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An die auf der Messe in Nishni verlebten, bewegten Tage bang zurückdenkend empfand Pjotr Artamonow Verblüfftheit, beinahe Angst; es war nicht zu glauben, er hatte alles, was das Gedächtnis wieder auferstehen ließ, in wachem Zustand gesehen und war selbst in dem ungeheuren Steinkessel mitgekocht worden, der vom Dröhnen und Brüllen der Musik und der Lieder, vom Kreischen, vom trunkenen Entzücken und von dem die Seele verzehrenden sehnsüchtigen Geheul wahnsinniger Menschen erfüllt war. Das alles wurde von einem großen, kraushaarigen Mann im Zylinder und Gehrock zusammengebraut und durcheinander gerührt; in sein bläuliches, rasiertes Gesicht waren vorstehende Eulenaugen eingefügt; dieser Mann schmatzte mit den dicken Lippen und schrie, Artamonow umarmend und schüttelnd:
»Dummkopf, schweig! Es ist die Taufe Rußlands, verstehst du? Die alljährliche Taufe an der Wolga und an der Oka!«
Sein Gesicht erinnerte an das eines Kochs und seine Kleidung an die jener Fackelträger, die engagiert werden, um reiche Verstorbene zu Grabe zu geleiten. Pjotr erinnerte sich dunkel, daß er mit diesem Menschen gerauft und dann Kognak getrunken hatte, der mit Gefrorenem gemischt war. Der Mann hatte schluchzend gesagt:
»Verstehe das Brüllen der russischen Seele! Mein Vater war Geistlicher, und ich bin ein nichtsnutziger Kerl!«
Seine Stimme war tief, trompetenartig, aber weich; er überschüttete alle Menschen mit einem Strom nie gehörter Worte, die in unwiderstehlicher Weise erregten:
»Die Vernichtung des Fleisches!« schrie er. »Der Kampf mit dem Teufel! Werft ihm, diesem Schwein, seinen schmutzigen Tribut hin! Bändige den Aufruhr des Körpers, Petja! Ohne zu sündigen, tut man nicht Buße, und ohne Buße gibt es keine Rettung. Wasche die Seele rein! Wir gehen ins Bad und waschen den Körper! Und die Seele? Die Seele verlangt nach einem Bade. Freie Bahn der russischen Seele, der singenden, heiligen, großen Seele!«
Auch Pjotr weinte gerührt und murmelte:
»Die Seele ist eine Waise, ein angenommenes Kind, – das stimmt! Man hat sie vergessen. Wir bemitleiden sie nicht.«
Und alle Leute schrien:
»Es stimmt! Es ist wahr!«
Und ein kahlköpfiger, rotbärtiger, runder und flinker Mensch mit einem glühenden Gesicht und lila Ohren drehte sich wie ein Kreisel und kreischte außer sich auf Weiberart:
»Stiopa – das ist wahr! Ich vergöttere dich. Ich bin in dich sterblich verliebt. Ich bin in drei Dinge sterblich verliebt: in dich, in etwas Saures und in die Wahrheit. In die Wahrheit von der Seele!«
Und auch er weinte und sang:
»Den Tod durch den Tod überwindend . . .«
Pjotr sang dazu die Worte des Narren Anton:
»Der Reisewagen hat ein Rad verloren.«
Auch ihm schien es, daß er den schwarzen Stiopa liebte, er lauschte bezaubert seinem Schreien, und wenn ihn die ungewöhnlichen Worte auch manchmal erschreckten, gab es doch mehr solche, welche ihn süß und tief aufwühlten und ihm in dem dunklen, lauten Chaos gleichsam eine Tür in irgendein helles Gemach öffneten. Besonders gefielen ihm aber die Worte »Die singende Seele«, sie enthielten etwas sehr Richtiges und Klagendes, und sie verschmolzen mit folgendem Bilde: an einem glühenden Wochentag steht auf einer mit Kehricht bedeckten Straße von Driomow ein großer, graubärtiger und wie der Tod knochiger Greis, er dreht müde den Griff des Leierkastens, und vor ihm singt ein etwa zwölfjähriges Mädchen in einem verknitterten blauen Kleid, den Kopf hochhebend und die Augen schließend, mit angestrengter, versagender Stimme:
»Ich erwarte gar nichts mehr vom Leben . . .
Nur was Ruhe und die Freiheit mir kann geben . . .«
Als dieses Mädchen Artamonow einfiel, murmelte er dem Mann mit den lila Ohren zu:
»Die singende Seele! Er hat recht!«
»Stiopa?« fragte der Rotbärtige mit schriller Stimme.
»Stiopa weiß alles! Er besitzt die Schlüssel zu jeder Seele!«
Und der Rotbärtige glühte immer mehr und kreischte:
»Stiopa, Menschenfreund, los! Rechtsanwalt Paradisow, führe uns in eine sonst für niemanden zugängliche Spelunke! Ich bin mit allem einverstanden . . .«
Der Menschenfreund war der Hirte und Anführer einer Gruppe sich amüsierender Industrieller, und überall, wo er mit seiner betrunkenen Horde auch erscheinen mochte, erschallte Musik, ertönten Lieder, bald wehmütige, die die Seele bis zu Tränen erschütterten, und bald wilde zu rasendem Tanz; von der Musik behielt das Gehör nur die auf eine große Trommel dumpf niedersausenden Schläge und das dünne Pfeifen einer tollkühnen Flöte. Wenn lang gedehnte, traurige Lieder gesungen wurden, schienen die Steinwände der Gasthäuser sich zusammenzuschieben und zu würgen, wenn der Chor aber flott und mit Bravour sang und bunt gekleidete Burschen tanzten, schien ein Wind die Wände zu schaukeln und aufzublähen. Man wurde wild herumgeschleudert und ging von der Freude zur Wollust der Trauer über, und zuweilen wurde Pjotr Artamonow von einer derartigen Begeisterung erfaßt und durchglüht, daß er irgendetwas Außergewöhnliches und Erschütterndes zu vollbringen wünschte, – jemanden zu ermorden, sich den Leuten vor die Füße zu werfen und ihnen auf den Knien und öffentlich zu verkünden: »Richtet mich, verurteilt mich zu einer furchtbaren Todesstrafe!«
Man befand sich im »Karussel«, einem irrsinnigen Lokal, dessen Fußboden sich mit sämtlichen Tischchen, Menschen und Kellnern langsam drehte; nur die Ecken des mit Gästen, wie ein Kissen mit Federn, vollgestopften und von Lärm erfüllten Saales blieben unbeweglich. Die Fußbodenscheibe drehte sich und zeigte in der einen Ecke einen Haufen rasender Musikanten mit Messingtrompeten; in der zweiten einen Chor, eine Menge bunter Frauen mit Kränzen auf den Köpfen; in der dritten spiegelte sich auf dem Geschirr und den Flaschen des Büffets das Licht der Hängelampen wieder, und die vierte Ecke war durch die Tür abgeschnitten, durch die sich Menschen hereinschoben, die beim Betreten der Drehscheibe wankten, mit erhobenen Armen hinfielen, dröhnend lachten und dann verschwanden.
Der Menschenfreund, der schwarze Stiopa, erklärte Artamonow:
»Es ist dumm, aber schön! Der Fußboden ruht auf Balken wie die Teeuntertasse auf den gespreizten Fingern, die Balken sind an einem Pfahl befestigt, am Pfahl befinden sich zwei horizontale Hebel, an jeden ist ein Pferdepaar vorgespannt, das vorwärts geht und den Fußboden dreht. Einfach, nicht wahr? Darin liegt aber der ganze Sinn. Petja, merke dir: Alles hat leider einen geheimen Sinn!«
Er erhob den Finger zur Zimmerdecke, am Finger funkelte wie ein Wolfsauge ein grünlicher Stein; ein breitschultriger Kaufmann mit einem Hundekopf zupfte Artamonow am Ärmel, sah ihn mit den verglasten Augen einer Leiche starr an und fragte laut, als wäre er taub:
»Und was wird Dunja sagen, wie? Wer bist du?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, fragte er einen andern Nachbarn:
»Wer bist du? Und was werde ich Dunja sagen? Wie?«
Er stützte sich gegen die Stuhllehne und schnaufte:
»Pfui, zum Teufel!«
Und er schrie wie toll:
»Los, an einen andern Ort!«
Dann spielte er den Kutscher, saß auf dem Bock eines Wagens, vor den zwei graue Pferde gespannt waren, und verkündete laut allen Vorübergehenden und ihm Begegnenden:
»Wir fahren zu Paula! He, kommt mit!«
Man fuhr im Regen; im Wagen saßen fünf Menschen, einer davon lag vor Artamonows Füßen und murmelte:
»Er hat mich betrogen, und ich werde ihn betrügen. Er mich und ich ihn . . .«
Auf dem Platz, vor dem an einen Brotlaib erinnernden Hügel, stürzte der Wagen um, Pjotr fiel hin, schlug sich den Kopf und den Ellenbogen wund, blieb auf dem nassen Rasen des Hügels sitzen und sah zu, wie der Rothaarige mit den lila Ohren über den Hügel zur Moscheeeinfriedung hinkroch und brüllte:
»Geht fort, ich will mich zum Tatarentum bekehren, ich will Mohammed werden, laßt mich!«
Der schwarze Stepan packte ihn bei den Füßen, schleppte ihn hinunter und führte ihn weg; aus den Läden und aus der Karawanserei lief eine Menge von Persern, Tataren und Bucharen zusammen; ein Alter in einem gelben Gewand und einem grünen Turban drohte Pjotr mit einem Stock:
»Uruß, Schajtan!«
Ein Polizist mit einem kupfernen Gesicht stellte Pjotr auf die Beine und sagte:
»Skandale sind nicht gestattet.«
Es kamen Droschken herbei, man setzte die Betrunkenen hinein und brachte sie fort; vorne fuhr stehend der Menschenfreund und schrie etwas durch die Faust wie durch ein Sprachrohr. Der Regen hatte aufgehört, aber der Himmel war so drohend schwarz, wie er in Wirklichkeit nicht zu sein pflegt; über dem ungeheuren Block der Karawanserei funkelten Blitze, die in das Dunkel feurige Spalte rissen, und es wurde unheimlich, als die Pferdehufe laut auf der Holzbrücke über den Béthencourtkanal erschallten, – Artamonow erwartete, die Brücke würde einstürzen, und alle würden in dem regungslos erstarrten, pechschwarzen Wasser zugrunde gehen . . .
In diesen zerrissenen, an einen Alp erinnernden Bildern suchte und fand Artamonow sich selbst inmitten von Menschen, die durch das zügellose Leben irrsinnig geworden waren und erschien sich als ein ihm beinahe unbekannter Mensch. Dieser Mensch war halbtot vom Trinken und erwartete gierig, daß gleich, im nächsten Augenblick, etwas ganz Ungewöhnliches beginnen sollte, das Wichtigste und Freudigste, das einen entweder in grenzenlose Trauer stürzen oder für immer zu ebenso grenzenloser Freude erheben würde.
Das Unheimlichste, im Gedächtnis als blendender Punkt bewahrt, war eine Frau, Paula Menotti. Er sah sie in einem großen, leeren Zimmer mit kahlen Wänden; ein Drittel des Raumes nahm ein Tisch ein, der mit Flaschen, bunten Weingläsern und Pokalen, mit Obst- und Blumenvasen und mit silbernen Kaviar- und Champagnerkübeln bedeckt war. Etwa zehn rothaarige, kahlköpfige, angegraute Männer saßen ungeduldig um den Tisch herum; einer der leeren Sessel war mit Blumen geschmückt.
Der schwarze Stiopa stand mitten im Zimmer, hielt den Stock mit dem goldenen Griff wie eine Kerze in die Höhe und kommandierte:
»He, ihr Schweine, wartet noch mit dem Fressen!«
Jemand sagte mit dumpfer Stimme:
»Belle nicht!«
»Schweig!« schrie der Menschenfreund. »Ich habe zu bestimmen!«
Es wurde plötzlich dunkler, worauf hinter der Tür gedämpfte Trommelschläge ertönten. Stiopa schritt zur Tür hin und öffnete sie; es kam wankend und wie eine Gans ausschreitend, ein dicker Mensch mit einer Trommel auf dem Bauch herein und schlug kräftig drein:
»Bum, bum, bum . . .«
Fünf ebenso gesetzte, ernste Menschen schleppten, gebückt und mit der Anstrengung von Pferden, einen Flügel ins Zimmer, sie hielten ihn an Handtüchern, mit denen seine Füße umwickelt waren; auf dem schwarzen, glänzenden Flügeldeckel lag eine nackte, blendend weiße Frau, deren schamlose Nacktheit etwas Erschreckendes hatte. Sie lag mit der Brust nach oben und hielt die Hände unter dem Kopf; ihr offenes dunkles Haar verschwamm mit dem schwarzen Glanz des Lacks und schien in den Deckel hineinzuwachsen; je näher sie an den Tisch heranrückte, desto deutlicher traten ihre Körperformen hervor, und desto aufdringlicher fielen die Haarbüschel unter den Achseln und auf dem Leib in die Augen.
Die Messingrollen kreischten, der Fußboden knarrte, die Trommel dröhnte laut; die vor diesen schweren Triumphwagen gespannten Menschen blieben stehen und richteten sich auf. Artamonow erwartete ein allgemeines Auflachen, dann würde alles verständlicher erscheinen; alle am Tisch erhoben sich jedoch und sahen schweigend zu, wie die Frau sich träge vom Flügeldeckel loslöste und losriß; es war als wäre sie soeben aus dem Schlaf erwacht, und als befinde sich unter ihr ein Teil der Nacht, der sich bis zur Härte von Stein verdichtet hatte. Das erinnerte an ein Märchen. Nun stand die Frau aufrecht da, warf sich das üppige, dichte Haar hinter die Schultern, stampfte mit den Füßen und trübte den tiefen Glanz des Lackes durch weiße Staubflecken; man hörte das Tönen der Saiten unter ihren Fußtritten.
Jetzt kamen zwei Personen herein: eine grauhaarige Alte mit einer Brille und ein Mann im Frack; die Alte setzte sich und entblößte gleichzeitig ihre gelben Zähne und die zweifarbigen Knöchelchen der Tasten, während der Mann im Frack zu seiner Schulter eine Geige erhob, das rötliche Auge zukniff, mit dem Bogen zielte und die Geige damit entzweischnitt, worauf in den Baßgesang der Flügelsaiten die dünne, pfeifende Geigenstimme eindrang. Die nackte Frau richtete sich mit einer wellenförmigen Bewegung auf, schüttelte den Kopf, so daß die Haare auf ihre frech in die Höhe stehenden Brüste fielen und sie bedeckten; sie wiegte sich und begann langsam, halblaut und näselnd mit einer aus der Ferne kommenden, träumerischen Stimme zu singen.
Alle blickten sie schweigend mit erhobenen Köpfen an, alle hatten die gleichen Gesichter und blinde Augen. Die Frau sang lustlos, wie im Halbschlaf, ihre grellen Lippen sprachen unverständliche Worte aus, die öligen Augen sahen starr über die Köpfe der Menschen hinweg. Artamonow hatte nie geglaubt, daß ein Frauenkörper so schlank, so erschreckend schön sein könnte. Sie streichelte sich mit den Handflächen die Brust und die Schenkel und schüttelte immerzu den Kopf, und sowohl ihre Haare als sie selbst schienen zu wachsen, immer größer und üppiger zu werden und alles zu verdecken, so daß außer ihr nichts zu sehen war, als wäre nichts mehr da. Artamonow erinnerte sich genau, daß sie in ihm auch nicht für einen Augenblick den Wunsch, sie zu besitzen, erregt hatte, sie hatte nur Furcht und einen schweren Druck in der Brust hervorgerufen, von ihr ging etwas hexenhaft Unheimliches aus. Er begriff aber, daß diese Frau nur zu befehlen brauchte, und er würde ihr folgen und alles, was sie wünschte, erfüllen. Als er die Anwesenden ansah, überzeugte er sich:
»Jeder wird ihr folgen, alle.«
Er wurde nüchtern und bekam Lust, unbemerkt fortzugehen. Er hatte endgültig beschlossen, es zu tun, als er ein lautes Flüstern vernahm:
»Das ist der Hexengrund. Ein Trugbild der Natur. Verstehst du: der Hexengrund.«
Artamonow wußte, daß der Hexengrund eine Wiese in einem sumpfigen Wald ist; das Gras darauf ist besonders schön, seidig und grün, wenn man aber drauftritt, stürzt man in grundlosen Morast. Und doch sah er die Frau an, von der unwiderstehlichen, bezwingenden Macht ihrer Nacktheit gebannt. Und wenn ihr schwerer, öliger Blick auf ihn fiel, zuckte er mit den Schultern, bog den Hals zurück und wandte die Augen zur Seite, wobei er sah, daß die häßlichen, halb betrunkenen Menschen sie mit demselben stumpfen Staunen anglotzten, mit dem die Driomower Bürger einen Maler betrachtet hatten, der vom Kirchendach abgestürzt und zerschmettert liegen geblieben war.
