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Bis zu seinem sechsundzwanzigsten Lebensjahre hatte Jakow Artamonow brav und ruhig gelebt, ohne daß ihn unangenehme Ereignisse gestört hätten. Dann aber begann die Zeit, der alte Feind aller Menschen, die ein geruhiges Dasein lieben, mit Jakow ihr wirres, schändliches Spiel. Es fing an in einer Aprilnacht, drei Jahre nach den Aufständen, die das geduldige Volk wachgerüttelt hatten.
Jakow lag auf dem Sofa, rauchte und genoß das behagliche Gefühl der Sättigung, das jegliche Wünsche ausschließt. Dieses Gefühl schätzte er höher als alles andere: in ihm sah er den eigentlichen Sinn des Lebens. Er empfand es mit gleichem Genuß nach einer schmackhaften Mahlzeit wie nach der Umarmung einer Frau.
Eine rundliche und doch schlanke Frau stand mitten im Zimmer am Tisch und blickte nachdenklich in die zornige, lila Spiritusflamme unter der Kaffeemaschine; auf die nackten Arme und das kindliche Gesicht fiel das durch einen roten Schirm gedämpfte Lampenlicht und färbte sie appetitlich wie eine gebräunte Kuchenkruste. Das zerzauste, dunkle Haar fiel malerisch über Hals und Schultern. Polinas nackter Körper war in einen goldgelben bucharischen Schlafrock gehüllt, die Füße steckten in grünen Saffianpantoffeln. An ihr war etwas sehr Duftiges, das nicht russisch anmutete; sie hatte das liebe Gesichtchen eines halbwüchsigen Knaben: volle Lippen und kecke, wie Kirschen runde Augen; selbst jetzt, da Jakow sich an ihr gesättigt hatte, erschien sie ihm noch angenehm. Sie übertraf bei weitem alle Mädchen und Frauen, die er kannte, und wäre vollkommen gewesen, wenn sie nicht einen so dummen Charakter gehabt hätte.
»Ich will keinen Kaffee, Apfelsinchen«, sagte Jakow durch den dichten Schleier des Zigarettenrauches hindurch. Polina fragte ohne ihn anzublicken:
»Und ich?«
»Ich weiß nicht, was du willst«, antwortete Jakow, müde gähnend.
»Nein, du weißt es«, begann die Frau, seine Worte auffangend und den Kopf schüttelnd, mit brüchiger Stimme. Nachdem Jakow ein paar Minuten lang ihre an kratzende Krallen erinnernden Worte angehört hatte, setzte er sich, warf die Zigarette auf die Erde, zog die Schuhe an und sagte seufzend:
»Ich kann deine Gewohnheit, immer die gute Stimmung zu verderben, nicht verstehen! Du weißt ja: ich kann nicht heiraten, solange der Vater lebt . . .«
Jetzt überschüttete Polina ihn, wie immer, mit beleidigenden Worten:
»Natürlich, dir kommt es nur auf die gute Stimmung an, du Spinne! Ich weiß: du bist imstande, mich, um der guten Stimmung willen, irgendeinem Tataren oder einem Trödler zu verkaufen. Jawohl. Du bist ein ehrloser Mensch . . .«
Jakow mochte es vor allem nicht, wenn sie ihn Spinne nannte; in zärtlichen Augenblicken hatte sie für ihn eine andere drollige Benennung – »mein Salziger«. Und ihm schien, sie könnte doch wenigstens heute auf einen Streit verzichten: er hatte ihr zwei Stunden zuvor hundert Rubel geschenkt.
»Wenn du auch schreist! Damit erreichst du garnichts!« warnte er sie ruhig, setzte den Hut auf und streckte ihr die Hand hin. »Auf Wiedersehen!«
»Du Schwein! Da hast du wieder Zigarettenstummel auf den Fußboden geworfen . . .«
Auf der Straße raste ein feuchter Wind, Wolkenschatten krochen über die Erde, als wollten sie die Pfützen aufwischen, der Mond blickte für einen Augenblick hervor und ließ die mit dünnem Eis überzogenen Wasserlachen wie Messing erglänzen. In diesem Jahr wollte der Winter eigensinnig dem Frühling nicht weichen; noch gestern war dichter Schnee gefallen.
Jakow Artamonow hatte die Hände in die Taschen gesteckt, hielt den schweren Stock unter der Achsel, ging ohne Eile und dachte daran, wie unbegreiflich und seltsam dumm die Menschen wären. Was fehlte dem lieben Närrchen, der Polina, noch? Sie lebte ruhig, hatte keinerlei Sorgen, erhielt eine Menge Geschenke, kleidete sich schön, verbrauchte an die hundert Rubel im Monat; und überdies wußte und fühlte Jakow, daß er ihr gefiel. Nun, was fehlte ihr noch? Warum wollte sie durchaus heiraten?
»Dumm wie eine Maus in einem Glas Eingemachtem«, schloß er mit seinem Lieblingsspruch, den er sich selbst ausgedacht hatte. Das Leben schien ihm einfach zu sein und von dem Menschen nichts als das zu verlangen, was er ohnehin schon besaß. Im Grunde war es ja klar: alle Menschen strebten ein und dasselbe an: völlige Ruhe; das Getriebe des Tages war nur die wenig angenehme Einleitung zur Stille der Nacht, zu jenen Stunden, die man unter vier Augen mit einer Frau verbrachte, um, von ihren Liebkosungen ermüdet, ohne Träume zu schlafen. Darin war alles wirklich Wichtige und Echte enthalten. Die Menschen waren aber schon deshalb dumm, weil sie sich fast alle, im geheimen oder offen, für klüger als ihn hielten; sie erfanden sehr viel Überflüssiges; sie taten das möglicherweise auf Grund irgendeiner Blindheit, jeder wollte von allen anderen abstechen, da er sich sonst unter den Menschen zu verlieren und sich nicht mehr zu sehen fürchtete.
Ilja war dumm, da er sich noch im Gymnasium durch Bücher verwirren ließ und sich jetzt irgendwo unter den Sozialisten herumtrieb. Jakow hatte durch ihn viele Kränkungen erduldet und mußte vor kurzem Ilja irgendwohin nach Sibirien Geld schicken. Die Mutter war in einer unerträglichen, wenn auch drolligen Weise dumm; noch unerträglicher und bedrückender war die Dummheit des düsteren Vaters, des alten Bären, der nicht mit den Menschen zu leben verstand und betrunken und schmutzig war. Der geschäftig herumhüpfende Onkel Alexej war komisch; er wollte gern in die Reichsduma gewählt werden, und er stürzte sich deshalb gierig auf die Zeitungen, behandelte alle in der Stadt mit einer falschen Freundlichkeit und kokettierte wie ein altes, liederliches Weib mit den Fabrikarbeitern. In einer besonderen, deprimierenden und furchtbaren Art war aber der großnasige Specht, Miron, dumm, er hielt sich für den ausgezeichnetsten und klügsten Kopf Rußlands, schien in sich einen künftigen Minister zu sehen und verbarg schon jetzt nicht, daß nur er sich darüber klar wäre, was man tun müßte und wie alle Menschen zu denken hätten. Auch er war bemüht, die Gunst der Arbeiter zu gewinnen, arrangierte für sie verschiedene Unterhaltungen, gründete einen Fußballklub und richtete eine Bibliothek ein; er wollte den Wolf mit Rüben füttern.
Die Arbeiter webten ausgezeichnetes Leinen, kleideten sich aber selbst in Lumpen, wohnten im Schmutz und betranken sich; sie standen sämtlich im Banne einer besonderen, frechen, unverhüllten Dummheit, der völlig jene einfältige, rein wirtschaftliche Schlauheit mangelte, die jeder Bauer besitzt. An die Arbeiter mußte Jakow Artamonow mehr als an alles andere denken, weil er mit ihnen täglich in Berührung kam; sie hatten ihm längst, noch in der Jugend, ein feindseliges Gefühl eingeflößt, – er hatte damals einige schroffe Zusammenstöße mit jungen Webern wegen der Mädchen gehabt, und manche unter seinen Nebenbuhlern schienen die alte Kränkung bis zum heutigen Tage nicht vergessen zu haben. Als er noch bartlos war, hatte man ihn des Nachts zweimal mit Steinen beworfen. Die Mutter mußte sich damals mehr als einmal mit Geld vom Skandal und Weibergekreisch loskaufen, dabei redete sie ihm auf komische Weise zu:
»Warum treibst du es wie ein Hahn? Du solltest warten, bis du heiratest. Oder such' dir eine aus und lebe mit ihr! Man wird sich beim Vater über dich beklagen und er wird dich wie Ilja fortjagen . . .«
Während der zwei, drei unruhigen Jahre hatte Jakow im Werk nichts besonders Gefährliches bemerkt; aber Mirons Reden, Onkel Alexejs besorgte Seufzer, die Zeitungen, die Jakow nur ungerne las, die aber mit aufdringlicher Bereitwilligkeit und unverhohlener, schadenfroher Drohung von der Arbeiterbewegung erzählten und die Reden der Arbeitervertreter in der Duma abdruckten, – das alles flößte Jakow ein feindseliges Gefühl gegen die Fabrikleute ein und rief das kränkende Bewußtsein der Abhängigkeit von ihnen hervor. Ihm schien, er hätte es schon gelernt, dieses Gefühl kunstvoll unter einer gewissen Nachgiebigkeit in bezug auf ihre Forderungen, unter Lächeln und Scherz zu verbergen. Aber im allgemeinen ging alles nicht schlecht, obwohl ihn manchmal eine plötzliche Verlegenheit umfing und beengte, als wäre er, Jakow Artamonow, der Prinzipal, bei den Menschen zu Gaste, die für ihn arbeiteten, als lebte er schon lange so, und als wären sie schon seiner überdrüssig; sie sähen ihn mit einem gelangweilten Schweigen so an, als wollten sie sagen:
»Warum gehst du denn nicht? Es ist Zeit!«
In den Stunden, da er das empfand, stieg in ihm eine dunkle Ahnung auf, im Werk glimme und rauche etwas heimlich und unsichtbar, das gerade für ihn persönlich sehr gefährlich wäre.
Jakow war davon überzeugt, daß der Mensch etwas Einfaches wäre, daß er das Einfache am liebsten hätte, und daß er von selbst keinerlei unruhige Gedanken erfinde und in sich trage. Diese umnebelnden Gedanken leben irgendwo außerhalb des Menschen und, durch sie verseucht, wird er auf besorgniserregende Weise unverständlich. Es ist besser, diese vergiftenden Gedanken gar nicht zu kennen und sie nicht anzufachen. Jakow fühlte das Vorhandensein dieser feindlichen Gedanken außerhalb seiner Person und sah, daß sie, ohne die festen Knoten der allgemeinen Dummheit zu lockern, all das Einfache und Klare verwirrten, woraus er mit Vorliebe sein Leben zusammensetzte.
Klüger als alle Menschen, die er kannte, erschien ihm der alte Tichon Wialow; Jakow beobachtete dessen ruhiges Verhalten den Menschen gegenüber, seine wie aus Gnade geleistete Arbeit und beneidete ihn. Tichon schlief sogar auf eine kluge Weise: er preßte das Ohr an die Kissen, an die Erde, als lauschte er auf irgend etwas.
»Träumst du?«
»Warum denn? Ich bin kein Frauenzimmer«, sagte Tichon, und Jakow fühlte hinter seinen Worten etwas Festes, Durchgegorenes und unerschütterlich Starkes.
»Weiberträume«, dachte Jakow Artamonow, den Debatten und Reden in Onkel Alexejs Hause lauschend und innerlich lächelnd.
Im allgemeinen fiel ihm aber das Denken schwer, und wenn er nachsann, bewegte er sich mit Mühe, als trage er eine große Last, er senkte dabei den Kopf und blickte sich vor die Füße. So ging er auch in jener Nacht, als er von Polina zurückkehrte; deshalb hatte er nicht gemerkt, woher vor ihm eine untersetzte, graue Gestalt auftauchte, die nun weit mit dem Arm ausholte. Jakow ließ sich rasch auf das Knie sinken, zog sofort den Revolver aus der Manteltasche, hielt ihn gegen den Fuß des Angreifers und schoß; es ertönte ein dumpfer und schwacher Knall, der Mann prallte zurück, stieß mit der Schulter gegen einen Zaun, stöhnte und glitt auf die Erde.
Erst nachdem das geschehen war, fühlte Jakow, daß er bis auf den Tod erschrocken war, und zwar in dem Maße, daß er beim besten Willen nicht schreien konnte; seine Hände zitterten und die Beine gehorchten nicht, als er sich von den Knien erheben wollte. Zwei Schritte von ihm entfernt rutschte auf der Erde, in dem Bestreben, ebenfalls aufzustehen, jener Mann ohne Mütze, mit kraushaarigem Kopf, herum.
»Ich schieß' dich tot, du Aas«, sagte Jakow heiser und streckte die Hand mit dem Revolver vor. Der Mann wandte ihm das breite Gesicht zu und murmelte:
»Sie haben mich schon erschossen . . .«
Jetzt erkannte Jakow ihn und murmelte erstaunt:
»Noskow? Ach, du Schuft! Du?«
Jakows Furcht wich schnell einem sich der Freude näherndem Gefühl, das nicht nur durch das Bewußtsein des glücklich abgewendeten Überfalls, sondern auch durch den Umstand hervorgerufen wurde, daß der Angreifer sich nicht als ein Fabrikarbeiter, wie Jakow vermutet hatte, sondern als ein Fremder entpuppte. Es war Noskow, ein Jäger und Harmonikaspieler, der auf Hochzeiten musizierte, ein einsamer Mensch. Er wohnte bei der Diakonsfrau Paraklitowa, und bis zu dieser Nacht hatte man in der Stadt über ihn nichts Schlechtes gehört.
»Damit befaßt du dich also?« sagte Jakow, richtete sich auf und blickte um sich; es war still, nur der Wind schüttelte die Baumzweige über dem Zaun.
»Ja, womit befasse ich mich denn?« fragte Noskow plötzlich laut. »Ich wollte nur einen Spaß machen und Sie erschrecken, sonst nichts. Und Sie haben gleich losgeknallt. Passen Sie auf, man wird Sie dafür nicht beloben. Ich bin selbst erschrocken . . .«
»Ach so«, sagte Jakow spöttisch im Tone eines Siegers. »Nun steh' auf, komm mit auf die Polizei.«
»Ich kann nicht gehen, Sie haben mich schwer verletzt.« Noskow hob die Mütze auf, sah hinein und fügte hinzu:
»Ich fürchte mich aber nicht vor der Polizei.«
»Nun, das werden wir dort sehen. Steh' auf!«
»Ich fürchte mich nicht,« wiederholte Noskow. »Wodurch wollen Sie beweisen, daß ich Sie überfallen habe und nicht Sie mich – vor lauter Angst? Das ist das Eine!«
»So? Und das Zweite?« fragte Jakow lächelnd, aber durch Noskows Ruhe etwas verblüfft.
»Es gibt auch ein Zweites. Ich bin für Sie ein nützlicher Mensch.«
»Das ist ein Märchen oder aus einem Märchen!«
Jakow richtete den Revolver auf das Gesicht des Harmonikaspielers und drohte mit plötzlicher Wut:
»Ich schlage dir den Schädel ein!«
Noskow hob die Augen, senkte sie wieder auf die Mütze und sagte eindringlich:
»Fangen Sie keinen Skandal an. Sie können nichts beweisen, wenn Sie auch reich sind. Ich sage: ich wollte nur einen Spaß machen. Ich kenne Ihren Papa, ich habe ihm oft auf der Harmonika vorgespielt.«
Er warf sich mit einer plötzlichen Bewegung die Mütze auf den Kopf, bückte sich und streifte, durch die Zähne stöhnend, die Hose hoch, dann zog er aus der Tasche das Taschentuch hervor und begann sich das über dem Knie verwundete Bein zu verbinden. Er murmelte ununterbrochen etwas Unverständliches. Jakow hörte aber nicht auf seine Worte, da ihn das seltsame Betragen des verunglückten Plünderers wieder entmutigte.
Jakow Artamonow überlegte mit einer für ihn ungewöhnlichen Schnelligkeit: er mußte Noskow natürlich hier am Zaun liegen lassen und in die Stadt gehen, um den Nachtwächter zu holen, der den Verwundeten bewachen sollte, während er auf die Polizei ging und den Überfall zur Anzeige brachte. Dann würde die Untersuchung beginnen, Noskow würde von den Gelagen des Vaters bei der Diakonsfrau erzählen. Vielleicht hatte er Freunde, die ebensolche Halsabschneider waren, sie würden ihn möglicherweise zu rächen versuchen. Man konnte diesen Menschen aber doch nicht ohne Strafe lassen.
Die Nacht wurde immer frostiger; die Hand, die den Revolver hielt, schmerzte vor Kälte; bis zur Polizeiwache war es weit, dort schliefen natürlich alle. Jakow schnaufte zornig, da er nicht wußte, wozu er sich entschließen sollte, und bedauerte, daß er diesen stämmigen Burschen nicht gleich erschossen hatte, der so krumme Beine hatte, als ob er sein ganzes Leben rittlings auf einem Faß verbracht hätte. Und plötzlich vernahm er so unerwartete Worte, daß sie ihn verblüfften:
»Ich will es Ihnen geradeheraus sagen, obwohl es ein Geheimnis ist«, sprach Noskow, noch immer mit seinem Bein beschäftigt. »Ich lebe hier zu Ihrem Nutzen, um Ihre Arbeiter zu überwachen. Es war nur eine Ausrede, daß ich Sie erschrecken wollte, – in Wirklichkeit wollte ich jemanden festnehmen und habe mich eben geirrt . . .«
»Zum Teufel!« sagte Jakow. »Was soll das?«
»Ja, es ist so . . . Sie wissen es nicht, – bei der Diakonsfrau im Badehaus versammeln sich Sozialisten, sie sprechen wieder von einem Aufstand und lesen Bücher . . .«
»Du lügst,« sagte Jakow leise, glaubte ihm aber. »Und wer ist es denn? Wer versammelt sich?«
»Das kann ich nicht sagen. Wenn sie verhaftet sind, erfahren Sie es.«
Noskow erhob sich, indem er sich an den Zaunlatten festhielt und bat:
»Geben Sie mir meinen Stock, sonst komme ich nicht weit . . .«
Jakow bückte sich, hob den Stock auf, reichte ihn Noskow und fragte leise und um sich blickend:
»Wie war das also? Warum haben Sie mich überfallen?«
»Ich habe Sie nicht überfallen. Ich habe mich in der Person geirrt. Ich suchte einen andern und nicht Sie. Lassen Sie das alles. Es war ein Irrtum. Sie werden bald sehen, daß ich die Wahrheit sage. Sie müssen mir für das Auskurieren meines Beines Geld geben. Das wollte ich Ihnen noch sagen . . .« Sich am Zaun festhaltend und sich auf den Stock stützend, begann Noskow die krummen Beine zu bewegen, er entfernte sich von den Gemüsegärten in der Richtung der dunklen Vorstadthäuschen und schien im Gehen die kalten Wolkenschatten auseinander zu jagen, Als er aber etwa zehn Schritte gemacht hatte, rief er halblaut:
»Jakow Petrowitsch!«
Jakow näherte sich ihm sehr rasch, Noskow sagte:
»Erwähnen Sie diesen Vorfall mit keinem Wort vor irgendwem! Sonst . . . Sie verstehen mich.«
Er ging, den Stock schwingend, weiter und ließ Jakow in einem Zustand von Stumpfsinn zurück. Jakow mußte an vieles zugleich denken und sofort darüber klar werden, ob er so gehandelt hatte, wie es sich gehörte. Gewiß war Noskow ein nützlicher und sogar notwendiger Mensch, wenn er sich mit der Überwachung von Sozialisten befaßte, – wie aber, wenn er gelogen und betrogen hatte, nur um Zeit zu gewinnen und sich dann später für den Mißerfolg und den Schuß zu rächen? Es war Lüge, daß er sich geirrt hatte oder erschrecken wollte; es war klar, daß er log. Vielleicht war er aber von den Arbeitern bestochen, um ihn zu ermorden? Unter den Webern des Werks gab es einen großen Kreis von Skandalmachern und Raufbolden; es fiel aber schwer, sich in ihrer Mitte Sozialisten vorzustellen. Die solideren Arbeiter, wie Sedow, Krikunow, Maslow und andere hatten selbst erst vor kurzem verlangt, das Kontor sollte einen der ärgsten Randalierer entlassen. Nein, Noskow hatte ihn bestimmt betrogen. War es nötig, daß er die Sache Miron erzählte?
