen eines Kindes geweckt wurde, fütterte und beruhigte sie es und ging ans Fenster, um lange in den Garten und auf den Himmel zu blicken und wortlos über sich, über die Mutter, den Schwiegervater und ihren Mann nachzudenken – über alles, was ihr der unmerklich verstrichene, schwere Tag gebracht hatte. Es war seltsam, daß man die gewohnten Stimmen, die lustigen oder traurigen Lieder der Arbeiterinnen, das mannigfaltige Hämmern und Lärmen des Werkes, sein bienenartiges Summen nicht vernahm; dieses ununterbrochene, eilige Dröhnen erfüllte den ganzen Tag, sein Widerhall schwebte durch die Zimmer, raschelte im Laub der Bäume, strich über die Fensterscheiben; das Geräusch der Arbeit zwang zu lauschen und störte beim Denken.

In der nächtlichen Stille, im schläfrigen Schweigen alles Lebendigen fielen ihr die grausigen Erzählungen Nikitas von den von Tartaren gefangengenommenen Frauen oder die Legenden von den heiligen Einsiedlerinnen und Märtyrerinnen ein, es erstanden in ihr auch die Märchen von einem glücklichen, fröhlichen Leben, am häufigsten tauchten aber erlittene Kränkungen in ihrer Erinnerung auf.

Ihr Schwiegervater sah über sie hinweg wie über einen leeren Raum, und das war noch am besten; häufig, wenn er ihr im Flur oder im Zimmer unter vier Augen begegnete, betastete er sie aber mit scharfem Blick schamlos von der Brust bis zu den Knien und schnaubte feindselig.

Ihr Mann war unfreundlich und kalt; sie fühlte, daß er sie manchmal so anblickte, als hinderte sie ihn daran, etwas anderes, hinter ihrem Rücken Verborgenes zu sehen. Oft legte er sich, ausgekleidet wie er war, nicht hin, sondern saß lange auf dem Bettrand, stützte sich mit der einen Hand auf das Federbett und zupfte mit der andern an seinem Ohr oder rieb sich den Bart auf der Wange, als hätte er Zahnschmerzen. Sein häßliches Gesicht zog sich bald kläglich, bald zornig zusammen; in solchen Augenblicken wagte Natalia nicht, sich niederzulegen. Er sprach wenig und nur von häuslichen Angelegenheiten und kam immer seltener auf das Leben der Bauern und Gutsbesitzer zurück, das Natalia unverständlich war. Im Winter fuhr er mit ihr an den Feiertagen, zu Weihnachten und in der Butterwoche durch die Stadt spazieren. Man spannte einen ungeheuren Rappen vor den Schlitten. Der Hengst hatte messinggelbe, von Blutäderchen durchzogene Augen, er schüttelte zornig den Kopf und wieherte laut. Natalia fürchtete sich vor diesem Pferd, und Tichon Wialow steigerte noch ihre Angst durch die Worte:

»Das ist ein Edelmannspferd; es ist über die fremde Herrschaft erbost.«

Die Mutter kam häufig. Natalia beneidete sie um ihr freies Leben und den festlichen Glanz ihrer Augen. Dieser Neid wurde noch schärfer und kränkender, wenn sie merkte, wie jugendlich der Schwiegervater mit der Mutter scherzte, wie selbstzufrieden er sich den Bart glättete und sich seiner Geliebten freute, wie sie wie eine Pfauhenne einherschritt, sich in den Hüften wiegte und schamlos vor ihm mit ihrer Schönheit prahlte. Die Stadt wußte längst von ihrem Verhältnis mit dem Gevatter, verurteilte sie streng deshalb und wandte sich von ihr ab. Angesehene Leute verboten ihren Töchtern, Natalias Freundinnen, sie, die Tochter einer lasterhaften Frau, die Schwiegertochter eines fremden, zweifelhaften Bauern und die Gattin eines vor Stolz aufgeblasenen, mürrischen Mannes zu besuchen. Die kleinen Freuden des Mädchenlebens erschienen jetzt Natalia groß und prächtig.

Es kränkte sie zu sehen, wie die vorher so freimütige Mutter jetzt mit den Menschen schlau und falsch war; sie schien sich vor Pjotr zu fürchten und sprach mit ihm, um es zu verbergen, in schmeichelnden, von seiner Tüchtigkeit entzückten Worten; sie fürchtete wohl auch Alexejs spöttische Augen, scherzte freundlich, tuschelte mit ihm und machte ihm oft Geschenke; zum Geburtstag schenkte sie ihm eine Porzellanuhr mit Figürchen von Schafen und mit einer blumengeschmückten Frau; dieser schöne, kunstvoll ausgeführte Gegenstand brachte alle zum Staunen.

»Die Uhr ist mal als Pfand bei mir geblieben; ich gab nur drei Rubel dafür, sie ist alt und geht nicht«, erklärte die Mutter. »Wenn Aljoscha heiratet, mag er damit sein Haus schmücken.«

»Das könnte ich ja auch tun«, dachte Natalia.

Die Mutter erkundigte sich genau nach dem Haushalt und belehrte sie langweilig:

»Gib an Wochentagen keine Servietten zu Tisch, diese Langbärte machen sie ja gleich schmutzig.«

Sie betrachtete Nikita, der ihr früher gefallen hatte, mit aufeinandergepreßten Lippen und sprach mit ihm wie mit einem Angestellten, den man verdächtigt, etwas Unehrliches begangen zu haben, und sie warnte die Tochter:

»Gib acht, sei zu ihm nicht zu freundlich, – alle Buckligen sind hinterlistig.«

Schon mehr als einmal wollte Natalia sich bei der Mutter über ihren Mann beschweren, weil er ihr nicht traute und den Buckligen beauftragt hätte, sie zu überwachen; aber irgend etwas hinderte sie stets, davon zu sprechen.

Am schlimmsten war es aber, wenn die Mutter in der Sorge, Natalia könnte keinen Knaben gebären, sie über ihren nächtlichen Verkehr mit ihrem Mann befragte. Sie tat das in schamlos offener Weise, während ihre feuchten Augen lächelnd blinzelten, die gesenkte Stimme schnurrte und die Neugierde sie heftig erregte. Und Natalia war immer froh, wenn die Frage des Schwiegervaters ertönte:

»Gevatterin, – soll ich das Pferd anspannen?«

»Ich möchte lieber zu Fuß gehen.«

»Gut, ich werd' dich begleiten.«

Pjotr sagte nachdenklich:

»Die Schwiegermutter ist ein kluger Kopf. Wie geschickt sie den Vater behandelt! Vor ihr ist er sanfter zu uns. Sie sollte ihr Haus verkaufen und zu uns ziehen.«

»Das ist nicht nötig«, will Natalia sagen, wagt es aber nicht und trägt es der Mutter noch mehr nach, daß man sie gern hat, und daß sie glücklich ist.

Wenn sie mit einer Näharbeit in den Händen am Gartenfenster oder im Garten sitzt, hört sie Bruchstücke der Unterhaltung zwischen Tichon und Nikita. Sie arbeiten hinter den Beerensträuchern beim Badehaus, und durch das leise Geräusch des Werkes dringen die ruhigen Worte des Hausknechtes:

»Die Langeweile stammt von den Menschen, – wenn sie eine lange Weile beisammen sind, entsteht die Langeweile.«

»Wie richtig!« denkt Natalia, aber Nikitas angenehme Stimme wirft ein:

»Du gehst zu weit. Und Tanz und Spiel? Ohne Menschen gibt es keine Fröhlichkeit.«

»Auch das ist richtig«, stimmt sie erstaunt zu.

Sie sieht, daß alle um sie herum in ihren Reden sicher sind, jeder weiß irgend etwas genau, und zwar sieht sie, wie einfache, bestimmte, fest aneinander gefügte Worte jedem Menschen ein Stück irgendeiner unverrückbaren Wahrheit sichern; die Menschen unterscheiden sich von einander durch ihre Worte und schmücken sich damit, sie klappern und spielen mit Worten wie mit goldenen und silbernen Uhrketten. Sie aber besitzt keine solchen Worte, sie hat nichts, worin sie ihre Gedanken kleiden könnte, die sie trübe und ungreifbar wie Herbstnebel belästigen, die sie nur stumpfsinnig machen, – und sie denkt immer häufiger ärgerlich und traurig:

»Ich bin dumm! Ich weiß nichts und versteh' nichts . . .«

»Der Bär kennt sich aus, er weiß, wo es Honig gibt«, murmelt Tichon im Himbeergesträuch.

»Ja, das ist wahr«, denkt Natalia und erinnert sich zusammenzuckend, wie Alexej ihren Liebling getötet hat:

Der Bär lief, bis er dreizehn Monate alt wurde, frei im Hof herum; er war zahm und zutraulich wie ein Hund, kam in die Küche, richtete sich auf den Hinterbeinen auf und bettelte, leise brummend, mit den komischen Augen blinzelnd, um Brot. Er war in allem drollig und gutmütig und schätzte Güte. Alle hatten ihn gern, Nikita pflegte ihn, kämmte ihm die Büschel seines dichten, verfilzten Pelzes durch und führte ihn zum Fluß baden; der Bär gewann ihn so lieb, daß er, wenn Nikita fort war, mit hochgehobener Schnauze besorgt die Luft beschnupperte, fauchend über den Hof lief, in das Kontor, wo sein Pfleger wohnte, eindrang und häufig die Fensterscheiben eindrückte und dabei die Rahmen zerbrach. Natalia machte es Freude, ihn mit Weizenbrot und Sirup zu füttern, er konnte die Brotstücke selbst in die Sirupschüssel tauchen; freudig brüllend und sich auf den zottigen Füßen wiegend, schob er das Brot in den rosigen, von Zähnen starrenden Rachen und sog an seiner klebrigen, süßen Pfote; seine gutmütigen Äuglein leuchteten beglückt, und er stieß den Kopf, gegen Natalias Knie und lud sie ein, mit ihm zu spielen. Man könnte sich mit diesem lieben Tier unterhalten, es verstand schon so vielerlei.