Der schwarze, lockige Stiopa saß mit aufgeworfenen dicken Lippen auf dem Fensterbrett, fuhr sich mit der zitternden Hand über die Stirne, und es war, als würde er sogleich herunterfallen und mit dem Kopf auf den Fußboden aufschlagen. Jetzt riß er aus irgendeinem Grunde die aufgeknöpfte Hemdmanschette los und schleuderte sie in die Ecke.
Die Bewegungen der Frau wurden rascher und krampfhafter; sie wand sich so, als wollte sie vom Flügel herabspringen und könnte es nicht; ihre unterdrückten Schreie wurden näselnder und erboster; es war besonders unheimlich zu sehen, wie wellenförmig ihre Beine sich krümmten und wie schroff ihre Kopfbewegungen wurden, während ihre dichten Haare wie Flügel über die Schultern fegten und gleich dem Vließ eines Tieres über Brust und Schultern fielen.
Plötzlich stockte die Musik, die Frau sprang auf die Erde, der schwarze Stiopa hüllte sie in einen goldfarbigen Schlafrock und lief mit ihr hinaus, während die Anwesenden schrien, heulten, in die Hände klatschten und einander packten; die weißen Bedienten, die an Leichen in Totenhemden erinnerten, begannen sich im Kreise zu drehen; Gläser und Pokale klirrten, und alle tranken gierig wie an einem glühend heißen Tage. Man aß und trank häßlich und ohne Anstand; es war beinahe widerlich, die über den Tisch geneigten Köpfe zu sehen, man wurde an Schweine über einem Trog erinnert.
Jetzt erschien ein Haufen Zigeuner, sie sangen aufreizend und tanzten, man begann sie mit Gurken und Servietten zu bewerfen, sie verschwanden; an ihrer Statt trieb Stiopa eine lärmende Frauenherde herein; eine der Frauen, eine kleine, runde, in einem roten Kleid, setzte sich zu Pjotr auf die Knie, führte einen Champagnerpokal an seine Lippen, stieß mit lautem Klingen an und schlug vor:
»Roter, wir wollen auf Mitjas Gesundheit trinken!«
Sie war leicht wie eine Motte und hieß Paschuta. Sie spielte sehr geschickt Gitarre und sang rührend:
»Ich träumte von einem azurblauen Morgen«;
und wenn ihre klangvolle Stimme mit besonderer Trauer fortfuhr:
»Ich träumte von meiner verlorenen Jugend«,
streichelte Artamonow ihr freundschaftlich und väterlich den Kopf und tröstete:
»Weine nicht! Du bist noch jung, hab' keine Angst . . .«
Und als er sie des Nachts umschlang, schloß er fest die Augen, um die andere, Paula Menotti, besser zu sehen. In den seltenen, nüchternen Stunden erkannte er zu seinem großen Erstaunen, daß diese liederliche Paschuta ihm lächerlich teuer zu stehen kam, und er dachte:
»So eine Motte!«
Ihn verblüffte die Kunst der Frauen auf der Messe, das Geld herauszusaugen, und ihre sinnlose Verschwendung des durch schamlose, trunkene Nächte erzielten Verdienstes. Man sagte ihm, der Mann mit dem Hundegesicht, einer der größten Pelzhändler, gebe für Paula Menotti Zehntausende aus, er zahle ihr jedesmal, wenn sie sich nackt zeige, drei Tausender. Ein anderer, der mit den lila Ohren, rauchte sich die Zigarren mit Hundertrubelscheinen an und verbrannte sie an einer Kerze, er steckte den Frauen Stöße von Geldscheinen hinter den Brustlatz.
»Nimm, Deutsche, ich habe viel davon.«
Er nannte alle Frauen »Deutsche«. Artamonow begann jedoch in einer jeden von ihnen die offene Schamlosigkeit der langhaarigen Paula zu sehen, und alle Frauen, die dummen und die schlauen, die verschlossenen und die frechen, waren ihm, seinem Gefühl nach, feindlich gesinnt; selbst wenn er sich an seine Frau erinnerte, glaubte er auch an ihr etwas heimlich Feindseliges zu bemerken.
»Motten«, sagte er, den blumigen Reigen schöner, junger Frauen prüfend, den sein Gedächtnis sehr lebendig und deutlich wieder erstehen ließ.
Er konnte nicht begreifen, wie das zu erklären war: die Menschen arbeiteten, waren an ihre Unternehmungen festgekettet und gaben sich ihnen nur zu dem Zweck hin, um möglichst viel Geld zusammenzuraffen; dann verbrannten sie aber dieses Geld und warfen es in Haufen vor die Füße liederlicher Weiber. Und das alles waren angesehene, würdig aussehende, verheiratete Männer, die Kinder hatten und ungeheure Fabriken leiteten.
»Der Vater hätte es vielleicht ebenso getrieben«, dachte er fast mit Gewißheit. Sich selbst betrachtete er nicht als an diesem Leben und diesen Gelagen mitbeteiligt, sondern nur als einen zufälligen und unfreiwilligen Zuschauer. Doch diese Gedanken berauschten ihn stärker als Wein und konnten nur durch Wein gelöscht werden. Er verbrachte drei Wochen im Fieber von Gelagen und kam erst bei Alexejs Ankunft wieder zu sich.
Pjotr Artamonow lag auf einer dünnen, harten Matratze auf dem Fußboden; neben ihm standen ein Eimer mit Eis, Flaschen mit Kwas und ein Teller Sauerkohl, der reichlich mit geriebenem Meerrettich gewürzt war. Auf dem Sofa lag mit offenem Mund Paschuta ausgestreckt, sie hob die Brauen ebenso wie Natalia und ließ den weißen, blau geäderten Fuß, dessen Nägel an Fischschuppen erinnerten, auf die Erde herabhängen. Draußen brüllte der allrussische Jahrmarkt mit Tausenden von gierigen Rachen.
Durch das katzenjämmerliche Dröhnen des Kopfes und das stumpfe Schmerzen des vergifteten Körpers hindurch, erinnerte Artamonow sich finster an die Ereignisse und Unterhaltungen der verflossenen Nacht, als plötzlich Alexej, gleichsam aus der Wand heraus, erschien. Er kam hinkend und mit dem Stock klopfend heran und überschüttete ihn mit Worten:
»Was, du bist hingefallen und liegst da? Und ich habe dich gestern den ganzen Tag und die ganze Nacht gesucht und bin gegen Morgen selbst in den Wirbel hineingeraten.«
Er ließ sogleich den Kellner kommen und bestellte Limonade, Kognak und Eis; dann sprang er zum Sofa hin und klopfte Paschuta auf die Schulter.
»Steh auf, Fräulein!«
Das Fräulein brummte, ohne die Augen zu öffnen:
»Geh zum Teufel! Lass' mich in Ruhe!«
»Du wirst zum Teufel gehen«, sagte Alexej ohne Zorn, hob sie an den Schultern auf, setzte sie hin, rüttelte sie und zeigte auf die Tür:
»Hinaus!«
»Rühr' sie nicht an«, sagte Pjotr. Alexej beruhigte ihn schmunzelnd:
»Das tut nichts; wenn wir sie rufen, wird sie wiederkommen!«
»Oh, ihr Teufel«, sagte die Frau und zog gehorsam die Jacke an. Alexej kommandierte wie ein Arzt:
»Steh auf, Pjotr, zieh das Hemd aus und reibe dich mit Eis ab!«
Paschuta hob den zerknitterten Hut von der Erde auf und stülpte ihn auf den zerzausten Kopf, als sie aber in den Spiegel über dem Sofa sah, sagte sie:
»Eine schöne Prinzessin!«
Damit warf sie den Hut auf die Erde unter das Sofa und gähnte lange:
»Nun, leb wohl, Mitja! Vergiß nicht: ich wohne im Hotel Simanski, Zimmer Nummer 13.«
Pjotr bedauerte sie, er sagte zu Alexej, ohne sich von der Erde zu erheben:
»Gib ihr etwas.«
»Wieviel?«
»Nun . . . fünfzig.«
»Ach! Das ist zu viel.«
Alexej steckte der Frau einen Geldschein in die Hand, begleitete sie hinaus und schloß fest die Tür.
»Du hast ihr zu wenig gegeben«, bemerkte Pjotr herausfordernd. »Sie hat gestern für den Hut mehr bezahlt.«
Alexej setzte sich auf einen Sessel, faltete die Hände über dem Stock, stützte sich darauf mit dem Kinn und fragte trocken, im Tone eines Vorgesetzten:
»Ich trinke«, antwortete der Ältere kampflustig, erhob sich und begann ächzend den Körper mit Eis abzureiben.
»Kusma, trink für drei, doch behalte den Verstand dabei! Was hast du aber angestellt?«
»Was denn?«
»Alexej kam auf ihn zu, betrachtete ihn wie einen Unbekannten und fragte pfeifend mit leiser Stimme:
»Hast du vergessen? Man hat gegen dich eine Klage eingereicht, du hast einem Rechtsanwalt das Gesicht zerschlagen und einen Polizisten in den Kanal gestoßen . . .«
Er zählte die Vergehen so lange auf, daß Pjotr Artamonow dachte:
»Er lügt. Er will mir Angst machen.«
Er fragte:
»Welchem Rechtsanwalt? Das ist Unsinn.«
»Das ist kein Unsinn. Diesem Schwarzen, – wie heißt er?«
»Wir haben schon vorher miteinander gerauft«, sagte Pjotr und begann nüchtern zu werden, doch Alexej fuhr noch strenger fort:
»Warum hast du aber ehrbare Leute beschimpft? Und auch deine Verwandten?«
»Ich?«
»Du selbst! Du hast über deine Frau, über Tichon und über mich geschimpft, hast dich an irgendeinen Jungen erinnert und hast geweint. Du hast geschrien: ›Abraham, Isaak, der Widder!‹ Was bedeutet das?«
Pjotr wurde von Angst erfaßt und ließ sich auf einen Stuhl sinken.
»Ich weiß es nicht. Ich war betrunken.«
»Das ist kein Grund!« schrie Alexej beinahe und hüpfte, als galoppierte er auf einem lahmen Pferd. »Hier ist etwas anderes: ›wess' beim Nüchternen das Herz voll ist, dess' geht beim Betrunkenen der Mund über‹, das will es besagen! Man schreit nicht in Schenken Familienangelegenheiten aus! Was soll Abraham, das Sühneopfer und der übrige Unsinn? Du setzst das Werk herab und läßt mich in schlechtem Licht erscheinen. Warum hast du dich wie im Badehaus entkleidet? Es war noch gut, daß mein Freund Loktew bei dem Skandal anwesend war, und daß er die Geistesgegenwart hatte, dich mit Kognak mundtot zu machen; dann hat er mich durch ein Telegramm herberufen. Er hat mir das alles erzählt. Zuerst, sagt er, haben alle gelacht, dann hat man aber zuzuhören begonnen, warum du so brüllst.«
»Alle brüllen«, murmelte Pjotr bedrückt und wurde von Alexejs Worten wieder umnebelt. Dieser sprach aber beinahe flüsternd:
»Alle brüllen von irgendeiner bestimmten Sache, du hast aber alle Dinge erwähnt! Zum Glück ist es Loktew eingefallen, alle bis zur Bewußtlosigkeit betrunken zu machen. Vielleicht vergessen sie es. Unsere Beziehungen sind aber diplomatischer Natur: heute ist Loktew mein Freund und morgen kann er ein grimmiger Feind sein.«
Pjotr saß auf dem Stuhl und preßte den Hinterkopf fest gegen die Wand, die durch den wilden Straßenlärm erschüttert wurde und zitterte; Pjotr schwieg in der Erwartung, daß dieses Zittern das Chaos des Katzenjammers in seinem Kopf klären und die Furcht verjagen würde. Er konnte sich an gar nichts von alledem erinnern, wovon sein Bruder sprach. Und es war sehr kränkend zu hören, daß Alexej mit der Stimme eines Richters und mit den Worten eines Älteren sprach; es war unheimlich, darauf zu warten, was Alexej noch sagen würde.
»Was hast du nur?« forschte der, noch immer hüpfend. »Du sagtest, du wolltest zu Nikita fahren . . .«
»Ich war bei ihm.«
»Auch ich war dort. Als man auf das Telegramm antwortete, du seiest nicht dort, eilte ich natürlich hin. Alle erschraken; wir leben ja auf der Erde, da kann man auch ermordet werden.«
»In mir hat sich irgendeine Scheußlichkeit eingenistet«, gestand Pjotr leise und schuldbewußt.
»Muß man sie aber gleich den Leuten vorzeigen? Begreife doch: du läßt unser Unternehmen in einem schlechten Licht erscheinen! Was soll nur dieses Sühneopfer? Bist du denn ein Perser? Gibst du dich etwa mit Knaben ab? Was ist das für ein Knabe?«
Pjotr glättete sich mit beiden Händen das Kopfhaar und den Bart und sprach durch die Finger hindurch:
»Ilja . . . Es ist alles seinetwegen . . .«
Und er begann langsam und unschlüssig, als suchte er hastend nach einem Pfad im Dunkel, Alexej von dem Streit mit Ilja zu erzählen; er brauchte nicht lange zu sprechen; der Bruder erklärte laut und erleichtert:
»Uff! Nun, das macht alles nichts! Loktew hat es aber, wie ein Asiate, skandalös aufgefaßt. Es handelt sich also um Ilja? Nun, entschuldige, Bruder, das ist aber unvernünftig! Die Kaufmannschaft muß alles lernen und jeden Standpunkt im Leben einzunehmen verstehen, du aber . . .«
Er sprach sehr lange und beredt davon, daß die Kinder der Kaufleute Ingenieure, Beamte und Offiziere werden müßten. Ein betäubender Lärm drang durch das Fenster herein; vor dem Theater fuhren Wagen vor, die Verkäufer von kühlenden Getränken und von Gefrorenem riefen ihre Ware aus; besonders unerträglich dröhnte die Musik in dem von Brasilianern auf Pfählen über dem Wasser des Kanals aus Glas und Eisen erbauten Pavillon. Die Trommelschläge erinnerten an Paula Menotti.
»Irgendeine Scheußlichkeit hat sich in mir eingenistet«, wiederholte Pjotr Artamonow, sich am Ohr zupfend und mit der andern Hand Kognak in ein Glas Limonade schenkend; der Bruder nahm ihm die Flasche aus der Hand und warnte:
»Pass' auf, du wirst dich wieder betrinken! Mein Miron bildet sich zum Ingenieur aus, – er erweist mir damit einen Gefallen! Er will ins Ausland reisen, – bitte sehr! Das alles kommt dem Hause zugute und bringt keinen Nachteil. Verstehe doch, unser Stand ist die größte Macht . . .«
Pjotr wollte nichts verstehen. Er dachte bei Alexejs lebhaftem Sprechen daran, daß dieser Mensch auf irgendeine Weise die Achtung und Freundschaft von Leuten erworben hatte, die reicher und sicher gescheiter als er waren, da sie den Handel des ganzen Landes beherrschten; sein anderer Bruder hält sich im Kloster versteckt und erlangt den Ruhm eines Weisen und Gerechten; er, Pjotr, ist aber der Vernichtung durch irgendwelche Zufälle preisgegeben. Weshalb? Warum?