Jakow konnte sich nicht recht vorstellen, was sich abspielen würde, wenn er zu Miron von Noskow sprechen würde; der Vetter würde ihn aber, wie ein Richter, genau verhören, würde ihn beschuldigen und bestimmt in der einen oder anderen Weise verspotten. Wenn Noskow ein Spion sein sollte, würde Miron das wahrscheinlich wissen. Und dann war es ja doch noch nicht ganz aufgeklärt, wer sich geirrt hatte, – Noskow oder Jakow? Noskow hatte gesagt: »Sie werden bald sehen, daß ich die Wahrheit spreche.« Jakow blickte dem Jäger so lange nach, bis er in den nächtlichen Schatten verschwunden war. Alles erschien ja ganz einfach und verständlich: Noskow hatte ihn überfallen in der zweifellosen Absicht, ihn zu berauben; Jakow hatte auf Noskow geschossen; dann aber begann etwas Banges und Verworrenes, das an einen bösen Traum erinnerte. Noskow geht auf eine seltsame Weise am Zaun entlang, und auch die Schatten kriechen als ungewöhnlich dichte Klumpen hinter ihm her; Jakow sah zum erstenmal, daß Schatten sich so schwer hinter einem Menschen hinschleppten.
Vom Grübeln zerquält und ermüdet beschloß Jakow Artamonow, zu schweigen und abzuwarten. Die Gedanken an Noskow verließen ihn nicht, er zog die Stirne kraus, fühlte sich krank, und wenn die Arbeiter um die Mittagszeit die Fabrikgebäude verließen, stand er am Kontorfenster, betrachtete sie und versuchte zu erraten, wer von ihnen Sozialist sein könnte. Wäre es denn möglich, daß der schwarze, lahme Heizer Waska, der beim Schreiner Serafim geschickt das Dichten von Spottversen gelernt hatte, einer wäre?
Als Jakow Artamonow nach einigen Tagen sein vom Stehen steif gewordenes Pferd einfahren wollte, erblickte er am Waldessaum den Gendarmen Nesterenko in einem schwedischen Rock, in hohen Stiefeln, mit einem Gewehr in der Hand und einer mit Vogelwild vollgestopften Jagdtasche an der Seite. Nesterenko stand mit dem Gesicht zum Walde und mit dem Rücken zur Straße und rauchte sich mit gesenktem Kopf und erhobenen Händen eine Zigarette an; sein fuchsroter, lederner Rücken wurde von der Sonne beleuchtet und schien aus Eisen zu sein. Jakow war mit sich sogleich darüber einig, was er zu tun hätte, ritt auf ihn zu und grüßte eilig:
»Ich wußte gar nicht, daß Sie hier sind!«
»Schon seit drei Tagen; meiner Frau geht es immer schlechter, Väterchen. Jawohl!«
Nesterenko teilte diese traurige Nachricht sehr lebhaft mit, klopfte dann gleich mit der Hand auf die Jagdtasche und fügte hinzu:
»Was ich da alles habe! Nicht übel, wie?«
»Kennen Sie den Jäger Noskow?« fragte Jakow halblaut. Die rötlichen Brauen des Gendarmen krochen erstaunt nach oben, sein chinesischer Schnurrbart bewegte sich, er hielt die eine Spitze fest und kniff, mit einem Blick auf den Himmel, die Augen zu; das alles rief in Jakow die Erwartung hervor: Er wird mir etwas vorlügen!
»Nos . . . Wie? Noskow? Wer ist das?«
»Ein Jäger. Mit krausem Haar und krummen Beinen . . .«
»So? Ich glaube so einen im Walde gesehen zu haben. Er hat ein armseliges Gewehr . . . Was ist mit ihm los?«
Jetzt sah der Gendarm mit einem scharfen, fragenden Blick der grauen Augen, deren Pupillenmittelpunkt einen hellen Funken hatte, Jakow ins Gesicht. Jakow erzählte ihm rasch von Noskow. Nesterenko hörte ihm zu, indem er auf die Erde blickte und mit dem Gewehrkolben einen Tannenzapfen hineinhämmerte. Als er alles wußte, fragte er, ohne die Augen zu heben:
»Warum haben Sie bei der Polizei keine Anzeige gemacht? Das ist Ihre Sache, Väterchen, und das ist Ihre Pflicht.«
»Ich sage doch aber: er scheint hinter den Arbeitern zu spionieren und das ist Ihre Sache.«
»So«, sagte der Gendarm und verlöschte die Zigarette am Gewehrlauf. Dann heftete er die zusammengekniffenen Augen wieder starr auf Jakows Gesicht und begann mit Nachdruck von etwas nicht ganz Verständlichem zu sprechen. Es ergab sich, daß Jakow ungesetzlich gehandelt hatte, da er den Raubversuch vor der Polizei verheimlichte, daß es jetzt aber schon zu spät war, eine diesbezügliche Anzeige zu machen.
»Wenn Sie ihn damals gleich auf die Polizeiwache geschleppt hätten, hätte sich die Sache aufgeklärt. Und vielleicht nicht einmal ganz. Wie wollen Sie aber jetzt beweisen, daß er Sie überfallen hat? Weil er verwundet ist? Ach! Man kann auch vor Schreck auf einen Menschen schießen. Aus Zufall oder aus Unvorsichtigkeit . . .«
Jakow fühlte, daß Nesterenko listig und konfus sprach, ihn sogar einzuschüchtern versuchte und ihn oder sich selbst aus dieser Affäre herausziehen wollte; als der Offizier die Möglichkeit eines Schreckschusses erwähnte, festigte sich Jakows Verdacht:
»Er lügt.«
»Jawohl, Väterchen. Dieser Kerl wird es natürlich büßen, daß er sich für einen Beobachter ausgibt. Wir werden ihn über das, was er weiß, verhören.« Dann legte der Offizier die Hand auf Jakows Schulter und sagte:
»Noch etwas: Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß das alles unter uns bleibt. Das ist in Ihrem Interesse, verstehen Sie? Also: Ihr Ehrenwort?«
»Gewiß. Bitte sehr.«
»Sie werden weder mit Ihrem Onkel, noch mit Miron Alexejewitsch darüber sprechen. Haben Sie ihnen tatsächlich noch nichts gesagt? Nun gut. Überlassen wir diese Angelegenheit ihrer eigenen inneren Logik. Und kein Wort darüber zu irgendwem! Nicht wahr? Der Jäger hat sich selbst verwundet, Sie haben damit nichts zu schaffen.«
Jakow lächelte: zu ihm sprach nun ein anderer Mensch, der lustig und gutmütig war.
»Auf Wiedersehen!« sagte er. »Vergessen Sie nicht: Ihr Ehrenwort!«
Jakow Artamonow kehrte etwas beruhigt nach Hause zurück. Des Abends schlug der Onkel ihm vor, er sollte in die Gouvernementsstadt fahren; er tat es mit Vergnügen, als er aber nach acht Tagen heimkehrte und beim Onkel am Mittagstisch saß, hörte er mit neuer Besorgnis Mirons Worten zu:
»Nesterenko ist nicht so nichtsnutzig, wie ich glaubte; er hat in der Stadt drei Personen gefaßt: den Lehrer Modestow und noch irgendwen.«
»Und bei uns?« fragte Jakow.
»Bei uns: Sedow, Krikunow, Abramow und fünf jüngere Leute. Es sind zwei Gendarmen aus der Gouvernementsstadt bei der Verhaftung erschienen, aber sie ist natürlich Nesterenkos Werk; auf diese Weise ist die Krankheit seiner Frau für uns von sichtlichem Nutzen. Ja, er ist nicht dumm. Er fürchtet, daß man ihn kalt macht . . .«
»Jetzt wird nicht mehr gemordet«, bemerkte Alexej.
»Na«, sagte Miron. »Ja! In der Stadt wurde noch dieser Jäger verhaftet . . .«
»Noskow?« fragte Jakow leise und erschrocken.
»Ich weiß nicht. Er hat bei der Diakonsfrau gewohnt, und in ihrem Badehaus haben diese Revolutionäre ihre Kongresse abgehalten. In ihrem Hause und mit ihr hat sich aber auch, wie dir bekannt sein dürfte, dein Vater belustigt. Ein häßliches Zusammentreffen . . .«
»Ja«, sagte Alexej, seinen kahlen Kopf schüttelnd. »Was soll man mit ihm anfangen?«
Jakow wurde es schwarz vor den Augen, und er war nicht mehr imstande, dem Gespräch zwischen dem Onkel und dem Vetter zu folgen. Er dachte: Noskow ist verhaftet; es ist klar, daß auch er ein Sozialist und kein Räuber ist, und daß er von den Arbeitern beauftragt wurde, den Prinzipal zu ermorden oder zu verprügeln; und zwar waren es diejenigen Arbeiter, die Jakow für die gesetztesten und ruhigsten gehalten hatte! Der stets sauber gekleidete und nicht mehr junge Sedow; der höfliche und lustige Schlosser Krikunow; der angenehme Sänger und für alles verwendbare Arbeiter Abramow. Konnte man denn annehmen, daß auch diese Menschen seine Feinde waren?
Es kam ihm so vor, als wäre es im Laufe dieser Tage im Hause des Onkels noch geräuschvoller und unruhiger geworden. Der Arzt Jakowlew, mit den goldenen Zähnen, der über nichts und über niemanden jemals ein gutes Wort sagte und alles aus der Ferne, lächelnd und mit den Augen eines Fremden, betrachtete, trat noch mehr in den Vordergrund und raschelte drohend mit den Zeitungen.
»Ja,« sagte er, mit den Zähnen funkelnd, »wir rühren uns, wir erwachen! Die Menschen erinnern an faul gewordene Dienstboten, die von der plötzlichen, von ihnen nicht erwarteten Rückkehr des Herrn erfahren, ihre Entlassung fürchten und, von Angst getrieben, fegen, putzen und das verwahrloste Haus in Ordnung bringen wollen.«
»Sie sprechen zweideutig, Doktor«, bemerkte Miron mit einer Grimasse. »Das ist Ihr Anarchismus und Ihre Skepsis.«
Aber der Arzt sprach immer lauter, seine Reden wurden länger und seine Worte flößten Jakow Bangigkeit ein. Es schien, als ob überhaupt alle sich vor etwas fürchteten, einander mit Unheil bedrohten, sich gegenseitig ihre Angst anfachten; es war auch anzunehmen, daß die Leute sich gerade davor fürchteten, was sie selbst taten, vor ihren eigenen Gedanken und Worten. Jakow erblickte darin das Anwachsen der allgemeinen Dummheit, er selbst aber lebte nicht in einer eingebildeten, sondern in einer rein körperlichen Angst; er fühlte mit der ganzen Haut eine ihm um den Hals gelegte Schlinge, die unsichtbar war, aber immer enger wurde und ihn einem großen und unabwendbaren Unheil entgegenführte.
Seine Angst stieg noch mehr nach zwei Monaten, als in der Stadt Noskow und in der Fabrik der glatt rasierte, gelbe, magere Abramow erschienen.
»Werden Sie mich alten Mann wieder aufnehmen?« fragte er lächelnd. Jakow wagte nicht, ihn abzuweisen.
»War es im Gefängnis schwer auszuhalten?« fragte er. Abramow antwortete mit dem gleichen Lächeln:
»Es ist dort sehr eng! Wenn der Typhus der Obrigkeit nicht helfen würde, ich weiß nicht, wo sie die Leute dann einsperren sollte!«
»Ja,« dachte Jakow, nachdem er den Weber abgefertigt hatte, »du lächelst, ich weiß aber, was du denkst . . .«
An demselben Abend machte Miron ihm wegen Abramow eine beleidigende Szene, schrie ihn beinahe an und stampfte sogar mit dem Fuß auf, als hätte er es mit einem Dienstboten zu tun.
»Bist du verrückt?« schrie er, und seine Nase rötete sich vor Zorn. »Entlasse ihn noch morgen . . .«
Als er nach einigen Tagen in der Oka badete, traf er dort den Leutnant Mawrin und Nesterenko; sie saßen in einem Boot, das mit einer Menge von Angeln wie mit einem Bart bespickt war; der kaltblütige Leutnant begrüßte Jakow schweigend mit einem nachlässigen Kopfnicken und ruderte sogleich weiter, in die Mitte des Flusses, während Nesterenko sich auskleidete und leise sagte:
»Es war nicht recht, daß Sie Abramow nicht wieder aufgenommen haben, ich bedauere sehr, daß ich Sie nicht warnen konnte.«
»Das war Miron«, murmelte Jakow Artamonow und stellte fest, daß der Offizier beim Sprechen sehr nach Alkohol roch.
»So?« fragte Nesterenko. »Hing das nicht von Ihnen ab?«
»Nein.«
»Schade. Dieser Kerl wäre nützlich. Als Lockspeise. Als Köder.«
Der nackte, von der Sonne vergoldete Offizier, dessen Haut wie Karpfenschuppen glänzte, blickte Jakow mit den Augen eines Komplizen an und fragte weiter:
»Und haben Sie Ihren Freund gesehen – den Jäger?« Nesterenko lachte leise und selbstzufrieden.
»Wissen Sie, was ihn veranlaßt hat, Ihnen nachzustellen? Er wollte sich ein Gewehr kaufen, eines mit zwei Läufen. Das macht alles die Leidenschaft, Väterchen. Die Menschen lassen sich von den Leidenschaften leiten, jawohl! Der Jäger wird jetzt sehr nützlich sein, da ich ihn, dank seinem Irrtum in bezug auf Ihre Person, fest an der Kehle halte . . .«
»Welcher Irrtum? Da Sie doch sagen . . .«
»Ein Irrtum, mein Herr, ein Irrtum!« wiederholte der Offizier beharrlich, spritzte im Wasser herum, bekreuzte sich die nackte Brust und schritt wie ein Pferd in den Fluß.
»Der Teufel soll euch alle holen«, dachte Jakow bekümmert.
Plötzlich war es, als fiele eine ins Zimmer führende Tür zu; dorthin, wo soviel Lärm war, kam der Tod.
Mitten in der Nacht wurde Jakow von der schluchzenden Mutter geweckt.
»Steh schnell auf, Tichon ist da, – Onkel Alexej ist gestorben!«
Jakow sprang auf und murmelte:
»Wieso denn! Er war doch gar nicht krank . . .«
Der Vater schob sich wankend und schwer atmend zur Tür herein.
»Tichon«, brummte er. »Wo Tichon ist, dort ist nichts Gutes zu erwarten! Na, Jakow, was sagst du? So plötzlich . . .«
Er war barfuß und hatte sich über das Nachthemd den Schlafrock umgeworfen; er zupfte sich am Ohr, blickte um sich, als wäre er an einen unbekannten Ort geraten und stöhnte:
»Uch . . .«
»Ja, wie ist denn das?« fragte Jakow verständnislos.
»Ohne Beichte«, sagte die Mutter, die an einen ungeheuren Mehlsack erinnerte.
Man fuhr in der Kalesche hin; Jakow saß auf dem Kutschbock und sah zu, wie Tichon vor ihm auf dem Pferd herumsprang, und wie sein Schatten sich neben ihm über die Straße breitete und tanzte, als wollte er sich in die Erde vergraben.
Olga kam ihnen auf dem Hof entgegen, sie schritt in einem weißen Rock und einer Nachtjacke vom Stall zum Tor und zurück, sie erschien im Mondlicht bläulich und durchsichtig, und es war seltsam zu sehen, wie ihre Gestalt auf die kahlen Kieselsteine des Hofes einen tiefen Schatten warf.
»Nun ist mein Leben zu Ende«, sagte sie leise. Der schwarze Hund Kutschum ließ sich nicht abhalten, ihr zu folgen.
Miron saß gebückt auf der Bank vor dem Küchenfenster; er hielt in der einen Hand eine brennende Zigarette und ließ in der andern seine Brille baumeln, die Gläser blinkten, und die dünnen Goldbügel funkelten in der Luft; ohne Brille erschien Mirons Nase noch größer. Jakow setzte sich schweigend neben ihn, während der Vater mitten auf dem Hof stehenblieb und wie ein Bettler, der auf Almosen wartet, durchs offene Fenster sah. Olga blickte auf den Himmel und erzählte Natalia mit erhobener Stimme:
»Ich habe nicht bemerkt, wann . . . Plötzlich wurde seine Schulter kalt wie der Tod, der Mund öffnete sich. Der Teure hatte keine Zeit, mir sein letztes Wort zu sagen. Er hat gestern über Herzstiche geklagt.« Olga erzählte leise, und auch ihre Worte schienen Schatten zu werfen.
Miron schleuderte die erloschene Zigarette fort, stieß Jakow mit dem Kopf an die Schulter und heulte leise:
»Oh – du weißt nicht, wie gut er war . . .«
»Was ist da zu machen?« antwortete Jakow, der keine anderen Worte fand. Er mußte auch der Tante irgend etwas sagen, – was konnte er aber sagen? Er schwieg, blickte zur Erde und scharrte mit dem Fuß.
Der Vater räusperte sich und ging vorsichtig ins Haus, ihm folgte Jakow auf den Fußspitzen. Der Onkel lag da, mit einem Laken zugedeckt; auf seinem Kopf standen die Hörner des zusammengeknoteten Tuches in die Höhe, mit dem die Kiefer festgebunden waren, die großen Zehen hatten das Laken so straff gespannt, als versuchten sie es zu durchbohren. Der Mond, dessen eine Seite weggeschmolzen zu sein schien, sah hell zum Fenster herein. Der Mullvorhang bewegte sich; auf dem Hof heulte Kutschum, und Pjotr Artamonow schien ihm zu antworten, indem er übertrieben laut und sich schwungvoll bekreuzend sagte:
»Er lebte leicht und starb leicht . . .«
Jakow sah durchs Fenster, daß jetzt Wera Popowa, ganz schwarz, wie eine Nonne gekleidet, auf dem Hof neben der Tante einherschritt, während Olga wieder mit erhobener Stimme erzählte:
»Er ist im Schlaf verschieden . . .«
»Mach' keinen Unsinn!« rief Wialow leise aus. Er rieb das Pferd mit Heubüscheln ab und schüttelte den Kopf, um das Tier daran zu hindern, ihn mit den Lefzen beim Ohr zu packen. Auch Pjotr Artamonow sah aus dem Fenster und brummte:
»Der Dummkopf schreit; er versteht nichts . . .«
»Man braucht nichts zu sagen«, dachte Jakow auf den Stufen des Hauseingangs stehend und begann zu verfolgen, wie die Schatten der schwarzen und der weißen Frau den Staub von den Steinen fortzuwischen schienen; die Steine wurden immer heller. Die Mutter flüsterte mit Tichon, der zustimmend mit dem Kopf nickte, auch das Pferd stimmte zu: in seinem Auge leuchtete ein messingfarbener Fleck. Der Vater kam aus dem Hause, die Mutter sagte zu ihm:
»Man sollte Nikita Iljitsch ein Telegramm schicken, Tichon weiß, wo er ist.«
»Tichon weiß es!« wiederholte der Vater zornig. »Besorge es, Miron . . .«
Miron erhob sich, streifte im Gehen mit der Schulter die Tür und fuhr mit der Handfläche über den Türpfosten.
»Benachrichtige auch Ilja«, rief Pjotr Artamonow ihm noch nach; Miron antwortete aus dem dunklen Loch in der Wand.
»Ilja kann nicht kommen.«
»Ich habe ja dreißig Jahre mit ihm gelebt«, erzählte Olga und schien selbst über ihre Worte zu staunen. »Wir waren schon vier Jahre lang befreundet, bevor wir heirateten. Was soll jetzt aus mir werden?«
Der Vater kam auf Jakow zu.