Eines Tages gab ihm aber Alexej Schnaps zu trinken. Der betrunkene Bär tanzte, kugelte sich herum, stieg auf das Badehausdach, riß den Schornstein auseinander und begann die Ziegelsteine hinunterzurollen; es versammelte sich ein Haufen von Arbeitern, die ihm lachend zuschauten. Seitdem gab ihm Alexej zur Belustigung der Leute fast jeden Feiertag zu trinken, und das Tier gewöhnte sich das Saufen so an, daß es allen Arbeitern nachjagte, die nach Schnaps rochen und Alexej nicht über den Hof gehen ließ, ohne auf ihn loszustürzen. Man legte ihn an die Kette, er zertrümmerte jedoch seine Hütte und lief mit der Kette am Halse und einem Balken an ihrem Ende über den Hof, fuchtelte mit den Tatzen herum und schüttelte den Kopf. Man wollte ihn einfangen, er zerkratzte aber Tichon das Bein, warf den jungen Arbeiter Morosow zu Boden und verletzte Nikita, indem er ihn mit der Tatze am Schenkel packte. Alexej kam mit einem Hirschfänger dazu und rammte ihn dem Bären im vollen Lauf in den Bauch. Natalia sah aus dem Fenster, wie der Bär auf die Hinterbeine sank und mit den Pfoten winkte, als bitte er die wütend um ihn herum schreienden Menschen, um Verzeihung. Jemand schob Alexej diensteifrig eine scharfe Zimmermannsaxt in die Hände, der Schwager mit dem Spitzbart sprang hoch und schlug damit erst auf die eine, dann auf die andere Tatze los, – der Bär brüllte auf, ließ sich auf die zerhackten Füße sinken, nach rechts und nach links strömte das Blut und bildete auf der festgestampften Erde tiefrote Lachen. Das Tier gab jämmerlich brüllend den Kopf einem neuen Hieb preis, und Alexej versenkte die Axt in das Genick des Bären wie in ein Holzscheit; der Bär streckte seine Schnauze in sein Blut und die Axt saß so tief in den Knochen, daß Alexej, sich mit dem Fuß gegen den zottigen Körper stemmend, sie nur mit Mühe aus dem Schädel herausziehen konnte. Natalia war traurig um den Bären, noch trauriger aber war sie, als sie erfuhr, daß der furchtlose, geschickte immer lustige, mutwillige Schwager sich mit irgendeinem nichtigen Mädel abgab, während er sie selbst gar nicht sah.

Alle belobten ihn für seine Geschicklichkeit und seinen Mut, der Schwiegervater klopfte ihn aber auf die Schulter und rief:

»Und du sagst, du bist krank? Ach, du . . .«

Nikita lief weg, und Natalia weinte so, daß ihr Mann sie erstaunt und ärgerlich fragte:

»Aber, wenn man vor dir einen Menschen tötet, – was willst du dann tun?«

Und er schrie sie an wie ein kleines Mädchen:

»Hör' auf, dummes Weib!«

Es schien ihr, daß er sie schlagen wollte, und sie erinnerte sich mit verhaltenen Tränen an die erste Nacht mit ihm, – wieviel Innigkeit und Schüchternheit hatte er damals gezeigt! Es fiel ihr ein, daß er sie noch nie geprügelt hatte, wie es alle Männer sonst mit ihren Frauen tun, und sie sagte mit unterdrücktem Schluchzen:

»Verzeih, das Tier tut mir so leid.«

»Du solltest lieber mich und nicht den Bären bedauern«, erwiderte er halblaut und schon freundlicher.

Als sie sich zum erstenmal bei der Mutter über die Strenge ihres Mannes beklagte, sagte die ihr mit Nachdruck:

»Der Mann ist die Biene, wir sind für ihn Blumen, er sammelt bei uns Honig, – das muß man verstehen und muß dulden lernen, Liebling. Die Männer herrschen über alles, sie haben mehr Sorgen, als wir, sie bauen zum Beispiel Kirchen und Fabriken. Sieh doch nur, was der Schwiegervater alles auf dem Ödland aufgebaut hat . . .«

Ilja Artamonow eilte immer toller, sein Werk zu fördern und zu festigen, als ahnte er, daß die ihm gestellte Frist knapp sei. Im Mai, kurz vor dem Nikolaustag, kam der Dampfkessel für das zweite Werkgebäude an; er kam in einem Kahn, der an dem sandigen Ufer der Oka dort landete, wo das Sumpfwasser der grünen Watarakscha in sie mündete. Es stand eine schwere Arbeit bevor: der Kessel mußte etwa fünfzehnhundert Schritt weit über sandigen Boden geschleppt werden. Am Nikolaustage gab Artamonow den Arbeitern ein reichliches Feiertagsessen mit Schnaps und Bier; die Tische waren auf dem Hof gedeckt, die Frauen hatten sie mit Fichten und Birkenzweigen und mit Sträußen der ersten Frühlingsblumen geschmückt und hatten sich selbst bunt, wie Blumen, herausgeputzt. Der Hausherr saß mit seiner Familie und einigen Gästen mitten unter den alten Webern bei Tisch, wechselte mit den kecken, zungengewandten Spulerinnen gepfefferte Scherze, trank viel, pulverte die Leute kunstvoll zum Frohsinn auf und rief angeregt, sich mit der Hand durch den ergrauten Bart fahrend:

»Ach, Kinder, ist denn nicht das das wahre Leben?«

Man bewunderte ihn und seine Art; er fühlte es und berauschte sich noch mehr an der Freude, so zu sein, wie er war. Er strahlte und funkelte wie dieser sonnige Frühlingstag, wie die ganze festlich mit dem jungen Grün der Gräser und Blätter bekleidete Erde, die gehüllt war in den Duft der Birken und der jungen Fichten, mit ihren zum blauen Himmel emporstrebenden goldenen Kerzen. In diesem Jahr war ein zeitiger, heißer Frühling, schon blühten Faulbaum und Flieder. Alles war festlich, alles jubelte, selbst in den Menschen schien an diesem Tage ihr Bestes aufzublühen.

Der uralte Weber Boris Morosow, ein kleiner, einfältiger Greis, mit einem winzigen, im ergrauten, grünlich gewordenen Bart verborgenen Wachsgesicht, weiß und gründlich gewaschen wie ein Toter, erhob sich, stützte sich auf die Schulter seines ältesten Sohnes, eines sechzigjährigen Mannes und schrie wild, mit der knochigen, fleischlosen Hand fuchtelnd:

»Seht, ich bin neunzig Jahre alt, über neunzig, merkt es euch! War Soldat, habe Pugatschow geschlagen, habe im Pestjahr in Moskau selbst mitgemeutert, jawohl! Habe gegen Bonaparte gekämpft! . . .«

»Und wen hast du geküßt?« schrie ihm Artamonow ins Ohr. Der Weber war fast taub.

»Zwei Frauen, außer den anderen. Da schau: sieben Söhne, zwei Töchter, neunzehn Enkel, fünf Urenkel, das alles habe ich euch zusammengewebt! Da sind sie, alle leben bei dir, hier sitzen sie . . .«

»Gib noch was her!« schrie Ilja.

»Es kommt noch. Ich habe drei Zaren und eine Zarin überlebt, hört ihr? Ich habe bei so vielen Herren gedient, alle sind tot, und ich lebe! Habe werstweise Leinwand gewebt. Du bist ein echter Mensch, Ilja Wasiljew, du wirst lange leben. Du bist der Herr, du liebst das Werk und das Werk liebt dich. Du tust den Menschen nicht unrecht. Du bist ein Ast von unserem Baum, lege los! Das Glück ist dir ein Eheweib und nicht nur eine Geliebte, die ein Weilchen spielt und dann verschwindet! Leg' dich mit aller Kraft ins Zeug. Bleibe gesund, Bruder, jawohl! Bleibe gesund, sage ich . . .«

Artamonow nahm ihn in die Arme, hob ihn hoch, küßte ihn und rief gerührt aus:

»Ich danke dir, mein Kind! Ich mache dich zum Verwalter . . .«

Die Leute brüllten und lachten laut, während der alte, betrunkene Weber, den er in die Höhe gehoben hatte, in der Luft mit seinen Skeletthänden herumschlug, kicherte und kreischte:

»Bei ihm ist alles auf seine eigene Art, alles anders . . .«

Uljana Bajmakowa wischte sich, ohne jede Scham, Tränen der Rührung von den Wangen.

»Was das für eine Freude ist«, sagte ihre Tochter. Sie antwortete, sich schneuzend:

»Er ist nun mal so, – er ist vom Herrgott zur Freude erschaffen . . .«

»Lernt, wie man mit den Leuten umgehen muß, ihr Burschen«, rief Artamonow seinen Kindern zu. »Schau her, Pjotr!«

Nach dem Essen räumten die Frauen die Tische weg und stimmten ihre Lieder an; die Bauern maßen ihre Kräfte, vergnügten sich mit Stockziehen und rangen. Artamonow war überall zur rechten Zeit, er tanzte und rang; man schmauste bis zum Tagesanbruch, und mit dem ersten Sonnenstrahl zogen etwa siebzig Arbeiter, mit ihrem Herrn an der Spitze, eine lärmende Schar, wie zu einem Raubzug zur Oka. Sie waren betrunken, sangen Lieder, pfiffen und trugen dicke Walzen, Eichenstangen und Stricke auf den Schultern. Hinter ihnen watschelte der alte Weber durch den Sand und murmelte Nikita zu:

»Er erreicht alles, was er will! Der? Ich wei–eiß es . . .«

Das rote Ungeheuer, das an einen Stier ohne Kopf erinnerte, wurde glücklich vom Kahn auf das Ufer gebracht. Man umwickelte es mit Stricken und schleppte es, ächzend und brüllend, in gutem Einvernehmen auf Walzen über die auf den Sand gelegten Bretter; der Kessel bewegte sich wackelnd vorwärts, und es kam Nikita so vor, als tue sein runder, dummer Rachen sich erstaunt vor der fröhlichen Kraft der Menschen auf. Auch der betrunkene Vater half den Kessel ziehen und schrie voll Anstrengung:

»Langsam, he, langsam!«

Und er klopfte mit der Handfläche auf die rote Seite des eisernen Ungeheuers und redete ihm gut zu:

»Komm, lieber Kessel, komm!«

Es waren kaum noch fünfhundert Schritt bis zur Fabrik, als der Kessel besonders heftig zu wackeln begann, langsam von der vorderen Walze herabrollte und seine stumpfe Schnauze in den Sand steckte. Nikita sah, wie sein runder Rachen die Füße des Vaters mit grauem Staub anfauchte. Die Menschen umringten zornig den schweren Körper und versuchten eine Walze unterzuschieben, sie waren schon außer Atem, der Kessel klebte aber eigensinnig im Sande und schien sich, ohne ihren Bemühungen nachzugeben, immer tiefer hineinzugraben. Artamonow half, mit der Hebestange in den Händen, inmitten der Arbeiter, und rief ihnen zu:

»Jungs, packt alle auf einmal an! O–uch . . .«

Der Kessel bewegte sich wie unwillig und senkte sich wieder schwer. Da sah Nikita den Vater in einer ihm fremden Gangart aus der Arbeitermenge herauskommen, auch sein Gesicht war fremd; er ging, eine Hand unter den Bart schiebend und sich an der Kehle festhaltend, und mit der andern, wie ein Blinder, in der Luft herumtastend. Der alte Weber sprang ihm nach und schrie:

»Erde! Iß Erde . . .«

Nikita lief zum Vater. Der spuckte ihm mit lautem Aufstoßen Blut vor die Füße und sagte dumpf:

»Blut.«

Sein Gesicht wurde grau, die Augen blinzelten erschrocken, die Kiefern zitterten, und sein ganzer großer Körper zog sich angstvoll zusammen.