»Du hattest Unrecht, ehrbare Leute wegen ihrer Ausschweifung zu beschimpfen!« sagte Alexej schon sanfter und sich einschmeichelnd. »Das ist keine Ausschweifung, das ist Kraftüberschuß. Der Rechtsanwalt ist ein Schelm, er versteht aber alles richtig, er ist klug! Gewiß, es sind ältere Leute und sogar Greise, sie treiben aber Unfug wie Jungen, doch werden auch die Jungen durch das Wachstum zum Unfug getrieben. Du mußt auch bedenken, daß unsere Weiber fade und ohne Pfeffer sind, man langweilt sich mit ihnen! Ich spreche nicht von meiner Olga, sie ist etwas Besonderes! Es gibt solche dumm-weise Frauen, die auf dem das Schlechte sehenden Auge blind zu sein scheinen. Olga gehört zu ihnen. Man kann sie nicht kränken, sie sieht das Schlechte nicht und glaubt nicht an das Böse. Das kannst du von Natalia nicht behaupten, du hast sie den Leuten treffend geschildert: sie ist eine häusliche Maschine!«
»Habe ich das gesagt?« erkundigte sich Pjotr finster.
»Loktew hat sich diese Worte doch nicht selbst ausgedacht.«
Pjotr wollte Alexej noch nach vielem fragen, er fürchtete sich aber, ihn an Dinge zu erinnern, die er vielleicht schon vergessen hatte. In ihm begann ein Gefühl von Feindseligkeit und Neid gegen Alexej aufzukeimen.
»Er wird immer klüger, der Teufel.«
Er sah in Alexej etwas Luchsartiges, von außen Angewehtes und zugleich die Findigkeit eines Fuchses. Die Habichtsaugen, der hinter der sich zusammenkrampfenden Oberlippe funkelnde Goldzahn, der kriegerisch aufgezwirbelte, graue Schnurrbart, das lustige Bärtchen, die fest zupackenden, vogelartigen Finger wirkten aufreizend; besonders unangenehm erschien der Zeigefinger der rechten Hand, der stets irgendwelche Schnörkel in die Luft zeichnete. Und das kurze eisenfarbige Röckchen verlieh Alexej Ähnlichkeit mit einem spitzbübischen Winkeladvokaten.
Er hatte plötzlich den Wunsch, Alexej möchte weggehen.
»Ich muß ein wenig schlafen«, sagte er, die Augen schließend.
»Das ist vernünftig«, stimmte Alexej zu. »Geh heute nirgends mehr hin.«
»Er schulmeistert mich wie einen Jungen«, dachte Pjotr beleidigt, als er ihn hinausbegleitete. Er ging in die Ecke zum Waschtisch und blieb stehen, als er bemerkte, daß neben ihm sich lautlos ein ihm ähnlicher Mensch bewegte, der unglücklich und zerzaust aussah, ein verdrücktes Gesicht und erschrocken glotzende Augen hatte; er streichelte sich mit der roten Hand den nassen Bart und die haarige Brust. Er glaubte es einige Sekunden lang nicht, daß es sein Spiegelbild an der Wand über dem Sofa sei, dann lächelte er kläglich und begann von neuem sich Gesicht, Hals und Brust mit Eis abzureiben.
»Ich will mir eine Droschke nehmen und in die Stadt fahren«, beschloß er und begann sich anzukleiden. Als er aber die Hand in den Ärmel des Rockes hineingesteckt hatte, warf er ihn auf einen Stuhl und drückte mit dem Finger fest auf den Beinknopf der Klingel.
»Tee; brüh ihn stark auf!« sagte er zum Diener. »Bring etwas Gesalzenes. Und Kognak.«
Er sah aus dem Fenster; die breiten Ladentüren waren schon geschlossen, über die Straße krochen Menschen hin, die von dem heißen Dunkel gegen die Pflastersteine niedergepreßt wurden; die opalfarbene Laterne an der Theaterauffahrt summte; irgendwo in der Nähe sangen Frauen.
»Motten!«
»Darf ich aufräumen?« sagte jemand hinter seinem Rücken. Er wandte sich jäh um; an der Tür stand eine einäugige Alte mit einem Fußbodenbesen und Scheuertüchern in den Händen. Er ging schweigend in den Korridor hinaus und stieß auf einen Menschen mit einer dunklen Brille und einem schwarzen Hut; der Mensch sagte durch den Spalt einer nicht geschlossenen Tür:
»Ja, ja, sonst nichts!«
Alles war häßlich und zwang, nach einem verborgenen Sinn der Worte zu suchen. Dann saß Pjotr an einem runden Tisch; vor ihm summte ein kleiner Samowar, und über seinem Kopf klirrte der Lampenzylinder, als berührte ihn leicht eine unsichtbare Hand. In der Erinnerung huschten seltsame Gestalten rasend betrunkener Menschen, Liedertexte und Bruchstücke der zurechtweisenden Rede Alexejs vorüber, flüchtig bemerkte Augen funkelten auf, im Kopf war es aber trotzdem leer und düster; es schien dorthin ein dünner, zitternder Strahl eingedrungen zu sein, in dem die Menschen sich wie Stäubchen drehten und tanzten und ihn daran hinderten, an etwas sehr Wichtiges zu denken.
Er trank heißen, starken Tee, Schlucke Kognak und verbrannte sich den Mund, doch fühlte er nicht, daß er betrunken wurde; seine Unruhe wuchs aber und er hatte den Wunsch, irgendwo hinzugehen. Er klingelte. Es erschien ein im Nebel zerfließender Mensch, ohne Gesicht und ohne Haare, der an einen Stock mit einem Beinknopf erinnerte.
»Bring grünen Likör, Wanka; den grünen, weißt du.«
»Jawohl, Chartreuse.«
»Bist du denn der Wanka?«
»Nein, Euer Gnaden, ich bin Konstantin.«
»Nun, geh!«
Als der Bediente Likör brachte, fragte Artamonow:
»Warst du Soldat?«
»Nein, Euer Gnaden.«
»Du sprichst aber wie ein Soldat.«
»Es ist hier eine gute Stellung, man muß gehorchen.«
Artamonow überlegte, gab ihm einen Rubel und riet ihm:
»Gehorche eben nicht. Schicke alle zum . . . und handle lieber mit Gefrorenem. Das ist alles!«
Der Likör war klebrig wie Sirup und ätzend wie Salmiakgeist. Davon wurde ihm im Kopf leichter und klarer. Alles schien sich zu verdichten, und während im Kopf diese Verdichtung vor sich ging, wurde es auf der Straße stiller. Alles wurde körperhafter, es erhob sich ein sanftes Geräusch, das in die Ferne entschwebte und Stille hinterließ.
»Muß man gehorchen?« sann Artamonow nach. »Wem? Ich bin der Herr und kein Lakai. Bin ich der Herr oder nicht?«
Aber alle diese Betrachtungen wurden plötzlich unterbrochen und verschwanden, von der Angst verscheucht: Artamonow erblickte auf einmal jenen Menschen vor sich, der ihn daran hinderte, leicht und gewandt wie Alexej und andere geschickte Leute zu leben; es war dies ein bärtiger Mann mit einem breiten Gesicht, der ihm gegenüber am Samowar saß; er saß schweigend da, krallte sich mit den Fingern der linken Hand in den Bart fest und stützte seine Wange gegen die Handfläche; er betrachtete Pjotr Artamonow so traurig, als verabschiedete er sich von ihm, und zugleich so, als bedauerte er ihn und als werfe er ihm etwas vor; er sah ihn an und weinte, und unter seinen rötlichen Lidern rannen giftige Tränen hervor. An seinem Bartrand, neben dem linken Auge, bewegte sich eine große Fliege; jetzt kroch sie, wie über das Gesicht einer Leiche, auf die Schläfe, blieb über der Braue sitzen und blickte ins Auge.
»Was denn, du Halunke?« fragte Artamonow seinen Feind. Der rührte sich nicht und antwortete nicht, er bewegte nur die Lippen.
»Du heulst?« brüllte Pjotr Artamonow, schadenfroh. »Schuft, du hast mich ins Unglück gebracht und du weinst noch? Es tut dir wohl selbst leid? Hu–h . . .«
Er packte eine Flasche vom Tisch und schlug ihm, weit ausholend, auf den etwas kahlen Schädel.
Auf das Krachen des zerschlagenen Spiegels, und auf das Klirren des Samowars und des Geschirrs, die vom umgeworfenen Tisch heruntergefallen waren, kamen Menschen herbei. Es waren nicht viele, doch spaltete sich ein jeder in zwei Teile und zerfloß; die einäugige Alte bückte sich, um den Samowar aufzuheben und stand im selben Augenblick aufrecht da.
Artamonow hörte, auf der Erde sitzend, klagende Stimmen:
»Es ist Nacht, alle schlafen.«
»Sie haben den Spiegel zerbrochen!«
»Wissen Sie, das ist keine Art und Weise . . .«
Artamonow schwamm, irgendwohin mit vorgestreckten Armen und blöckte:
»Eine Fliege . . .«
Am nächsten Tag kam Alexej gegen Abend herangetrabt, untersuchte den Bruder sorgfältig wie ein Arzt einen Kranken oder ein Kutscher sein Pferd und sagte, indem er sich den Schnurrbart mit einem kleinen Bürstchen glättete:
»Du bist unnatürlich aufgedunsen; du darfst in dieser Verfassung nicht zuhause erscheinen! Außerdem kannst du dich mir hier nützlich erweisen, Du mußt dir den Bart schneiden lassen, Pjotr. Und kauf' dir andere Stiefel, die deinigen sehen wie die eines Droschkenkutschers aus!«
Pjotr folgte Alexej mit aufeinander gepreßten Kiefern gehorsam zum Friseur; Alexej erklärte streng und genau, um wieviel der Bart und die Kopfhaare gestutzt werden sollten; im Schuhgeschäft wählte er selbst für Pjotr die Stiefel aus. Als Pjotr sich darauf im Spiegel betrachtete, fand er, daß er aussah wie ein Kommis, die Stiefel drückten ihm aber den Fuß im Rist. Er schwieg dazu, da er zugeben mußte, daß Alexej richtig handelte: es war notwendig, sowohl die Haare stutzen zu lassen, als andere Stiefel zu wählen. Er mußte sich überhaupt wieder in Ordnung bringen und all das Trübe und Niederdrückende vergessen, das von den Gelagen zurückgeblieben war und in wägbarer und greifbarer Weise beschwerte.
Durch den Nebel im Kopf und die Müdigkeit des vergifteten, ermatteten Körpers hindurch, beobachtete er aber Alexej, und in ihm entstand ein immer komplizierteres Gefühl, eine Mischung von Neid und Achtung, von verborgenem Spott und von Feindseligkeit. Dieser luchsartige, scharfäugige, magere Mensch mit dem Stock in der Hand funkelte und dampfte vor unersättlicher geschäftlicher Spielwut. Pjotr frühstückte und speiste mit ihm in den Chambres séparées der besten Lokale der Messe, in Gesellschaft angesehener Kaufleute, zu Mittag. Dabei sah er zu seinem nicht geringen Erstaunen, daß Alexej sich gewissermaßen als Narr benahm und die reichen Leute zu belustigen und zu unterhalten bemüht war. Sie schienen das Narrenhafte jedoch nicht zu bemerken, sie liebten und achteten Alexej offenkundig und hörten aufmerksam seinem an eine Elster erinnernden Geschnatter zu.
Der riesengroße, langbärtige Textilmensch Komolow drohte ihm mit dem möhrenfarbigen Finger, sprach aber freundlich zu ihm, mit seinen Ochsenaugen glotzend und dabei saftig schmatzend:
»Du bist geschickt und schlau wie ein Fuchs, Aljoscha! Du hast mich angeführt . . .«
»Jermolaj Iwanowitsch!« schrie Alexej begeistert. »Es ist ein Wettstreit, nicht wahr?«
»Es stimmt. Halte keine Maulaffen feil – stolziere wie ein Trumpf Aß herum!«
»Jermolaj Iwanowitsch, – ich lerne!«
Komolow war damit einverstanden.
»Man muß lernen.«
»Meine Herren!« sagte Alexej ebenso begeistert, aber schon etwas schmeichlerisch und schwang die Gabel. »Mein Sohn Miron, ein kluger Kopf und künftiger Ingenieur, erzählte mir folgendes: In der Stadt Syrakus gab es einen weltberühmten Weisen; er machte dem König den Vorschlag: gib mir eine Stütze, und ich werde die ganze Erde umdrehen!«
»Ach, du Grauwanst!«
»Ich drehe sie dir um, sagte er! Meine Herren! Unser Stand hat eine Stütze – den Rubel! Wir brauchen keine Weisen, welche alles umdrehen können, wir sind selbst nicht von gestern; wir brauchen eines: andere Beamte! Meine Herren! Der Adel kränkelt, er ist für uns kein Hindernis, wir sollten aber eigene Beamte haben und alle Leute, die wir benötigen, müßten aus unserer Mitte, aus der Kaufmannschaft hervorgehen, damit sie unsere Angelegenheiten verstehen – das ist es!«
Die grauhaarigen, kahlköpfigen und wohlbeleibten Männer stimmten fröhlich zu.
»Richtig, Grauwanst!«
Und ein einäugiger, spitznasiger, knochiger kleiner Alter, der Escompteur Losew, sagte mit einem höflichen Kichern:
»Alexej Iljitschs Verstand ist wie eine Maus, die alles weiß: wo das Schmalz ist, das sie liebt, und wo es nichts gibt, und die nagt und nagt! Sein Wohl!«
Man hob die Gläser, Alexej stieß freudig mit allen an, während Losew mit seinem Kinderhändchen Komolow auf die hohe Schulter klopfte und sagte:
»Es kommen jetzt unter uns kluge Köpfe zum Vorschein.«
»Es gab immer welche!« erwiderte Komolow stolz.
»Mein Vater war Lastträger und hat sich doch durchgeschlagen . . .«
»Dein Vater soll, wie man sagt, damit begonnen haben, daß er einen reichen Armenier erstochen hat«, sagte Losew schmunzelnd. Der langbärtige Textilmensch lachte blökend wie ein Hammel und erwiderte:
»Das ist erlogen! Die Dummen sagen bei uns: wenn man glücklich ist, ist man auch sündig! Auch über dich, Kusma, sind häßliche Gerüchte verbreitet . . .«
»Ja, auch über mich«, bestätigte Losew seufzend. »Gerüchte sind wie Fliegen!«
Pjotr hörte, sich räuspernd, zu, aß viel, bemühte sich, weniger zu trinken und hatte das traurige Gefühl, unter diesen Leuten ein Tier anderer Art zu sein. Er wußte: sie alle waren Bauern von gestern; er sah in ihnen allen etwas Räuberartiges und Märchenhaftes, das Achtung einflößte und das sie mit seinem Vater gemein hatten. Der Vater hätte sicher an ihren Unternehmungen und ihren Gelagen teilgenommen, er hätte sich wohl auch denselben Ausschweifungen hingegeben und hätte das Geld wie Hobelspäne verbrannt. Ja, Geld war wie Hobelspäne für diese Menschen, die unermüdlich, aus aller Kraft an der ganzen Erde, an einander und an der Bauernschaft herumhobelten.
Aber an Alexej war etwas, das diesen angesehenen Leuten nicht ähnlich sah, und ab und zu fühlte Pjotr bei aller Feindseligkeit, die er für ihn hegte, daß Alexej schärfer, klüger und sogar gefährlicher war.
»Meine Herren«, schrie er außer sich und wie besessen. »Denkt daran, was für einen unerschöpflichen Reichtum an Arbeitshänden wir in den ungeheuren Millionen von Bauern besitzen! Sie sind Arbeiter und Käufer zugleich. Wo gibt es so etwas in diesem Umfang? Das gibt es nirgends! Und wir brauchen keine Deutschen und keinerlei Ausländer, wir machen alles selbst!«
»Richtig«, stimmten die angeheiterten Männer laut zu.