»Wo ist Ilja?«
»Ich weiß es nicht.«
»Du lügst wohl?«
»Es ist jetzt nicht die Zeit, um von Ilja zu sprechen, Papa.«
Doktor Jakowlew betrat eilig den Hof und fragte:
»Im Schlafzimmer?«
»Dummkopf!« dachte Jakow. »Du wirst ihn auch nicht auferstehen lassen.«
Ihn bedrückte die Unmöglichkeit, von diesen kummervollen Stunden unberührt zu bleiben. Alles ringsum war lästig und überflüssig: die Menschen, ihre Worte, das fuchsrote, im Mondschein wie Bronze glänzende Pferd und dieser schwarze, schweigend trauernde Hund. Ihm schien, daß die Tante damit prahlte, wie gut sie mit ihrem Mann gelebt hatte. Die Mutter schluchzte zügellos und affektiert in einer Hofecke, des Vaters Augen waren erstarrt und sein Gesicht versteinert, und alles war schlimmer und bedrückender, als es sein sollte.
Am Tage der Beerdigung Onkel Alexejs, als man den Sarg ins Grab gesenkt hatte und mit den Händen gelben Sand darüber streute, erschien Onkel Nikita.
»Das fehlte noch«, dachte Jakow und betrachtete die eckige Gestalt des Mönchs, der sich an den Stamm einer von ihm selbst gepflanzten Birke lehnte.
»Du kommst zu spät«, sagte zu ihm der Vater, auf seinen Bruder zuschreitend und sich die Tränen vom Gesicht wischend; der Mönch zog wie eine Schildkröte seinen Kopf in den Buckel ein. Er sah aus wie ein Bettler; die Kutte war von der Sonne verblichen, die Kapuze hatte die Färbung eines alten Blecheimers angenommen, die Stiefel waren vertreten. Sein staubiges Gesicht war verschwollen, er blickte mit trüben Augen auf den Rücken der das Grab umstehenden Menschen und sprach mit unhörbarer Stimme etwas zum Vater, sein graues Bärtchen zitterte. Jakow sah sich finster um – Dutzende von Augen betasteten neugierig den Mönch, die Anwesenden betrachteten wohl den verkrüppelten Bruder und Onkel reicher Leute in der Erwartung eines Skandals. Jakow wußte, daß die Stadt davon überzeugt war, die Artamonows hätten den Buckligen im Kloster versteckt, um sich sein väterliches Erbteil anzueignen.
Der dicke, gutmütige Geistliche, Vater Nikolai, redete Olga mit seiner Tenorstimme zu:
»Wir wollen unsern Herrgott nicht durch Seufzen und Weinen kränken, denn es ist sein Wille . . .«
Und Olga erwiderte mit erhobener Stimme:
»Ich weine und klage ja nicht.«
Ihre Hände zitterten, sie betastete mit seltsam krampfhaften Bewegungen ihren Rock in dem Bestreben, ihr tränennasses, zusammengeballtes Taschentuch in die Tasche zu stecken.
Tichon Wialow half dem Totengräber verständnisvoll das Grab zuzuschütten, vor dem Miron in erstaunlicher Haltung stand; und der bucklige Mönch sagte leise und klagend zu Natalia:
»Oh, was ist aus dir geworden? Du bist nicht wiederzuerkennen!«
Und mit dem Finger auf seinen vorderen Buckel weisend, fügte er in unpassender und überflüssiger Weise hinzu:
»Es ist dagegen unmöglich, mich nicht zu erkennen. Ist das dein Jakow? Und jener Große ist Alexejs Miron? So, so! Nun, kommt, kommt!«
Jakow blieb auf dem Kirchhof zurück. Er hatte vor einem Augenblick im Arbeiterhaufen Noskow erblickt. Der Jäger war mit dem lahmen Heizer Waska an ihm vorübergegangen und hatte dabei mit einem bösen, fragenden Blick Jakows Gesicht gestreift. Woran dachte dieser Mensch? Er konnte natürlich nicht harmlos an jemanden denken, der auf ihn geschossen und ihn beinahe getötet hatte!
Tichon kam heran, klopfte sich mit der Handfläche den Sand vom Wams ab und sagte:
»Alexej Iljitsch war ja so auf alles bedacht und doch . . . Auch Nikita Iljitsch ist schwach . . .«
»Hier sind . . .« sagte Jakow plötzlich und verstummte.
»Was denn?«
»Die Arbeiter betrauern wohl den Onkel.«
»Hier ist ein gewisser Noskow, ein Jäger . . .« begann Jakow von neuem. »Ich wollte dir etwas über ihn sagen.«
»Auch wenn ein Pferd umkommt, bedauert man es«, sprach Tichon sinnend. »Alexej Iljitsch hat in vollem Lauf gelebt und ist auch im Laufen verschieden. Als wäre er gegen etwas angelaufen. Und er hat mir noch einen Tag vor seinem Tode gesagt . . .«
Jakow schwieg, er begriff, daß seine Worte nicht bis zu Tichon dringen würden. Er hatte beschlossen, zu Tichon über Noskow zu sprechen, weil es notwendig war, irgendjemandem von diesem Menschen zu erzählen; der Gedanke an ihn lastete auf Jakow mehr als alles, was jetzt vorging. Gestern war dieser Krummbeinige mit dem stumpfen Gesicht eines Soldaten in der Stadt hinter einer Ecke aufgetaucht und war auf ihn zugekommen; er hatte die Mütze abgenommen, in ihr Innenfutter geblickt und gesagt:
»Sie schulden mir eine Kleinigkeit. Sie haben versprochen, mir etwas für das Kurieren des Beines zu geben. Außerdem ist Ihr Onkel gestorben, und da wäre etwas für die Seelenmesse am Platze. Und ich hätte jetzt Gelegenheit, eine ausgezeichnete Harmonika zum Trost für Ihren Papa zu kaufen . . .«
Jakow hatte ihn bestürzt angesehen und geschwiegen. Da hatte Noskow belehrend und hartnäckig hinzugefügt:
»Und dann bemühe ich mich ja zu Ihrem Nutzen gegen die Feinde Rußlands . . .«
»Wieviel?« fragte Jakow.
Noskow antwortete nicht sogleich.
»Fünfunddreißig Rubel.«
Jakow hatte ihm das Geld gegeben und war entrüstet und erschrocken weggegangen. »Er hält mich für einen Dummkopf, – er glaubt, daß ich mich vor ihm fürchte, der Schuft! Nein, warte nur . . .«
Und während Jakow jetzt langsam nach Hause schritt, dachte er nur an das eine: wie er diesen Menschen loswerden könnte, der ihn zweifellos wie einen Ochsen der Axt ausliefern wollte.
Die geräuschvollen Stunden der Leichenfeier zogen sich endlos hin. Die Leute unterhielten sich damit, daß sie den Diakon Karzew und die Sänger das ewige Gedenken des Verstorbenen verkünden ließen. Shitejkin war derartig betrunken, daß er die Gabel schwang und unpassend wild sang:
»Die Krieger der tapferen Taten gedachten,
Vergangener Tage, gemeinsamer Schlachten . . .«
Stepan Barski sprach laut seine Anerkennung aus, als man seinen wie ein Daunenkissen weichen Körper in den Wagen schob:
»Nun, Pjotr Iljitsch, du hast deinen Bruder wahrhaft geliebt! Diese Leichenfeier wird lange unvergessen bleiben!«
Jakow hörte, wie sein Vater, der viel getrunken hatte, düster und spöttisch antwortete:
»Du wirst bald alles vergessen, du wirst bald platzen.«
Shitejkin, Barski und noch einige angesehene Bürger waren vom Vater selbst gegen Mirons Willen eingeladen worden, was den Neffen sichtlich empörte; er brachte nur eine halbe Stunde an der Leichenfeiertafel zu, erhob sich dann und ging, wie ein Storch ausschreitend, fort. Gleich nach ihm verschwand Tante Olga unmerklich und bald darauf auch der Mönch, der die Fragereien der halb betrunkenen Leute über das Leben im Kloster wohl satt hatte. Der Vater benahm sich aber so, als wollte er alle Anwesenden beleidigen, und Jakow erwartete die ganze Zeit bis ans Ende der Leichenfeier, daß zwischen dem Vater und den Bürgern Streit ausbrechen würde.
Die Mutter war beleidigt, weil die Popowa sich um Tante Olga bemühte und fuhr schmollend nach Hause, der Vater äußerte aber aus irgendeinem Grunde den Wunsch, in Onkel Alexejs Arbeitszimmer zu übernachten. Das alles erschien Jakow sinnlos, launisch und überflüssig, und verstimmte ihn noch mehr. Nachdem er etwa zwei Stunden in vergeblicher Erwartung des Schlafes auf dem Sofa verbracht hatte, trat er in den Hof hinaus und erblickte auf der Bank unter dem Küchenfenster neben Tichon die schwarze Gestalt des Mönchs, die seltsam an irgendeine zerbrochene Maschine erinnerte. Ohne Kapuze auf dem kahlen Kopf, erschien der Mönch kleiner und breiter, und sein verschimmeltes Gesicht sah kindlich aus; er hielt in der Hand ein Glas, und auf der Bank neben ihm stand eine Flasche Kwas.
»Wer ist das?« fragte er leise und antwortete sogleich selbst: »Das ist Jascha. Setz' dich zu dem Alten, Jascha!«
Und er hob das Glas zum Mund und blickte auf die trübe Flüssigkeit. Der Mond hatte sich hinter dem Glockenturm versteckt, den er in ein silbriges, nebliges Licht hüllte und dadurch seltsam aus dem warmen Dunkel der Nacht hervorhob. Über dem Glockenturm schwebten Wolken, wie schmutzige, ungeschickt auf blauen Samt aufgesetzte Flicken. Alexejs Liebling, der großschnäuzige Hund Kutschum, ging, nachdenklich die Erde beschnuppernd, über den Hof, dann hob er plötzlich den Kopf zum Himmel und winselte leise und fragend:
»Ruhig, Kutschum!« rief Tichon halblaut.
Der Hund kam heran, steckte den dicken Kopf in Tichons Schoß und heulte.
»Er fühlt es«, bemerkte Jakow. Man antwortete ihm nicht, er hatte aber große Lust zu sprechen, um nicht zu denken.
»Er versteht es, sage ich«, wiederholte er hartnäckig. Tichon erwiderte leise:
»Ja, wie denn sonst?«
»In Susdal hat mal der Klosterhund Diebe am Geruch erkannt«, erinnerte sich der Mönch.
»Worüber habt ihr euch unterhalten?« fragte Jakow. Der Mönch trank seinen Kwas aus, wischte sich die Lippen mit dem Ärmel der Kutte und begann mit dem zahnlosen Mund zu sprechen, als ginge er eine Treppe hinab:
»Tichon hat bemerkt, daß die Leute wieder zu Unruhen neigen. Es sieht auch wirklich so aus! Alle sind sehr nachdenklich geworden . . .«
»Sie sind von der Arbeit zerquält«, schob Tichon ein und spielte mit den Ohren des Hundes.
»Jag' den Hund weg!« befahl Jakow. »Man bekommt Flöhe von ihm.«
Tichon nahm Kutschums Pfoten von seinen Knien herunter und stieß den Hund mit dem Fuß weg; er zog den Schwanz ein, setzte sich und bellte zweimal traurig. Die drei Menschen sahen sich an, und einer von ihnen dachte flüchtig, daß Tichon und der Mönch den verwaisten Hund vielleicht mehr betrauerten als dessen Herrn, der in der Erde vergraben lag.
»Es wird zu einem Aufruhr kommen«, sagte Jakow und blickte vorsichtig in den dunklen Hof. »Weißt du, Tichon, daß man Sedow und seine Kameraden verhaftet hat?«
»Ja, gewiß.«
Der Mönch zog aus der Kuttentasche ein Blechschächtelchen heraus, entnahm ihm eine Prise Tabak, schnupfte und teilte dem Neffen mit:
»Ich schnupfe jetzt Tabak. Das ist gut für die Augen. Ich sehe so schlecht.«
Er nieste und fuhr fort:
»Man verhaftet sogar Leute in den Dörfern . . .«
»Es sind Spione aufgetaucht«, bemerkte Jakow und bemühte sich unbefangen zu sprechen.
»Man beobachtet alle.«
Tichon brummte:
»Wenn man nicht beobachtet, erfährt man nichts.«
Und Jakow bewegte unschlüssig die Zunge, duckte sich vor der nächtlichen Kühle oder vor Angst und sagte, beinahe flüsternd:
»Das gibt es auch bei uns. Über den Jäger Noskow gehen schlechte Gerüchte um . . . Es heißt, er hätte Sedow und alle in der Stadt angezeigt . . .«
»So ein Dummkopf«, antwortete Tichon nach einer Weile und streckte die Hand nach dem Hund aus, ließ sie aber sogleich auf das Knie sinken, und Jakow fühlte, daß er diese Worte vergeblich gesprochen hatte und daß sie in der Leere versanken, und er warnte aus irgendeinem Grunde Tichon:
»Sprich aber nicht über Noskow.«
»Wozu sollte ich denn darüber sprechen? Es geht mich nichts an. Wem sollte man es auch sagen? Niemand glaubt irgendwem.«
»Ja,« sagte der Mönch, »es ist wenig Glauben da: ich habe nach dem Krieg mit verwundeten Soldaten gesprochen und ich sehe: auch der Soldat glaubt nicht an den Krieg! Überall ist Eisen, Jakow, man sieht nur Eisen und Maschinen. Die Maschine arbeitet, die Maschine singt und spricht! Diese eiserne Lebensführung verlangt andere Menschen, die auch eisern sind. Sehr viele verstehen das, ich bin schon solchen Menschen begegnet. ›Wir werden es euch Weichtieren schon zeigen!‹ sagen sie. Und manche andere fühlen sich beleidigt. Man ist es gewohnt, daß ein Mensch kommandiert, wenn aber Eisen oder sonst ein Metall das tut, ist man gekränkt. Man hat sich an die Axt, an den Hammer, an all das gewöhnt, was man in die Hand nehmen kann; hier hat aber ein Ding das Gewicht von hundert Pud und ist dabei doch wie lebendig.«
Tichon räusperte sich und lachte in einer Jakow unbekannten und von ihm noch nicht gehörten Weise, indem er sagte:
»Der Wagen läuft vor dem Pferd. Ach, zum Teufel!«
»Und viele sind verbittert«, fuhr der Mönch sehr leise fort. »Ich bin drei Jahre lang überall herumgewandert und habe es gesehen: ach, wie verbittert sind sie doch! Ihr Zorn ist aber nicht dorthin gerichtet, wohin es nötig wäre. Sie sind gegeneinander erbittert und doch haben alle sowohl an ihrem Verstand als an ihrer Dummheit Schuld. Das hat mir der Pope Gleb gesagt, das ist sehr richtig!«
»Lebt der Pope denn noch?« fragte Tichon.
»Er ist nicht mehr Pope«, erwiderte Nikita. »Er ist aus der Kirche ausgetreten und verkauft jetzt auf den Dorfmärkten Bücher.«
»Ein guter Pope«, sagte Tichon. »Ich habe bei ihm gebeichtet. Er war gut. Nur hat er aus Armut geheuchelt, daß er ein Pope wäre. Ich meine aber, daß er nicht recht an Gott geglaubt hat.«
»Nein, er hat an Christus geglaubt. Jeder glaubt auf seine Weise.«
»Dadurch entsteht die Verwirrung«, sagte Tichon bestimmt und lachte wieder häßlich. »Sie haben sich das ausgedacht . . .«
Am Hauseingang erschien lautlos Pjotr Artamonow, barfuß und im Nachthemd. Er blickte auf den blassen Himmel und sagte zu den Menschen am Fenster:
»Ich kann nicht schlafen. Der Hund stört. Und ihr murmelt hier . . .«
Der Hund saß mit gespitzten Ohren mitten auf dem Hof, winselte ab und zu, blickte auf das dunkle Loch des offenen Fensters und wartete wohl darauf, daß der Herr ihn rief.
»Und du kommst immer auf dasselbe zurück, Tichon!« begann Artamonow. »Da, sieh nur Jakow: der Mann ist auf einen Gedanken gestoßen und ist, wie ein Wolf, in die Falle geraten. Ebenso wie dein Bruder. Weißt du schon von Ilja, Nikita?«
»Ich habe es gehört.«
»Ja. Ich habe ihn fortgejagt. Er hat ein fremdes Roß bestiegen und ist weggaloppiert. Wohin aber? Nicht ein jeder kann wie er auf den Reichtum verzichten und auf unbekannte Weise leben . . .«
»Alexej, der Knecht Gottes, hat ja auch . . .« erinnerte Nikita leise.
Pjotr Artamonow erhob die Hand zur Schläfe, schwieg eine Weile und ging in den Garten, indem er zu Jakow sagte:
»Bringe mir die Decke und die Kissen in die Laube, vielleicht finde ich dort Schlaf.«
Seine schwere, weiße Gestalt, das zerzauste Kopfhaar und das dunkelbraune, verschwollene Gesicht ließen ihn beinahe furchtbar erscheinen.
»Du hättest nicht von Maschinen sprechen sollen, Nikita«, sagte er, im Hof stehen bleibend. »Was verstehst du von Maschinen? Es ist deine Sache, von Gott zu sprechen. Die Maschinen schaden nicht . . .«
Tichon unterbrach ihn unehrerbietig und eigensinnig:
»Die Maschinen verteuern das Leben und machen Lärm.«
Pjotr Artamonow wehrte mit der Hand ab und ging langsam in den Garten. Jakow, der mit den Kissen vor ihm ging, dachte aber zornig und traurig:
»Das sind nun meine Verwandten: mein Vater und mein Onkel! Wozu brauche ich sie aber? Sie können mir nicht helfen.«
Der Vater forderte seinen Bruder nicht auf, bei ihm zu wohnen. Der Mönch richtete sich im Hause von Tante Olga auf dem Boden ein und sagte ihr zuvor:
»Ich werde hier eine Weile bleiben, ich gehe bald weg . . .«
Er lebte hier fast ohne sich bemerkbar zu machen und kam nicht in die unteren Räume, wenn er nicht gerufen wurde. Er scharrte im Garten herum, schnitt die trockenen Baumzweige ab, kroch wie eine Schildkröte auf der Erde herum und jätete Unkraut. Er wurde runzlig, sein Körper vertrocknete, und er sprach mit den Leuten so, als erzählte er ihnen wichtige Geheimnisse. Er besuchte ungern die Kirche und schützte Unwohlsein vor, er betete auch zu Hause wenig, liebte es nicht, über Gott zu sprechen, und wich solchen Gesprächen eigensinnig aus.
Jakow sah, daß der Mönch sich mit Olga sehr anfreundete; auch die schweigsame Wera Popowa achtete ihn sehr, und selbst Miron verzog das Gesicht nicht, wenn er den Onkel von seinen Wanderungen und von den Menschen erzählen hörte, obwohl er nach dem Tode des Vaters noch hochmütiger und trockener geworden war, im Werk schaltete und waltete, als wäre er der Älteste, und Jakow wie einen Angestellten anschrie.
Der Mönch betrachtete Natalias rotes, verschwommenes Gesicht ebenso freundlich wie alles und alle, sprach mit ihr aber weniger als mit den andern. Sie hatte allmählich selbst das Sprechen verlernt und atmete nur noch. Ihre stumpfen Augen waren unbeweglich, und nur ab und zu flammte in ihrem trüben Blick die Sorge um die Gesundheit ihres Mannes, die Furcht vor Miron und die liebevolle Freude beim Anblick des rundlichen, soliden Jakow auf. Mit Tichon war der Mönch nicht ganz einig, sie brummten einander an, und wenn sie auch nicht stritten, gingen sie doch wie zwei Blinde aneinander vorbei.