»Hast du dich verletzt?« fragte Nikita, ihn bei der Hand packend. Der Vater wankte zu ihm hin, stieß ihn und antwortete halblaut:

»Vielleicht. Es ist eine Ader geplatzt . . .«

»Iß Erde, sage ich . . .«

»Laß das, geh!«

Und als Artamonow wieder reichlich Blut ausspuckte, murmelte er verdutzt:

»Wie das rinnt! Wo ist Uljana?«

Der Bucklige wollte nach Hause laufen, doch der Vater hielt ihn an der Schulter fest und scharrte, den Kopf senkend, mit den Füßen im Sand, als lauschte er dem beim zornigen Geschrei der Arbeiter kaum vernehmbaren Knirschen und Rascheln.

»Was ist das?« fragte er und ging vorsichtig auf das Haus zu, als überschreite er auf einer Stange einen tiefen Fluß. Die Bajmakowa verabschiedete sich gerade am Hausaufgang von der Tochter, Nikita bemerkte, als sie den Vater anblickte, daß ihr schönes Gesicht sich seltsam wie ein Rad erst nach rechts und dann nach links verzog und welk wurde.

»Gebt Eis her!« schrie sie, als der Vater sich mit ungeschickt gebogenen Beinen auf eine Stufe sinken ließ und unter Aufstoßen immer häufiger Blut spuckte. Wie im Traum vernahm Nikita Tichons Stimme:

»Eis ist Wasser; durch Wasser kann man kein Blut ersetzen . . .«

»Er muß Erde kauen . . .«

»Tichon, laufe, was du kannst, zum Popen . . .«

»Hebt ihn auf, tragt ihn«, kommandierte Alexej. Nikita faßte den Vater am Ellenbogen, aber jemand trat ihm so heftig auf die Zehen, daß er für einen Augenblick wie blind war; gleich darauf sahen seine Augen aber noch schärfer und prägten sich mit krankhafter Gier alles ein, was die Leute in der Enge des Zimmers beim Vater und auf dem Hofe taten. Über den Hof jagte Tichon auf dem großen Rappen, den er nicht zu bändigen vermochte, das Pferd wollte nicht aus dem Tor gehen, sprang, den bösen Kopf hebend, im Kreise herum und trieb die Menschen auseinander, es scheute wohl vor der Sonne, die auf dem Himmel eine blendende Feuersbrunst entflammt hatte; – endlich war es draußen und galoppierte, vor der roten Masse des Kessels stürzte es aber zur Seite, warf Tichon ab und kehrte schnaubend und mit wehendem Schwanz auf den Hof zurück.

Jemand schrie:

»Jungs, lauft . . .«

Auf dem Fensterbrett sitzt Alexej und dreht sich den dunklen Spitzbart, sein unangenehmes, nicht bäuerisches Gesicht ist abgemagert und wie mit Staub bedeckt, er blickt, über die Köpfe der Menschen hinweg, starr auf das Bett. Dort liegt der Vater und spricht mit fremder Stimme:

»Ich habe mich also geirrt. Es ist Gottes Wille. Kinder – ich befehle: Uljana ist für euch an Stelle der Mutter, hört ihr? Hilf ihnen um Christi willen, Ulja! Ach! Schickt die Fremden aus der Stube . . .«

»Schweige still«, stöhnte die Bajmakowa gedehnt und kläglich und steckte ihm Eisstückchen in den Mund. »Es gibt hier keine Fremden.«

Der Vater schluckt Eis und sagt unschlüssig seufzend:

»Ihr seid nicht Richter über meine Sünde, sie aber ist unschuldig. Natalia, ich war mit dir streng. Nun, das tut nichts. Ich brauche eben Jungen. Petrucha, Aljoscha, seid einig! Seid freundlicher zu den Leuten. Es ist gutes Volk. Ausgesuchte Menschen. Aljoscha, heirate diese, deine . . . es macht nichts!«

»Väterchen, verlaß uns nicht«, bittet Pjotr, niederkniend. Alexej stößt ihn aber in den Rücken und flüstert:

»Was fällt dir ein? Ich glaube es nicht . . .«

Natalia zerkleinert mit einem Küchenmesser Eis in einer Messingschüssel. Die krachenden Schläge werden vom Klingen des Metalls und von Natalias Schluchzen begleitet. Nikita sieht ihre Tränen auf das Eis fallen. Ein gelber Sonnenstrahl ist ins Zimmer gedrungen, wird vom Spiegel zurückgeworfen und zittert als formloser Fleck an der Wand, in dem Bestreben, die Gestalten der roten Chinesen mit den langen Schnurrbärten von der wie der Nachthimmel blauen Tapete wegzuwischen.

Nikita steht am Fußende des Bettes und wartet, daß der Vater sich seiner erinnere. Die Bajmakowa kämmt Iljas dichtes, krauses Haar, oder sie wischt ihm mit einer Serviette bald das unablässig aus dem Mundwinkel herabsickernde Blut, bald die Schweißtropfen von der Stirn und den Schläfen ab; sie flüstert ihm etwas in die getrübten Augen, sie flüstert es heiß wie ein Gebet; er aber legt die eine Hand auf ihre Schulter, die andere auf das Knie und formt mit der schweren Zunge die letzten Worte:

»Ich weiß. Christus erlöse dich! Beerdigt mich auf unserem eigenen Kirchhof, nicht in der Stadt. Ich will nicht dorthin, zu ihnen . . .«

Und er flüsterte mit großer, flammender Trauer:

»Ach, ich habe mich geirrt, mein Gott . . . . Ich habe mich geirrt . . .«

Es kam der große, untersetzte Geistliche, mit einem Christusbart und mit traurigen Augen:

»Warte, Vater«, sagte Artamonow und wandte sich wieder an die Kinder:

»Kinder, teilt das Gut nicht! Seid einig! Das Werk verträgt keine Feindschaft. Pjotr, du bist der Älteste, du trägst die Verantwortung für alles, hörst du? Geht hinaus . . .«

»Nikita . . .« erinnerte die Bajmakowa.

»Habt Nikita lieb! Wo ist er? Geht! Später . . . Auch Natalia . . .«

Er starb am Nachmittag an Verblutung, als die Sonne noch freundlich strahlend im Zenit stand. Er lag mit erhobenem Kopf und besorgt gerunzeltem, wächsernem Gesicht da, und die nicht fest geschlossenen Augen schienen sinnend auf die breiten, demütig auf der Brust gefalteten Hände zu schauen.

Es kam Nikita vor, als ob alle im Hause durch diesen Tod weniger gekränkt und erschreckt als überrascht waren. Dieses stumpfe Staunen fühlte er in allen, bis auf die Bajmakowa; die saß schweigend, ohne Tränen, beim Verschiedenen, als wäre sie erfroren und für alles taub; sie hielt die Hände auf den Knien und blickte unablässig in das steinerne, vom Schnee des Bartes umrahmte Antlitz.

Pjotr erschien jetzt größer und sprach in überflüssiger, unpassender Weise viel zu laut, wenn er das Zimmer betrat, in dem der Vater lag und in dem Nikita abwechselnd mit einer dicken Nonne Klagegesänge aus dem Psalmenbuch vorlas. Pjotr warf einen fragenden Blick auf das Gesicht des Vaters, bekreuzte sich, ging nach zwei, drei Minuten vorsichtig wieder hinaus, und bald darauf tauchte seine stämmige Gestalt im Garten und im Hof auf, wo er etwas zu suchen schien.

Alexej war eifrig mit den Vorbereitungen zum Leichenbegängnis beschäftigt, ritt im Galopp in die Stadt, lief, wenn er heimkam, in die Stube und befragte Uljana nach den Vorschriften für Beerdigung und Leichenfeier. »Warte noch,« sagte sie, und Alexej verschwand verschwitzt und müde. Dann kam Natalia und bot der Mutter schüchtern und mitleidig Tee und Essen an. Sie hörte ihr aufmerksam zu und sagte:

»Warte noch.«

Nikita hatte bei Lebzeiten des Vaters nicht gewußt, ob er ihn liebte, er hatte ihn nur gefürchtet, obwohl diese Furcht ihn nie daran hinderte, die leidenschaftliche Tätigkeit dieses Menschen zu bewundern, der zu ihm unfreundlich war und der kaum zu merken schien, ob der bucklige Sohn noch lebte.