Er sprach von der Notwendigkeit der Zollerhöhung für die Einfuhr ausländischer Waren, von den Aufkäufen von Gütern, von der Schädlichkeit der Adelsbanken; er wußte alles, und die Anwesenden stimmten allem, was er sagte, zum Staunen von Pjotr Artamonow, begeistert zu.
»Nikita hat mit Recht gesagt, daß er zu leben versteht«, dachte er voll Neid.
Ungeachtet seiner schwachen Gesundheit führte auch Alexej ein ausschweifendes Leben. Er schien schon von früher her eine ständige Geliebte zu haben, eine Moskauerin, die einen Sängerinnenchor unterhielt. Sie war eine wohlbeleibte, üppige Frau mit einer Honigstimme und mit strahlenden Augen. Es hieß, sie wäre schon vierzig Jahre alt, auf ihr mattweißes Gesicht und die rosigen Wangen hin konnte man sie aber kaum auf dreißig schätzen.
»Aljoschinka, mein Falke«, sagte sie, ihre spitzen Fuchszähne zeigend, und verbarg Alexej mit ihrem Körper, wie eine Mutter das Kind.
Sie mußte wissen, daß Alexej auch ihre Chormädchen nicht verschmähte, sie sah es sicher. Ihr Verhalten Alexej gegenüber war aber ein freundschaftliches, und Pjotr hörte mehr als einmal, daß Alexej sich mit ihr über Menschen und Geschäfte beriet. Das überraschte ihn und ließ ihn an den Vater und an Uljana Bajmakowa zurückdenken.
»Ein Teufel«, sagte er sich, Alexej betrachtend.
Selbst der Unfug, den er beging, hatte etwas besonders Kompliziertes. Ein dicker Clown, der Deutsche Mayer, führte im Zirkus ein Schwein vor; es trug einen Rock mit langen Schößen, einen Zylinder und Schaftstiefel, ging auf den Hinterbeinen und stellte einen Kaufmann dar. Das belustigte das Publikum sehr, auch die Kaufmannschaft lachte. Alexej verhielt sich indessen anders dazu, – er fühlte sich beleidigt und überredete seine Freunde, das Schwein zu stehlen. Man bestach den Stallknecht, stahl das Schwein, und die Kaufmannschaft verzehrte feierlich sein Fleisch, das mit allen möglichen Saucen von dem außerordentlich kunstfertigen Hotelkoch Barbatenko zubereitet worden war. Zu Pjotr Artamonow drang das dunkle Gerücht, der Clown hätte sich aus Kummer erhängt.Eine von P. D. Boborykin in der Zeitung »Russischer Kurier« beschriebene Tatsache, die sich in den 80er Jahren abspielte. M.G. All das, was er auf der Messe bei Alexej bemerkte, erweckte in ihm sehr beunruhigende Gedanken.
»Ein Spitzbube ist er. Ohne Gewissen. Er kann mich zum Bettler machen, ohne es selbst zu merken. Und er würde mich nicht einmal aus Gier, sondern einfach aus Spieltrieb zugrunde richten.«
Das Bewußtsein dieser Gefahr ernüchterte ihn und brachte ihn wieder auf die Beine. Er kehrte allein nach Hause zurück, Alexej fuhr bis Moskau durch. Es war ein windiger und nasser Septembertag, als Artamonow sich Driomow näherte. Mit den Schellen klingelnd und mit den Hufen saftig in die aufgeweichte Erde stampfend, liefen die Postpferde willig durch das niedrige Tannengehölz, das in strengen Reihen regungslos den schmalen Streifen der sumpfigen Straße bewachte. Der Himmel war dicht mit dem grauen Teig der Wolken bekleckst, ebenso grau und öde war es auch in dem von Katzenjammer umnebelten Kopf. Artamonow war es so, als hätte er jemanden begraben, der ihm sehr nahestand, dessen er aber trotzdem überdrüssig war. Es tat ihm um den Verstorbenen leid, es war aber doch angenehm zu wissen, daß man ihm nicht mehr begegnen würde; er hatte nun aufgehört, durch die Unklarheit seiner Forderungen und der stummen Vorwürfe und durch all das zu verwirren, was einen echten, lebendigen Menschen zu existieren hindert.
»Man muß seine Arbeit tun, sonst nichts!« suchte er sich zu überzeugen. »Alle Menschen leben, um zu arbeiten. Jawohl.«
Er ging unter Einsetzung seiner vollen Kraft an die Arbeit. Die klaren Altweibersommertage vergingen ruhig und wurden durch das traurige Strahlen der Mondnächte abgelöst.
Wenn Pjotr Artamonow im perlfarbenen Dunkel der herbstlichen Morgendämmerung erwachte, hörte er das beharrliche Pfeifen der Fabrik, und nach einer halben Stunde begann ihr rastloses Rascheln und Flüstern, – das dumpfe, aber mächtige und dem Ohre gewohnte Geräusch der Arbeit. Vom Morgengrauen bis zum späten Abend schrien vor den Scheunen die den Flachs abliefernden Bauern und Frauen; vor der am Ufer der Watarakscha von einem der zahllosen Morosows eröffneten Schenke erklangen die Lieder Betrunkener und das Kreischen der Harmonika. Über den Hof schritt der behäbige, wie eine Maschine genaue und zu den Menschen strenge Tichon Wialow mit einem Besen, einer Schaufel oder einer Axt in den Händen; er fegte, grub und hackte bedächtig und schrie die Bauern und Arbeiter an. Der blaue, immer reinliche Serafim huschte vorbei. Im Hause betätigte sich Natalia wie eine Maschine, sie war über die ihr vom Mann von der Messe mitgebrachten Geschenke sehr befriedigt, noch mehr aber über seine schweigsame, gleichmäßige Ruhe. Alles ging glatt und schien festgefügt zu sein; das Werk, die Menschen und selbst die Pferde – alles arbeitete, als wäre es für Jahrhunderte bestimmt. Und rasch, wie vom Wind getriebene Wolken, vergingen die Monate und formten sich zu Jahren.
Pjotr Artamonow ging wie ein Stier, mit vorgeneigtem Kopf durch die Fabrikgebäude, durchschritt, zum Schrecken der Kinder, die Siedlungsstraße und fühlte überall etwas Neues und Seltsames: er erschien in diesem großen Unternehmen beinahe überflüssig, als wäre er ein Zuschauer. Es war angenehm zu sehen, daß Jakow das Geschäft verstand und sich dafür zu begeistern schien; sein Benehmen lenkte nicht nur von den Gedanken an den älteren Sohn ab, sondern versöhnte sogar mit Ilja.
»Ich werde auch ohne dich auskommen, Gelehrter. Lerne nur!«
Der satte, rosige Jakow, mit angenehm lächelnden Augen, die wie Seifenblasen alle Farben spiegelten, bewegte behäbig seinen runden Körper, und obwohl er in der Nähe seltsam an eine Taube erinnerte, machte er aus der Ferne den Eindruck eines geschäftigen, geschickten Herrn. Die Arbeiterinnen lächelten ihm freundlich zu, er girrte mit ihnen und kniff beseligt die Augen zu, er ging seitlich um sie herum, ohne unter dem gespielten Ernst das Draufgängerische eines jungen Hahnes verbergen zu können. Der Vater zupfte sich schmunzelnd am Ohr und dachte:
»Man sollte dir Paula Menotti zeigen, kleiner Dummkopf . . .«
Es gefiel ihm, daß Jakow während seiner Besuche beim Onkel sich nicht in die endlosen Debatten Mirons mit dessen Freund, dem schäbigen, unruhigen Gorizwetow, einmischte. Miron sah gar nicht mehr wie ein Kaufmannssohn aus; er war schmächtig und großnasig, trug eine Brille und ging in einem kurzen Rock mit vergoldeten Knöpfen und Schnörkeln auf den Schultern herum, so daß er an einen Friedensrichter erinnerte. Er hielt sich beim Gehen und Sitzen gerade wie ein Soldat, sprach hochmütig und mit Selbstüberhebung und mißfiel Pjotr, obwohl er wußte, daß Miron immer etwas Gescheites sagte.
»Nun, Bruder, das ist Philosophie«, sagte er belehrend, die Hände in die Seiten stemmend und sie in die Rocktaschen steckend. »Dieses Grübeln entspringt der Schwäche und dem Unvermögen.«
Pjotr Artamonow fand, daß auch Gorizwetow nicht übel und nicht dumm sprach. Er war klein und zerzaust, trug unter dem nachlässig aufgeknöpften Studentenrock ein schwarzes Hemd und hatte, wie nach schlaflosen Nächten, verschwollene Augen und ein spitzes, dunkles, mit Pusteln bedecktes Gesicht; er schrie, ohne auf jemanden zu hören, mit krampfhaften Handbewegungen und griff Miron an:
»Ihr werdet erreichen, daß die Sonne auf den Pfiff eurer Fabriken am Himmel aufgeht und daß der dunstige Tag auf den Ruf der Maschinen aus den Sümpfen und Wäldern emporsteigt. Was werdet ihr aber mit dem Menschen beginnen?«
Miron hob die Brauen, verzog das Gesicht, schob sich die Brille zurecht und dozierte trocken und gemessen:
»Das ist Philosophie, das sind Versehen! Das ist Unzucht der Zunge und Afterweisheit, mein Freund. Das Leben ist ein Kampf; Lyrik und Hysterie haben darin keinen Platz und erscheinen sogar lächerlich . . .«
Die Worte der Streitenden unterschieden sich voneinander wie weiße Tauben von schillernden. Pjotr Artamonow dachte:
»Ja, da haben wir es: neue Vögel – neue Lieder.«
Er verstand nur dunkel den Kern des Streites und beobachtete mit Vergnügen, daß Jakow sich den hellen Flaum der Oberlippe glättete, um ein spöttisches Lächeln zu verbergen.
»Gut«, dachte Pjotr. »Was würde aber Ilja sagen?«
Gorizwetow schrie:
»Seit man die Erde und die Menschen in Eisen geschmiedet und den Menschen zum Sklaven der Maschine gemacht hat . . .«
Miron sagte ihm, die Nase hin und her wiegend:
»Der Mensch, um den du dich sorgst, ist ein Müßiggänger. Er wird zugrunde gehen, wenn er nicht schon morgen begreift, daß seine Rettung in der Entwicklung der Industrie liegt.«
»Auf wessen Seite ist die Wahrheit? Wer ist vorzuziehen?« – suchte Pjotr Artamonow zu erraten.
Gorizwetow mißfiel ihm noch mehr als sein Neffe, er hatte etwas Schwächliches und Unzuverlässiges an sich, er fürchtete sich sichtlich vor etwas und schrie. Er machte, wie ein Betrunkener, keine Umstände, setzte sich früher als die Gastgeber an den Mittagstisch, schob krampfhaft Messer und Gabel hin und her, aß schnell und ohne Anstand, verbrühte sich und hustete; in ihm war, wie in Alexej, etwas Unstetes, Übertriebenes und anscheinend Böses. Die dunklen Pupillen seiner entzündeten Augen hatten den Blick eines Blinden. Er begrüßte Pjotr Artamonow schweigend, streckte ihm unehrerbietig die rauhe, heiße Hand hin und zog sie rasch zurück. Er war, alles in allem, ein überflüssiger Mensch, und man konnte nicht verstehen, wozu Miron ihn brauchte.
»Iß, Stiopa, und sprich nicht«, riet ihm Olga. Er antwortete jedoch bombastisch:
»Ich kann nicht. Hier wird eine verderbliche Ketzerlehre gepredigt!«
Pjotr staunte über die schweigsame Aufmerksamkeit, die Alexej dem Streit der Studenten entgegenbrachte: er stand nur ab und zu dem Sohn bei:
»Richtig! Wo die Kraft ist, dort ist die Macht; die Kraft ist aber bei der Industrie fraglich . . .«
Olga hatte strahlenförmige Runzeln an den Schläfen und eine rote Spitze an der von dicken, ungefaßten Brillengläsern beschwerten Nase. Sie setzte sich nach dem Mittagessen und dem Tee mit ihrem Stickrahmen ans Fenster und stickte mit Perlen außergewöhnlich grelle Blumen. Pjotr fühlte sich bei Alexej behaglicher als zu Hause; es war interessanter und es gab dort immer guten Wein zu trinken.
Auf dem Heimweg mit Jakow fragte ihn der Vater:
»Verstehst du, worüber gestritten wurde?«
»Jawohl«, antwortete der Sohn kurz.
Um den Mangel an Verständnis vor ihm zu verbergen, forschte Pjotr Artamonow streng:
»Worüber also?«
Jakow antwortete stets unwillig und kurz, aber deutlich. Nach seinen Worten hatte Miron folgendes gesagt: Rußland müßte sich in derselben Weise wie ganz Europa entwickeln, während Gorizwetow glaubte, daß Rußland seinen eigenen Weg vor sich hätte. Hier hielt Pjotr Artamonow es für angebracht, dem Sohne zu zeigen, daß er, der Vater, darüber seine eigenen Gedanken hatte, und er sagte eindringlich:
»Wenn die Ausländer besser als wir leben würden, würden sie sich uns nicht aufdrängen . . .«
Das war aber Alexejs Gedanke, – er hatte also keinen eigenen. Artamonow verzog gekränkt das Gesicht. Der Sohn schien aber diese Kränkung noch zu vertiefen, indem er sagte:
»Man kann leben, auch ohne mit dem Verstand zu prahlen und ohne solche Gespräche zu führen . . .«
Pjotr brummte:
»Es geht auch ohne das . . .«
Er empfand immer häufiger die Stöße kleiner Kränkungen und Überraschungen. Sie schoben ihn beiseite und festigten seine Rolle eines Zuschauers, der alles betrachten und über alles nachdenken muß. Und alles ringsum veränderte sich unmerklich; aber schnell, überall in den Worten und Taten erklang laut und aufdringlich etwas Neues und Unruhiges. Einmal beim Tee sagte Olga:
»Die Wahrheit ist etwas, was die Seele erfüllt, so daß man nichts weiter mehr will.«
»Richtig«, stimmte Pjotr ihr zu.
Miron funkelte aber mit der Brille und belehrte die Mutter:
»Das ist nicht die Wahrheit, sondern der Tod. Die Wahrheit ist in der Arbeit, in der Tat.«
Als er wegging und einen zusammengerollten dicken Papierbogen mitnahm, bemerkte Pjotr, sich an Olga wendend:
»Unser Sohn ist grob zu dir.«
»Nicht im geringsten.«
»Ich sehe doch, daß er grob ist!«
»Er ist gescheiter als ich«, sagte Olga. »Ich bin ja so ungebildet und sage oft Dummheiten. Die Kinder sind überhaupt gescheiter als wir.«
Artamonow konnte ihr nicht glauben und antwortete lächelnd:
»Es stimmt, du sagst Dummheiten. Die Alten waren aber gescheiter als wir und sagten: ›Söhne bereiten Kummer und Töchter doppelt so viel‹. Hast du verstanden?«
Ihre Worte von der Gescheitheit der Kinder verletzten ihn sehr, – sie wollte natürlich auf Ilja anspielen. Er wußte, daß Alexej Ilja mit Geld aushalf, und daß Miron ihm Briefe schrieb, er fragte aber aus Stolz nie danach, wo und wie Ilja lebte; Olga erzählte übrigens selbst in geschickter Weise davon, da sie seinen Stolz verstand. Er hatte durch sie erfahren, daß Ilja sich erst in Archangelsk niedergelassen hatte, jetzt aber im Auslande lebte.
»Mag er dort leben. Wenn er zu Vernunft kommt, wird er begreifen, daß er dumm war.«
Manchmal, wenn er an Ilja dachte, staunte er über den Eigensinn des Sohnes; alle ringsum wurden gescheiter, worauf wartete aber Ilja?