Die eckige, schwarze Gestalt des Onkels warf auf Jakows Leben noch einen Schatten: der Anblick des Mönchs rief in ihm bange Ahnungen hervor, sein dunkles, abgezehrtes Gesicht ließ an den Tod denken. Jakow Artamonow betrachtete alles, was im Hause vorging, vom Standpunkt der Sorge um sich selbst, die immer mehr anwuchs, es entstand aber auch zu Hause immer mehr und immer neue Unruhe. Als in Liebessachen erfahrener Mann fühlte er, daß Polina gleichgültiger gegen ihn wurde, und der kaltblütige Leutnant Mawrin bestätigte Jakows Verdacht. Bei den Begegnungen mit ihm berührte der Leutnant die Mütze verächtlich nur mit einem Finger und kniff die Augen zu, als betrachtete er etwas Entferntes und sehr Kleines, während er vorher liebenswürdiger und höflicher gewesen war, und, wenn er sich im Kasino bei Jakow Geld zum Kartenspielen geliehen oder ihn um die Stundung einer Schuld gebeten hatte, zu ihm mehr als einmal anerkennend gesagt hatte: »Artamonow, Sie haben die Figur eines Artilleristen«, oder sonst etwas Angenehmes. Jakow hatte die etwas grobe Gutmütigkeit dieses wie aus Gummi geformten Offiziers geschmeichelt, der die ganze Stadt durch seine Unempfindlichkeit gegen Kälte, durch seine Geschicklichkeit, seine Kraft und seinen ihm zweifellos eigenen großen Mut in Erstaunen setzte. Er sah mit seinen runden, versteinerten Augen in die Gesichter der Menschen und sprach, etwas heiser, im Kommandoton:
»Ich bin ein kaltblütiger Mensch und kann Übertreibungen nicht leiden.«
Als Mawrin beim Kartenspiel mit dem Postmeister Dronow, einem kranken, aber giftigen, klugen Alten, den alle in der Stadt fürchteten, in Streit geriet, sagte er ihm:
»Ich will ja nicht übertreiben, aber Sie sind ein alter Dummkopf!«
Da Jakow Artamonow in dem Leutnant seinen Nebenbuhler vermutete, befürchtete er einen Zusammenstoß mit ihm. Er dachte jedoch nicht daran, Polina an Mawrin abzutreten. Diese Frau wurde für ihn immer anziehender. Er hatte sie aber schon mehr als einmal gewarnt:
»Pass' auf, wenn ich zwischen dir und Mawrin irgend etwas bemerke, verlasse ich dich!«
Gleichzeitig wuchs auch die Unruhe, die der Jäger Noskow in ihm hervorrief. Er lauerte Jakow in der Vorstadt an der Watarakschabrücke auf, er wuchs plötzlich aus dem Erdboden heraus, blickte in seine Mütze und verlangte hartnäckig Geld, wie etwas ihm Gebührendes.
Es war etwas Seltsames und Unheimliches in dem Umstand, daß der Jäger stets an ein und derselben Stelle erschien und aus den Brennesseln und Kletten und dem dichten Unkrautgestrüpp unter den beiden krummen Weiden hervortrat. Vor zwei Jahren hatte an dieser Stelle das Haus des Gärtners Panfil gestanden; den Gärtner hatte jemand ermordet und das Haus angezündet. Die Weiden waren halb verbrannt, und die mit Kohle und Asche vermengte Erde war von Klötzchenspielern festgestampft worden; inmitten der Trümmer des Ziegelfundaments stand ein Ofen und ragte ein Schornstein in die Höhe; in klaren Nächten flimmerte dicht über dem Schornstein auf dem Himmel ein grünlicher Stern. Noskow trat, in den Brennesseln raschelnd, ohne Hast hinter dem Schornstein hervor, nahm langsam die Mütze ab und murmelte:
»Ich werde es Ihnen vergelten. Bei Ihnen taucht wieder eine Bande auf . . .«
»Diese Banden gehen mich nichts an«, antwortete Jakow erbost und hörte aus Noskows Antwort unverblümte Unverschämtheit heraus:
»Sie organisieren das natürlich nicht, die Sache geht Sie aber doch an.«
»Schade, daß ich ihn damals nicht erschossen habe«, bedauerte Jakow zum zehntenmal, gab dem Spion Geld und sagte:
»Pass' auf, sei vorsichtiger!«
»Ich weiß schon!«
»Verwickle mich nicht in diese Dinge.«
»Wozu denn? Sie können ruhig sein.«
»Ja, er hält mich bestimmt für einen Dummkopf . . .«
Obwohl Jakow Artamonow einsah, daß Noskow ein nützlicher Mensch war, hatte er doch die Überzeugung, daß der krummbeinige Kerl mit dem flachen Gesicht sich an ihm für den Schuß rächen mußte. Er strebte nur das an. Er würde ihn verängstigen oder mit dem ihm von Jakow selbst gegebenen Geld Arbeiter bestechen und ihn ermorden lassen. Es kam Jakow schon so vor, als ob die Arbeiter ihn in letzter Zeit aufmerksamer und erboster betrachteten.
Miron behauptete immer öfter, die Arbeiter revoltierten nicht, um ihre Lage zu verbessern, sondern weil ihnen von außen her der ganz sinnlose und wahnsinnige Gedanke eingeflößt werde, sie müßten von den Banken, den Fabriken und überhaupt von der ganzen Wirtschaft des Landes Besitz ergreifen. Wenn er das sagte, streckte er sich und richtete sich auf, schritt mit seinen langen Beinen durch das Zimmer, drehte den Hals und steckte den Finger in den Kragen, obwohl er einen dünnen Hals hatte und der Hemdkragen weit genug war.
»Das ist schon nicht mehr Sozialismus, sondern der Teufel weiß was! Und ein Anhänger dieser Idee ist dein leiblicher Bruder. Unsere Regierung, die aus alten Krähen besteht . . .«
Jakow verstand wohl, daß Miron das alles nur deshalb sagte, um seine Zuhörer und sich selbst von seinem Recht auf einen Sitz in der Reichsduma zu überzeugen, und doch ließen die zornigen Reden des Vetters in Jakow einen Bodensatz von Furcht zurück, indem sie das Bewußtsein seiner persönlichen Schutzlosigkeit inmitten von Hunderten von Arbeitern verstärkten. Er erlebte sogar etwas, das einem Anfall von Panik nahe kam. Eines Morgens weckte ihn Geheul und Geschrei auf dem Fabrikhof. Als er den Kopf vom Kissen erhob, erblickte er an der weißen glatten Wand des Magazins einen wild dahinstürmenden Haufen von Schatten. Sie hüpften, schwangen die Arme und schienen das ganze Gebäude über die Erde zu schleifen. Er war plötzlich ganz in Schweiß gebadet und schrie in Gedanken lautlos auf:
Dieser Strom von Schatten, die aus irgendeinem Grunde furchtbarer als Menschen waren, verschwand bald, und Jakow wußte nun, daß sich am Fabriktor die an einem Montag übliche Rauferei abgespielt hatte. Nach den Feiertagen wurde fast immer gerauft, sein Gedächtnis bewahrte jedoch dieses unheimliche Huschen der dunklen, unheimlichen Flecken. Überhaupt wurde das ganze Leben derart unruhig, daß schon der Anblick einer Zeitung unangenehm war, und man gar nicht darin lesen mochte. Das Einfache und Klare verschwand, von überallher drang Unangenehmes herein, und neue Menschen tauchten auf.
Schwester Tatjana brachte plötzlich aus Worgorod einen Bräutigam mit, einen dürren, rötlichen, kleinen Mann mit einer Ingenieurmütze. Er war behend, leichtfüßig und sehr lustig; er war um zwei Jahre jünger als Tatjana und, so wie sie, nannten alle im Hause ihn sofort Mitja. Er spielte Gitarre und sang Lieder. Eines davon, das er besonders oft vortrug, erschien Jakow für die Schwester beleidigend und empörte die Mutter sehr.
»Mein Weib ist im Grab.
Hab'
Die Gnade, Herr, laß sie gewiß
Ins Paradies!«
Die Schwester war aber nicht gekränkt; dieser Mensch belustigte sie ebenso wie alle, und selbst die Mutter sagte oft gerührt zu ihm:
»Ach, du Zeisig, du singst ja wie ein Bajazzo!«
Mitja konnte, wie eine Taube, unendlich viel essen. Pjotr Artamonow betrachtete ihn mit erstaunten Augen wie ein Traumbild, blinzelte und fragte:
»Bei deinen Charaktereigenschaften müßtest du trinken. Trinkst du?«
»Ich kann es wohl«, antwortete der Schwiegersohn und bewies beim Abendbrot, daß er auch gehörig zu trinken verstand. Er war überall gewesen, an der Wolga und im Ural, in der Krim und im Kaukasus, er kannte eine unendliche Menge amüsanter Verschen, Erzählungen und komischer Sprüche; er schien aus irgendeinem fröhlichen, sorglosen Lande hergekommen zu sein.
»Das Leben ist eine schöne Frau«, sagte er und geriet auf einmal in den sich ununterbrochen drehenden Kreis der Arbeit hinein. Er gefiel den Arbeitern, die Jugend lachte, die alten Weiber nickten fröhlich mit den Köpfen, und beim Anhören seiner vor Lachen sprühenden Rede leckte sich sogar Miron mit der Zunge das Lächeln von den dünnen Lippen. Da geht er mit Miron über den Fabrikhof zum fünften Werkgebäude hin, das sich, als fünfter Finger der roten Ziegelsteintatze, soeben in die Erde festgekrallt hat; es ist noch rings von Gerüsten umsponnen, auf deren Brettern sich die Schreiner geschäftig bewegen; ihre silbernen Äxte glänzen, auch das Glas und Gold von Mirons Brille funkelt, er streckt die Hand wie ein General auf einem alten Fünfkopekenstück aus; Mitja nickt und schwingt auch die Arme, als werfe er etwas auf die Erde.
Jakow betrachtete sie vom Kontorfenster aus. Der Schwager gefällt auch ihm, man wird mit ihm heiter und vergißt so manches Bedrückende. Jakow beneidet den Mann sogar um seinen Charakter, empfindet ihm gegenüber jedoch ein seltsames Mißtrauen: dieser Mensch scheint nicht für lange da zu sein, etwa nur bis morgen, dann wird er sich aber als Schauspieler oder Friseur entpuppen oder wird ebenso plötzlich verschwinden, wie er aufgetaucht ist. Er besaß noch eine gute Eigenschaft; er schien nicht habgierig zu sein und fragte nicht, wieviel Mitgift Tatjana bekäme; doch konnte dahinter auch irgendeine List von Tatjana stecken. Wenn der Vater nüchtern war, brummte er aber:
»Für so einen Fuchsroten habe ich also gearbeitet . . .«
Auch Miron verheiratete sich.
»Erlaubt, daß ich euch meine Frau vorstelle«, sagte er, als er aus Moskau zurückgekehrt war, und schob eine blauäugige, rundliche Puppe mit einem lockigen, zur Seite geneigten Köpfchen, vor sich her. Seine Frau hatte das Ausmaß eines Spielzeugs; doch war sie besonders präzis ausgeführt, was sie in Jakows Augen nicht als eine wirkliche Frau erscheinen ließ, sondern ihr eine Ähnlichkeit mit dem Figürchen auf Onkel Alexejs Lieblingsuhr verlieh, dessen Kopf abgeschlagen und etwas schief wieder aufgesetzt worden war. Die Uhr stand auf einem Spiegeltisch und die Statuette wandte sich von den Leuten ab und sah in den Spiegel. Miron erklärte, seine Frau hieße Anna und wäre achtzehn Jahre alt, er verschwieg jedoch, daß er als Mitgift eine Viertelmillion erhalten hatte und daß sie die einzige Tochter eines Papierfabrikanten war.
»So heiratet man«, brummte der Vater und betrachtete Jakow mit roten Augen. »Du gibst dich aber mit Gott weiß wem ab. Und Ilja hat man aus dem Leben hinausgefegt, als wäre er Kehricht.«
Dem Vater machte das Gehen Mühe, er wiegte den schwammigen, schlaffen Körper schwer hin und her. Es schien Jakow, daß dieser Körper den Vater ärgerte, und daß er die bedrückende Häßlichkeit seiner greisenhaften Nacktheit absichtlich den Menschen zur Schau stellte. Er stolzierte in Unterwäsche, im offenen Schlafrock, in Pantoffeln an den bloßen Füßen und mit aufgedunsener nackter Brust herum, genau so wie er vor der Tochter Jelena erschienen war, um sie zu ärgern. Manchmal kam er ins Kontor, saß dort lange und störte Jakow mit seinen Klagen, er hätte seine ganze Kraft dem Werk und den Kindern geopfert und hätte sein ganzes Leben im steinernen Joch der Arbeit, im Nebel der Sorgen zugebracht, ohne irgendwelche Freuden zu genießen.
Jakow hörte schweigend zu, da er sah, daß diese Klagen den Vater erleichterten und ihn in den eigenen Augen bis zum Umfang eines Glockenturmes auftrieben, den die Sonne des Morgens früher als die Häuser der Menschen bemerkt und von dem sie zuletzt Abschied nimmt, bevor sie in die Nacht versinkt. Diesen Klagen entnahm aber Jakow die Lehre, es wäre sinnlos, so zu leben, wie der Vater gelebt hatte.
Und er sah immer, daß, nachdem der Vater sich an den Klagen gesättigt hatte, er von einem heißen Jucken und dem unruhigen Wunsch befallen wurde, die Menschen zu beleidigen und zu verhöhnen. Er ging zu seiner alten Frau, die am Gartenfenster saß, die unbrauchbaren Hände auf den Knien hielt und die leeren Augen auf einen Punkt richtete; er setzte sich neben sie und begann sie zu ärgern:
»Woran denkst du? Du bist dick, und doch sieht man dich nicht, die Kinder sehen dich nicht. Tatjana spricht mit der Köchin freundlicher als mit dir. Jelena hat dich wohl vergessen? Sie kommt ja nie, sie scheint sich einen neuen Geliebten zugelegt zu haben! Und wo ist Ilja?«
Es war aber langweilig, der Frau zuzusetzen, ihr blaurotes Gesicht schwitzte gleich Tränen, die nicht nur ihren Augen, sondern allen Poren der straff gespannten Haut ihrer Wangen und dem aufgeschwemmten Doppelkinn zu entströmen und sogar irgendwo hinter den Ohren hervorzusickern schienen.
»Nun, du gehst ja ganz aus den Fugen«, brummte der Alte angewidert und ging, indem er sie wie lästigen Rauch abwehrte. Nein, sie war nicht kurzweilig.
Jakow ärgerte er nicht. Doch es kam dem Sohn so vor, als ob der Vater ihn mit beleidigendem Bedauern betrachtete. Manchmal seufzte er:
»Ach, du mit deinen leeren Augen . . .«
Miron war für Spott unnahbar, der Vater ging ihm sichtlich und ängstlich aus dem Wege; das fand Jakow begreiflich. Miron wurde sowohl im Werk wie im Hause von allen gefürchtet, von der Mutter und seiner Porzellanfrau angefangen bis zu Grischka, dem Jungen, der die Eingangstür für die Herrschaft zu öffnen hatte. Wenn Miron über den Hof ging, schien sein langer Schatten ringsherum Stille zu erzeugen.
Es war auch kein Vergnügen, sich über den rothaarigen Schwiegersohn lustig zu machen, er verstand es selbst, über sich zu lachen, und zog es offenbar vor, sich selbst zu schlagen, bevor ein anderer es tat. Die schwangere Tatjana war stark aufgedunsen und blies mit wichtiger Miene die Lippen auf; sie lag nach dem Essen und las drei Bücher auf einmal; dann ging sie spazieren, und ihr Mann lief wie ein Pudel neben ihr her.
Pjotr Artamonow ließ das Pferd einspannen und fuhr in die Stadt, um sich an Nikita und Tichon heranzumachen. Jakow hatte ihm dabei mehr als einmal zugehört.
»Nun, du Student in der Kapuze, du hast Gott verloren?« nahm er den Mönch vor.
Nikita bewegte den Buckel, fuhr sich mit den Handflächen fest über die spitzen Knie und sagte leise und klagend:
»Ach, das ist unrecht von dir . . .«
»Wieso unrecht? Du trägst nicht den richtigen Hut. Dieser Hut paßt nicht zu dir. Deine ganze Kleidung paßt nicht zu dir. Was für ein Mönch bist du denn?«
»Das geht nur meine Seele an!«
»Du schnupfst Tabak. Nein, du hast verspielt und hast dich geirrt. Du hättest seinerzeit ein armes Mädchen, eine Waise heiraten sollen, sie hätte dir aus Dankbarkeit Kinder geboren, und du wärst jetzt, ebenso wie ich, Großvater. Du hast dir aber etwas anderes erlaubt, – weißt du's noch?«
Der Mönch kroch wie eine ungeheure Schildkröte langsam fort, und Pjotr Artamonow begab sich zu Olga und erzählte ihr von Alexejs Gelagen und von der Messe in Nishni. Doch auch das belustigte ihn nicht, die kleine Alte war seit dem Tode ihres Mannes von dauernder Unstetigkeit befallen; sie lief in einem fort hin und her, rückte an den Möbeln herum, stellte alle Gegenstände von einer Stelle an die andere und sah aus dem Fenster. Sie hielt beim Gehen den Kopf unbeweglich, und obwohl auf ihrer Nase die Brille mit den dicken Augengläsern prangte, mußte sie sich doch durch Tasten behelfen, wobei sie mit dem Stock auf der Erde herumstieß und die rechte Hand vorstreckte. Sie beantwortete lächelnd die boshaften Erzählungen des Alten:
»Du kannst sagen, was du willst. An Alexej, wie ich ihn kannte, wird nichts Böses haften bleiben, man kann auch nichts Gutes mehr hinzufügen.«
»Er hat richtig von dir gesagt: die sieht nur mit einem Auge.«
»Ich sehe mit beiden fast nichts«, sagte Olga. »Ich sehe gar nichts, gestern habe ich aus Blindheit seinen Lieblingsbecher aus Porzellan zerschlagen.«
Pjotr Artamonow versuchte Tichon Wialow zu ärgern, – doch auch das ging schwer. Tichon wurde nicht böse, er räusperte sich, blickte zur Seite und antwortete kurz und ruhig.
»Du lebst recht lange«, sagte Artamonow. Tichon antwortete vernünftig:
»Manche leben noch länger.«
»Wozu hast du aber gelebt, wie? Sage es mir nur!«
»Alle leben.«
»Richtig. Aber nicht ein jeder fegt sein ganzes Leben lang den Hof und räumt Kehricht weg . . .«
Tichon hatte seine eigenen Gedanken.
»Wenn man einmal geboren wurde, muß man auch bis zum Tode leben«, sagte er. Artamonow fuhr aber fort, ohne auf ihn zu hören:
»Du hast dein ganzes Leben mit dem Besen verbracht. Du hast weder Weib noch Kinder und hast nie Sorgen gehabt. Wie kommt das? Schon mein Vater hat dir einen anderen Posten angeboten; du wolltest aber nicht, du hast es abgelehnt. Was soll dieser Eigensinn bei dir?«
»Du kommst zu spät mit deiner Frage, Pjotr Iljitsch«, antwortete Tichon und sah zur Seite.
Artamonow setzte ihm zornig zu:
»Sieh dich einmal um, wieviele Leute während deines Lebens reich geworden sind. Alle haben nach einer Erleichterung für sich gestrebt und haben Geld gespart . . .«
»Sie haben gespart und gespart und sich mit dem Teufel gepaart«, sagte Tichon mit besonderer Betonung des A.
Jakow hatte erwartet, daß der Vater in Zorn geraten und Tichon beschimpfen würde, der Alte schwieg aber eine Weile, murmelte etwas Unverständliches und trat von Tichon weg, der zwar verblichen, kahlköpfig und lehmfarbig geworden war, aber den Angriffen des Alten widerstand; er war körperlich noch ebenso kräftig, hatte sich sogar einen gewissen Anstand angeeignet und sprach in einem wichtigen, belehrenden Ton; es schien Jakow, daß Tichon in seinen Worten und seinem Benehmen mehr von einem Prinzipal hatte als der Vater.
Jakow selbst sah immer deutlicher, daß er inmitten seiner Verwandten und in dem Hause überflüssig erschien, in dem der einzige angenehme Mensch ein Fremder, Mitja Longinow war. Mitja erschien ihm weder dumm noch klug; er entglitt allen diesen Wertungen und unterschied sich von allen übrigen. Seine Bedeutung wurde auch durch Mirons Verhalten bestätigt; der hartherzige, herrschsüchtige Miron, der über alle das Kommando führte, lebte mit Mitja in Eintracht, und wenn er auch oft mit ihm stritt, tat er es doch mit Vorsicht und verzankte sich nie mit ihm. Im Hause erschallte von früh bis spät vielstimmiges Rufen:
»Mitja!« schrie Tatjana.