Jetzt glaubte Nikita aber, daß er als einziger den Vater auf die richtige Weise innig geliebt hatte; er war von tiefer Trauer erfüllt, als wäre ihm durch den plötzlichen Tod dieses starken Menschen eine grausame und rohe Kränkung angetan worden; diese Trauer und die Kränkung benahmen ihm fast den Atem. Er saß in der Ecke auf einem Koffer, wartete, bis die Reihe, aus dem Psalter zu lesen, an ihn kam, wiederholte im Geiste die bekannten Worte der Psalmen und blickte um sich. Das Zimmer war von warmem Dunkel erfüllt, in dem die Wachskerzen wie gelbliche, lebendige Blumen zitterten. An den Wänden reihten sich die Chinesen mit den langen Schnurrbärten kunstvoll aneinander und trugen auf Schulterstangen Teekisten, auf jedem Tapetenstreifen befanden sich achtzehn Chinesen, je zwei in einer Reihe, die Reihen stiegen abwechselnd zur Zimmerdecke hinauf und wieder herab. Auf die Wand fiel öliger Mondschein, in dem die Chinesen unternehmender erschienen und rascher hinauf- und herabstiegen.

Plötzlich vernahm Nikita durch das eintönige Hinströmen der Psalmenworte hindurch die halblaute, hartnäckige Frage:

»Ist er denn wirklich gestorben? Herrgott?«

Das war Uljana, und ihre Stimme klang so erschütternd kummervoll, daß die Nonne im Lesen innehielt und schuldbewußt antwortete:

»Er ist gestorben, Mütterchen, er ist nach Gottes Willen gestorben . . .«

Das war nicht zu ertragen. Nikita erhob sich und verließ geräuschvoll das Zimmer; er war über die Nonne aufgebracht und nahm dieses häßliche und beschwerende Gefühl mit.

Am Tor saß Tichon auf einer Bank; er brach mit den Fingern von einem großen Holzstück kleine Späne ab, steckte sie in den Sand und trieb sie durch Fußstöße immer tiefer hinein, bis sie unsichtbar wurden. Nikita setzte sich neben ihn und sah schweigend seiner Arbeit zu; sie erinnerte ihn an den unheimlichen Stadtnarren Antonuschka: dieser zottige Bursche, dessen eines Bein im Knie ausgerenkt war, und der ein dunkles Gesicht und die runden Augen eines Uhus hatte, zeichnete mit dem Stock Kreise in den Sand, um deren Mittelpunkt er aus Spänen und Gerten Käfige verfertigte; sowie er aber etwas fertiggebaut hatte, zertrat er es mit dem Fuß und scharrte Sand und Staub darüber, wobei er näselnd sang:

»Chiristus ist erstanden, ist erstanden!
Der Reisewagen hat ein Rad verloren.
Butyrma, eia popeia, bustarma,
Eia, eia popeia, Chiristus.«

»Ja, das ist so eine Sache, nicht?« sagte Tichon, schlug sich auf den Hals und tötete eine Mücke; darauf wischte er sich die Hand am Knie ab, sah auf den an einem Weidenzweig über dem Fluß hängengebliebenen Mond und ließ dann seine Augen auf dem massigen Körper des Kessels ruhen.

»In diesem Jahr kommen die Mücken früh zur Welt«, fuhr er ruhig fort. »Ja, die Mücke lebt, aber . . .«

Der Bucklige ließ ihn aus irgendeiner Angst heraus nicht zu Ende sprechen und erinnerte ihn ärgerlich:

»Du hast ja die Mücke getötet!«

Und er verließ eilig den Hausknecht. Da er aber nicht wußte, wohin er sollte, erschien er nach einigen Minuten wieder im Zimmer des Vaters, löste die Nonne ab und begann zu lesen. Seine Trauer ergoß sich in die Worte der Psalmen, er hörte Natalia nicht hereinkommen, und plötzlich ertönte hinter seinem Rücken ihre leise Stimme. Er fühlte stets, wenn sie in seiner Nähe war, er könnte etwas Ungewöhnliches und vielleicht Furchtbares sagen oder tun, und er fürchtete selbst in dieser Stunde, es könnte ihm gegen seinen Willen etwas entschlüpfen. Mit geneigtem Kopf und erhobenem Buckel senkte er die versagende Stimme, und jetzt strömten zugleich mit den Versen des neunten Psalterabschnitts die von zwei schluchzenden Stimmen gesprochenen Worte hin:

»Ich habe ihm das Kreuz vom Körper abgenommen, ich werde es tragen.«

»Liebe Mutter, auch ich bin ja einsam!«

Nikita erhob wieder die Stimme, um dieses hintropfende Geflüster zu übertönen und es nicht zu hören; er lauschte aber trotzdem.

»Der Herr hat die Sünde nicht dulden wollen . . .«

»Ich bin allein im fremden Nest . . .«

»Wohin wandle ich vor deinem Antlitz und wohin fliehe ich vor deinem Zorn?« sang Nikita gewissenhaft den Aufschrei der Furcht und der Verzweiflung, während sein Gedächtnis ihm einen traurigen Spruch zuflüsterte:

»Ohne Liebe leidest du sehr, doch mit Liebe um so mehr.« Und er fühlte verlegen, daß Natalias Kummer für ihn ein Hoffnungsstrahl des Glückes war.

Des Morgens kamen in einer Droschke Barski und der Bürgermeister Jakow Shitejkin, ein Mensch mit leeren Augen, der den Spitznamen »der nicht Gargebackene« trug; er war rundlich und schien tatsächlich aus rohem Teig verfertigt zu sein. Sie traten vor den Verstorbenen, verneigten sich vor ihm, und jeder von ihnen blickte ängstlich und mißtrauisch in das dunkle Antlitz. Auch sie waren durch Artamonows Tod sichtlich erschüttert. Darauf sprach Shitejkin mit scharfer, beißender Stimme zu Pjotr:

»Man sagt, daß Sie den Vater auf Ihrem eigenen Kirchhof bestatten wollen. Ist es so oder nicht? Pjotr Iljitsch, das wäre für uns, für die Stadt, eine Kränkung, als ob Sie mit uns nicht verkehren und nicht Freundschaft pflegen wollten. Ist es so oder nicht?«

Alexej flüsterte dem Bruder zähneknirschend zu:

»Jag' sie hinaus!«

»Gevatterin«, ließ Barski seine Stimme ertönen und bedrängte Uljana. »Das geht doch nicht? Es wäre eine Beleidigung!«

Shitejkin fragte Pjotr aus:

»Hat Ihnen nicht der Pope Gleb dazu geraten? Nein, ändern Sie das ab! Ihr Vater war der erste Fabrikant des Umkreises, der Gründer eines neuen Werkes, eine Persönlichkeit und eine Zierde der Stadt. Sogar der Isprawnik wundert sich und hat gefragt, ob Sie rechtgläubig sind?«

Er sprach unaufhörlich und ohne Pjotrs Versuche, seine Rede zu unterbrechen, zu beachten, doch als Pjotr endlich darauf hinwies, es wäre der Wille des Vaters, beruhigte Shitejkin sich auf einmal.

»Ob es so ist oder nicht, wir kommen jedenfalls zur Beerdigung.«

Und es wurde allen klar, daß das von ihm Vorgebrachte gar nicht der Grund seines Kommens war. Er begab sich in die Zimmerecke, wo Barski Uljana an die Wand gedrängt hatte und ihr etwas zuflüsterte. Doch bevor Shitejkin herangekommen war, rief Uljana:

»Du bist ein Dummkopf, Gevatter, geh!«

Ihr zitterten die Lippen und Augenbrauen, und sie sagte mit hochmütig erhobenem Kopf zu Pjotr:

»Diese beiden und dann noch Pomialow und Woroponow bitten mich, euch Brüdern zuzureden, daß ihr ihnen das Werk verkauft. Sie bieten mir für meine Hilfe Geld an . . .«

»Geht hinaus, meine Herrschaften!« sagte Alexej und wies auf die Tür.

Shitejkin schob hüstelnd und lächelnd Barski zur Türe und stieß ihn am Ellbogen, während die Bajmakowa sich weinend und klagend auf den Koffer sinken ließ.

»Sie wollen die Erinnerung an den Mann auslöschen . . .«

Alexej sagte feierlich und böse, mit einem Blick auf Artamonows Gesicht.

»Ich will lieber schlechter sein als diese da, aber nur nicht so leben wie sie! Eher renne ich mir den Schädel ein.«

»Sie haben sich für die Unterhandlungen die richtige Zeit ausgesucht«, brummte Pjotr und schielte auch nach dem Vater hin.

Natalia kam auf Nikita zu und fragte ihn leise:

»Und warum schweigst du?«

Er war gerührt, daß man seiner gedacht hatte und erfreut, daß es Natalia war. Er sagte leise, ohne ein freudiges Lächeln zu unterdrücken:

»Was soll ich denn anfangen? . . . Wir beide . . .«

Doch sie hatte sich sinnend von ihm abgewandt.

Bei Ilja Artamonows Leichenbegängnis erschienen fast alle angesehenen Leute der Stadt, auch der Isprawnik kam, ein großer, magerer Mensch, mit nacktem Kinn und grauem Backenbart; er schritt, majestätisch hinkend, neben Pjotr durch den Sand und sagte zu ihm zweimal die gleichen Worte:

»Der Verstorbene war mir von seiner Erlaucht, dem Fürsten Georgi Ratski, warm empfohlen worden und hat diese Empfehlung vollkommen gerechtfertigt.«

Bald darauf erklärte er Pjotr:

»Es ist schwer, Leichen bergauf zu tragen!«

Mit diesem Worte drängte er sich seitlich aus der Menge hinaus, pflanzte sich mit fest aufeinandergepreßten rasierten Lippen im Schatten einer Fichte auf und ließ den Haufen der Städter und Arbeiter, wie Soldaten bei einer Parade, an sich vorbeiziehen.