In Alexejs Hause traf er oft die Popowa und ihre Tochter. Sie war noch immer ebenso schön, traurig, ruhig und ihm fremd. Sie sprach mit ihm wenig und so, wie er mit Ilja zu sprechen pflegte, wenn er ihn grundlos gekränkt zu haben glaubte. Er fühlte sich durch sie bedrückt. In stillen Augenblicken erstand das Bild der Popowa vor ihm, rief jedoch nichts als Staunen hervor; da gefällt einem ein Mensch, man denkt an ihn, kann aber nicht verstehen, wozu man ihn braucht; es ist auch unmöglich mit ihm zu sprechen, als wäre er taubstumm.
Ja, alles veränderte sich! Selbst die Arbeiter wurden immer launischer, erboster und schwindsüchtiger, und die Frauen immer lauter. Der Lärm in der Arbeitersiedlung wurde immer erregter; des Abends war es, als heulten alle dort wie die Wölfe, und als knirschte sogar der mit Kehricht bedeckte Sand bösartig.
Bei den Arbeitern machte sich Unstetheit und Leidenschaft zum Vagabundieren bemerkbar. Burschen, denen durch niemand und nichts unrecht geschehen war, kamen plötzlich ins Kontor und verlangten ihre Entlassung.
»Wohin wollt ihr denn?« fragte Pjotr.
»Wir wollen uns umschauen, wie es anderswo ist.«
»Was ist in sie gefahren?« fragte Pjotr Artamonow Alexej. Der schmunzelte mit fuchsartigen Grimassen und sagte, die Arbeiter seien überall in Erregung.
»Bei uns geht alles noch schön und ruhig ab, aber in Petersburg . . . Wir haben nicht die Beamten und Minister, die wir brauchen . . .«
Und dann sprach er so frech und dumm, daß Pjotr ihn finster zur Vernunft bringen mußte:
»Das ist Unsinn! Es ist für die Edelleute vorteilhaft, dem Zaren die Macht zu rauben. Die Edelleute verarmen. Wir aber werden auch ohne Macht reich. Dein Vater ist an Feiertagen in geteerten Stiefeln herumstolziert, und du trägst ausländische Schuhe und seidene Krawatten. Wir müssen die Arbeiter des Zaren sein und nicht Schweine! Der Zar ist eine Eiche, und wir haben von ihm goldene Eicheln zu erwarten.«
Alexej hörte lächelnd zu und wirkte dadurch noch aufreizender. Pjotr fand, daß überhaupt alle Menschen zu oft lächelten; in dieser ihrer neuen Angewohnheit war etwas Unfrohes und Dummes. Niemand von ihnen verstand es jedoch, sich in so tröstender und drolliger Weise lustig zu machen, wie der Schreiner Serafim, der unsterbliche Alte.
Artamonow war mit dem Tröster sehr befreundet. Von Zeit zu Zeit überkam ihn wieder die Traurigkeit und rief in ihm den unbezwinglichen Wunsch zu trinken hervor. Er schämte sich, bei Alexej zu trinken; dort saßen immer fremde Menschen, und er wollte sich auf keinen Fall vor der Popowa betrunken sehen lassen. Zu Hause hatte Natalia an solchen Tagen eine gebeugte Haltung und schwieg bedrückt. Wenn sie wenigstens geschimpft hätte! Dann hätte er doch auch schimpfen können! Auf diese Weise erinnerte sie aber an jemanden, der ausgeplündert wurde, und rief statt Ärger ein Gefühl hervor, das sich dem Mitleid näherte. Artamonow begab sich zu Serafim:
»Ich will trinken, Alter!«
Der lustige Schreiner billigte es lächelnd:
»Das ist etwas so Gewöhnliches, wie die Sonne im Sommer! Das heißt, daß du müde und matt bist. Nun, stärke dich nur! Deine Arbeit ist nicht so gering, wie die Warze auf der Wange!«
Er hielt für den Chef Schnäpse und Liköre von ungewöhnlichem Geschmack bereit, holte aus allen Ecken buntfarbige Flaschen hervor und prahlte:
»Das habe ich mir selbst ausgedacht, ausgeführt hat es aber eine Diakonswitwe, ein Weib, scharf wie Pfeffer! Da, koste, dies da ist ein Aufguß von Birkenkätzchen und Frühlingsbaumsaft! Wie ist es?«
Er setzte sich an den Tisch, trank seinen »Rübenwein« und plauderte:
»Ja, also diese Diakonsfrau! Sie ist ein tiefunglückliches Geschöpf. Jeder ihrer Geliebten ist ein Dieb. Ohne einen Geliebten kann sie aber nicht auskommen, da hat sie zuviel Ungeduld in den Adern . . .«
»Nein, ich habe eine auf der Messe gesehen«, erinnerte sich Artamonow.
»Das glaube ich!« bestätigte Serafim eilig. »Dort ist ja lauter auserlesene Ware der ganzen Erde. Das weiß ich!«
Serafim kannte alle und wußte alles; er erzählte kurzweilig von den Familienangelegenheiten der Angestellten und Arbeiter, sprach von allen gleich freundlich und erwähnte seine Tochter, als wäre sie eine Fremde.
»Der Racker ist zur Vernunft gekommen. Jetzt lebt sie mit dem Schlosser Sedow, und es geht ihr gut, denke nur! Ja, jedes Geschöpf findet seinen Unterschlupf.«
In Serafims reinem Stübchen, das vom harzigen Geruch der Holzspäne erfüllt war, und in dem warmen Halbdunkel, das durch das bescheidene Licht der Blechlampe an der Wand kaum erhellt wurde, saß es sich angenehm.
Nachdem Artamonow getrunken hatte, klagte er über die Menschen, und der Schreiner tröstete ihn.
»Das macht nichts, das ist gut! Die Menschen sind ins Laufen gekommen, das ist der Sinn des Ganzen! Der Mensch lag immerzu und dachte, – dann stand er auf und ging! Laß ihn nur gehen! Betrübe dich nicht, glaube an den Menschen! Glaubst du an dich selbst?«
Pjotr Artamonow überlegte schweigend, ob er an sich glaubte oder nicht. Serafims fröhliche Stimme ließ Worte erklingen und sang tröstend:
»Sieh nicht darauf, wie einer ist, ob gut, ob schlecht, das ist nicht von Dauer: was gestern gut war, ist heute schlecht. Ich habe alles gesehen, Pjotr Iljitsch, Gutes und Schlechtes, ach, ich habe viel gesehen! Manchmal sehe ich: da ist das Gute! Und dabei ist es gar nicht da. Ich meine, da ist es, es ist aber nicht da, es ist weg, wie Staub vom Wind weggefegt wird. Und ich sage: da! Was bin ich aber? Eine Fliege unter den Menschen, ich bin gar nicht zu sehen. Und du . . .«
Und Serafim verstummte mit vielsagend erhobenem Finger.
Es war für Artamonow zwiefach angenehm, seinen Reden zu lauschen; sie trösteten und belustigten ihn tatsächlich, zugleich war es Artamonow aber klar, daß der kleine Greis schauspielerte, log und nicht nach dem Gewissen, sondern als gewerbsmäßiger Menschentröster sprach. Er durchschaute Serafims Spiel und dachte:
»Dieser alte Schelm ist geschickt! Nikita versteht das zum Beispiel nicht.«
Und ihm fielen die verschiedenen Tröster ein, die er in seinem Leben gesehen hatte: die schamlosen Frauen der Messe, die Clowns und Akrobaten im Zirkus, Zauberkünstler, Tierbändiger, Sänger, Musikanten und der »Menschenfreund«, der schwarze Stiopa. Auch Alexej hatte mit diesen Menschen etwas Gemeinsames. Tichon Wialow besaß aber nichts davon. Und auch Paula Menotti nicht.
Er wurde nach und nach betrunken und sagte zu Serafim:
»Du lügst, alter Teufel!«
Der Schreiner klopfte sich mit den Handflächen auf die spitzen Knie und sagte sehr ernst:
»Nein! Überlege doch: wie kann ich lügen, wenn ich die Wahrheit nicht kenne? Ich sage dir, wie mir ums Herz ist: ich kenne die Wahrheit nicht, wie sollte ich also lügen?«
»Dann schweige!«
»Bin ich denn stumm?« fragte Serafim freundlich, und sein rosiges Gesichtchen wurde von einem Lächeln erhellt. »Ich bin ein alter Mann«, sagte er. »Ich werde meine kurze Spanne Zeit auch ohne Wahrheit zu Ende leben. Um die Wahrheit müssen sich die Jungen bemühen, deshalb sollen sie auch eine Brille tragen. Miron Alexeïtsch spaziert mit einer Brille herum, er sieht auch alles durch und durch, wohin ein Ding gehört, und wo ein jeder an seinem Platze ist.«
Es freute Pjotr Artamonow zu hören, daß der Schreiner Miron nicht mochte, und er lachte laut, wenn Serafim auf den Saiten seiner Gusli klimperte und herausfordernd sang:
»Durch das Werk stolziert ein Specht,
Schaut durch helle Brillengläser,
Ich allein mach' alles recht,
Alle andern sind blos Narren!«
»Richtig!« äußerte Artamonow seinen Beifall.
Und der ebenfalls betrunkene Schreiner stampfte mit dem sorgfältig bekleideten kleinen Fuße und sang von neuem:
»Wer rupft alle Vögelein?
Weder Eul' noch Habicht,
Alexej Iljitsch allein,
Der so fromm und heilig.«
Auch das gefiel Pjotr Artamonow; dann sang Serafim schamlos über Jakow:
»Nichts versteht der Jascha,
Wenn er küßt die Mascha . . .«
So unterhielten sie sich manchmal, bis es tagte, dann klopfte Tichon Wialow an die Tür, weckte seinen Prinzipal, wenn er schon eingeschlafen war, und sagte gleichgültig:
»Es ist Zeit, daß Sie nach Hause gehen, die Fabrikspfeife geht gleich los. Die Arbeiter werden Sie sehen, das geht nicht!«
Artamonow schrie:
»Was geht nicht? Ich bin der Herr!«
Er gehorchte Tichon aber, ging wankend nach Hause, legte sich schlafen und schlief manchmal bis zum Abend. Des Nachts saß er aber wieder bei Serafim.
Der lustige Schreiner starb bei der Arbeit; er zimmerte für den ertrunkenen Sohn des einäugigen Baders Morosow einen Sarg und fiel dabei plötzlich tot um. Artamonow hatte den Wunsch, den Alten zum Grabe zu geleiten, ging in die mit Arbeitern vollgepfropfte Kirche und hörte zu, wie der rothaarige Pope Alexander vorschriftsmäßig die Messe las. Der hatte den stillen Gleb abgelöst, der plötzlich aus irgendeinem Grunde aus der Kirche ausgetreten und verschwunden war. In der Kirche sang schön der vom Lehrer der Fabriksschule Grekow, einem an einen Kater erinnernden Mann, ins Leben gerufene Chor, und es war viel Jugend anwesend.
»Es ist Sonntag«, erklärte sich Artamonow die Menschenmenge.
Der nicht große, leichte Sarg wurde von jungen Webern getragen; die solideren Arbeiter hielten sich abseits; hinter dem Sarge schritt düster, doch ohne Tränen, Sinaïda in einer unpassend bunten Jacke und neben ihr der breitschultrige, sauber gekleidete Schlosser Sedow; Tichon Wialow stampfte für sich allein schwer durch den Sand. Die Sonne strahlte hell, der Chor sang mächtig und einig, und es fiel bei diesem Begräbnis der seltsame Mangel an Trauer auf.
»Das ist eine schöne Beerdigung«, sagte Artamonow und wischte sich den Schweiß vom Gesicht.
Tichon blieb stehen, blickte sich vor die Füße, dachte nach und sagte:
»Er war ein angenehmer Mensch; er war spielerisch wie die da . . .«
Er drehte die Hand in der Luft herum.
»Der Alte hat sie über die Straße getragen, und das Mädel hat gesungen. Er hat alle getröstet.«
Er sah Pjotr mit unehrerbietiger Strenge an, die ihn empörte, und fügte hinzu:
»Er hat die Leute irre gemacht: er hat niemandem etwas zuleide getan, hat aber nicht rechtschaffen gelebt.«
»Rechtschaffen, rechtschaffen!« äffte Pjotr ihm nach. »Du bist an diese Gedanken festgekettet. Pass' auf, daß du nicht toll wirst wie Tulun.«
Artamonow wandte sich schroff von Tichon ab und ging nach Hause.
Es war noch früh, erst gegen Mittag, aber es war schon heiß; der Sand der Straße und das Blau der Luft wurden immer glühender. Gegen Abend hatte die Sonne Berge weißer Wolken aus Dampf aufgetürmt, sie schwebten langsam über dem Rand der Erde nach Osten hin und verdichteten die Schwüle. Artamonow ging im Garten spazieren und trat aus dem Tor hinaus. Tichon teerte die Torangeln; sie waren während des Frühlingsregens verrostet und knarrten häßlich.
»Warum teerst du heute, am Feiertag?« fragte Artamonow träge und setzte sich auf die Bank. Tichon sah ihn schräg mit dem Weißen des Auges an und sagte halblaut:
»Serafim war schädlich.«
Als Antwort krochen Artamonow wie schwarze Küchenschaben seltsame Worte entgegen:
»Er hatte ein gutes Gedächtnis, er behielt viel. Er erinnerte sich an alles, was er gesehen hatte. Was gibt es aber zu sehen? Böses, das sich endlos hinzieht, Vergängliches. Und da hat er von alledem erzählt. Er hat große Unruhe verursacht. Ich sehe das . . .« Er fuhr mit dem Pinsel in die Tiefe der Torangeln und sprach immer brummiger:
»Man muß den Menschen das Gedächtnis nehmen. Daraus erwächst nur Übles. Es müßte so sein: die einen leben eine Weile und sterben, und alles Böse, all ihre Dummheit verreckt mit ihnen. Es kommen andere auf die Welt, die erinnern sich an nichts Böses, sondern nur an das Gute. Auch ich leide durch das Gedächtnis. Ich bin alt und will Ruhe haben. Wo ist aber die Ruhe? Nur dort, wo es keine Erinnerung gibt . . .«
Tichon hatte noch niemals soviel auf einmal und so aufreizend gesprochen. Seine Worte, die, wie immer, dumm waren, erschienen Artamonow zu dieser Stunde besonders feindselig; er betrachtete Tichons Bartbüschel, seine farblosen, verschwommenen Pupillen, die von Runzeln durchzogene steinerne Stirn und staunte über die sich immer noch steigernde Häßlichkeit dieses Menschen. Die Runzeln waren unnatürlich tief, wie Falten an Schaftstiefeln, das breitknochige, durch das Alter entblößte Gesicht hatte die graue Färbung von Bimsstein angenommen, und die Nase hatte so große Poren wie ein Schwamm.
»Er ist alt geworden«, dachte Artamonow, und das war ihm angenehm. »Er vergißt sich beim Sprechen. Er ist kein Arbeiter mehr, ich muß ihn entlassen. Ich werde ihm ein Geschenk machen.«
Tichon rückte ihm näher, indem er in der einen Hand den Pinsel und in der andern den Teereimer hielt, wies mit dem Pinsel auf das dunkelrote Fabrikgebäude hin, das die Farbe rohen Fleisches hatte und brummte:
»Du solltest mal hören, was sie dort sprechen. Der Geck Sedow, der krumme Morosow, sein Bruder Sacharka und auch Sinaïdka, – sie alle sagen geradeheraus: ein Werk, das mit fremden Händen aufgebaut wird, ist ein schädliches Werk, man muß es vernichten . . .«
»Das scheinen deine Gedanken zu sein«, sagte Pjotr spöttisch.
»Meine?« Tichon schüttelte verneinend den Kopf. »Nein, die sind nicht von mir. Ich bin gegen solche Einfälle. Jeder soll für sich arbeiten, dann wird nichts entstehen, keinerlei Übel. Sie sagen aber: alles geht von uns aus, wir sind die Herren. Pass' auf, Pjotr Iljitsch, in Wirklichkeit geht alles von ihnen aus; sie haben dich in das Werk eingespannt, du hast den Wagen auf die ebene Straße hinausgeführt, und jetzt . . .«
Artamonow räusperte sich bedächtig, stand auf, steckte die Hände in die Taschen, blickte über Tichons Kopf hinweg auf die Wolken und begann energisch, wenn auch ein wenig stotternd zu sprechen:
»Ich will dir etwas sagen: ich verstehe natürlich, daß du das ganze Leben mit mir verbracht hast, das stimmt! Nun, du bist indessen schon alt, es fällt dir schwer . . .«
»Und Serafim hat sie darin bekräftigt«, sagte Tichon, sichtlich ohne auf den Herrn zu hören.