»Wo ist Mitja?« fragte die Mutter und selbst der Vater brummte, sich zum Fenster hinausbeugend:
»Mitja, es ist Zeit, Mittag zu essen!«
Mitja lief wie ein Fuchs durch die Fabrik und verwischte geschickt mit dem buschigen Schwanz komischer Worte und lustiger Scherze Mirons beleidigende Strenge den Arbeitern und Beamten gegenüber. Er nannte die Arbeiter »Freunde«.
»Freundchen, das ist nicht so!« sagte er zu dem bärtigen, ehrwürdigen Vorarbeiter der Schreiner, zog ein rotes Lederbüchelchen und einen Bleistift aus der Tasche, zeichnete etwas auf das Brett und sagte:
»Siehst du? Ist das nicht so? Und dann so, und wieder so! Stimmt das?«
»Es stimmt schon«, gab der Vorarbeiter zu. »Wir machen aber alles nach alter Weise, wie wir es gewohnt sind . . .«
»Nein, mein Lieber, man muß sich an das Neue gewöhnen, es ist vorteilhafter.«
Der Vorarbeiter stimmte zu:
»Richtig!«
Mitja erinnerte in seinem flotten Spiel mit der Arbeit an Onkel Alexej, man merkte ihm aber nicht die Gier nach Besitz an; seine lustigen Possen ähnelten denen des Schreiners Serafim, was auch vom Vater bemerkt wurde. Einmal beim Abendbrot, als Mitja die ärgerliche Stimmung bei Tisch zerstreute und aufhob, brummte der Vater lächelnd:
»Wir hatten auch einen Tröster: Serafim . . . Jawohl!«
Jakow hörte einmal Mitja zu Miron sagen, als dieser wie gewöhnlich einen Zusammenstoß mit dem Vater gehabt hatte:
»Das ist eine Verbindung des Furchtbaren und Widerwärtigen mit dem Jämmerlichen, so eine echt russische Chemie!«
Und dann tröstete er sogleich:
»Das macht aber nichts! Das wird bald vergehen und vom Leben überholt werden. Wir reinigen uns . . .«
An einem Feiertag, beim Abendtee im Garten, klagte der Vater:
»Ich habe ohne Feiertage gelebt!«
Der Schwiegersohn ließ sogleich eine Rakete aufsteigen, die alle mit dem Goldstaub flotter Worte überschüttete:
»Daran sind Sie schuld und sonst niemand! Der Mensch setzt die Feiertage selbst für sich fest. Das Leben ist eine schöne Frau, es verlangt nach Geschenken, Zerstreuungen, nach allerlei Spiel. Man muß mit Genuß leben! Man kann jeden Tag etwas finden, woran man sich erfreut.«
Er sprach lange und geschickt, als spielte er auf einer Flöte, und alle bei Tisch verstummten; es geschah immer, daß die Menschen, die ihm zuhörten, einzuschlafen schienen. Auch Jakow stand im Banne seiner Worte, er fühlte darin etwas Echtes und Wahres, und doch wollte er Mitja fragen:
»Warum hast du aber ein so häßliches, dummes Mädchen geheiratet?«
Jakow sah in seinem Verhältnis zu seiner Frau etwas Unaufrichtiges, allzu Liebenswürdiges, eine zu sehr betonte Fürsorge; es kam Jakow vor, als ob auch die Schwester dieses Unaufrichtige fühlte. Sie war traurig, schweigsam und leicht reizbar und unterhielt sich viel häufiger und lebhafter mit Miron als mit ihrem lustigen Mann über Politik. Sonst konnte sie über nichts sprechen. Manchmal glaubte Jakow aber, Mitja Longinow wäre nicht aus einem fröhlichen, sorglosen Lande hergekommen, sondern aus einer öden, dunklen Grube herausgesprungen und wäre auf neue, ihm unbekannte Menschen gestoßen; vor Freude, daß er endlich so weit war, tanzte er nun vor ihnen herum und belustigte sie, als wäre er durch ihren Überfluß gerührt und durch etwas überrascht. In diesem Staunen glaubte Jakow etwas Einfältiges zu bemerken: so staunt ein Junge in einem Spielwarengeschäft, – doch ist dies einer, der sogleich klug zu unterscheiden versteht, welches Spielzeug das beste ist.
Unter allen Menschen im Hause und in der Fabrik gab es zwei, die Tatjanas Mann in ausgesprochener Weise nicht mochten: Onkel Nikita und Tichon Wialow. Tichon beantwortete Jakows Frage, wie ihm Mitja gefiele, ruhig folgendermaßen:
»Er ist unverläßlich.«
»Weshalb?«
»Er ist eine Fliege. Setzt sich auf jeden Unrat.«
Jakow fragte den Alten lange und hartnäckig aus, der konnte es ihm aber nicht verständlich machen:
»Du siehst ja selbst, Jakow Petrowitsch«, sagte er. »Du siehst, daß der Mensch sich allerhand Schnörkel ausdenkt.«
Der Mönch sagte beinahe dasselbe:
»Er wirbelt Staub auf,« meinte er seufzend, »ich habe viele solche Phrasenmacher gesehen. Sie verwirren das Volk. Sie bleiben auch selbst in ihren Worten stecken. Wenn man zu ihm von Bergen spricht, meint er, es wäre vom Verbergen die Rede . . . Ja, ja.«
Es war seltsam zu hören, wie dieser sanfte Krüppel ärgerlich und fast mit einer ihm sonst gar nicht eigenen Bosheit sprach. Und noch überraschender war die Einstimmigkeit zwischen Tichon und dem Onkel bei der Einschätzung von Tatjanas Mann; die Alten waren sonst nicht einig und lebten in offener, stummer Feindschaft, sprachen fast nicht miteinander und gingen sich aus dem Wege. Darin erblickte Jakow wieder die ihm so lästige menschliche Dummheit: wie konnten Menschen uneinig sein, die vielleicht schon morgen der Tod niedermähte?
Onkel Nikita lag im Sterben. Es schien Jakow, daß der Vater es eifrig beschleunigte, da er den Mönch bei jeder Bewegung durch Vorwürfe quälte und bedrückte.
»Ich habe mein ganzes Leben wie ein Stier unter den Leuten verbracht, und du lebst wie ein Kater. Alle bemühen sich, es so einzurichten, daß du es wärmer und weicher hast und scheinen gar nicht zu sehen, daß du bucklig bist. Mich halten alle für böse, – bin ich das aber? Ich habe das ganze Leben . . .«
Der Mönch zog den Kopf in den Buckel ein und bat hüstelnd:
»Ärgere dich nicht.«
Das Gefühl des Widerwillens gegen den Vater und gegen dessen entblößte, wie aus Seife geformte, mit dem Schimmel grauer Haare bedeckte Brust verdarb Jakow auch das Leben. Dieses Gefühl war schwer zu verbergen und zu verheimlichen. Er mußte sich ab und zu daran erinnern:
»Er ist mein Vater. Er hat mich gezeugt.«
Doch das verschönte den Vater nicht und löschte den Widerwillen gegen ihn nicht aus, darin lag sogar etwas Verletzendes und Erniedrigendes. Der Vater fuhr fast täglich in die Stadt, um das Sterben des Mönchs zu beobachten. Pjotr Artamonow kletterte mit Mühe schnaufend auf den Boden, setzte sich an das Bett des Mönchs und richtete seine roten, entzündeten Augen auf ihn. Nikita schwieg hüstelnd und heftete seinen bleiernen Blick auf die Zimmerdecke; seine Hände waren unruhig geworden, er zupfte immer an der Kutte herum und schien von ihr etwas Unsichtbares zu entfernen. Manchmal erhob er sich und geriet vor Husten außer Atem.
»Du gehst ganz aus dem Leim?« fragte der Bruder.
Nikita kroch ans Fenster, indem er sich mit den Händen an die Schultern des Bruders, an die Bettwand und an die Stuhllehnen klammerte. Die Kutte hing an ihm wie ein Segel an einem zerbrochenen Mast; er setzte sich ans Fenster und sah mit offenem Mund in den Garten und in die Ferne, nach dem an zornig gesträubte Borsten erinnernden Wald.
»Nun, ruh' dich aus«, sagte Pjotr und zupfte sich am schwammigen Ohrläppchen. Dann ging er hinunter und teilte Olga mit:
»Er geht ganz aus dem Leim. Jetzt dauert es nicht mehr lange . . .«
Es kam ein dicker Mönch, Vater Mardari, und redete zu, Nikita ins Kloster zu schaffen, – er sollte nach irgendeinem Statut gerade dort sterben und unbedingt dort beerdigt werden. Der Bucklige überredete aber Olga:
»Bringt mich später dorthin, wenn ich tot bin.« Und er bat dreimal kläglich:
»Laßt den Sargdeckel etwas höher machen, damit er nicht drückt. Vergeßt es nicht!«
Er starb vier Tage vor Kriegsausbruch und bat am Vorabend seines Todes das Kloster zu benachrichtigen:
»Sie sollen mich jetzt holen kommen. Bis zu ihrer Ankunft werde ich gestorben sein.«
Am Morgen des Todestages half Jakow dem Vater auf den Boden zu steigen; der Vater bekreuzte sich und starrte das dunkle, aschfahle Gesicht mit den halbgeschlossenen Augen und dem eingefallenen Mund an. Nikita sagte unnatürlich laut:
»Verzeih mir.«
»Nun, laß das! Was denn?«
»Meine Frechheit . . .«
»Verzeih du mir«, sagte der Ältere. »Ich habe hier manchmal mit dir gescherzt . . .«
»Gott verdammt den Scherz nicht«, versicherte der Mönch flüsternd, und Pjotr fragte nach einem Schweigen:
»Und wie ist dir jetzt? Wohin willst du?«
»Ich habe vergessen«, begann der Mönch eilig, den Bruder unterbrechend. »Jakow, sage Tichon, daß er den kleinen Ahorn bei der Laube absägen soll, er gedeiht doch nicht, nein . . .«
Jakow konnte es nicht ertragen, diese übertrieben klare Stimme zu hören und die, wie die Kante einer Kiste, unmenschlich hochstehenden Brustknochen zu sehen. An diesem Haufen regungsloser Knochen, die mit etwas Schwarzem bedeckt waren, und an den ein Messingkreuz haltenden Händen war überhaupt nichts Menschliches mehr. Der Onkel tat ihm leid, – er überlegte aber trotzdem, weshalb die Alten und überhaupt die Verwandten so vor aller Augen sterben mußten?
Der Vater wartete ab, ob der Bruder noch etwas sagen würde, und ging dann an Jakows Arm, mit schweigend gesenktem Kopf weg. Unten sagte er:
»Er stirbt . . .«
»So?« fragte Miron, der am Tisch saß und seinen halben Körper mit einem ungeheuren Zeitungsblatt bedeckt hatte. Als er fragte, wandte er die Augen nicht weg, warf aber dann die Zeitung auf den Tisch und sagte zu seiner Frau in der Ecke:
»Ich hatte recht. Lies das!«
Seine rundliche Frau rollte an den Tisch heran, und die am Fenster sitzende Mutter fragte erschrocken:
»Ist es möglich, Miron, ist es möglich, daß Krieg ausbricht?«
»Jetzt kommt der zweite Artamonow dran«, erinnerte Pjotr laut.
»Sie lügen natürlich«, sagte Miron zu seiner Frau und zu Jakow, der auch den Kopf neigte, die alarmierenden Telegramme las und überlegte, womit das alles ihn bedrohte. Pjotr Artamonow fuhr mit der Hand durch die Luft und ging auf den Hof. Die Sonne hatte dort die Kieselsteine derart durchglüht, daß ihre Wärme durch die weichen Sohlen der Samtstiefel drang. Aus dem Fenster prasselten Mirons trockene, belehrende Worte herab; Jakow, der mit der Zeitung in den Händen am Fenster stand, sah, wie der Vater jemandem mit seiner blauroten Faust drohte.
Am dritten Tag kamen am frühen Morgen die Mönche. Es waren ihrer sieben, die alle von verschiedenem Wuchs und Umfang waren, doch erschienen sie Jakow alle gleich, wie Neugeborene. Nur einer davon, der größte, der mager war, einen sehr dichten Bart und eine weder für einen Mönch, noch für das Vorgefallene passende, laute und fröhliche Stimme besaß und mit einem großen schwarzen Kreuz an der Spitze der anderen schritt, schien gar kein Gesicht zu haben. Er war kahlköpfig, seine Nase verschwamm mit den Wangen, und er hatte außer zwei kleinen, schwarzen Gruben zwischen Glatze und Bart nichts von Gesicht aufzuweisen. Er hob im Schreiten die Füße so langsam, als wäre er blind; er sang mit drei Stimmen:
»Heiliger Gott,« tief, beinahe mit Baßstimme; – »heiliger, starker,« höher mit Tenorstimme, und – »heiliger, unsterblicher, sei uns gnädig!« so durchdringend, daß die Straßenjungen vorliefen und voll Staunen nach seinem Bart, dem Sitz des unsichtbaren, dreistimmigen Mundes sahen.
Als der Leichenzug aus der Straße auf den Platz kam, war dieser von Städtern, Reservisten, Soldaten des Leutnants Mawrin, einigen wenigen Vertretern der Obrigkeit und der Geistlichkeit im Mittelpunkt der Menge, dicht besetzt. Der kaltblütige Leutnant stand feierlich wie ein Monument an der Spitze seiner Soldaten, von der Sonne beleuchtet; die kegelförmigen Popen und Diakone erinnerten an goldene Bildsäulen; sie vergingen und zerschmolzen in der Sonne; das Leuchten ihrer Gewänder bestrahlte auch den Leutnant Mawrin; vor dem Altar sprang ein dicker Offizier mit einem wie aus Blech geformten Kopf herum und schwang die Mütze.
Der Mönch mit den drei Stimmen erhob das schwarze Kreuz, blieb vor der Menschenwand stehen und sagte im Baßton:
»Macht Platz!«
Die Leute wichen aber nicht vor ihm, sondern vor dem großen, fuchsroten Pferd des Unterisprawniks Ekke zurück. Der ritt, mit dem weißen Handschuh herumfuchtelnd, auf den Mönch zu, ließ das Pferd quer in der Straße halten und schrie vorwurfsvoll und beleidigt:
»W–wohin? Was fällt Ihnen ein, sehen Sie denn nicht? Zurück!«
Der Mönch erhob das Kreuz und stimmte an:
»Heiliger Go–o . . .«
»Hurra!« schrie der Offizier, und das ganze Volk auf dem Platz brüllte wie mit tausend Stimmen:
»Hur–rra–aa . . .«
Und Ekke schrie auch, sich in den Steigbügeln aufrichtend:
»Pjotr Iljitsch, haben Sie die Güte, durch das Gäßchen zu gehen! Machen Sie den Umweg! Miron Alexejewitsch, ich bitte Sie! Hier herrscht solche Begeisterung und Sie . . . Das geht doch nicht!«
Pjotr Artamonow, der am Kopfende des Sarges stand, von seiner Frau und Jakow gestützt, blickte von unten her in Ekkes hölzernes Gesicht und sagte düster zu den Mönchen, die den Sarg trugen:
»Macht kehrt, Väter . . .«
»Es scheint, daß ich zum letztenmal verfügen darf . . .«
Das alles kam Jakow unpassend und sogar etwas lächerlich vor. Als man aber in das Gäßchen einbog, in dem Polina wohnte, sah er sie dem Leichenzug rasch entgegenschreiten. Sie ging in einem weißen Kleid, unter einem rosa Schirm, und bekreuzte eilig die hochgewölbte, straff bespannte Brust.
»Sie geht Mawrin bewundern«, kombinierte er sogleich und geriet durch den Staub und den Ärger außer Atem. Die Mönche gingen schneller, der Schwarzbärtige sang leiser und nachdenklicher, während der Sängerchor ganz verstummte. Außerhalb der Stadt, vor dem Schlachthaustor stand eine seltsame, mit schwarzem Tuch bedeckte Fuhre, vor die zwei scheckige Pferde gespannt waren; der Sarg wurde auf diese Fuhre gestellt, und es begann die Totenmesse, während aus der Straße, wie aus einer Trompete, das feierliche Gebrüll der Blechinstrumente drang. Die Musik spielte »Gott beschütze den Zaren«, es läuteten die Glocken dreier Kirchen, und mit Staub und Dunst zugleich flutete das tosende »R–rr–a–aa!« herein.
Jakow glaubte das Kommando des Leutnants Mawrin zu hören:
»R–richt euch!«
Nach der Seelenmesse mußte man zur Tante fahren, lange beim Leichenschmaus sitzen und das ärgerliche Brummen des Vaters anhören.
»Welcher Dummkopf hat angeordnet, daß die Pferde vor dem Schlachthaus halten sollten, he?«
»Die Polizei, die Polizei«, beruhigte Mitja und erklärte: »Wissen Sie, das paßte ihr nicht: nationale Begeisterung und dabei ein Leichenwagen! Das ist nicht in Einklang zu bringen . . .«
Miron leckte sich ein Lächeln von den Lippen und sagte zum Arzt Jakowlew, der sich an schweren, unangenehmen Tagen besonders bemerkbar machte:
»Und wie, wenn wir uns alle einig mit unseren Leibern draufstürzten, wie Mitka im ›Fürst Serebriany‹ . . . Schließlich und endlich wird alles in der Welt doch durch das Zahlenverhältnis entschieden . . .«
»Nein, durch die Technik«, entgegnete der Arzt.
»Die Technik? Nun ja . . . Aber . . .«
Erst um die zehnte Abendstunde konnte Jakow dieser sich langweilig hinziehenden Unterhaltung entfliehen. Er lief zu Polina, von einer Unruhe erfüllt, wie er sie bis zu dieser Stunde noch nicht empfunden hatte, und in der Vorahnung eines außergewöhnlichen Ereignisses.
»Ach . . .« sagte Polinas Köchin, als Jakow vom Hof aus in die Küche trat, – sagte es und ließ sich dabei schwer auf die Ofenbank sinken.
»Gemeine Kupplerin!« schrie Jakow sie an, blieb vor der ins Zimmer führenden Tür stehen und lauschte den deutlich vernehmlichen Soldatenschritten und der bekannten militärischen Stimme:
»Wir müssen also überlegen, ob so oder nicht? – Überlegen Sie sich's also!«
»Er sagt Sie zu ihr«, stellte Jakow fest. »Vielleicht ist noch gar nichts geschehen?«
Als er aber die Tür öffnete und auf der Schwelle stehen blieb, gewann er sofort die Überzeugung, daß schon alles geschehen war. Der kaltblütige Leutnant stand mit streng gefurchten Brauen mitten im Zimmer, sein Uniformrock war aufgeknöpft, er hielt die Hände in den Taschen, unter dem Rock sahen die Hosenträger hervor, die an der einen Seite nicht am Hosenknopf befestigt waren. Polina saß mit gekreuzten Beinen auf der Chaiselongue, der Strumpf war auf dem einen Fuß wie eine Schraube heruntergerutscht, ihre lebhaften Augen waren außergewöhnlich rund, und das vom Blut durchströmte Gesicht rötete sich immer mehr.
»N–nun?« fragte der kaltblütige Leutnant und bestätigte durch seine Frage endgültig alle Verdächtigungen Jakows. Der machte einen Schritt nach vorwärts, warf den Hut auf einen Stuhl und sagte mit einer ihm fremden, versagenden Stimme:
»Ich komme vom Begräbnis . . . von der Leichenfeier . . .«
»So–o?« antwortete der Leutnant fragend, im Tone des Hausherrn. Polina zog derart an ihrer Zigarette, daß sie knisterte, und sagte, – nicht schuldbewußt, sondern nachlässig – indem sie den Rauch ausblies:
»Ippolit Sergejewitsch redet mir zu, Krankenschwester zu werden . . .«
»Krankenschwester? So?« sagte Jakow lächelnd. Jetzt machte der kaltblütige Leutnant einen Schritt zu ihm hin und fragte mit Betonung:
»Was bedeutet dieses Lächeln? Bitte nicht zu vergessen: ich liebe k–keine Übertreibungen! Ich dulde sie nicht!«
In diesen zwei, drei Minuten fühlte Jakow sich von heißer Kränkung und von Zorn durchströmt; das verging und hinterließ in ihm das niederdrückende und beinahe traurige Bewußtsein, daß diese kleine Frau für ihn ebenso notwendig war wie irgendein Teil seines Körpers, und daß er es nicht zulassen konnte, daß man sie von ihm losriß. Diese Gewißheit weckte von neuem seinen Zorn; es überlief ihn kalt, er erhob sich und steckte die Hände in die Taschen:
»Komm mir nicht nahe!« warnte er den Leutnant und fühlte, wie seine Augen derart aus den Höhlen traten, daß sie schmerzten.