Es war ein strahlender Tag, die Sonne beleuchtete gütig inmitten saftiger gelber und grüner Flecken die bunte Menschenmenge; die kroch langsam zwischen zwei Sandhügeln auf einen dritten hinauf, der schon mit mehr als einem Dutzend von in den blauen Himmel ragenden Kreuzen geschmückt war, die von den breiten Tatzen einer krummen, alten Fichte beschirmt wurden. Der Sand funkelte wie Diamantensplitter und knirschte unter den Füßen der Menschen; über ihren Köpfen schwebte der tiefe Gesang der Popen, hinter allen andern ging stolpernd und springend der Narr Antonuschka; er sah mit runden Augen ohne Brauen vor seine Füße, bückte sich, las dünne Zweige von der Straße auf, schob sie sich hinter den Brustlatz und sang durchdringend:

»Chiristus ist erstanden, ist erstanden,
Der Reisewagen hat ein Rad verloren . . .«

Die frommen Leute schlugen ihn und verboten ihm das zu singen, und jetzt drohte der Isprawnik ihm mit dem Finger und rief:

»Ruhig, Narr . . .«

Antonuschka war in der Stadt nicht beliebt, er war ein Mordwine oder Tschuwasche, und man glaubte nicht recht daran, daß er durch den Willen Christi blödsinnig sei, doch fürchtete man ihn, da man ihn für einen Unglücksverkünder hielt, und als er während der Leichenfeier auf Artamonows Hof erschien, zwischen den Tischen herumging und sinnlose Worte ausstieß:

»Kujatyr, kujatyr, der Teufel ist auf dem Glockenturm ei, ei, es wird regnen, es wird naß sein, Kajamas weint und ist schwarz!« flüsterten manche scharfsinnigen Gäste einander zu:

»Nun, das bedeutet, daß die Artamonows kein Glück haben werden!«

Pjotr fing dieses Flüstern auf. Nach einer Weile sah er, daß Tichon Wialow den Narren in einer Hofecke festhielt, und er hörte die ruhigen, aber forschenden Fragen des Hausknechts:

»Was heißt das: Kajamas? Du weißt nicht? So. Geh fort! Nun, geh nur . . .«

Rasch wie ein bergab rasender, trüber, herbstlicher Strom glitt ein Jahr vorbei; es ereignete sich nichts Besonderes, nur wurde Uljana Bajmakowa ganz grau, und das Alter meißelte in ihre Schläfen seine traurigen, feinen Strahlen ein. Alexej hatte sich merklich verändert, er war sanfter und freundlicher geworden, zugleich hatte sich in ihm aber eine unangenehme Hastigkeit entwickelt, es war, als peitschte er alle mit seinen lustigen Scherzen und scharfen Worten, am meisten beunruhigte jedoch Pjotr sein pietätloses Verhältnis zur Arbeit: er schien mit dem Werk ebenso zu spielen, wie er mit dem Bären gespielt hatte, den er nachher selbst tötete. Auch hatte er eine seltsame Vorliebe für herrschaftliche Gebrauchsgegenstände: außer der von der Bajmakowa geschenkten Uhr tauchten in seinem Zimmer allerlei unnötige, aber hübsche Dinge auf, und an der Wand hing ein mit Perlen gesticktes Bild – ein Mädchenreigen. Alexej war sparsam, – weshalb gab er also Geld für unnötige Dinge aus? Er begann sich auch modern und kostspielig zu kleiden. Er pflegte seinen dunklen Spitzbart, rasierte sich die Wangen und verlor immer mehr das Einfache und Bäurische. Pjotr fühlte in seinem Vetter etwas Fremdes, Unklares; er beobachtete ihn unmerklich mit immer wachsendem Mißtrauen. Pjotrs Verhältnis zum Werk war ebenso vorsichtig und ängstlich, wie das zu den Menschen. Er hatte sich einen langsamen Gang angewöhnt und schlich sich mit zusammengekniffenen Bärenaugen an die Arbeit heran, als erwartete er, sie könnte ihm entschlüpfen. Von den geschäftlichen Sorgen ermüdet, fühlte er sich manchmal von einer besonderen, unruhigen Mißstimmung wie von einer kalten Wolke umfangen, und in diesen Stunden erschien ihm das Werk als ein steinernes, aber lebendiges Tier, das auf der Erde kauert und sie mit seinen Schatten wie mit Flügeln umfängt. Es hebt seinen Schwanz und hat eine stumpfe, furchtbare Schnauze; bei Tag schimmern die Fenster wie Zähne, an den Winterabenden sind sie aus Eisen und glühen rot vor Wut. Und es scheint ihm, daß das eigentliche, verborgene Bestreben des Werkes nicht darin besteht, werstweise Leinwand zu weben, sondern in etwas anderem, das Pjotr Artamonow feindselig ist.

Ein Jahr nach dem Sterbetag des Vaters versammelte sich die ganze Familie nach der Totenmesse auf dem Kirchhof in Alexejs hübschem, hellem Zimmer, und er sagte erregt:

»Es war der letzte Wille des Vaters, daß wir einig bleiben; so soll es auch sein, – denn wir sind hier wie in der Gefangenschaft.«

Nikita bemerkte, daß die neben ihm sitzende Natalia den Schwager erstaunt anblickte und zusammenzuckte. Der fuhr aber sehr sanft fort:

»Wir dürfen einander bei aller Freundschaft nicht stören. Die Arbeit ist die gleiche für alle, jeder von uns hat aber sein eigenes Leben. Stimmt das?«

»Was weiter?« fragte Pjotr vorsichtig und blickte über den Kopf des Bruders hinweg.

»Ihr alle wißt, daß die junge Orlowa meine Geliebte ist. Jetzt will ich mich mit ihr trauen lassen. Weißt du noch, Nikita, – sie war die einzige, die Mitleid mit dir hatte, als du ins Wasser fielst?«

Nikita nickte. Er saß fast zum erstenmal so nahe bei Natalia, und das war so schön, daß er weder sich bewegen, noch sprechen und das, was die andern sprachen, anhören wollte. Und als Natalia aus irgendeinem Gründe zusammenfuhr und ihn leise mit dem Ellenbogen anstieß, lächelte er und blickte unter den Tisch auf ihre Knie.

»Ich glaube, sie ist mir vom Schicksal bestimmt«, sagte Alexej. »Ich kann mit ihr ja anders leben. Ich will sie nicht ins Haus bringen, ich fürchte, ihr würdet euch mit ihr nicht vertragen.«

Uljana Bajmakowa hob die gesenkten, von schwerer Trauer erfüllten Augen und half Alexej:

»Ich kenne sie gut! Sie kann so schöne Handarbeiten machen wie selten jemand. Sie liest und schreibt. Sie hat ihren Vater, den Trunkenbold, und sich selbst von kleinauf erhalten. Aber sie ist von besonderer Art: Natalia würde sich mit ihr vielleicht nicht vertragen.«

»Ich vertrage mich mit allen Menschen«, bemerkte Natalia beleidigt. Pjotr blickte sie von der Seite an und sagte zu Alexej:

»Das ist wirklich nur deine Sache.«

Alexej wandte sich an die Bajmakowa mit dem Vorschlag, ihm ihr Haus zu verkaufen.

»Wozu brauchst du es?«

Pjotr unterstützte ihn:

»Du mußt bei uns wohnen.«

»Nun, ich will gehen und Olga alles mitteilen«, sagte Alexej.

Als er fort war, schlug Pjotr Nikita auf die Schulter und fragte:

»Was hast du, schläfst du? Worüber denkst du nach?«

»Alexej handelt richtig . . .«

»Glaubst du? Wir wollen sehen. Und was meinst du, Mütterchen?«

»Es ist sicher gut, daß sie sich trauen lassen, wer weiß aber, wie sie leben werden. Sie hat etwas Besonderes an sich. Wie eine Närrin.«

»Ich bedanke mich für solche Verwandtschaft«, sagte Pjotr lächelnd.

»Vielleicht ist das, was ich sage, nicht richtig«, meinte Uljana und schien ins Dunkel zu blicken, wo alles wirr schwankte und vom Auge nicht erfaßt werden konnte. »Sie ist schlau, ihr Vater besaß viele Sachen, die hat sie bei mir versteckt, damit der Vater sie nicht vertrinken konnte. Aljoscha schleppte sie des Nachts zu mir und dann tat ich so, als ob ich sie ihm schenkte. Alles, was der hat, gehört ihr, es ist ihre Mitgift. Es sind teure Sachen darunter. Ich mag Olga nicht besonders, und doch ist sie eigenartig.«

Pjotr wandte der Schwiegermutter den Rücken und sah aus dem Fenster. Im Garten plapperten die Stare und ahmten alles Erdenkliche nach. Ihm fielen Tichons Worte ein:

»Ich mag die Stare nicht, sie erinnern an Teufel.« – Dieser Tichon ist ein dummer Mensch, er fällt nur darum auf, weil er so dumm ist.

Die Bajmakowa erzählte leise, ungerne und sichtlich mit anderen Gedanken beschäftigt, wie Olga Orlowas Mutter, eine liederliche Gutsbesitzerin, mit Orlow noch zu Lebzeiten ihres Mannes in Beziehungen getreten war und etwa fünf Jahre mit ihm gelebt hatte.

»Er ist ein geschickter Mensch, er hat Möbel gemacht und Uhren repariert, er hat Holzfiguren geschnitzt. Eine davon habe ich aufgehoben, eine nackte Frau, – Olga hält sie für das Porträt ihrer Mutter. Sie haben beide getrunken. Und als ihr Mann starb, ließen sie sich trauen. Sie ertrank noch im selben Jahr beim Baden, weil sie betrunken war . . .«

»So können also Menschen lieben«, sagte plötzlich Natalia. Diese unpassenden Worte veranlaßten Uljana, die Tochter vorwurfsvoll anzublicken. Pjotr bemerkte aber lächelnd:

»Es war nicht von der Liebe, sondern vom Trinken die Rede . . .«

Alle schwiegen. Nikita, der Natalia beobachtete, sah, daß die Worte der Mutter sie aufregten; sie zupfte krampfhaft mit den Fingern an den Tischtuchfransen, und ihr schlichtes, gutes Gesicht errötete und wurde fremd und zornig.

Als Nikita nach dem Abendbrot im Fliederdickicht des Gartens unter dem Fenster von Natalias Zimmer saß, hörte er über seinem Kopfe Pjotr nachdenklich sagen:

»Alexej ist geschickt. Er ist klug.«

Und sogleich ertönte Natalias Aufschrei, der ins Herz schnitt:

»Ihr seid alle klug. Nur ich bin dumm. Er hat richtig gesagt: wir sind in der Gefangenschaft! Ich bin es, die bei euch in der Gefangenschaft lebt . . .«

Nikita erstarrte vor Angst und vor Mitleid. Er hielt sich mit beiden Händen an der Bank fest, eine ihm unbekannte Macht hob ihn und stieß ihn irgendwohin, und dort, über ihm, ertönte immer lauter die Stimme der geliebten Frau und erregte in ihm heiße Hoffnungen.