»Warte! Es ist für dich Zeit, auszuruhen.«
»Es ist für alle Zeit. Wie denn sonst?«
»Warte . . . Es ist schwer mit dir auszukommen . . .«
Tichon Wialow war nicht erstaunt, als er von seiner Entlassung hörte. Er murmelte ruhig:
»Nun, wenn es so ist . . .«
»Ich werde dir natürlich eine Gratifikation aussetzen«, versprach Artamonow, durch seine Ruhe ein wenig verwirrt. Tichon schwieg darauf und teerte sich seine staubigen Stiefel ein. Da sagte Artamonow so energisch, als er konnte:
»Also leb wohl!«
»Gut«, erwiderte Tichon.
Artamonow ging aufs andere Flußufer, in der Hoffnung, es wäre da kühler; dort hatte ihm Serafim unter der Fichte, wo er sich mit Ilja verzankt hatte, aus weißen Birkenästen eine Art Thron aufgebaut. Von dort aus übersah man gut das ganze Werk, das Haus, den Hof, die Siedlung, die Kirche und den Friedhof. Die großen Fenster des Fabrikkrankenhauses und der Schule funkelten wie Eis; die kleinen Menschen schossen wie Weberschiffchen über die Erde und webten das unendliche Gewebe des Werks, noch kleinere Menschen liefen durch den Sand der Fabriksiedlung. An der Kircheneinfriedung weidete inmitten der grauen Erlenstämme eine Spielzeugherde von Ziegen; sie wurden vom einäugigen Bader Morosow, dem Enkel des uralten Webers Boris, gezüchtet, die Fabrikfrauen kauften viel Ziegenmilch für die Kinder. Und hinter dem Krankenhaus, auf dem von einem Gitter eingeschlossenen, kahlen Erdviereck weideten in gelben Schlafröcken und weißen Mützen kleine Menschen, die an Irre erinnerten. Um das Werk hatten sich viele Vögel angesiedelt: Sperlinge, Krähen und Dohlen; die Elstern schnatterten, flogen eilig von einer Stelle zur andern und ließen wie Atlas ihre weißen Seiten erglänzen; schillernde Tauben gingen auf der Erde herum, besonders viele Vögel gab es neben der Schenke am Ufer der Watarakscha, wo die Bauern, die den Flachs brachten, abstiegen.
Seit einiger Zeit erregte dieser ganze große Betrieb in Artamonow aber weder Stolz, noch Vergnügen; er war für ihn zur Quelle verschiedenartiger Kränkungen geworden. Es war kränkend zu sehen, wie Alexej, Miron und verschiedene Menschen aus ihrer Umgebung schrien, wie Zigeuner auf dem Markt mit den Händen herumfuchtelten und stritten, ohne ihn, den ältesten Menschen des Werks zu beachten. Selbst wenn sie vom Werk sprachen, vergaßen sie ihn, und wenn er sich ihnen in Erinnerung brachte, hörten sie ihn schweigend an, als wären sie mit ihm einverstanden, machten aber alles, sowohl im großen wie im kleinen, nach eigenem Gutdünken. Das hatte schon längst begonnen, noch zu der Zeit, als sie gegen seinen Willen in dem Werk eine elektrische Station erbaut hatten; Pjotr Artamonow überzeugte sich bald davon, daß das sowohl vorteilhafter als auch gefahrloser war, konnte die Kränkung aber trotzdem nicht verwinden! Es gab auch viele kleine Kränkungen; sie wuchsen der Zahl nach immer mehr an und wurden schärfer. Besonders frech und widerwärtig betrug sich der Neffe; er hatte sein Studium beendet, kleidete sich in fremdländische Lederröcke, glänzte, von der goldenen Brille angefangen bis zu den gelben Stiefeln, kniff die Augen zu, verzog das Gesicht und sagte:
»Das ist veraltet, Onkel. Es ist jetzt eine andere Zeit, Onkel.«
Er schien sich vor der Zeit zu fürchten, wie ein Diener vor einem strengen Herrn. Das war aber das einzige, was er fürchtete, in allem andern war er unerträglich frech. Einmal sagte er sogar:
»Begreifen Sie doch, Onkel, daß Rußland nicht mehr mit solchen Menschen, wie Sie und Ihresgleichen es sind, leben kann.«
Das traf Artamonow mit solcher Wucht, daß er nicht einmal fragte weshalb? Er ging gekränkt weg, kam einige Wochen nicht zu Alexej und sprach nicht mit Miron, wenn er ihn im Werk traf.
Miron hatte die Absicht, Wera Popowas Tochter zu heiraten, die ebenso groß und schlank wie ihre ergraute, erstarrte Mutter war. Wie alle andern lächelte auch dieses Mädchen auf eine unangenehme Weise. Sie zuckte mit dem Hals, betrachtete alles mit dem starren Blick ihrer großen, schamlos geöffneten Augen, die an nichts zu glauben schienen, summte wie eine Fliege zwischen den Zähnen und verdarb von früh bis spät Leinen, das sie mit bunten Bildchen bekleckste. Ihr Strohhut, der mit einem Band an den Hals festgebunden war, baumelte immer auf dem Rücken herum, auch ihre Haare waren strohfarbig, sie war unordentlich gekleidet und ihre Beine sahen fast bis zu den Knieen unter dem Rock hervor.
Der Müßiggänger Gorizwetow war widerwärtig; er huschte wie eine Turmschwalbe vorüber, erschien unerwartet, verschwand, erschien wieder, griff alle wie ein kleiner, böser Hund an und schrie:
»Ihr wollt das reiche, geistige Rußland in ein seelenloses Amerika verwandeln, ihr baut eine Mausefalle für die Menschen!«
Aus diesem Schreien hörte Artamonow manchmal etwas Richtiges heraus, aber noch öfter etwas, das an Tichon Wialows Dummheit erinnerte, obwohl er keine Menschen kannte, die einander unähnlicher wären, als dieser geriebene, unstete Springinsfeld und der schwerfällige, gegen alles gleichgültige Tichon. Gorizwetow lief auf Jelisaweta Popowa zu und schrie sie an:
»Warum schweigen Sie? Sie sind ein geistiger Mensch!«
Sie lächelte; ihr Gesicht war hochmütig und unbeweglich, nur ihre grauen, herbstlichen Augen lächelten. Pjotr Artamonow vernahm nie gehörte, unverständliche Worte.
»Die Agonie der Romantik«, sagte Miron und putzte sorgfältig mit einem Stück Sämischleder die Brillengläser.
Alexej flog irgendwo in Moskau herum; Jakow nahm an Umfang zu, hielt sich solide beiseite; er sprach wenig, aber scheinbar treffend, seine Worte reizten in gleicher Weise Miron und Gorizwetow. Jakow hatte sich einen rötlichen, tatarischen Vollbart wachsen lassen und zugleich mit dem Bart wuchs immer merklicher auch seine Spottlust; es war angenehm zuzuhören, wenn der Sohn träge zu diesen gewandten Menschen sagte:
»Bevor ihr euch in feine Herrschaften verwandelt, werdet ihr noch in manche Pfütze geraten! Ihr solltet einfacher leben!«
Pjotr Artamonow und – wie er sah – auch Jakow waren sehr belustigt, als Jelisaweta Popowa plötzlich nach Moskau abreiste und sich dort mit Gorizwetow trauen ließ. Miron war erbost und konnte das nicht verbergen; er drehte an seinem Spitzbart herum, den er anders als es bei den Kaufleuten üblich war, trug, zog daraus gleichsam den Faden seiner trockenen Worte hervor und sagte in einem unecht wirkenden Ton:
»Solche Menschen wie Stepan Gorizwetow gehören einem aussterbenden Geschlecht an. Nirgends auf der Welt gibt es unnützere Menschen als ihn und seinesgleichen.«
Jakow sagte, um ihn aufzuhetzen:
»Und doch hat einer von ihnen dir geschickt den von dir liebevoll ausgesuchten Bissen vor der Nase weggeschnappt!«
Miron antwortete, die Schultern hebend:
»Ich bin kein Romantiker.«
»Wie? Was ist das?« fragte Pjotr Artamonow, und Miron antwortete mit scharfer Betonung, wie ein Richter, der sein Urteil vorliest:
»Niemand versteht, was ein Romantiker ist, Sie werden das auch nicht verstehen, Onkel. Das dient ebenso zur Verschönerung, wie eine Perücke für eine Glatze, oder als Vorsichtsmaßregel, wie ein falscher Bart für einen Spitzbuben.«
»Aha, er hat sich die Nase eingeklemmt«, dachte Pjotr mit Vergnügen.
Diese kleinen Freuden söhnten ihn ein wenig mit den zahlreichen Kränkungen aus, die er seitens der gewandten Leute erlitt; sie bemächtigten sich mit ihren fest zupackenden Händen immer mehr des Werks und schoben ihn beiseite, in die Einsamkeit. Er fand und ersann aber auch in der Einsamkeit etwas schmerzlich Angenehmes, sie machte ihn mit etwas Neuem, wenn auch scheinbar Bekanntem vertraut, – mit einem Pjotr Artamonow von anderen Umrissen und anderer Art.
Das war ein guter Mensch, doch war er grausam gekränkt worden; das Leben behandelte ihn ungerecht, wie die Stiefmutter den Stiefsohn. Er hatte das Leben als der gehorsame, stumme Diener seines Vaters begonnen, der ihm keinerlei Freuden, sondern nur eine dumme, langweilige Frau verschaffte und das große, schwere Unternehmen auf die Schultern lud. Ja, seine Frau hatte ihn geliebt, und ihr erstes Ehejahr war nicht übel gewesen; jetzt wußte er aber, daß selbst die liederliche Spulerin Sinaïda unterhaltender und leidenschaftlicher zu lieben verstand. Von den gewandten, tollen Frauen auf der Messe in Nishni ganz zu schweigen. Seine Frau hatte sich ihr ganzes Leben lang gefürchtet, zuerst vor Alexej, dann vor den Petroleumlampen und später vor den elektrischen Glühbirnen; wenn sie aufflammten, sprang Natalia zurück und bekreuzte sich. Sie hatte ihn auf der Messe in einem Grammophongeschäft beschämt:
»Ach, laß das, kaufe es nicht!« bat sie. »Vielleicht schreit aus diesem Ding ein Verdammter, und seine Seele ist darin versteckt!«
Jetzt fürchtete sie sich vor Miron, vor dem Arzt Jakowlew und vor ihrer Tochter Tatjana. Sie wurde unwahrscheinlich dick und aß den ganzen Tag. Und ihretwegen hätte sich sein Bruder beinahe umgebracht! Die Kinder achteten sie nicht. Als sie Jakow überreden wollte zu heiraten, riet er ihr spöttisch:
»Iß lieber irgend etwas, Mama.«
Sie erwiderte gehorsam und unsicher:
»Ich glaube, ich will schon nicht mehr.«
Und aß von neuem.
Der Vater sagte zu Jakow:
»Warum verspottest du die Mutter? Es ist Zeit, daß du heiratest!«
»Es ist jetzt nicht der richtige Augenblick, um sich durch eine Familie zu binden«, antwortete Jakow sachlich.
»Warum fürchtet ihr euch alle vor der Zeit?« zürnte der Vater. Der Sohn antwortete nicht und zuckte die Achseln.
Auch er sagte:
»Sie verstehen das nicht, Papa.«
Er sagte das zwar sanft; aber es war doch nicht möglich, daß der Vater weniger verstehen sollte als der Sohn! Die Menschen leben nicht von dem morgigen, sondern von dem gestrigen Tage, alle Menschen leben so.
Der Älteste, sein Lieblingssohn, war verschwunden und verloren. Aus Liebe zu ihm hatte er etwas tun müssen, woran er nicht zurückdenken wollte.
Die älteste Tochter Jelena, eine Frau mit dicken Hüften und breitem Gesicht, durch ihren Reichtum und durch ihren betrunkenen Mann verwöhnt, hatte sich in einen ganz fremden Menschen verwandelt; sie besuchte ab und zu die Eltern und erschien reich gekleidet und mit vielen Ringen an den Fingern. Sie klirrte mit goldenen Ketten und Berloques, blickte mit satten Augen durch eine goldene Lorgnette und sagte mit müder Stimme:
»Wie schlecht es bei euch riecht! Das ganze Haus ist so muffig und faulig! Ihr solltet ein neues bauen! Wer wohnt denn heutzutage neben einer Fabrik?«
Artamonow hörte zufällig, wie sie zur Mutter sagte:
»Papa ist noch immer ebenso? Wie langweilig muß es doch mit ihm sein! Mein Mann trinkt und treibt Unfug, aber er ist lustig.«
Sie hatte eine besonders aufreizende Leidenschaft für Reinlichkeit; wenn sie sich auf einen Stuhl setzte, klopfte sie ihn mit dem Taschentuch ab, und sie roch so stark nach Parfüm, daß man niesen mußte. Ihr rücksichtsloser, beleidigender Widerwillen gegen alles im Hause rief in Artamonow den Wunsch wach, der Tochter all das zu vergelten, wodurch sie ihn reizte; in ihrer Anwesenheit ging er in Unterwäsche, im offenen Schlafrock und in Galoschen an den nackten Füßen durch das Haus und sogar über den Hof, und bei Tische schmatzte und rülpste er wie ein Baschkire. Die Tochter war empört:
»Was soll das, Papa?«
Er hatte aber eben diese Empörung angestrebt.
»Verzeihen Sie, meine Gnädige!« sagte er. »Ich bin ja nur ein Bauer.«
Und rülpste und schmatzte noch wilder.
Die Tochter war im Ausland gewesen und erzählte des Abends träge und mit schmalziger Stimme der Mutter allerhand Unsinn: in irgendeiner Stadt bürsteten die Frauen die Außenwände der Häuser mit Seife ab; in einer andern Stadt war Sommer und Winter ein derartiger Nebel, daß den ganzen Tag die Laternen brannten, und man trotzdem nichts sah; in Paris handelten alle Leute mit fertigen Kleidern, und es gab dort einen so hohen Turm, daß man von dort aus Städte jenseits des Meeres sehen konnte. Jelena stritt mit der jüngeren Schwester und beschimpfte sie sogar. Tatjana wuchs als mageres, dunkles Mädchen heran und war über ihre Unansehnlichkeit erbittert. Etwas an ihr erinnerte an einen Küster; wahrscheinlich ihr kurzer Zopf, die flache Brust und die bläuliche Nase. Sie wohnte bei ihrer Schwester, konnte aus irgendeinem Grunde das Gymnasium nicht beenden, fürchtete sich vor Mäusen, war mit Miron einverstanden, daß man die Macht des Zaren einschränken müßte, und hatte vor kurzem Zigaretten zu rauchen begonnen. Wenn sie im Sommer in das Werk kam, schrie sie die Mutter wie einen Dienstboten an, sprach mit dem Vater durch die Zähne, las den ganzen Tag Bücher und ging des Abends in die Stadt, zum Onkel, von wo der Arzt Jakowlew, mit den Goldzähnen, sie zurückbrachte. Des Nachts schlief sie vor jungfräulicher Sehnsucht nicht und schlug mit dem Pantoffel die Mücken an den Wänden tot, was wie Pistolenschüsse knallte.