»W–warum denn?« fragte der Leutnant und machte noch einen Schritt. Seine widerwärtige Manier, einzelne Laute der Worte zu verdoppeln, hatte Jakow stets mißfallen, – in diesem Augenblick brachte sie ihn aber zur Raserei. Er wollte die Hand aus der Tasche ziehen und schrie:
»Ich schlag dich tot!«
Leutnant Mawrin packte ihn bei der Hand und preßte sie in qualvoller Weise am Gelenk zusammen, der Revolver gab einen dumpfen Schuß in die Tasche ab, worauf Jakows Arm mit scharfem Schmerz im Ellbogen zu zerbrechen schien und die Hand aus der Tasche gerissen wurde. Der Leutnant nahm ihm den Revolver aus den Fingern, warf ihn auf einen Sessel und sagte:
»Mißglückt!«
»Jascha, Jascha!« hörte Artamonow laut flüstern. »Ippolit Sergejewitsch! Meine Herren! Seid ihr verrückt? Wozu das? Das ist ja ein Skandal! Wozu das?«
»N–nun?« sagte dröhnend laut der kaltblütige Leutnant, indem er Jakow beim Bart packte, ihn nach unten zog und ihn auf diese Weise zwang, sich vor ihm zu verneigen. »Bitte um Verzeihung, du Dummkopf!«
Bei jedem Wort, die langen in zwei Hälften teilend, zog er den Bart nach unten und ließ ihn durch einen leichten Schlag auf das Kinn wieder hochgehen.
»Ach, welche Schande, ach!« flüsterte Polina und packte den Leutnant beim Ellbogen.
Jakow konnte die rechte Hand nicht bewegen, er stieß aber, mit fest aufeinander gepreßten Zähnen, den Leutnant mit der Linken weg; er stöhnte und über seine Wangen rannen Tränen der Erniedrigung.
»Wage nicht mich anzurühren!« brüllte der Leutnant, stieß ihn weg und setzte ihn auf den Sessel, auf dem der Revolver lag.
Da erstarrte Jakow, die Hände vor dem Gesicht und die Tränen verbergend, in einer halben Ohnmacht und hörte, durch das Dröhnen im Kopf hindurch, kaum noch Polinas Geschrei.
»Mein Gott, wie unfein ist das! Und das tun Sie, Sie! Ein derartiger Skandal! Weswegen?«
»Scheren Sie sich zum Teufel, Fräulein!« sagte der Leutnant mit eherner Stimme. »Da haben Sie einen Rubel für das Vergnügen, d–das genügt! Ich vertrage keine Übertreibungen, Sie sind aber etwas ganz Gewöhnliches . . .«
Der Leutnant stampfte mit seinen schweren Fußtritten auf den Fußboden, schlug die Tür zu, verschwand, und es blieb nur das leise Klirren des Zylinders der Hängelampe und Polinas kurzes Aufkreischen. Jakow erhob sich auf die schlaffen Füße, die sich unter ihm bogen, sein ganzer Körper zitterte wie vor Frost; mitten im Zimmer unter der Lampe stand Polina mit offenem Munde; sie stöhnte heiser, indem sie auf den schmutzigen Schein in ihrer Hand blickte.
»Du Aas!« sagte Jakow. »Warum hast du das getan? Und dabei hast du noch gesagt . . . Totschlagen sollte man dich . . .« Sie sah ihn an, warf den Schein auf die Erde und sagte heiser und erstaunt, in gedehntem Tonfall:
Sie sank auf den Sessel, beugte sich herab und faßte sich mit den Händen am Kopf; Jakow schlug sie aber mit der Faust auf die Schulter und rief:
»Laß mich! Gib den Revolver her! . . .«
Sie fragte unbeweglich und noch ebenso erstaunt:
»Du liebst mich also?«
»Ich hasse dich!«
»Du lügst! Du liebst mich jetzt!«
Sie sprang so schnell auf ihn hinauf, daß Jakow sie nicht mehr zurückstoßen konnte; sie umfaßte seinen Hals und flüsterte mit wilder Hartnäckigkeit, indem sie ihn mit beißenden Küssen versengte und ihm heiß in die Augen und in den Mund atmete:
»Du lügst, du liebst mich, du liebst mich! Und ich dich auch! Ach, du mein Weicher, mein Salziger . . .«
»Salziger«, das von ihr bevorzugte Kosewort wurde von ihr nur in Augenblicken außerordentlich heftiger Erregung ausgesprochen und berauschte Jakow so sehr, daß er in einen Zustand süßer, zärtlicher Tollheit geriet. Das geschah auch in diesem Augenblick; er drückte, kniff und küßte sie und murmelte atemlos:
»Du Ekel! Du Nichtsnutzige! Du weißt ja . . .«
Eine Stunde später saß er auf der Chaiselongue, sie lag auf seinen Knien; er wiegte sie und dachte erstaunt:
»Wie schnell das alles gegangen ist! . . .«
Und sie sprach ermüdet:
»Ich war erbittert und wollte dich verlassen. Du beschäftigst dich immerzu mit den Deinigen, beerdigst sie, – und ich langweile mich. Und dann wußte ich nicht, ob du mich liebst? Jetzt wirst du mich mehr lieben, denn du wirst eifersüchtig sein. Wenn die Eifersucht wach wird . . .«
»Wenn man von hier weg könnte«, sagte Jakow müde.
»Ja. Nach Paris! Ich kann Französisch.«
Sie zündeten kein Licht an; im Zimmer war es dunkel und schwül. Auf der Straße schrien die Reservisten und die Frauen, trotz der späten Stunde, – es war schon nach Mitternacht.
»Jetzt kann man nicht ins Ausland reisen, dort ist Krieg«, erinnerte sich Jakow. »Es ist Krieg, der Teufel hole sie . . .«
Sie begann von neuem:
»Ohne Eifersucht lieben nur Hunde. Sieh dich doch um: alle Dramen, alle Romane – alles geschieht aus Eifersucht . . .«
Jakow lächelte und zuckte zusammen:
»Der Revolver hat gut geschossen, die Kugel hätte mich ins Bein treffen können, es hat aber nur die Hose ein kleines Loch abbekommen.«
Polina steckte den Finger in das Loch und sagte plötzlich aufschluchzend, mit stillem, aber grimmigem Zorn:
»Ach wie schade, daß du nicht mehr auf ihn schießen konntest! Du hättest seinen steifen Gummibauch treffen sollen!«
»Schweig!« sagte Jakow, sie fest schüttelnd. Sie fuhr aber fort, ebenso grimmig durch die Zähne zu zischen:
»Der Schuft! Wie er mich beschimpft hat! Wie ihr alle seid . . . Ihr versteht alle nichts von Frauen!«
Sie schob die verschwollenen Lippen hoch, zeigte ihre fest aufeinander gepreßten Fuchszähne und fügte hinzu:
»Wenn eine Frau untreu wird, bedeutet das noch lange nicht, daß sie nicht mehr liebt!«
»Schweig! sage ich!« schrie Jakow und drückte sie so, daß sie aufstöhnte.
»Oh, jetzt fühle ich, daß du mich liebst! Jascha, mein Salziger . . .«
Er verließ sie beim Morgengrauen mit dem leichten Gang eines Menschen, der fühlt, daß er in einem gefährlichen Spiel etwas Wertvolles gewonnen hat. Der stille Feiertag, der in seiner Seele herrschte, wurde noch dadurch erhöht, daß, als er beim Weggehen Polina um den von ihr versteckten Revolver bat, und sie ihn nicht ausfolgen wollte, er sich genötigt sah, ihr zu sagen, er fürchte sich ohne Revolver zu gehen, und ihr den Vorfall mit Noskow zu erzählen. Polinas Erschrecken freute ihn sehr, und ihre Aufregung überzeugte ihn davon, daß er ihr tatsächlich teuer war und von ihr geliebt wurde. Sie ächzte, rang die Hände und begann ihm vorzuwerfen:
»Warum hast du mir nichts davon gesagt?«
Sie überlegte beunruhigt:
»Das ist natürlich sehr interessant – ein Detektiv! Zum Beispiel Sherlock Holmes, – hast du das gelesen? Bei uns sind aber gewiß auch die Detektive Schufte?«
»Natürlich«, bestätigte Jakow.
Als sie ihm den Revolver gab, wollte sie sich vergewissern, ob er gut schoß und überredete Jakow, in die Ofentür zu schießen; Jakow mußte sich mit dem Bauch auf die Erde legen; auch sie legte sich hin; Jakow schoß, der Ofen wehte sie zornig mit Asche an, Polina schrie auf, rollte zur Seite, hob dann die Hand und sagte leise:
»Sieh mal!«
In dem gestrichenen Fußbodenbrett befand sich ein kleines, schiefes, in die Tiefe gehendes Loch.
»Wenn man bedenkt, daß der Tod sich dahinein versteckt hat«, sagte Polina seufzend und zog die fein gezeichneten Brauen zusammen.
Und noch nie hatte Jakow sie so anziehend gesehen und ihre Nähe so gefühlt. Als er von Noskow erzählte, blickten ihre Augen kindlich erstaunt, und in ihrem spitzen Backfischgesicht war gar nichts Böses mehr.
»Sie ist sich keiner Schuld bewußt«, dachte Jakow erstaunt, und das war ihm angenehm.
Beim Hinausbegleiten sagte sie, Jakows Bart streichelnd:
»Ach, Jascha, Jascha! So steht es also! Nun wird es ernst? Ach, mein Gott . . . Aber dieser Schuft!«
Sie preßte die Finger zur Faust zusammen, schüttelte sie empört und klagte:
»Ach Gott, wie viele Schufte gibt es doch!«
Plötzlich packte sie aber Jakows Hand, zog sinnend die Stirne kraus und sagte leise:
»Warte, warte! Hier ist ein Fräulein, ach, natürlich!« Sie begann zu strahlen, bekreuzte Jakow und ließ ihn hinaus.
»Geh, mein Salziger!«
Es war ein kühler, tauiger Morgen; der dem Tagesanbruch vorangehende Wind seufzte, der grünlich-perlfarbene Himmel atmete den Duft von Äpfeln aus.
»Sie hat natürlich nur vor Zorn Unzucht getrieben. Ich muß sie heiraten, sowie der Vater tot ist«, dachte er großmütig, und ihm fielen gleich die komischen Worte des Trösters Serafim ein:
»Jedes Mädchen greift beim Ertrinken nach einem Strohhalm. Bei der Gelegenheit muß man sie fangen!«
Ihn beunruhigte der Gedanke an den kaltblütigen Leutnant, der gar nicht an einen Strohhalm erinnerte; der war wütend und würde ihm wahrscheinlich Unannehmlichkeiten machen. Doch mußte der ja in den Krieg ziehen. Jakow dachte jetzt sogar an Noskow mit mehr Ruhe, wenn er sich auch mißtrauisch umblickte, scharf horchte und den Revolvergriff in der Tasche preßte, – am häufigsten lauerte Noskow ihm gerade in diesen Stunden auf. Als aber zwei Wochen vergingen, wurde Artamonow von neuem von der Furcht vor dem Jäger wie von einer atemberaubenden Rauchwolke erfaßt. Als Jakow am Sonntag den von Woroponow gekauften schlagbaren Wald besichtigte, erblickte er Noskow, der sich gerade, mit Fallen behängt und mit einem Sack auf dem Rücken, durch das Dickicht zwängte.
»Das ist für Sie eine glückliche Begegnung«, sagte er näher kommend und nahm die Mütze ab. Er trug sie auf Soldatenart, den oberen Rand auf die Augenbrauen herabgezogen, und faßte sie beim Grüßen nicht am Schirm, sondern am Teller.
Ohne auf seine seltsame Begrüßung, in der eine Drohung verborgen war, zu antworten, preßte Jakow die Zähne zusammen und packte krampfhaft den Revolver in der Tasche. Auch Noskow schwieg eine Weile, stocherte mit dem Finger im Mützenfutter herum und sah Jakow nicht an.
»Nun?« fragte Artamonow. Noskow hob seine Hundeaugen, glättete sein in die Höhe stehendes, struppiges Haar und sagte mit Betonung:
»Ihre Liebste, das heißt Pelagia Andrejewna, die Polina, hat die Bekanntschaft der Tochter des Popen Sladkopewzew gemacht. Sagen Sie ihr, sie soll das sein lassen.«
»Weshalb?«
»Es wäre besser . . .«
Und der Jäger fügte rasch hinzu, nachdem er eine Weile dem Glockengeläute in der Stadt gelauscht hatte:
»Ich gebe Ihnen den Rat, weil ich Ihnen von Herzen Gutes wünsche. Schenken Sie mir jetzt . . .«
Er sah auf den Himmel und rechnete:
»Fünfunddreißig Rubelchen.«
»Ich sollte den Hund niederknallen!« dachte Jakow Artamonow, indem er das Geld vorzählte.
Der Jäger nahm die Scheine, drehte sich auf den krummen Beinen um, so daß das Eisen der Fallen klirrte, und kroch, ohne die Mütze aufzusetzen, ins Dickicht. Jakow fühlte, daß dieser Mensch ihm noch unangenehmer geworden war und ihn noch mehr bedrückte.
»Noskow!« rief er halblaut, und als dieser, halb von den Tatzen der Tannen versteckt, stehen blieb, riet Jakow ihm:
»Du solltest das lieber lassen!«
»Weshalb?« fragte Noskow, den Kopf versteckend, und Artamonow glaubte in Noskows leeren Augen etwas Ängstliches oder Böses aufleuchten zu sehen.
»Es ist eine gefährliche Sache«, erklärte Jakow.
»Man muß es verstehen«, sagte Noskow, und seine Augen erloschen. »Für jemanden, der es nicht versteht, ist alles gefährlich.«
»Wie du willst.«
»Sie sprechen gegen Ihren eigenen Nutzen.«
»Welcher Nutzen kann denn aus dem Haß entspringen?« murmelte Jakow und bedauerte, daß er sich mit dem Spion in ein Gespräch eingelassen hatte.
»Dieser Idiot räsoniert noch . . .«
Noskow sagte aber in belehrendem Ton:
»Ohne das kann man nicht leben. Jeder hat seinen Haß und seine Not. Auf Wiedersehen!«
Er wandte Jakow den Rücken und brach in das dichte Tannengrün ein. Jakow lauschte, wie er mit den stachligen Zweigen raschelte, und wie die dürren Äste knackten, und ging schnell nach der Lichtung, wo ihn das vor eine Droschke eingespannte Pferd erwartete. Er fuhr rasch in die Stadt zu Polina.
»So ein Schuft!« dachte Polina mit fast freudigem Staunen. »Er hat schon erfahren, daß sie zu mir kommt? Da soll doch einer sagen!«
»Warum machst du solche Bekanntschaften?« warf ihr Jakow böse vor. Sie begann aber ebenfalls böse zu schnattern und zupfte an dem gelben Mullschal auf ihrer Brust herum.
»Erstens geschieht es zu deinem Nutzen! Und zweitens: soll ich mir denn Hunde, Katzen oder Mawrin halten? Ich sitze allein da, wie im Gefängnis, und habe niemanden, mit dem ich auf die Straße gehen könnte. Sie ist aber interessant, sie gibt mir Romane und Zeitschriften, sie beschäftigt sich mit Politik und erzählt mir alles. Wir waren zusammen auf dem Gymnasium der Popowa – später haben wir uns verzankt . . .«
Sie stieß ihn mit dem Finger in die Schulter und sprach immer gereizter:
»Du bildest dir wohl ein, es wäre leicht, so als heimliche Geliebte zu leben? Die Sladkopewzewa sagt, eine Geliebte ist wie eine Gummigalosche, – man braucht sie, wenn es schmutzig ist. So ist es! Sie hat einen Roman mit einem Arzt, und sie verheimlichen das nicht. Du versteckst mich aber wie ein Geschwür, du schämst dich, als ob ich krumm oder bucklig wäre, und ich bin doch wirklich kein Krüppel . . .«
»Warte«, sagte Jakow. »Ich werde dich schon heiraten! Ich meine das ernst, obwohl du ein Schwein bist . . .«
»Es ist noch die Frage, wer von uns schweinischer ist,« rief sie aus und lachte kindlich, indem sie wiederholte: »Schwein, gemein, meine Zunge verheddert sich! Mein Salziger! . . . Mein Lieber! Du bist nicht habgierig! Ein anderer würde schweigen; dieser Spion ist dir ja nützlich . . .«
Jakow verließ sie, wie immer, beruhigt. Sieben Tage später teilte ihm der kleine, pockennarbige, krummnasige Rechnungsführer Jelagin mit, daß, als die Weber beim Morgengrauen mit dem Zugnetz fischten, der Weber Mordwinow beim Versuch, den ertrinkenden Jäger Noskow zu retten, selbst beinahe ertrunken wäre und nun im Krankenhaus liege. Jakow hörte den näselnden Bericht an und saß mit ausgestreckten Beinen da, um seine zitternden Hände tiefer in die Taschen stecken zu können.
»Man hat ihn ertränkt«, dachte er und stellte sich den gutmütigen Mordwinow, einen Menschen mit einem weichen Frauengesicht vor; er konnte nicht glauben, daß dieser Mann imstande wäre, jemanden umzubringen.
»Ein glücklicher Zufall«, dachte er mit einem Seufzer der Erleichterung. Auch Polina gab zu, daß es ein glücklicher Zufall sei.
»So ist es natürlich besser«, sagte sie, ernst die Stirne runzelnd, »denn wenn man ihn irgendwie anders ermordet hätte, würde es Lärm geben.«
Sie bedauerte das aber:
»Es wäre interessanter gewesen, ihn zu fangen, zur Reue zu zwingen und dann aufzuhängen oder zu erschießen. Hast du gelesen . . .«
»Du sprichst Unsinn, Polka«, unterbrach sie Jakow.
Es vergingen einige stille Tage, Jakow fuhr nach Worgorod und kehrte wieder zurück. Miron sagte mit einem besorgten Stirnrunzeln:
»Wir kommen in eine schmutzige Geschichte hinein: nach einer Verordnung aus der Gouvernementsstadt führt Ekke eine Untersuchung darüber, unter welchen Umständen dieser Jäger ertrunken ist. Er hat Mordwinow, Kirjakow und den Heizer Krotow – diesen Hanswurst – verhaftet, alle, die mit dem Jäger gefischt haben. Mordwinow hat ein zerkratztes Gesicht und ein eingerissenes Ohr. Man vermutet wohl etwas Politisches . . . Natürlich nicht in dem eingerissenen Ohr . . .«
Er blieb am Klavier stehen, ließ seine Brille am Finger baumeln und blickte mit zugekniffenen Augen in die Ecke. Er erinnerte in dem zerknitterten Schwedenrock, in den rötlichen Beinkleidern und den bis ans Knie reichenden staubigen Schaftstiefeln an einen Maschinenmeister; seine knochigen, glatt rasierten Wangen und der gestutzte Schnurrbart hatten etwas Militärisches; sein wenig bewegliches Gesicht veränderte sich fast gar nicht, was und wie er auch sprechen mochte.
»Eine idiotische Zeit!« sagte er nachdenklich. »Jetzt sind wir in einen neuen Krieg hineingeraten. Wir führen ihn, wie immer, um die Augen von unserer eigenen Dummheit abzulenken; wir haben nicht die Kraft und verstehen es nicht, gegen die Dummheit anzukämpfen. Alle unsere Aufgaben liegen aber vorläufig im Innern des Reiches. In einem Bauernlande träumt die Arbeiterpartei vom Ergreifen der Macht! In den Reihen dieser Partei befindet sich der Kaufmannssohn Ilja Artamonow, der Angehörige eines Standes, der dazu berufen ist, die große Aufgabe der industriellen und technischen Europäisierung des Landes durchzuführen! Eine Sinnlosigkeit folgt der anderen! Verrat an den Standesinteressen müßte als Kriminalverbrechen bestraft werden! Im Grunde genommen ist es Staatsverrat! . . . Ich verstehe vielleicht noch einen Intellektuellen, wie Gorizwetow, der an nichts gebunden ist, der nicht weiß, wo er hin soll, weil er talentlos und arbeitsunfähig ist und nichts als sprechen und lesen kann. Ich finde überhaupt, daß in Rußland revolutionäre Betätigung die einzige Beschäftigung für unbegabte Menschen ist . . .«
Es schien Jakow, daß Miron beim Sprechen ein mit Menschen gefülltes Zimmer vor sich sah; er kniff die Augen immer mehr zu und schloß sie endlich ganz. Jakow hörte seiner Rede nicht mehr zu und dachte an seine eigenen Angelegenheiten – zu was für Ergebnissen würde die Untersuchung über Noskows Tod führen, und inwiefern würde sie ihn selbst berühren?