Natalia flocht sich den Zopf, als Pjotrs Worte in ihr plötzlich ein böses Feuer entzündeten. Sie lehnte sich an die Wand und preßte mit dem Rücken die Hände fest, die schlagen und etwas zerreißen wollten; sie erstickte an ihren Worten, schluchzte kurz auf und sprach, ohne sich selbst und die Zwischenrufe des erstaunten Mannes zu hören, – sie sprach davon, daß sie im Hause fremd sei, daß niemand sie liebe, daß sie lebe wie ein Dienstbote.

»Du liebst mich nicht, du sprichst mit mir über gar nichts, du stürzst dich nur wie ein Stein auf mich, das ist alles! Warum liebst du mich nicht? Bin ich denn nicht dein Weib? Sag, was ist an mir schlecht! Hast du nicht gesehen, wie meine Mutter deinen Vater geliebt hat? Mein Herz wollte mir manchmal vor Neid aus dem Leibe springen . . .«

»Liebe mich doch ebenso«, entgegnete Pjotr. Er saß auf dem Fensterbrett und betrachtete das verzerrte Gesicht seiner Frau im Dunkel der Ecke. Er fand ihre Worte dumm, er fühlte und begriff aber mit Staunen, daß ihr Kummer berechtigt und vernünftig sei. Und das Ärgste an diesem Kummer war, daß er die Gefahr eines anhaltenden Wirrwarrs, neue Sorgen und Aufregungen heraufbeschwor, es gab aber ohnedies genug Sorgen.

Die weiße, armlose Gestalt der Frau im Nachthemd zitterte und schwebte und drohte zu verschwinden. Bald flüsterte Natalia, bald schrie sie auf, als wäre sie auf einer Schaukel, als fliege sie nach oben und fiele hin.

»Sieh nur, wie Alexej seine Olga liebt . . . Und es ist leicht, ihn zu lieben, er ist lustig, kleidet sich wie ein feiner Herr. Aber wie bist du? Du gehst unfreundlich herum, lachst nie. Mit Alexej würde ich wie ein Herz und eine Seele leben; ich wagte aber niemals, auch nur ein Wort mit ihm zu wechseln, du hast deinen Buckligen als Wächter bei mir angestellt, dieses verschlagene Scheusal, absichtlich . . .«

Nikita erhob sich. Er ging mit gesenktem Kopf, wie vernichtet in die Tiefe des Gartens, und schob die ihn an den Schultern streifenden Baumzweige mit den Händen beiseite.

Auch Pjotr erhob sich, ging auf seine Frau zu, packte sie bei den Scheitelhaaren, bog ihr den Kopf zurück und sah ihr in die Augen:

»Mit Alexej?« fragte er halblaut, mit tiefer Stimme. Er war über die Worte seiner Frau derart erstaunt, daß er ihr nicht zu zürnen vermochte und sie nicht schlagen wollte; er wurde sich immer klarer dessen bewußt, daß sie die Wahrheit sprach: sie führte ein langweiliges Leben. Langeweile war etwas, das er verstand. Aber man mußte sie ja beruhigen, und um das zu erreichen, schlug er sie mit dem Hinterkopf gegen die Wand und fragte leise:

»Was hast du gesagt, du Närrin, he? Mit Alexej?«

»Laß los, laß los – ich schreie sonst . . .«

Er faßte sie mit der andern Hand bei der Kehle, die er zusammenpreßte, Natalias Gesicht rötete sich sogleich, sie röchelte.

»Nichtswürdige«, sagte Pjotr, sie an die Wand drückend und wandte sich weg. Auch sie wankte von der Wand fort und ging an ihm vorbei zur Wiege; das Kind greinte schon lange. Es schien Pjotr, als wäre die Frau über ihn hinweggeschritten. Vor ihm schwankte ein dunkelblaues Stück Himmel und sprangen die Sterne herum. Seine Frau saß seitlich neben ihm, er brauchte nur mit der Hand auszuholen, um sie, ohne aufzustehen, ins Gesicht zu schlagen. Ihr Gesicht war stumpf und hölzern, aber über die Wangen rannen langsam und träge die Tränen. Sie gab dem Mädchen die Brust, blickte durch die glasige Tränenhülle in die Ecke, ohne zu merken, daß es dem Kind schwer fiel, zu saugen; die horizontal gerichtete Brustwarze entglitt seinen Lippen, das Kind schmatzte greinend in die Luft und drehte das Köpfchen hin und her. Pjotr raffte sich auf, wie nach einem nächtlichen Alp, und sagte:

»Halt' die Brust richtig! Siehst du denn nicht!«

»Ich bin wie eine Fliege im Hause,« murmelte Natalia, »wie eine Fliege ohne Flügel.«

»Auch ich bin ja allein; es gibt doch nicht zwei Pjotr Artamonows.«

Er fühlte dunkel, daß er nicht das sagte, was er wollte, und daß in seinen Worten sogar eine gewisse Unwahrheit enthalten war. Um sie zu beruhigen und die Gefahr abzuwenden, mußte aber gerade die einfache, unwiderlegbar klare Wahrheit gesagt werden, die sie sofort verstehen und der sie sich unterordnen mußte, ohne ihn mit ihren dummen Klagen, mit Tränen und all den Frauendingen zu belästigen, die sie bis dahin nicht an sich gehabt hatte. Als er sah, wie nachlässig und ungeschickt Natalia die Kleine niederlegte, sagte Pjotr:

»Ich habe zu tun! Das Werk leiten bedeutet mehr, als Korn säen und Kartoffeln pflanzen. Das ist eine Aufgabe! Und was hast du im Kopfe?«

Zuerst hatte er streng und eindringlich gesprochen und sich bemüht, jener unfaßbaren Wahrheit näherzukommen; doch sie entglitt ihm, und seine Stimme klang beinahe klagend:

»Das Werk ist keine einfache Sache«, wiederholte er und fühlte, daß seine Worte versiegten, und daß er nichts mehr zu sagen hatte. Natalia schwieg und schaukelte, ihm den Rücken zuwendend, die Wiege. Er wurde durch Tichon Wialows ruhige, halblaute Stimme erlöst.

»Pjotr Iljitsch, hallo!«

»Was willst du?« fragte er, ans Fenster tretend.

»Komm' mal heraus,« sagte der Hausknecht hartnäckig.

»Der Flegel!« brummte Pjotr und warf seiner Frau vor: »Da siehst du! Man hat nicht einmal des Nachts Ruhe, und du läßt dich so gehen . . .«

Tichon empfing ihn mit blinzelnden Augen, ohne Mütze, beim Hauseingang, betrachtete den hell vom Mond erleuchteten Hof und sagte leise:

»Ich habe soeben Nikita Iljitsch aus der Schlinge gezogen . . .«

»Was? Wo?«

Als sinke er in den Boden, ließ sich Pjotr auf eine Treppenstufe gleiten.

»Setz' dich nicht erst, wir müssen zu ihm gehen. Er verlangt nach dir . . .«

Pjotr fragte flüsternd, ohne aufzustehen:

»Was hat er denn? Wie?«

»Jetzt ist er bei Besinnung; ich habe ihn mit Wasser begossen. Komm!«

Tichon hob den Herrn am Ellenbogen auf und führte ihn in den Garten.

»Er hat sich im Flur des Badehauses alles zurecht gemacht, hat am Boden, am Dachstuhlsparren eine Schlinge angebracht – und hat's dann getan . . .«

Pjotr schien an die Erde anzuwachsen und wiederholte:

»Was bedeutet das? Sollte es aus Trauer um den Vater sein?«

Auch der Hausknecht blieb stehen:

»Es war schon so weit mit ihm, daß er ihre Hemden küßte . . .«

»Was für Hemden? Was fällt dir ein?«

Pjotr betastete mit den bloßen Füßen die Erde und betrachtete den Hund des Hausknechts, der aus dem Gesträuch aufgetaucht war und ihn schwanzwedelnd und fragend ansah. Er fürchtete sich, zu Nikita zu gehen; er fühlte sich ganz ausgepumpt und wußte nicht, was er ihm sagen sollte.

»Ach, ihr lebt ohne Augen«, brummte Tichon. Pjotr schwieg und wartete, ob er noch etwas sagen würde.

»Ihre Hemden – die Hemden von Natalia Jewsejewna, hingen hier zum Trocknen . . .«

»Warum hat er denn . . . Warte!«

Pjotr stieß den Hund mit dem Fuß weg und stellte sich Nikitas kleine, bucklige Gestalt beim Küssen eines Frauenhemdes vor; das war einerseits komisch und zwang ihn andererseits voll Ekel auszuspucken. Aber sogleich überfiel und betäubte ihn ein brennender Zweifel; er packte Tichon bei den Schultern, schüttelte ihn und fragte durch die Zähne:

»Haben sich die beiden geküßt? Hast du was gesehen, wie?«

»Ich sehe alles. Natalia Jewsejewna weiß gar nichts davon.«

»Du lügst!«

»Welchen Grund hätte ich zu lügen? Ich erwarte von dir keine Belohnung.«

Und als schlüge er mit der Axt eine Lichtung durch das Dunkel, erzählte Tichon seinem Herrn in wenigen Worten von Nikitas Unglück. Pjotr begriff, daß Tichon die Wahrheit sprach; er hatte sie schon längst aus den Blicken der blauen Augen seines Bruders, aus den von ihm Natalia erwiesenen Diensten, aus seiner unmerklichen, aber steten Sorge um sie erraten.

»So–o«, flüsterte er und dachte laut: »Ich bin nie dazu gekommen, das zu verstehen.«

Dann stieß er Tichon vorwärts und sagte:

»Komm!«

Er wollte nicht als erster Nikitas Blick ertragen, und als er durch die niedrige Tür des Badehauses trat und Nikita in der Dunkelheit noch nicht erkennen konnte, fragte er mit zitternder Stimme hinter Tichons Rücken:

»Was machst du da, Nikita?«

Der Bucklige antwortete nicht. Er war auf der Bank am Fenster kaum zu sehen, trübes Licht fiel ihm auf den Leib und die Beine. Später unterschied Pjotr, daß Nikita den Buckel an die Wand lehnte und mit gesenktem Kopf dasaß, sein Hemd war vom Kragen bis zum Saum zerrissen und naß und klebte an seinem Vorderbuckel; auch das Kopfhaar war naß, und auf dem Backenknochen befand sich ein dunkler Stern, von dem blutunterlaufene Strahlen ausgingen.