Alles ringsum wurde fremd, geräuschvoll und herausfordernd dumm; alles, von Mirons frechen Reden angefangen bis zu den sinnlosen Liedern des Heizers Waska, eines lahmen Bauern mit einer verrenkten Hüfte und einem zerzausten, besenähnlichen Kopf; an Feiertagen steckte Waska, der der Köchin den Hof machte, unter dem Küchenfenster, begleitete sich auf der Harmonika und brüllte mit geschlossenen Augen:
»Du bist mein Unglück,
Bist meine Gewohnheit,
Nur dich sucht mein Blick
Und dein Schnäuzchen, o Maid!«
Olga hatte schon lange nichts mehr von Ilja erzählt; der neue Pjotr Artamonow, der gekränkte Mensch, dachte aber immer öfter an seinen älteren Sohn. Ilja hatte sicher schon die entsprechende Vergeltung für seine Widerspenstigkeit erlitten, davon zeugte das veränderte Verhalten ihm gegenüber in Alexejs Haus. Als Pjotr Artamonow eines Abends zu Alexej kam und im Flur ablegte, hörte er, wie Miron, der aus Moskau zurückgekehrt war, sagte:
»Ilja gehört zu den Menschen, die das Leben nach dem Buch betrachten und eine Kuh nicht von einem Pferd zu unterscheiden vermögen.«
»Du lügst«, dachte Artamonow, der in dem feindseligen Urteil des Neffen etwas Tröstliches fand.
Alexej fragte:
»Gehört er derselben Partei wie Gorizwetow an?«
»Er ist noch schädlicher«, antwortete Miron.
Als Artamonow das Zimmer betrat, drohte er ihnen im Geiste:
»Wartet, bis er zurückkehrt, dann wird er es euch schon zeigen . . .«
Miron begann sogleich von Moskau zu erzählen und zornig über die Untüchtigkeit der Regierung zu klagen. Dann kam Natalia mit ihrem Sohn, und Miron erörterte die Notwendigkeit des Baues einer Papierfabrik. Er setzte ihnen schon lange damit zu.
»Bei uns liegt das Geld unnütz da, Onkel«, sagte er. Natalia errötete derart, daß sogar ihre Ohren anschwollen, und erwiderte mit kreischender Stimme:
»Wo liegt es, bei wem liegt es denn?«
Artamonow wurde plötzlich von einer Öde umfangen, ihm war, als hätte sich vor ihm eine Tür weit aufgetan, und als blickte er in ein Zimmer, in dem alles so bis zum Überdruß bekannt war, daß der Raum leer erschien. Diese plötzliche körperliche Langeweile überkam ihn wie ein Nebel von außen her; sie verstopfte die Ohren, blendete die Augen, rief die Empfindung von Müdigkeit hervor und erschreckte durch Gedanken an Krankheit und Tod.
»Ich habe euch satt,« sagte er, »wann werde ich vor euch Ruhe haben?«
Jakow brummte:
»Man hat ohnedies genug Scherereien . . .«
Und Natalia schrie:
»Es treiben sich hier schon so viele Arbeiter herum, daß man nirgends mehr hingehen kann! Sie betrinken sich und schimpfen unflätig . . .«
Artamonow trat ans Fenster, – im Garten stand Tichon Wialow mit einem Mädchen und deutete mit dem Finger auf einen Apfelbaum.
»Ach, du Adam«, dachte Pjotr Artamonow, die Verstimmtheit abschüttelnd; solch weit abliegende Gedanken huschten oft wie Mäuse an ihm vorbei, er freute sich stets über ihre Plötzlichkeit, er liebte sie sogar deshalb, weil sie nicht beunruhigten, sie tauchten auf und verschwanden, und das war alles.
Mit Tichon war das auch so eine Sache; Pjotr Artamonow war tief gekränkt, als er sah, daß Alexej ihn bei sich aufnahm, nachdem Tichon über ein Jahr verschollen und dann plötzlich wieder erschienen war, und zwar mit einer unangenehmen Nachricht: Bruder Nikita hatte sich, unbekannt wohin, aus dem Kloster entfernt. Pjotr war überzeugt, daß der Alte wußte, wo sich Nikita befand, und es nur darum nicht mitteilte, weil er gern Unannehmlichkeiten bereitete. Wegen dieses Menschen verzankte Artamonow sich ernstlich mit dem Bruder, obwohl Alexej sich triftig verteidigte:
»Überlege doch: der Mensch hat das ganze Leben für uns gearbeitet, und wir haben ihn hinausgeworfen. Ist das in Ordnung?«
Pjotr wußte, daß es nicht in Ordnung war, aber Tichons Anwesenheit im Hause war für ihn noch störender. Auch seine Frau war diesmal, wohl zum erstenmal in ihrem ganzen Leben, auf Alexejs Seite. Sie sagte mit einer bei ihr ungewohnten Festigkeit:
»Das ist nicht recht, Pjotr Iljitsch. Schlage mich meinetwegen, es ist aber doch nicht recht!«
Sie und Olga überredeten und beruhigten ihn. Der gekränkte Mensch triumphierte aber:
»Siehst du? Dein Wille ist für niemand Gesetz. Siehst du?«
Der gekränkte Mensch wurde für Pjotr Artamonow immer sichtbarer und fühlbarer. Pjotr schleppte seinen schwer gewordenen Körper vorsichtig unter die Fichte, den Hügel hinan, setzte sich auf einen Sessel und dachte mit aufrichtigem Bedauern an diesen Menschen. Es war süß und bitter zugleich, sich einen unglücklichen, unverständlichen, von niemandem geschätzten, aber guten Menschen auszudenken; er ließ sich leicht ersinnen und entstand ebenso aus dem Nichts, wie an heißen Tagen über den Sümpfen in der blauen Leere der weiße Dunst der Wolken.
Beim Anblick des Werks und des aus ihm Geborenen flößte dieser Mensch ihm den Gedanken ein:
»Man hätte auch anders, auch ohne diese Erfindungen, leben können.«
Der Fabrikant Artamonow entgegnete ihm:
»Das sind Tichons Gedanken.«
»Der Pope Gleb hat dasselbe gesagt, auch Gorizwetow und noch viele andere. Ja, die Menschen zappeln wie Fliegen im Spinngewebe.«
»Man kann nicht so einfach durchs Leben kommen«, erwiderte ungern der Fabrikant.
Manchmal entbrannte dieser stumme Streit zweier Menschen in einem einzigen besonders heftig, und der gekränkte Mensch wurde unbarmherzig und schrie beinahe:
»Weißt du noch, wie du in betrunkenem Zustand auf der Messe in Nishni den Leuten gebeichtet hast, daß du, wie Abraham den Isaak, deinen Sohn als Sühnopfer darbrachtest, und daß dir der kleine Nikonow statt des Widders untergeschoben wurde? Erinnerst du dich? Das ist wahr, das ist wahr. Und dafür, für die Wahrheit, hast du mich mit der Flasche geschlagen. Ach, du hast mich erwürgt und zugrunde gerichtet! Du hast auch mich hingeopfert. Und für wen ist dieses Opfer, für wen? Für den gehörnten Gott, von dem Nikita sprach? Für ihn? Ach, du . . .«
In den Augenblicken eines so unerbittlichen Streites schloß der Fabrikant Artamonow fest die Augen, um die beschämenden, zornigen und bitteren Tränen zu verbergen. Sie flossen aber unaufhaltsam, er wischte sie mit den Händen von Wangen und Bart ab, rieb dann die Handflächen aneinander trocken, und betrachtete stumpf seine verschwollenen, blauroten Hände. Und er trank in großen Schlucken Madeira direkt aus der Flasche.
Trotz dieser kummervollen Tränen, die der gekränkte Mann ihm auspreßte, war er Pjotr Artamonow angenehm und notwendig, wie ein Badediener, wenn er mit dem weichen, nicht zu heißen, duftig eingeseiften Waschlappen die Rückenhaut an der Stelle reibt, die man sich selbst nicht kratzen kann, weil der Arm nicht so weit reicht.
. . . Plötzlich erhob sich irgendwo weit in Sibirien eine starke Faust und begann auf Rußland loszuschlagen.
Alexej sprang herum, schwang die Zeitung und schrie:
»Raub! Mord!« Er hob seine Vogelklaue zur Decke, bewegte wild die Finger und zischte:
»Wir werden sie . . . Wir werden ihnen . . .«
Der Arzt mit den Goldzähnen lehnte sich, die Hände in den Taschen, an die warmen Ofenkacheln und murmelte:
»Es könnte auch sein, daß sie es uns zeigen.«
Dieser große, kupferrote Mensch lächelte natürlich, er lächelte immer, was auch gesprochen wurde; er erzählte sogar von Krankheiten und Todesfällen mit demselben Lächeln, mit dem er von einem mißglückten Preferencespiel sprach; Pjotr Artamonow betrachtete ihn wie einen Ausländer, der vor Verlegenheit lächelt, weil er die ihm fremden Menschen nicht zu verstehen vermag; Artamonow liebte ihn nicht und vertraute ihm nicht und ließ sich vom städtischen Arzt, dem schweigsamen Deutschen Krohn, behandeln.
Miron zupfte sich besorgt das Bärtchen, verzog das Gesicht, als hätte er Schmerzen in der Schläfe, schritt wie ein Storch aus einer Ecke in die andere und belehrte alle:
»Man hätte die Sache im Bunde mit den Engländern beginnen sollen . . .«
»Ja, welche Sache denn?« forschte Pjotr Artamonow, aber weder der gewandte Bruder, noch der kluge Neffe konnten ihm in klaren Worten erzählen, weswegen dieser Krieg plötzlich ausgebrochen war. Es war ihm angenehm, die Verwirrung der allwissenden, selbstsicheren Menschen zu sehen, besonders lächerlich kam ihm Alexej vor: er benahm sich derart unverständlich, daß man glauben konnte, dieser unerwartete Krieg treffe vor allem gerade ihn, Alexej Artamonow, und hindere ihn daran, etwas sehr Wichtiges zu vollführen.
In der Stadt wurde eine Kirchenprozession veranstaltet. Die bärtige Kaufmannschaft stampfte majestätisch und gottesfürchtig mit den schweren Füßen den reichlich gefallenen Schnee fest und schritt wie eine dichte Ochsenherde hinter der stämmigen, goldenen Geistlichkeit; man trug Heiligenbilder und Kirchenfahnen; der vereinigte Chor aller Kirchen der Stadt sang laut und eindringlich:
»Herr, errette deine Knechte . . .«
Die Worte des Gebetes, die an eine Forderung erinnerten, flogen als weißer Dampf aus den runden Mäulern auf, froren als Reif an den Brauen und Schnurrbärten der Bässe fest und verdichteten sich in den Bärten der nicht im Takt singenden Kaufmannschaft. Besonders durchdringend, beharrlich und nicht im geringsten Einklang mit dem Chor sang der Bürgermeister Woroponow, der Sohn des Stellmachers; er war dick und rot, hatte Augen von der Farbe von Perlmutterknöpfen und hatte, zugleich mit dem Vermögen, vom Vater einen unbezähmbaren Haß gegen alle Artamonows geerbt.
Die gingen zu siebent alle beisammen; Alexej führte seine Frau am Arm und hinkte voran, hinter ihm ging Jakow mit der Mutter und der Schwester Tatjana, dann folgte Miron mit dem Arzt; als letzter schritt Pjotr Artamonow in weichen Stiefeln einher.
»Das ist eine Rasse!« sagte Miron halblaut.
»Eine Parade der Macht!« antwortete der Arzt.
Miron nahm die Brille ab und begann sie mit dem Taschentuch zu putzen, der Arzt fügte hinzu:
»Passen Sie auf, es kommt zu einer Rauferei!«
»Nun, dieses Rohmaterial fängt nicht so bald Feuer . . .«
»Hör' auf«, sagte Pjotr zu seinem Neffen. Der sah ihn von der Seite an und setzte sich die Brille auf die lange Nase, die er vorher mit den Fingern befühlt hatte.
»Herr, errette deine Knechte!« forderte Woroponow und kreischte das Wort: »Knechte« absichtlich laut und pfeifend hervor; dann wandte er sich wie ein Wolf um, musterte die Bürger und schwang aus irgendeinem Grunde seine Biberpelzmütze in die Luft.
Schön und mit tiefer Stimme sang die vierzigjährige, aber frische, rundliche und hochbrüstige Tochter Pomialows, die zum drittenmal verwitwet war und ihrem skandalösen, schamlosen Lebenswandel nach die erste Stelle in der Stadt einnahm. Pjotr Artamonow hörte, wie sie Natalia halblaut riet:
»Gevatterin, du solltest deinen Mann in den Krieg schicken; er jagt Angst ein und wird die Feinde in die Flucht schlagen.«
Dann fragte sie Jakow:
»Na, Patchen, warum heiratest du nicht, mein Hähnchen?«
Pjotr Artamonow schüttelte den Kopf, die Worte hinderten ihn wie Fliegen daran, über etwas sehr Wichtiges nachzudenken; er ging zur Seite, schritt langsamer über das Trottoir hin und ließ den Strom der Menschen, der an diesem Tage auf dem üppigen, reinen Schnee ungewöhnlich schwarz erschien, an sich vorbei. Die Menschen gingen weiter und atmeten, wie kochende Samowars, Dampf aus.
Da schritt an der Spitze ihrer Schülerinnen Wera Popowa mit einem steinernen Gesicht vorbei; die Schneeflocken funkelten auf ihren grauen Haaren; ihre weißen, bereiften Wimpern zuckten, als sie mit ihrem unbedeckten, von üppigen Flechten eingerahmten Kopf nickte. Artamonow bedauerte sie:
»Die Närrin hat sich einspannen lassen, um Enten zu hüten.«
Es rollte eine lange Woge geschorener Köpfe vorüber: das waren die Schüler der beiden städtischen Schulen; eine halbe Kompanie Soldaten schob sich wie eine schwere, graue Maschine vorbei; sie wurde von dem stadtbekannten, kaltblütigen Leutnant Mawrin geführt, der von der Schneeschmelze bis zu den Frösten täglich in der Oka badete und, wie alle wußten, auf Kosten der Pomialowa lebte, mit der er ein illegitimes Verhältnis unterhielt.
Majestätisch, wie eine satte Gans, schritt der Gendarmerieoffizier Nesterenko, ein Mensch mit einem Chinesenschnurrbart, einher, und seine kranke Frau ging am Arme ihres Bruders Shitejkin, des Sohnes des verstorbenen Stadtältesten und Lederfabrikanten. Man erzählte von Shitejkin, er treibe zwar Unzucht mit Nonnen, hätte aber siebenhundert Bücher gelesen und verstehe es meisterlich, auf einer kleinen Trommel zu trommeln, welche Kunst er sogar heimlich den Soldaten beibringe.
Dann fuhr der fett gewordene Stepan Barski mit seinem dem Trunke ergebenen Schwiegersohn und der schielenden Tochter im Schlitten vorüber; in einem dunklen Haufen bewegte sich langsam das geringe Volk: die Kleinbürger, die Lederarbeiter, die Weber, die Wagenarbeiter, die Bettler und irgendwelche ganz überflüssige alte Frauen, die an Ratten erinnerten. Der Schnee salzte träge die entblößten Köpfe ein, aus der Ferne drang unerbittlich Woroponows forderndes Geschrei herüber:
»Herr, errette deine Knechte . . .«
»Wozu braucht Gott diese Menschen? Das ist nicht zu verstehen«, dachte Artamonow. Er liebte die Bürger nicht und unterhielt zu der Stadt fast gar keine Beziehungen außer den geschäftlichen Bekanntschaften; er wußte, daß die Stadt ihn auch nicht liebte und für stolz und boshaft hielt. Dagegen wurde aber Alexej wegen seiner Vorliebe, für die Verschönerung der Stadt tätig zu sein, sehr geachtet; so hatte er die Hauptstraße gepflastert, den Platz durch Linden geschmückt und hatte am Ufer der Oka einen öffentlichen Garten angelegt. Miron und selbst Jakow waren gefürchtet, man hielt sie für maßlos gierig und war der Meinung, daß sie alles ringsum in ihre Hand bekommen wollten.
Artamonow betrachtete das langsame Vorüberschreiten der nachdenklichen Menschen und zog die Stirne kraus, – viele unbekannte Gesichter und viel zu viele verschiedenfarbige Augen blickten ihn mit der gleichen Feindseligkeit an.