Mirons schwangere Frau, die einer Kommode ähnlich sah, trat ein; sie betrachtete ihn und sagte mit müder Stimme:
»Geh, kleide dich um!«
Miron setzte gehorsam die Brille auf die Nase und ging.
Etwa nach einem Monat wurden alle Verhafteten freigelassen. Miron sagte zu Jakow streng und mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete:
»Entlasse sie alle!«
Jakow hatte sich schon längst, und ohne es selbst zu merken, daran gewöhnt, sich dem trockenen Kommando seines Vetters zu unterwerfen. Das war bequem und enthob ihn der Verantwortung in bezug auf die Fabrikangelegenheiten. Er sagte aber trotzdem:
»Wir müssen den Heizer behalten.«
»Weshalb?«
»Er ist lustig und arbeitet hier schon lange. Er amüsiert die Leute.«
»So? Nun, dann behalten wir ihn vielleicht.«
Miron leckte sich die Lippen und sagte:
»Solche Hanswurste sind wirklich ganz nützlich.«
Eine Zeitlang schien Jakow alles gut zu gehen. Der Krieg hatte die Menschen niedergedrückt, alle wurden nachdenklicher und stiller. Er war es aber gewohnt, Unannehmlichkeiten zu ertragen, ahnte, daß sie für ihn noch nicht zu Ende waren und erwartete dunkel neue. Er hatte nicht sehr lange zu warten. In der Stadt erschien wieder Nesterenko mit einer großen Dame am Arm, die Wera Popowa ähnlich sah. Als er Jakow auf der Straße traf, sah er ihn schon von weitem durchdringend an, als er aber näher kam, grüßte er und fragte:
»Können Sie in einer Stunde zu mir kommen? Ich bin bei meinem Schwiegervater. Wissen Sie, meine Frau liegt im Sterben. Ich möchte Sie also bitten – klingeln Sie nicht am Haupteingang, das würde die Kranke stören, gehen Sie über den Hof. Auf Wiedersehen!«
Es war eine schwere und unnatürlich lange Stunde, und als Jakow Artamonow sich in dem mit Bücherschränken angefüllten Zimmer müde auf einen Stuhl setzte, sagte Nesterenko leise und auf irgend etwas lauschend:
»Nun, man hat unseren Freund kalt gemacht. Das ist nicht zu bezweifeln, wenn es auch nicht bewiesen werden konnte. Es ist geschickt gemacht, das muß man anerkennen. Jetzt handelt es sich um folgendes: Die Dame Ihres Herzens, Polina Nasarowa, ist mit Fräulein Sladkopewzewa bekannt, die dieser Tage in Worgorod verhaftet wurde. Ist sie mit ihr bekannt?«
»Ich weiß nicht«, sagte Jakow und geriet auf einmal in Schweiß. Der Gendarm hielt aber die Hand gegen die Nase, betrachtete seine Nägel und sagte sehr ruhig:
»Sie wissen es!«
»Ich glaube, sie ist mit ihr bekannt.«
»Das ist es eben.«
»Was will er nur?« überlegte Jakow und betrachtete mit gerunzelter Stirn das graue, rotgeäderte, flache Gesicht mit der breiten Nase und die trüben Augen, denen schwer lastende Langeweile und scharfer Schnapsdunst zu entströmen schien.
»Ich spreche mit Ihnen nicht amtlich, sondern als guter Bekannter, der auf Ihr Wohl bedacht ist und dem Ihre geschäftlichen Interessen nahe gehen«, vernahm Jakow die etwas heisere Stimme. »Es handelt sich um folgendes, mein teurer . . . Schütze!« Der Gendarm schmunzelte, schwieg eine Weile und erklärte:
»Ich sage – Schütze, weil mir noch ein Fall bekannt ist, bei dem Ihnen der Gebrauch der Schießwaffe mißglückt ist. Ja, sehen Sie also: Fräulein Sladkopewzewa ist mit der Nasarowa, der Dame Ihres Herzens, bekannt. Nun überlegen Sie: niemand außer uns beiden konnte über die Art der Tätigkeit des Jägers Noskow unterrichtet sein. Ich schließe mich aus dieser Kette der Bekanntschaften aus. Noskow war nicht dumm, aber schlapp und . . .«
Nesterenko blickte seufzend unter den Tisch:
»Nichts ist ewig. Jetzt bleiben also Sie übrig . . .«
Es schien Jakow Artamonow, daß aus dem Munde des Offiziers nicht Worte, sondern feine, unsichtbare Schlingen hervorkamen, die sich ihm um den Hals legten und ihn so fest würgten, daß ihm die Brust erkaltete und das Herz stehen blieb. Alles ringsum wogte und heulte wie im Wintersturm. Nesterenko sprach aber absichtlich langsam:
»Ich glaube, ich bin fast überzeugt, daß Sie sich einmal eine gewisse Unvorsichtigkeit beim Sprechen erlaubt haben, nicht wahr? Denken Sie mal nach!«
»Nein«, sagte Jakow leise, da er befürchtete, seine Stimme könnte ihn verraten.
»Stimmt das auch?« fragte der Offizier und fuhr sich mit den roten Fingern über den Schnurrbart.
»Nein,« wiederholte Jakow kopfschüttelnd.
»Seltsam. Sehr seltsam. Es läßt sich aber wieder gutmachen. Es steht so: Noskow muß durch einen eben solchen für Sie nützlichen Menschen ersetzt werden. Bei Ihnen wird ein gewisser Minajew erscheinen. Sie werden ihn aufnehmen, nicht wahr?«
»Gut«, sagte Jakow.
»Das ist alles. Damit ist die Sache erledigt. Ich bitte Sie, seien Sie vorsichtig. Sagen Sie den Damen nichts! Kein Sterbenswörtchen. Verstehen Sie?«
»Er spricht wie zu einem Jungen, wie zu einem Dummkopf«, dachte Jakow.
Dann erzählte der Gendarm von dem bald bevorstehenden herbstlichen Wanderflug der Vögel, vom Krieg und der Krankheit seiner Frau, die jetzt von seiner Schwester gepflegt wurde.
»Wir müssen aber auf noch Ärgeres gefaßt sein«, sagte Nesterenko, faßte sich beim Schnurrbart und hob ihn zu den dicken Ohrläppchen empor, wobei die Oberlippe mitging und die gelben Zähne entblößte.
»Ich muß fliehen«, dachte Jakow. »Er wird mich in etwas verwickeln. Ich muß fort!«
»Der Teufel hole euch alle«, dachte er, längs des Okaufers hinschreitend. »Wozu brauche ich euch? Wozu?«
Ein feiner, den Herbst ankündigender Regen netzte träge die Erde und kräuselte das gelbe Flußwasser; die widerwärtig warme Luft enthielt etwas, das Jakow Artamonows Niedergeschlagenheit noch mehr vertiefte. War es denn in der Tat unmöglich, ruhig und einfach, ohne alle diese unnötigen, sinnlosen Aufregungen zu leben?
Doch die Monate folgten aufeinander wie die Fuhren eines Wagenzuges im winterlichen Schneegestöber, und waren schwer und reich mit außerordentlichen Aufregungen beladen.
Sachar, einer von den Morosows, kehrte mit dem Georgskreuz auf der Brust und mit einem kahlen, verbrannten Kopf voll roter Geschwüre aus dem Kriege zurück; das eine Ohr fehlte, an Stelle der rechten Augenbraue befand sich eine rote Narbe, unter der sich ein zerquetschtes, totes Auge versteckte, während das zweite streng und aufmerksam blickte. Er freundete sich gleich mit dem Heizer Krotow an, und Serafims lahmer Schüler spielte und sang:
»Der Regen fällt, ich muß im Kot,
Im Schützengraben liegen
Und helfen, ach, ich Idiot,
Europa bei den Siegen!«
Jakow fragte Morosow:
»Nun, Sachar, führen wir schlecht Krieg?«
»Wir haben nichts, um ihn gut zu führen,« erwiderte der Weber. Er hatte eine frech bellende Stimme, und in seinen Worten erklang dieselbe tollkühne Schamlosigkeit wie in dem Liedchen des Heizers.
»Wir haben keinen Herrn, Jakow Petrowitsch,« sagte er seinem Prinzipal ins Gesicht. »Bei uns wirtschaften lauter Spitzbuben.«
Dieser Mensch und Waska, der Heizer, machten sich eben so bemerkbar wie angezündete Laternen im Dunkel der Herbstnacht.
Als Tatjanas lustiger Mann ein Beinkleid mit einem lächerlich weiten Hosenboden von derselben Farbe wie Sachars morscher Soldatenmantel, anzog, sah ihn der Heizer an und sang:
»Seht doch diese Höschen bloß!
Jeder sucht sich selbst sein Heil:
Dem einen wächst der Kopf recht groß,
Dem andern nur sein Hinterteil!«
Zu Jakows Erstaunen war der Schwager über diesen Spott nicht beleidigt, sondern lachte laut und spornte den Heizer sichtlich zu weiterem Mutwillen an. Auch die Arbeiter lachten. Die ganze Fabrik begann zu grölen, als Sachar Morosow ein zottiges Hündchen auf den Hof mitbrachte, das einen buschigen, unternehmend auf den Rücken geringelten Schwanz hatte, an dessen Ende mit Bast ein baumelndes weißes Georgskreuz festgebunden war. Miron duldete diesen Unfug nicht, Sachar wurde von der Polizei verhaftet, und das Hündchen kam zu Tichon Wialow.
Durch die Straßen der Stadt gingen lahme, blinde, armlose und auf verschiedene Art verstümmelte Menschen in Soldatenmänteln, und alles ringsum nahm die Eiterfärbung ihrer Kleidung an. Die verunstalteten, verkrüppelten Soldaten wurden von den städtischen Damen spazieren geführt, die die magere, dünne, an eine Besenstange erinnernde Wera Popowa kommandierte. Sie wollte auch Polina heranziehen, die schüttelte aber den Kopf, schrie und klagte:
»Ach nein, ich kann nicht! Das ist widerwärtig! Sieh einmal, Jakow, sie sind alle jung, gesund und dabei verkrüppelt. Und wie sie riechen! Ich kann nicht! Höre, laß uns wegfahren!«
»Wohin?« fragte Jakow niedergeschlagen, als er sah, daß seine Liebste immer reizbarer wurde, furchtbar viel rauchte und bitteren Brandgeruch ausatmete. Und überhaupt wurden alle Frauen in der Stadt, und besonders in der Fabrik, immer erbitterter; sie murrten, fauchten und klagten über das teure Leben, ihre Männer verlangten pfeifend Erhöhung der Löhne, arbeiteten aber immer schlechter. Die Siedlung lärmte und brüllte des Abends auf eine neue Weise, laut und zornig.
Unter den Arbeitern tauchte der gesetzte Schlosser Minajew auf, ein etwa dreißigjähriger, schwarzer und wie ein Jude großnasiger Mann; Jakow ging ihm ängstlich aus dem Wege und vermied es, den Blicken des Schlossers zu begegnen, der die Menschen mit seinen dunklen Augen so ansah, als hätte er etwas vergessen und könnte sich dessen nicht erinnern.
Der Vater schob sich als schmutzige Ruine durch den Hof und bewegte mit Mühe die kranken Beine. Jetzt hing auf seinen breiten Schultern ein schäbiger Reisepelz; er hielt die Leute an und fragte streng:
»Wohin gehst du?«
Und wenn man ihm antwortete, winkte er mit der Hand und murmelte:
»Nun, geh nur. Ihr Müßiggänger! Ihr Wanzen, ihr lebt von meinem Blut!«
Sein violettes, aufgedunsenes Gesicht zitterte voll Ekel, und die Unterlippe hing herunter; man mußte sich seinetwegen vor den Leuten schämen. Schwester Tatjana raschelte den ganzen Tag mit ihren Zeitungen und war über etwas so erschreckt, daß sie immer rote Ohren hatte. Miron flog wie ein Vogel in der Gouvernementsstadt, in Moskau und in Petersburg herum; bei seiner Rückkehr stampfte er mit den breiten Absätzen seiner amerikanischen Stiefel herum und erzählte schadenfroh von dem betrunkenen, liederlichen Bauern, der sich wie ein Blutegel an den Zaren angesaugt hatte.
»Ich glaube nicht daran, daß es einen solchen Bauern wirklich gibt!« sagte eigensinnig die halbblinde Olga, die neben der Schwiegertochter auf dem Sofa saß, wo deren zweijähriger Sohn Platon herumrutschte und schrie. »Man hat es absichtlich erfunden, um ein Beispiel zu haben . . .«
»Das ist merkwürdig!« verkündete Tatjanas lustiger Mann. »Das ist staunenswert! Das Dorf rächt sich! Nicht wahr?«
Er rieb sich freudig die fetten, rothaarigen Hände. Er allein erwartete mit Sicherheit irgendein Fest.
»Mein Gott!« rief Tatjana ärgerlich aus. »Was freut dich! Ich verstehe es nicht!«
Mitja öffnete erstaunt den Mund und prophezeite:
»Wie? Du verstehst es nicht? Verstehe es doch! Das Dorf rächt sich für all das, was es erduldet hat! Es hat sich in der Person jenes Bauern ein zerstörendes Gift geschaffen . . .«
»Erlauben Sie!« sagte Miron, das Gesicht verziehend. »Sie haben noch vor kurzem ganz anders gesprochen . . .«
Aber Mitja flüsterte eindringlich, beinahe außer sich, und verschluckte sich an den Worten:
»Das ist ein Symbol und kein gewöhnlicher Bauer! Die da haben vor drei Jahren das dreihundertjährige Jubiläum ihrer Macht gefeiert, und nun . . .«
»Unsinn«, sagte Miron schroff, Doktor Jakowlew lächelte wie immer; Jakow Artamonow aber dachte daran, was wohl wäre, wenn diese Worte zu dem Gendarmen Nesterenko dringen würden . . .
»Wozu sagt ihr das alles?« fragte er. »Was kommt dabei heraus?«
Und er redete gut zu:
»Hört auf!«
Er bemerkte, daß auch Miron ungewöhnlich zerstreut und aufgeregt war, und das verstimmte Jakow ganz besonders. Letzten Endes blieb unter all den Menschen nur Mitja der alte; er drehte sich noch immer wie ein Kreisel, sprühte von Scherzen, spielte des Abends Gitarre und sang:
»Meine Frau ist im Grab . . .«
Tatjana gefielen aber seine Lieder nicht mehr.
»Pfui, wie ich das satt habe!« sagte sie und ging zu den Kindern.
Mitja verstand es, die Arbeiter geschickt zu beruhigen; er riet Miron, in den Dörfern Mehl, Grütze, Erbsen und Kartoffeln aufzukaufen und zum Selbstkostenpreis, nur Transport und Fehlgewicht anrechnend, an die Arbeiter abzulassen. Den Arbeitern gefiel das, und es wurde Jakow klar, daß die Fabrik dem lustigen Menschen mehr als Miron glaubte, und er sah, daß Miron immer häufiger mit Tatjanas Mann stritt . . .
»Sie wollen den Mantel nach dem Wind drehen?« fragte Miron mit Betonung und offenem Ärger. Mitja erwiderte aber lächelnd:
»Der Wille des Volkes ist . . . das Recht des Volkes . . .«
»Ich frage: wer sind Sie eigentlich?« schrie Miron.
»Ihr habt genug gebrüllt,« brummte Pjotr Artamonow, aber Jakow sah in den trüben Augen des Vaters Funken des Vergnügens aufflammen; es macht dem Alten Freude, zu sehen, wie der Schwiegersohn und der Neffe streiten, er schmunzelt, wenn er Tatjanas gereiztes Kreischen hört, und wenn die Mutter schüchtern bittet:
»Schenke mir noch ein Täßchen ein, Tatjana . . .«
Alle neuen Ereignisse waren aufregend und tauchten irgendwie, plötzlich und ohne Zusammenhang mit dem Vorhergehenden auf. Plötzlich erkältete sich die gänzlich erblindete Tante Olga und starb nach achtundvierzig Stunden; einige Tage nach ihrem Tode waren die Stadt und das Werk wie vom Donner gerührt: der Zar hatte auf den Thron verzichtet . . .
»Was soll denn jetzt werden? Kommt nun die Republik?« fragte Jakow den Vetter, der die Nase freudig in die Zeitung gesteckt hatte.
»Natürlich kommt die Republik!« antwortete Miron über den Tisch gebeugt. Er stützte sich mit den Handflächen so fest auf das ausgebreitete Zeitungsblatt, daß das Papier sich spannte und plötzlich mit einem Knall platzte. Jakow hielt das für ein böses Vorzeichen, Miron richtete sich aber auf, mit einem ganz ungewöhnlichen Gesicht, und sagte mit einer fremden, lauten, aber freundlichen Stimme:
»Jetzt beginnt die Gesundung und Erneuerung Rußlands – jawohl!«
Und er hob die Arme hoch, als wollte er Jakow umarmen, ließ aber gleich darauf den einen Arm sinken und schob sich mit dem zweiten, den er eine Weile ausgestreckt gehalten hatte, den Kneifer zurecht, dann streckte er wieder den Arm aus, sah dabei einem Semaphor ähnlich und erklärte, er würde gleich morgen abend nach Moskau reisen.
Mitja fuchtelte auch wie ein erfrorener Droschenkutscher mit den Armen und schrie:
»Jetzt wird alles ausgezeichnet gehen; jetzt wird das Volk endlich sein mächtiges Wort sprechen, das schon längst in seiner Seele gereift ist!«
Miron stritt nicht mehr mit ihm, er leckte sich mit einem nachdenklichen Lächeln die Lippen, und Jakow sah, daß es tatsächlich so war: alles ging ausgezeichnet, alle freuten sich. Mitja erzählte auf der Treppe den auf dem Hof versammelten Arbeitern, was in Petersburg vorging, die Arbeiter schrien hurra, packten dann Mitja an Armen und Beinen und begannen ihn in die Luft zu schleudern. Mitja kauerte sich zu einem Knäuel und zu einem großen Ball zusammen und flog sehr hoch hinauf, während Miron, der auch hochgeschleudert wurde, in der Luft zu zerbrechen schien, als würden ihm Arme und Beine abgerissen. Mitja wurde von einem Haufen alter Arbeiter umringt und der riesengroße, sehnige Weber Gerasim Woinow schrie ihm ins Gesicht:
»Mitri Pawlow, du bist ein umgänglicher Mensch, ein umgänglicher Mensch, hast du verstanden? Kinder, ein Hurra für ihn!«
Man schrie hurra, und der Heizer Waska ließ seinen kahlen Schädel erglänzen, tanzte und brüllte wie ein Betrunkener:
»Ach, die Leute saßen so weit
Von des Zaren Throne!
Doch als sie ihm nahten mit der Zeit,
Da trug eine Krähe die Krone!«
»Nur weiter, Waska!« spornte man ihn an.
Auch Jakow sollte hochgeschleudert werden, er lief aber davon und versteckte sich im Hause, da er überzeugt war, daß die Arbeiter ihn nicht wieder auffangen würden und er sich auf der Erde totfallen würde. Als er abends im Kontor saß, hörte er auf dem Hof vor dem Fenster Tichons Stimme:
»Warum hast du mir den Hund weggenommen? Verkaufe ihn mir! Ich werde aus ihm etwas Anständiges machen.«
»Ach, Alter, ist denn jetzt die rechte Zeit, um Hunde zu erziehen?« erwiderte Sachar Morosow.