»Blut? Du hast dich verletzt?« fragte Pjotr flüsternd.

»Nein, ich habe ihn in der Eile ein wenig gestoßen«, antwortete Tichon unnötig laut und trat beiseite. Es war unheimlich, Nikita nahezukommen. Pjotr lauschte seinen eigenen Worten, als wären es fremde, er riß sich am Ohr, klagte und machte Vorwürfe:

»So eine Schande. Es ist gegen Gott, Nikita! Ach, du . . .«

»Ich weiß!« antwortete Nikita heiser, gleichfalls mit fremder Stimme. »Ich habe es nicht länger ertragen können. Laß mich fort. Ich gehe in ein Kloster. Hörst du? Ich bitte dich von ganzer Seele . . .«

Er hustete pfeifend und verstummte . . .

Pjotr war bewegt. Er machte ihm wieder leise, freundliche Vorwürfe und sagte endlich:

»Was Natalia betrifft, hat dich sicher der Teufel verwirrt . . .«

»Ach, Tichon«, schrie Nikita mit heulender Stimme und ächzte schmerzlich. »Ich hatte dich doch gebeten zu schweigen, Tichon! Um Christi Willen, sag' es doch wenigstens ihr nicht! Sie lacht mich ja aus und wird beleidigt sein! Habt doch Mitleid mit mir! Ich will ja mein ganzes Leben lang Gott für euch dienen. Sprecht nicht davon! Sprecht niemals davon! Tichon, das geht alles von dir aus! Ach, was bist du für ein Mensch . . .«

Er murmelte und hielt den Kopf unnatürlich gerade, ohne ihn zu bewegen. Auch das wirkte unheimlich. Tichon sagte:

»Ich hätte auch geschwiegen, wenn sich das nicht ereignet hätte. Von mir soll sie nichts erfahren . . .«

In immer mehr wachsender Bewegung, die ihn selbst verlegen machte, erklärte Pjotr fest:

»Ich verspreche es dir angesichts des Kreuzes, sie wird nichts erfahren!«

»Nun, ich danke dir! Ich will ins Kloster.«

Und Nikita schwieg, als schliefe er.

»Tut es weh?« fragte Pjotr. Da er keine Antwort erhielt, wiederholte er:

»Tut dir der Hals noch weh?«

»Es geht schon besser«, sagte Nikita heiser. »Laßt mich jetzt allein . . .«

»Geh' nicht fort«, flüsterte Pjotr Tichon zu und wich an ihm vorbei zur Tür zurück.

Als er in den Garten trat und die süßlich warmen Düfte der feuchten Erde tief einatmete, schwand seine innere Bewegung sofort vor dem Ansturm beunruhigender Gedanken. Er schritt den Weg entlang und war darauf bedacht, daß der Kies unter seinen Füßen nicht knirschte; es verlangte ihn nach großer Stille, weil er sonst mit seinen Gedanken nicht zurechtkam. Sie waren feindselig und erschreckten durch ihre Fülle, sie schienen nicht in ihm zu entstehen, sondern von außen, aus dem nächtlichen Dunkel einzudringen, in dem sie wie Fledermäuse herumhuschten. Sie lösten einander so rasch ab, daß es Pjotr nicht gelang, sie einzufangen und in Worte zu schließen; er konnte nur die kunstvollen Schnörkel, Schlingen und Knoten erhaschen, die ihn, Natalia, Alexej, Nikita und Tichon umstrickten, und alle zu einem verworrenen Reigen vereinten, der so rasch wirbelte, daß nichts zu erkennen war; er selbst stand aber allein im Mittelpunkt dieses Kreises. In Worten ausgedrückt, dachte er ganz einfache Dinge:

»Die Schwiegermutter muß möglichst bald zu uns übersiedeln. Alexej muß fort. Ich sollte zu Natalia liebevoller sein! ›Sieh, wie man liebt‹, sagte sie. Er hat aber nicht wegen der Liebe, sondern wegen seiner Armseligkeit zur Schlinge gegriffen. Es ist ganz richtig, daß er zu den Mönchen will, er hat bei den Menschen nichts zu suchen. Das ist gut so. Tichon ist ein Dummkopf, er hätte es mir früher sagen können.«

Das waren aber nicht jene unfaßbaren, wortlosen Gedanken, die ihn verwirrten und erschreckten und ängstlich in das dichte und feuchte Dunkel der Nacht starren ließen. In der Ferne, in der Fabriksiedlung, floß kaum hörbar der spärliche Strom eines traurigen Liedes dahin. Die Mücken summten. Pjotr Artamonow empfand klar die Notwendigkeit, seine Bangigkeit möglichst schnell loszuwerden und zu unterdrücken. Er war, ohne es zu merken, bei dem Fliedergesträuch unter seinem Schlafzimmerfenster angelangt. Lange saß er da, stützte die Ellbogen auf die Knie, preßte das Gesicht mit den Handflächen und blickte auf die schwarze Erde; die Erde bewegte sich unter seinen Füßen und schien Blasen zu werfen, als wolle sie bersten.

»Es ist seltsam, wie Nikita über den sandigen Boden gesiegt hat. Er wird ins Kloster gehen und da Gärtner werden. Das ist gut für ihn.«

Er hatte das Nahen seiner Frau nicht bemerkt und sprang erschrocken auf, als vor ihm, wie aus der Erde heraus, eine weiße Gestalt auftauchte. Doch beruhigte ihn einigermaßen die bekannte Stimme:

»Verzeih, um Christi willen, daß ich so geschrien habe . . .«

»Nun, lassen wir das! Gott wird verzeihen, – ich habe ja auch geschrien«, sagte er großmütig und erfreut, daß Natalia gekommen war, und daß er nicht erst sanfte Worte suchen mußte, um den durch ihren Streit entstandenen Riß zu glätten und zu schließen.

Er setzte sich, und Natalia ließ sich zögernd neben ihm nieder. Er mußte doch etwas Tröstendes sagen und begann:

»Ich verstehe, daß du dich langweilst. In unserem Hause kommt kein Frohsinn auf! Worüber sollte man sich freuen? Der Vater war bei seiner Arbeit fröhlich. Er dachte sich das so: es gibt nicht einfach Menschen – sondern nur Arbeiter, und außerdem noch Bettler und Herrschaften. Alle leben für die Arbeit. Man sieht vor lauter Arbeit keine Menschen.«

Er sprach vorsichtig, aus Angst etwas Überflüssiges zu sagen, und wie er sich selbst zuhörte, fand er, daß er wie ein ernster Geschäftsmann und ein echter Unternehmer redete. Doch fühlte er, daß alle diese Worte nur äußerlich waren und über die Gedanken hinglitten, ohne sie aufzuschließen, ohne die Kraft zu finden, in sie einzudringen; und ihm schien, er sitze am Rande einer Grube, in die ihn im nächsten Augenblick jemand hinabstoßen könnte, der seiner Rede folgte. Er flüsterte:

»Du sprichst die Unwahrheit.«

Natalia schmiegte gerade im richtigen Augenblick den Kopf an seine Schulter und sagte leise:

»Du bist ja fürs ganze Leben mein, verstehst du das denn nicht?«

Er umfaßte sie sogleich und preßte sie, ihrem leidenschaftlichen Geflüster lauschend, an sich.

»Es ist eine Sünde, wenn man das nicht versteht! Du hast dir ein Mädchen genommen, sie schenkt dir Kinder, aber du scheinst für mich gar nicht da zu sein, du hast kein Herz für mich. Das ist Sünde, Petja! Wer steht dir näher als ich? Wer wird in einer schweren Stunde Mitleid mit dir haben?«

Er hatte das Gefühl, seine Frau hätte ihn hochgehoben, in die Luft geschleudert und in angenehmer Weise seiner Kraft beraubt; er versank in erfrischende Kühle und sprach fast mit Dankbarkeit:

»Ich habe zu schweigen versprochen, aber ich kann es nicht!«

Und er erzählte ihr eilig alles, was er von Tichon und von Nikita erfahren hatte.

»Er hat deine Hemden geküßt, die im Garten trockneten, so sehr hat er den Kopf verloren! Wieso hast du das nicht gewußt und es ihm nicht angemerkt?«

Die Schulter der Frau erbebte heftig unter seiner Hand.

»Sie bemitleidet ihn?« dachte Pjotr. Sie erwiderte aber eilig und empört:

»Ich habe nie irgendetwas Eigennütziges an ihm bemerkt! Ach, wie verschlossen er doch ist! Es stimmt, daß die Buckligen listig sind.«

»Ekelt sie sich? Oder stellt sie sich nur so?« fragte sich Artamonow und erinnerte sie:

»Er war immer freundlich zu dir.«

»Nun, was ist denn dabei?« fragte sie herausfordernd. »Auch Tulun ist freundlich.«

»Tulun ist doch ein Hund.«

»Du hast Nikita auch wie einen Hund bei mir gehalten, um mich zu beobachten und vor dem Schwiegervater und vor Alexej zu bewahren. Ich verstehe ja alles! Ach, wie widerwärtig war er mir, wie hat er mich beleidigt.«

Es war klar, daß Natalia gekränkt und empört war, das war aus dem Zittern ihrer Haut und aus den krampfhaften Bewegungen der Finger zu ersehen, mit denen sie am Hemd herumnestelte und zupfte. Pjotr erschien ihre Entrüstung jedoch übermäßig, er glaubte nicht daran und versetzte ihr den letzten Hieb:

»Tichon hat ihn aus der Schlinge gezogen. Er liegt im Badehaus.«

Sie verlor unter seinem Streich alle Kraft, sank zusammen und rief mit sichtlicher Angst:

»Nein . . . Was sagst du? O Gott . . .«

»Sie hat also gelogen«, entschied Pjotr. Sie zuckte aber mit dem Kopf, als hätte jemand sie auf die Stirne geschlagen und flüsterte, zornig aufschluchzend:

»Was soll nun werden? Väterchens Tod hat uns ein wenig von der Nachrede der Leute erlöst, jetzt wird man wieder über uns herfallen! Ach Gott, wofür kommt das über uns? Der eine Bruder hängt sich auf, der zweite heiratet, man weiß nicht recht wen, eine Geliebte . . . Was ist das alles nur? Ach, Nikita Iljitsch! Was ist das bloß für eine Schamlosigkeit? Nun, ich danke! Der Unbarmherzige hat uns einen schönen Gefallen erwiesen . . .«

Er seufzte erleichtert auf und streichelte zärtlich Natalias Schulter.