Am Tor von Alexejs Haus begrüßte ihn Tichon. Artamonow fragte:
»Wir haben Krieg, Alter?«
Tichon fuhr sich mit der gewohnten Bewegung der schweren Hand über die Backenknochen. Zum erstenmal während des ganzen mit ihm verbrachten Lebens fragte Artamonow diesen Menschen vertrauensvoll:
»Was meinst du dazu?«
»Das ist eine Lappalie«, erwiderte Wialow sogleich, als hätte er die Frage erwartet.
»Bei dir ist alles eine Lappalie«, sagte Artamonow unbestimmt.
»Ja, was denn sonst? Sind wir denn Hunde? Wir sind doch keine Tiere.«
Artamonow ging durch den feinen, pulverigen Schnee weiter. Er fiel immer dichter und ließ die Menschenmenge in der Ferne zwischen den weißen Hügeln der Bäume und Dächer beinahe ganz verschwinden.
Jetzt, nach dem Tode von Serafim, dem Tröster, suchte Pjotr Artamonow bei der Diakonswitwe Taïsja Paraklitowa Zerstreuung. Es war dies eine magere Frau unbestimmten Alters, die an einen Backfisch und an eine schwarze Ziege erinnerte. Sie hatte etwas Stilles und war mit ihm immer und in allem einverstanden:
»So ist es, mein Lieber!« sagte sie. »Ja, mein Lieber, ja, ja!«
Artamonow trank viel, wurde aber erst nach langer Zeit berauscht, und es reizte ihn, daß seine aufdringlichen traurigen Gedanken so lange brauchten, um in Taïsjas starken, schmackhaften Schnäpsen zu zerschmelzen und zu ertrinken. Die ersten Minuten des Rausches waren unangenehm, der Alkohol machte Pjotrs Gedanken über sich und die Menschen noch ätzender und bitterer, färbte das ganze Leben in böse, sumpfig grüne Farben, denen er eine brodelnde Bewegung verlieh; es schien Artamonow, daß dieses Brodeln ihn im Kreise herumwirbelte, um ihn im nächsten Augenblick über irgendeinen Rand zu schleudern. Er lauschte zähneknirschend, mit scharfem Blick, dem finstern Aufruhr in seinem Innern und schrie dann die Diakonsfrau an:
»Nun, was schweigst du? Erzähle, was du weißt!«
Die Frau sprang wie eine Ziege auf seine Knie, sie war erstaunlich leicht und warm. Sie schien ein unsichtbares Buch aufzuschlagen und daraus vorzulesen:
»Die Pomialowa hat dem Leutnant Mawrin den Laufpaß gegeben, er hat wieder dreihundertzwanzig Rubel beim Kartenspiel verloren; sie will die Wechsel präsentieren, sie hat Wechsel auf seinen Namen. Und der Gendarm läßt seine Frau deshalb hier wohnen, weil er sich in der Stadt eine Geliebte angeschafft hat, und nicht weil seine Frau krank ist . . .«
»Das ist lauter Unrat«, sagte Artamonow.
»Es ist Unrat, mein Lieber, und was für welcher!«
Ihre Berichte über die schmutzigen Stadtereignisse verwirrten Artamonows Gedanken, lenkten sie in andere Bahnen, rechtfertigten und festigten seine Feindseligkeit diesen langweiligen Sündern, den Städtern gegenüber. An Stelle dieser Gedanken erstanden und bewegten sich im Kreise die Bilder der wilden Gelage auf der Messe in Nishni; rasende Menschen mit gierig glotzenden, betrunkenen, doch nie satten Augen rannten wie besessen herum, verbrannten Geld und wüteten in jeder Weise und ohne vor irgend etwas zurückzuschrecken in der grimmigen Auflehnung des Fleisches und strebten zu der großen, auf dem schwarzen Hintergrund blendend weiß erscheinenden, schamlos entblößten Frau hin . . .
Pjotr Artamonow goß schweigend die buntfarbigen Schnäpse in sich hinein, kaute glitschige, saure Pilze und fühlte mit seinem ganzen trunkenen Körper, daß das Anmutigste, unheimlich Mächtigste und Echteste in dem schamlosen Weib auf der Messe verborgen war, das sich für Geld nackt zeigte und um das angesehene Menschen ihr Vermögen, ihr Gewissen und ihre Gesundheit verloren. Für ihn war aber von dem ganzen Leben nur diese schwarze Ziege übriggeblieben.
»Zieh dich aus!« brüllte er. »Tanze!«
»Wie soll es denn ohne Musik gehen?« sagte die Diakonsfrau, sich aufknöpfend. »Wir müßten den Jäger Noskow holen, er spielt gut Harmonika . . .«
Bei dieser Unterhaltung verging die Zeit unmerklich. Manchmal aber tauchte aus dem Strom trüber Tage etwas gänzlich Unfaßbares auf: im Winter verbreiteten sich Gerüchte, die Arbeiter in Petersburg hätten den Palast zerstören und den Zaren ermorden wollen. Tichon Wialow brummte:
»Sie werden noch die Kirchen zu Staub machen. Wie sollte es auch anders sein? Das Volk ist nicht aus Eisen.«
Im Sommer sprach man davon, daß über die russischen Meere ein russisches Schiff fahre und aus Kanonen auf die Städte schieße. Tichon sagte:
»Ja, wie sollte es anders sein? Man hat sich an den Krieg gewöhnt.«
Man zog wieder mit Heiligenbildern durch die Stadt. Woroponow, in einem fuchsroten Rock, trug das Porträt des Zaren und betete: »Herr, errette deine Knechte–e–e!«
Diesmal schrie er noch lauter und sogar zorniger, und doch klang in seinem –e–e! ein besorgter Hilferuf.
Der betrunkene Shitejkin ging ohne Mütze, mit glänzender, blauroter Glatze, ein zweiläufiges Gewehr in den Händen, an der Spitze seiner Lederarbeiter und brüllte und randalierte wie toll.
»Kinder! Wir werden doch Rußland nicht den Juden ausliefern! Wem gehört Rußland? Uns!«
»Uns gehört es«, schrien ebenfalls die nicht ganz nüchternen Lederarbeiter und fingen bei der Begegnung mit ihren Feinden, den Webern, Raufhändel an. Sie schlugen den Arzt Jakowlew mit einem Stock und warfen den alten Apotheker in die Oka. Shitejkin verfolgte lange dessen Sohn in der Stadt, verschoß zweimal seine Gewehrladung in der Richtung seiner Spur, traf ihn aber nicht, sondern verwundete nur mit Schrot den Rücken des Schneiders Bruskow.
Das Werk stellte die Arbeit ein, die Jugend stürzte mit aufgekrempelten Hemdärmeln in die Stadt, ohne auf das Zureden Mirons und anderer vernünftiger Menschen zu hören und ohne das Schreien und Weinen der Frauen zu beachten.
Das Werk stand leer und seelenlos da und schien in dem Wind zusammenzuschrumpfen, der sich ebenfalls empörte, heulte und pfiff, mit eisigem Regen netzte und auf den Schornstein klebrigen Schnee türmte, den er später wieder wegblies und wegwusch.
Pjotr Artamonow saß am Fenster und sah stumpf zu, wie aus der Stadt und in die Stadt kleine, dunkle Männer- und Frauengestalten wie Ameisen liefen. Man hörte durch die Fensterscheiben schreien, und die Menschen schienen fröhlich zu sein. Am Tor kreischte die Harmonika, und der lahme Heizer Waska Krotow sang in einem Arbeiterhaufen:
»Die Erde ist für uns zu klein,
Drum raufen wir mit den Japanern!
Sie schlagen uns den Schädel ein,
Wir kämpfen mit heiligen Bannern!«
Der Wind trug ein Brummen aus der Stadt herüber, als kochte dort ein ungeheurer, mit einem ganzen See gefüllter Samowar. Alexejs Fuhrwerk erschien auf dem Hof, auf dem Wagenbock saß der einäugige Bader Morosow; Olga, in einen Schal gewickelt, sprang heraus, Artamonow erschrak, er vergaß die schmerzenden Beine, erhob sich eilig und ging ihr entgegen.
»Was ist geschehen?«
Sie schüttelte sich wie ein Huhn und sagte:
»Die Lederarbeiter haben bei uns die Fenster eingeschlagen . . .«
Artamonow ließ sie vorangehen und brummte schmunzelnd:
»Nun, da habt ihr's . . . Das kommt von dem Geschwätz! Man hat mich angeschrien . . . jetzt steht es so! Nein, der Zar . . .«
Und plötzlich vernahm er von Olga eine ungewöhnlich laute, zornige Antwort:
»Laß das! Dein Zar ist kein ehrenwerter Mensch!«
»Was verstehst du vom Zaren?« sagte er, verlegen nach seinem Ohr greifend.
Ihn überraschte der Zorn der stets stillen und niemand verurteilenden kleinen alten Frau mit der Brille; in ihren Worten klang etwas verblüffend Aufrichtiges, wenn auch Überflüssiges und Klägliches, wie das Piepen einer Maus, der ein Ochs, ohne es zu sehen und zu wollen, auf den Schwanz getreten hat.
Er hatte Olga lange Zeit, schon seit einigen Wochen, nicht gesehen; er vermied es, ihrem Sohn zu begegnen, mit dem er sich verzankt hatte. Noch Ende des Sommers, als Pjotr Artamonow mit geschwollenen Füßen zu Bett lag, war bei ihm feierlich der in Schweiß gebadete Woroponow erschienen und hatte ihm, mit den schweren, blauen Lippen schmatzend, vorgeschlagen, ein Telegramm an den Zaren zu unterschreiben, – eine Bitte, der Zar sollte seine Macht niemandem abtreten. Artamonow war durch das freche Vorhaben des Bürgermeisters sehr erstaunt, er unterschrieb jedoch das Papier, da er überzeugt war, daß es Alexej und Miron unangenehm sein würde, und daß Woroponow überdies aus Petersburg einen entsprechenden Verweis erhalten würde: »Steck' deine Nase nicht in Dinge, die dich nichts angehen, großmäuliger Dummkopf, überhebe dich nicht zu sehr!«
Woroponow steckte das Papier in die Rocktasche, knöpfte sich sorgfältig zu und begann über Alexej, Miron, den Arzt und über alle diejenigen zu klagen, die, von den Juden aufgehetzt, sich teils blindlings, teils aus Eigennutz gegen den Zaren wandten; Pjotr Artamonow hörte seine Klagen fast mit Vergnügen an und stimmte ihm zu, und nur, als Woroponows blaue Lippen boshaft von Wera Popowa zu sprechen begannen, sagte er streng:
»Wera Nikolajewna hat damit nichts zu tun.«
»Wieso hätte sie denn damit nichts zu tun? Uns ist bekannt . . .«
»Dir ist nichts bekannt . . .«
»Ihr werdet so lange herumspielen, bis das Unglück da ist«, sagte der Bürgermeister und ging.
Des Abends aber fielen der Neffe und die Tochter wie Hunde über Artamonow her, sie stürzten sich auf ihn und bellten, ohne sein Alter zu schonen.
»Was tun Sie, Papa?« schrie Tatjana, und in ihrem häßlichen Gesicht bewegten sich die Augen einer Wahnsinnigen. Jakow stand am Fenster und trommelte mit den Fingern an den Scheiben; es schien Artamonow, als wäre auch der Sohn gegen ihn; Miron aber fragte giftig:
»Haben Sie gelesen, was in diesem Telegramm geschrieben stand?«
»Ich habe es nicht gelesen!« sagte Artamonow. »Ich habe es nicht gelesen, ich weiß es aber: es steht darin, daß man junge Hunde an der Leine halten soll!«
Es war ihm angenehm zu sehen, wie böse Miron und Tatjana wurden, Jakows Schweigen verwirrte ihn jedoch, er glaubte an die Geschäftstüchtigkeit seines Sohnes und erriet, daß er gegen seine Interessen gehandelt hatte; seine Eitelkeit erlaubte ihm aber nicht, Jakow in diesen Streit zu verwickeln und ihn zu fragen, wie er darüber dachte. Er lag da, gab bissige Antworten und knurrte, während Miron ihm, mit der Nase wackelnd, einschärfte:
»Begreifen Sie doch: der Zar ist von einer Spitzbubenbande umringt, die durch ehrliche Menschen ersetzt werden müßte . . .«
Artamonow wußte, daß Miron danach strebte, zu diesen ehrlichen Menschen zu gehören, und daß sein Vater sich in Moskau darum bemühte, man sollte Miron dort als Kandidaten für die Zarenduma vorschlagen. Es war lächerlich und gefährlich, sich den storchähnlichen Neffen in der Nähe des Zaren vorzustellen. Plötzlich lief Alexej zerzaust und mit aufgeknöpften Kleidern herein, hüpfte herum und schnatterte:
»Was machst du denn, du verrückter Mensch?«
Er schrie ihn wie einen Angestellten an.
»Zum Teufel«, brüllte Artamonow. »Ihr wollt mich, Pjotr belehren? Schert euch alle zum Teufel! Hinaus!«
Er war sogar selbst über seinen plötzlichen Zornesausbruch erschrocken.
. . . Als er jetzt in der Ecke saß und Olgas arglosen Bericht über den Aufruhr in der Stadt anhörte, fiel ihm jener Streit ein, und er bemühte sich zu verstehen, wer recht hatte, er oder jene Menschen.
Vor allem hatten ihn Olgas kindlich zornige Worte verwirrt. Jetzt sprach sie aber schon ruhig und sogar gerührt:
»Unsere Weber sind liebe Menschen! Wie schnell haben sie die Woroponowschen Leute und Lederarbeiter verjagt. Sie sind dort geblieben und bewachen das Haus.«
Natalia war aber sehr erschrocken und greinte zornig:
»Die Unruhen gehen von eurem Hause aus. Es geschieht euch schon recht! Alles ist durch euch entstanden.«
Miron erschien, schritt wie auf Sprungfedern, ohne zu grüßen, durchs Zimmer und drohte:
»Allen diesen Woroponows und Shitejkins wird es teuer zu stehen kommen, daß sie das Volk zum Aufruhr anstiften. Das wird für sie nicht ohne Folgen vorübergehen, es wird seine Sühne finden! Der Rebellionsunterricht von seiten der Freunde Ilja Petrowitsch Artamonows genügt vollkommen; wenn aber auch diese hier noch anfangen . . .«
Pjotr Artamonow schwieg dazu.
Nach dem durch Woroponows Telegramm hervorgerufenen Skandal war Miron ihm endgültig und restlos widerwärtig geworden; er sah jedoch, daß das Werk sich gänzlich in den Händen dieses Menschen befand, und daß Miron ein geschickter und sicherer Leiter war, dem die Arbeiter gehorchten, den sie aber fürchteten; sie benahmen sich jedenfalls ruhiger als die städtischen.
Der Wind legte sich und vergrub sich in den tiefen Schnee. Es schneite in schweren, geraden und dichten Flocken, die Fenster waren durch weiße Schneevorhänge verhüllt, man sah draußen nichts. Niemand sprach mit Pjotr Artamonow, und er fühlte, daß alle, außer seiner Frau, die ganze Schuld auf ihn schoben: den Aufruhr, das schlechte Wetter, das ungeschickte Benehmen des Zaren, alles hatte er verschuldet.
»Und wo ist denn Jascha?« fragte besorgt Natalia. »Wo Jascha ist, will ich wissen!«
Miron zog verächtlich die Nase kraus und sagte, ohne seine Tante anzusehen:
»Wahrscheinlich hat er sich in der Stadt in seinem Hühnerstall versteckt.«
»Was? Wo?« fragte ängstlich Natalia.
Pjotr Artamonow dachte:
»Das dumme Weib scheint nicht einmal zu wissen, daß Jakow eine Geliebte hat.«
Und plötzlich erklärte er sehr energisch:
»Also meinetwegen – lebt ihr alle, wie ihr wollt. Tut, was euch paßt. Jawohl! Ich verstehe wirklich nichts mehr. Ich bin eben zu alt. Aber hier . . . hier treibt der Teufel sein Spiel! So lange lebe ich nun auf Erden – und verstehe nichts . . .«