»Hab' keine Angst, niemand soll etwas erfahren. Tichon wird nichts sagen, – er ist mit ihm befreundet und fühlt sich bei uns wohl. Nikita will ins Kloster gehen . . .«

»Wann?«

»Ich weiß nicht.«

»Ach, wenn es doch bald wäre! Wie soll ich denn jetzt zu ihm sein?«

Pjotr schlug nach einem Schweigen vor:

»Geh' zu ihm, sieh nach . . .«

Doch die Frau sprang, wie von einer Tarantel gestochen, auf und schrie beinahe:

»Ach, schick' mich nicht hin! Ich will nicht zu ihm! Ich will nicht, ich fürchte mich . . .«

»Wovor?« fragte Pjotr rasch.

»Vor dem Selbstmörder. Ich gehe nicht, du kannst anfangen, was du willst! Ich fürchte mich.«

»Nun, komm schlafen!« sagte Artamonow und erhob sich auf seinen starken Beinen. »Wir haben uns heute genug gequält.«

Langsam neben der Frau hinschreitend, fühlte er, daß dieser Tag ihm zugleich mit dem Bösen auch etwas Gutes geschenkt hatte, und daß er, Pjotr Artamonow, ein Mensch war, als welchen er sich bis zum heutigen Tage nicht gekannt hatte, – er war klug und sehr schlau und hatte soeben sehr geschickt jemanden betrogen, der seine Seele in zudringlicher Weise durch dunkle Gedanken beunruhigt hatte.

»Natürlich stehst du mir am allernächsten«, sagte er zu seiner Frau. »Wer ist mir denn näher? Vergiß also nicht: du stehst mir am nächsten. Dann wird alles gut.«

Am zwölften Tage nach dieser Nacht schritt Nikita Artamonow beim Morgenrot durch den lockeren Sand eines vor Tau dunkel schimmernden Fußpfades. Er hatte einen Stock in der Hand und einen Ledersack auf dem Buckel, er ging schnell, als wollte er, so bald wie möglich, den Erinnerungen an den Abschied von den Verwandten entfliehen. Sie waren alle nicht ausgeschlafen und hatten sich im Eßzimmer neben der Küche versammelt, man saß steif da, sprach zurückhaltend, und es war klar, daß niemand von ihnen auch nur ein einziges herzliches Wort für ihn übrig hatte. Pjotr war freundlich und beinahe heiter, wie ein Mensch, der ein vorteilhaftes Geschäft abgeschlossen hat. Er sagte ein paarmal:

»Jetzt haben wir also in der Familie einen eigenen Fürbitter für unsere Sünden . . .«

Natalia schenkte gleichgültig und sehr aufmerksam Tee ein, ihre kleinen Mausohren brannten wahrnehmbar und sahen verdrückt aus; sie runzelte die Stirn und ging oft aus dem Zimmer. Ihre Mutter schwieg nachdenklich und glättete sich mit angefeuchtetem Finger die grauen Haare an den Schläfen. Nur Alexej zeigte eine an ihm ungewöhnliche Erregung und fragte, mit den Schultern zuckend:

»Wieso hast du dich dazu entschlossen, Nikita? So plötzlich? Das ist mir unverständlich.«

Neben ihm saß die kleine, spitznasige Orlowa, hob die dunklen Brauen und betrachtete ungeniert alle mit Augen, die Nikita mißfielen, – sie waren für ihr Gesicht unverhältnismäßig groß, unmädchenhaft scharf und blinzelten zu oft.

Es war bedrückend, unter diesen Menschen zu sitzen, und er dachte ängstlich:

»Und wie, wenn Pjotr es doch allen sagt? Wenn man mich nur bald fortließe . . .«

Pjotr verabschiedete sich als erster; er näherte sich ihm, umarmte ihn und sagte sehr laut, mit bebender Stimme:

»Nun, teurer Bruder, lebe wohl . . .«

Die Bajmakowa unterbrach ihn:

»Was fällt dir ein? Wir müssen erst eine Weile sitzen und schweigen, erst dann, nach einem Gebet, dürfen wir uns verabschieden.«

Das alles wurde sehr rasch ausgeführt. Pjotr trat wieder herzu und sagte:

»Verzeihe uns! Schreibe uns über die Schenkung, wir schicken dir das Geld sofort. Nimm kein zu schweres Noviziat auf dich! Lebe wohl! Bete recht viel für uns!«

Die Bajmakowa bekreuzte ihn, küßte ihn dreimal auf Stirn und Wangen und weinte. Alexej umarmte ihn fest, sah ihm in die Augen und sagte:

»Nun, geh mit Gott! Jeder hat seinen Weg. Und doch verstehe ich nicht, weshalb du dich so plötzlich entschlossen hast . . .«

Natalia kam als letzte: sie trat aber nicht dicht an ihn heran, sondern preßte ihre Hand an die Brust, verneigte sich tief und sagte leise:

»Leb' wohl, Nikita Iljitsch . . .«

Ihre Brüste waren noch immer hoch und mädchenhaft, obwohl sie schon drei Kinder genährt hatte.

Das war alles. Dann kam noch die Orlowa: sie streckte ihm ihre kleine, heiße Hand hin, die hart wie Holz war, – in der Nähe war ihr Gesicht noch unangenehmer. Sie fragte einfältig:

»Wollen Sie sich wirklich einkleiden lassen?«

Auf dem Hof verabschiedeten sich etwa dreißig Weber von ihm. Der uralte, taube Boris Morosow schrie, mit dem Kopf wackelnd:

»Der Soldat und der Mönch sind die ersten Diener der Welt, so ist es!«

Nikita ging auf den Kirchhof, um vom Grabe des Vaters Abschied zu nehmen. Er kniete davor nieder und sann, ohne zu beten, darüber nach, welche Wendung sein Leben genommen hatte. Als hinter seinem Rücken die Sonne aufging und auf den taubenetzten Rasen des Grabes ein breiter, eckiger Schatten fiel, der durch seine Umrisse an die Hütte des bösen Hundes Tulun erinnerte, sagte Nikita, sich bis zur Erde verneigend:

»Leb' wohl, Väterchen.«

In der wachen Stille des Morgens klang seine Stimme dumpf und heiser. Nach einer Pause wiederholte der Bucklige lauter:

»Leb' wohl, Väterchen.«

Er weinte bitterlich, nach Frauenart schluchzend, der Verlust seiner früheren hellen und klaren Stimme schmerzte ihn unerträglich.

Als Nikita eine Werst vom Friedhof entfernt war, erblickte er plötzlich den Hausknecht Tichon; den Spaten auf der Schulter, die Axt im Gürtel, stand er wie eine Schildwache im Gesträuch an der Landstraße.

»Du gehst?« fragte er.

»Ich gehe. Was machst du da?«

»Ich will eine Eberesche ausgraben und sie ans Fenster, neben meinem Wächterhaus, pflanzen.«

Sie standen eine Weile da und sahen einander schweigend an, worauf Tichon seine feuchten Augen abwandte.

»Schreite nur aus, ich begleite dich ein wenig.«

Sie gingen schweigend. Tichon begann als erster:

»Wieviel Tau fällt! Er ist schädlich und kündigt Dürre und Mißernte an.«

»Gott verhüte es.«

Tichon Wialow sagte etwas Unverständliches.

»Wie?« fragte Nikita, ein wenig erschrocken. Er erwartete von diesem Menschen immer irgendwelche besondere Worte, die die Seele reizten.

»Vielleicht verhütet er es, sage ich.«

Aber Nikita war überzeugt, der Erdarbeiter hätte etwas gesagt, was er nicht zu wiederholen wünschte.

»Wie, glaubst du etwa nicht an die göttliche Gnade?« fragte Nikita vorwurfsvoll.

»Warum?« erwiderte Tichon ruhig. »Wir brauchen jetzt Regen. Dieser Tau schadet auch den Pilzen. Bei einem guten Wirt kommt aber alles zur rechten Zeit.«

Nikita schüttelte seufzend den Kopf.

»Du denkst wohl falsch, Tichon . . .«

»Nein, ich denke richtig. Ich denke nicht mit den Augen.«

Sie legten schweigend etwa fünfzig Schritte zurück. Nikita schaute auf den breiten Schatten vor seinen Füßen; Wialow schlug im Takt zu seinen Schritten mit dem Finger auf den Holzschaft der Axt.

»Nikita Iljitsch, ich komme in einem Jahr, um nach dir zu sehen. Ist's dir recht?«

»Komm' nur. Du bist neugierig.«

»Das stimmt.«

Er nahm die Mütze ab und blieb stehen:

»Nun, leb' also wohl, Nikita Iljitsch!« Und er fügte, sich die Backenknochen kratzend, sinnend hinzu:

»Du gefällst mir und bist nach meinem Herzen. Du bist sanft von Gemüt. Dein Vater war fleischlich klug, aber du bist ganz Geist und Seele . . .«

Nikita warf den Stock auf die Erde, wackelte mit dem Buckel, um den Sack an die rechte Stelle zu bringen und umarmte Tichon schweigend. Der umschlang ihn fest und wiederholte laut und beharrlich:

»Ich komme also.«

»Danke.«

Dort, wo die Straße eine scharfe Biegung in den Fichtenwald machte, blickte Nikita sich um, – Tichon hatte die Mütze unter die Achsel geschoben und stand, auf den Spaten gestützt, mitten auf der Straße, als hätte er vor, niemand vorüberzulassen; der Morgenwind erhob sich und bewegte die Haare auf seinem wenig anziehenden Kopfe.

Aus der Ferne erinnerte Tichon an den Narren Antonuschka. Beim Gedanken an diesen seltsamen Menschen beschleunigte Nikita Artamonow seine Schritte, während es in seiner Erinnerung aufdringlich erklang:

»Chiristus ist erstanden, ist erstanden,
Der Reisewagen hat ein Rad verloren.«

 


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