»Was willst du mit ihm anfangen? Verkauf ihn mir, nimm einen Rubel. Nun?«
»Laß mich in Ruhe.«
Jakow sah aus dem Fenster und fragte:
»Was sagst du zu dem Zaren, Tichon?«
»Ja«, antwortete der Alte, sah um die Ecke des Hauses und pfiff leise:
»Man hat den Zaren gestürzt!«
Tichon bückte sich, zog den Schaft des Stiefels hoch und sprach in die Erde hinein:
»Nun sind sie nicht mehr zu halten. Das hatten Antons Worte zu bedeuten: ›der Reisewagen hat ein Rad verloren!‹ . . .«
Er richtete sich auf und bog um die Ecke des Hauses, indem er halblaut rief:
»Tulun, Tulun . . .«
Fröhliche Wochen folgten wie im Reigen aufeinander; Miron, Tatjana, der Arzt, alle Leute wurden zueinander freundlicher; es erschienen unbekannte Leute aus der Stadt und holten den Schlosser Minajew fort. Dann kam ein sonniger, heißer Frühling.
»Höre, Salziger,« sagte Polina, »ich verstehe doch nicht, wie das ist? Der Zar weigert sich zu regieren, man hat alle Soldaten verstümmelt oder getötet; man hat die Polizei verjagt, es kommandieren irgendwelche Zivilpersonen herum, – wie soll man jetzt leben? Jeder Teufel wird tun, was er will und Shitejkin wird mich bestimmt nicht in Ruhe lassen. Sowohl er, wie alle anderen, die mir den Hof machten und die ich abwies . . . Ich will und kann jetzt, wo alle gleich sind, nicht mehr hier bleiben, ich muß irgendwo leben, wo mich niemand kennt! Und dann: wenn man die Revolution schon gemacht hat und die Freiheit erlangt hat, ist es doch natürlich deswegen geschehen, damit jeder so lebt, wie es ihm gefällt!«
Polina sprach immer beharrlicher und weitschweifiger. Jakow fühlte in ihren Worten etwas Unwiderlegbares und beruhigte sie:
»Warte noch ein wenig. Wenn sich alles etwas gelegt haben wird, dann . . .«
Er glaubte aber nicht mehr daran, daß die Aufregung ringsum sich legen würde, er sah, wie der Lärm in der Fabrik mit jedem Tage dichter emporwallte und drohender wurde. Ein Mensch, der sich an die Furcht gewöhnt hat, wird immer einen Grund dafür finden; Jakow erschreckte jetzt der verbrannte Schädel von Sachar Morosow, Sachar ging wie ein kleiner Zar herum, die Arbeiter folgten ihm, wie die Hammel dem Schäferhund, und Mitja flog wie eine zahme Elster um ihn herum. Morosow hatte tatsächlich eine Ähnlichkeit mit einem großen Hund, der auf den Hinterbeinen gehen kann. Die verbrannte Haut auf seinem Schädel war wohl gesprungen, und er umwickelte sich manchmal den Kopf mit Tatjanas Frottierhandtuch, das ihm Mitja gab, wie mit einem Turban; der ungeheure Kopf, der Sachar beschwerte, ließ ihn kleiner erscheinen; er schritt ebenso wichtig wie der dicke Unterisprawnik Ekke einher, hielt seine Daumen hinter dem Gürtel der abgetragenen Soldatenhose, bewegte die übrigen Finger wie ein Fisch seine Flossen und schrie:
»Genossen, haltet Ordnung!«
Er hielt über drei Burschen wegen eines Leinwanddiebstahls Gericht. Er fragte die Diebe so laut, daß man es auf dem ganzen Hof hörte:
»Versteht ihr, bei wem ihr gestohlen habt?«
Und er antwortete selbst:
»Ihr habt bei euch, bei uns allen gestohlen! Darf man denn jetzt noch stehlen, ihr Hundsfotte?«
Er befahl die Diebe durchzuprügeln, und zwei Arbeiter peitschten sie mit Genuß mit Weidenruten durch, während der Heizer Waska wie außer sich sang und dazu tanzte:
»So wird das Gesindel bei uns jetzt traktiert!
Der Richter will's so, der gerechte . . .«
Er blieb stecken, murmelte irgend etwas, fuhr mit den Händen herum und schrie plötzlich:
»Beschütze, o Herr, deine Knechte!«
Mitja rief:
»Bravo–o!«
Mitja lief in grauen Hosen und mit einer in den Nacken geschobenen Ledermütze herum, auf seinem rötlichen Gesicht glänzte der Schweiß, und aus den Augen strahlte grünlich berauschte Freude. Gestern nacht hatte er sich ernstlich mit seiner Frau gezankt; Jakow hatte im Garten aus ihrem Zimmer erst lautes Geflüster und dann Tatjanas nicht mehr zurückgehaltenes Geschrei gehört:
»Sie sind ein Clown! Sie sind ein ehrloser Mensch! Ihre Überzeugungen? Bettler haben keine Überzeugungen. Das ist alles erlogen! Vor einem Monat waren deine Überzeugungen . . . Genug! Morgen fahre ich in die Stadt zu meiner Schwester . . . Ja, ich nehme die Kinder mit . . .«
Das überraschte Jakow nicht, er hatte schon längst gesehen, daß der rothaarige Mitja zu einem immer widerwärtigeren Menschen wurde. Jakow war nur erstaunt und sogar ein wenig stolz, daß er als erster die Unzuverlässigkeit des Rothaarigen erkannt hatte. Und jetzt murrte selbst die Mutter, die Mitja noch vor kurzem ebenso wie einen ihrer Hähne geliebt hatte:
»Was ist es denn bloß, man kann ja mit ihm gar nicht mehr auskommen, als wäre er ein Judenjunge! Und da soll man sie noch füttern! . . .«
Mitja schrie:
»Alles ist ausgezeichnet! Das Leben ist eine schöne Frau mit einem klugen Kopf! Man muß aber die Fabeln vom friedlichen Zusammenleben der Wölfe und der Schafe vergessen, Tatjana Petrowna! Das kommt zu spät!«
Miron fragte ihn erbost und trocken:
»Und was werden Sie erklären?«
»Was das Leben mir eingeben wird! Jawohl! Nun, und was weiter?«
Tatjana und Miron gingen so vorsichtig um Mitja herum, als wäre er mit Ruß beschmutzt. Und nach einigen Tagen übersiedelte Mitja in die Stadt und nahm seine ganze Habe: drei große Bücherbündel und einen Korb mit Wäsche mit.
Jakow beobachtete überall ein sinnloses Durcheinander wie bei einem Feuer; alle Menschen waren vom Dunst offenkundiger Dummheit umfangen, und nichts verhieß diesen wahnsinnigen Tagen ein nahes Ende.
»Nun,« sagte er zu Polina, »ich habe mich entschlossen: wir wollen fort! Zuerst nach Moskau, und dann wollen wir weiter überlegen . . .«
»Endlich!« freute sie sich, umarmte und küßte ihn.
Der Juliabend erfüllte den Garten mit rötlichem Dunkel und ließ den schweren Geruch der vom Regen durchnäßten und von der Sonne erwärmten Erde durch die Fenster dringen. Es war schön, aber traurig.
Jakow löste Polinas feuchte, heiße Hände von seinem Hals und sagte sinnend:
»Deck' dir die Brust zu . . . Überhaupt – zieh dich an! Wir müssen ernster sein.«
Sie sprang von seinen Knien auf die Erde, war in zwei Sätzen beim Bett, hüllte sich in den Schlafrock und setzte sich mit sachlicher Miene neben ihn.
»Siehst du,« begann Jakow und rieb sich den Bart auf der Wange so fest, daß die Haare knisterten, »wir müssen uns alles überlegen und einen Ort und ein Land aussuchen, wo es ruhig ist. Wo man nichts zu verstehen und wo man nicht über fremde Angelegenheiten nachzudenken braucht. Das ist es!«
»Gewiß!« sagte Polina.
»Wir müssen alles vorsichtig einrichten. Miron sagt, die Züge sind von flüchtigen Soldaten überfüllt. Wir müssen uns arm stellen . . .«
»Nimm möglichst viel Geld mit.«
»Nun ja, gewiß. Ich will es so einrichten, daß bei mir zu Hause niemand weiß, wohin ich fahre. Ich will so tun, als ob ich nach Worgorod reise, – verstehst du?«
»Warum müssen wir das verheimlichen?« fragte Polina erstaunt und mißtrauisch.
Er wußte selbst nicht, warum; dieser Gedanke war ihm eben erst gekommen; er fühlte aber, daß er richtig war.
»Ja, weißt du, der Vater und Miron kämen mit Fragen . . . Das alles ist überflüssig. Das Geld befindet sich in Moskau, ich kann mir viel gutes Geld verschaffen.«
»Aber nur recht bald!« bat Polina. »Du siehst, ich kann so nicht weiter leben. Alles ist teuer, und man bekommt nichts. Er wird auch gewiß zu Plünderungen kommen, denn wie sollen die Leute leben?«
Sie sah sich nach der Tür um und flüsterte:
»Die Köchin war zum Beispiel früher gutmütig, und jetzt ist sie frech und wie betrunken. Sie kann mich im Schlaf erstechen. Warum sollte sie es auch nicht tun, wenn alles so verworren ist? Gestern hörte ich, daß sie mit jemandem flüsterte. Mein Gott, dachte ich, jetzt kommt es! Ich öffne leise die Tür und sehe, daß sie auf den Knien liegt und brüllt! Entsetzlich!«
»Warte«, unterbrach Jakow den raschen Strom ihres aufgeregten Geflüsters. »Zuerst reise ich ab . . .«
»Nein«, sagte sie laut und schlug sich mit ihrer kleinen Faust aufs Knie. »Zuerst fahre ich! Du gibst mir Geld und . . .«
»Traust du mir denn nicht?« fragte er gekränkt und zornig und erhielt die bestimmte Antwort:
»Ich traue dir nicht. Ich bin ehrlich und sage gerade heraus: Nein! Wie kann man denn jetzt noch etwas glauben, wenn alle den Zaren verraten haben und alles verraten? Glaubst du denn jemandem?«
Sie sprach überzeugt, und noch überzeugender wirkte ihre Brust in den Falten des zurückgeschlagenen Schlafrocks. Jakow Artamonow gab ihr nach: es wurde beschlossen, daß sie gleich morgen ihre Vorbereitungen treffen und nach Worgorod reisen sollte, wo sie ihn erwarten würde.
Schon am nächsten Tag begann Jakow über Schmerzen im Magen und Kopf zu klagen, was durchaus wahrscheinlich klang; in den letzten Monaten war er sehr abgemagert, war schlaff und zerstreut geworden, und seine regenbogenfarbigen Augen hatten sich getrübt. Und acht Tage später fuhr er auf der Chaussee von der Stadt zur Eisenbahnstation; langsam kam er vorwärts, der Wagen fuhr am Rande der zerfahrenen Straße. Zwischen tiefen, vertrockneten, von Rissen durchzogenen Räderspuren ragten lockere Steine in die Höhe. Hinter ihm blieb ein ebenso zerfahrenes und zerwühltes Leben zurück, und vor ihm leuchtete aus einer sanften Vertiefung im Mittelpunkt der dunstigen Wolken als weißlicher Fleck die tote Sonne hervor.
Als Miron Artamonow einen Monat später aus Moskau zurückkehrte, sagte er, den Kopf senkend und seine Handfläche betrachtend, zu Tatjana:
»Ich muß dir etwas Trauriges mitteilen. In Moskau erschien bei mir jene vulgäre Person, mit der Jakow ein Verhältnis hatte, und erzählte mir, irgendwelche Menschen, – nun, was für Menschen gibt es denn jetzt? – hätten ihn verprügelt und aus dem Waggon hinausgeworfen . . .«
»Nein!« schrie Tatjana auf und versuchte vom Stuhl aufzustehen.
». . . während der Zug in Bewegung war. Er starb nach zwei Tagen und wurde von ihr auf einem Dorffriedhof nahe der Station Petuschki beerdigt.«
Tatjana preßte sich schweigend das Taschentuch an die Augen, ihre spitzen Schultern bebten, und das schwarze Kleid floß an ihnen herab, als beginne diese magere Frau mit dem langen Hals sich aufzulösen.
Miron schob sich den Kneifer zurecht, seine Finger knackten, er rieb sich die Hände, hörte dem Läuten der einsamen, die Abendmesse ankündigenden Glocke zu und sagte dann, durch das Zimmer schreitend:
»Was soll das Weinen? Er war, unter uns gesagt, ein gänzlich unnützer Mensch. Und er war bis zur Unanständigkeit dumm, verzeih! Es ist natürlich bedauerlich. Ja.«
»Mein Gott!« sagte Tatjana, mit den geröteten Lidern blinzelnd, und Strich sich mit dem angefeuchteten Finger über die Augenbrauen.
»Dieses flotte Fräulein,« fuhr Miron fort, die Hände in die Taschen steckend, »mimt ziemlich ungeschickt die trauernde Witwe; sie ist aber so schick gekleidet, daß es klar ist: sie hat Jakow ausgeraubt. Sie sagt, sie hätte an uns nach hier geschrieben!«
Tatjana schüttelte verneinend den Kopf.
»Nein? Das dachte ich mir. Ich meine, wir dürfen den Eltern nichts davon sagen; sie mögen glauben, daß Jakow noch lebt. Nicht wahr?«
»Ja, das wäre besser,« stimmte Tatjana zu.
»Der Onkel scheint übrigens nichts mehr zu verstehen, aber Jakows Mutter würde sich totweinen.«
Tatjana wiegte den Kopf und sagte:
»Bald gehen wir alle zugrunde.«
»Vielleicht, – wenn wir hier bleiben. Ich schicke aber unverzüglich meine Frau und die Kinder von hier fort. Ich rate auch dir, zu verschwinden ohne abzuwarten, bis Sachar Morosow . . . Also: wir sagen den Alten nichts davon. Nun, entschuldige mich, ich muß nach Hause, meine Frau ist unwohl . . .« Er schüttelte mit seinen langen Fingern die Hand seiner Kusine und ging mit den Worten:
»Es ist jetzt unglaublich schwer zu reisen, die Straßen sind in einem furchtbaren Zustand!«
Pjotr Artamonow lebte wie im Halbschlummer und versank langsam in immer tieferen Schlaf. Er verbrachte die Nacht und einen großen Teil des Tages im Bett, die übrige Zeit saß er im Lehnstuhl am Fenster; vor dem Fenster war blaue Leere, die manchmal durch Wolken bekleckst wurde; im Spiegel erschien das Bild eines dicken Alten, mit einem aufgedunsenen Gesicht, mit verschwommenen Augen und den Büscheln eines grauen Bartes. Artamonow betrachtete sein Gesicht und lachte:
Seine Frau kam, beugte sich über ihn, zupfte ihn und greinte:
»Du mußt fort, du mußt in ärztliche Behandlung . . .«
»Geh,« sagte Artamonow träge. »Geh, du Stute! Ich habe dich satt. Gib Ruhe . . .«
Und wenn er allein blieb, lauschte er dem Feiertagslärm der Leute auf dem Hof, im Garten, überall. Das Werk schwieg aber.
Sein altgewohnter Gesellschafter, der betrogene Mann, der Artamonow durch die Nadelstiche seiner Gedanken belebt hatte, war verschwunden und gestorben. Und er hatte gut daran getan, – das Denken fiel dem Alten schwer, er hatte auch keine Lust mehr dazu, er hatte auch schon längst begriffen, daß das Denken zwecklos war, weil man doch nichts verstehen konnte. Wohin waren alle verschwunden: Jakow, Tatjana, der Schwiegersohn?
Manchmal fragte er seine Frau:
»Ist Ilja zurückgekehrt?«
»Nein.«
»Noch nicht?«
»Nein.«
»Und Jakow?«
»Auch Jakow nicht.«
»So. Sie amüsieren sich. Und Miron saugt die Fabrik aus.«
»Denk' nicht dran!« riet Natalia.
»Geh!«
Sie ging in eine Ecke, saß dort und betrachtete mit trüben Augen den gewesenen Menschen, an den sie ihr ganzes Leben vergeudet hatte. Ihr Kopf zitterte, ihre Hände bewegten sich unsicher, als wären sie verrenkt; sie war abgemagert und wie eine Talgkerze zerschmolzen.
Ab und zu, aber immer häufiger, wurde Pjotr Artamonow durch einen unverständlichen Trubel im Hause geweckt; es erschienen fremde Menschen, er betrachtete sie und bemühte sich, ihre lauten, irren Reden zu verstehen, er hörte das Wehklagen seiner Frau:
»Mein Gott, was ist denn das? Warum denn? Er ist doch der Herr, wir sind die Besitzer! Laßt mich ihn wegbringen, er muß in Behandlung, er muß in die Stadt! Ja, laßt mich ihn doch wegbringen . . .«
»Sie will mich verstecken. Warum will sie mich aber verstecken?« überlegte Pjotr Artamonow. »Sie ist dumm. Sie war ihr ganzes Leben dumm. Jakow ist ihr nachgeraten. Und die andern alle. Ilja ist aber mir ähnlich. Wenn er zurückkehrt, wird er alles in Ordnung bringen . . .«
Es regnete, es schneite, der Frost knisterte, der Schneesturm heult und pfiff . . .
Artamonow wurde aus diesem Zustand des Halbschlafs und des Halbwachseins durch ein scharfes Hungergefühl aufgerüttelt. Er sah sich im Garten, in der Laube; durch die Scheiben und zwischen den nassen Zweigen schimmerte ein rötlicher, seltsam naher Himmel, der hier gleich hinter den Bäumen herabzuhängen schien, so daß man ihn mit der Hand berühren konnte.
»Ich will essen,« sagte Artamonow. Er erhielt keine Antwort.
Ein bläulicher, feuchter Nebel erfüllte den Garten; vor der Laube standen zwei Pferde, ein graues und ein dunkles, die sich gegenseitig die Köpfe auf den Hals gelegt hatten; auf der Bank hinter ihnen saß ein Mensch in einem weißen Hemd und entwirrte ein großes Knäuel von Stricken.
»Natalia, hörst du? Gib mir was zu essen!«
Wenn er früher aus der Bewußtlosigkeit erwacht war und seine Frau gerufen hatte, war sie sogleich erschienen. Sie befand sich immer irgendwo in der Nähe, – heute war sie aber nicht da.
»Ist denn das möglich?« dachte Artamonow, und in seinem Kopf wurde es klarer. »Oder ist sie krank?«
Er hob den Kopf, an der Badehaustür glänzte etwas zwischen den Sträuchern; dann stellte es sich heraus, daß es ein Gewehr mit einem Bajonett hinter dem Rücken eines grünlichen Soldaten war, der vom Gesträuch kaum zu unterscheiden war. Auf dem Hof schrie jemand:
»Was fällt euch ein, Genossen, macht ihr einen Scherz? Werden denn Pferde so gehalten? So hält man Schweine! Und warum ist das Heu nicht fortgeräumt und ist naß geworden? Willst du ins Badehaus, hinter Schloß und Riegel?«
Der Mensch im weißen Hemd warf die Stricke von den Knien auf die Pferde hinab, erhob sich und sprach halblaut, in der Richtung zu dem Soldaten:
»Er ist vom Himmel erschienen, der Teufel trag' ihn von hinnen!«
»Es gibt jetzt mehr Kommandierende als früher,« antwortete der Soldat.
»Und wer ernennt sie, diese Teufel?«
»Sie sich selbst. Jetzt geschieht alles von selbst, Brüderchen, wie im Märchen einer alten Großmutter.«
Der Mann ging auf die Pferde zu und faßte sie bei der Mähne. Artamonow schrie so laut er konnte:
»He, du, ruf mal meine Frau!«
»Schweig, Alter!« antwortete der andere. »Da sieh nur einer an, der will seine Frau . . .«
Die Pferde waren wieder fort. Artamonow fuhr sich mit der Hand über Gesicht und Bart, tastete mit den kalten Fingern nach dem Ohr und sah sich um. Er lag an der fensterlosen, unverglasten Wand der Laube, unter dem Apfelbaum, von dem die roten Äpfel in Büscheln, wie Ebereschenbeeren herabhingen; es lag sich hart; er war mit seinem schäbigen Fuchspelz zugedeckt und hatte eine dicke Winterjacke an. Es war ihm aber nicht heiß. Er konnte nicht begreifen, warum er hier war? Vielleicht war im Hause großes Reinemachen vor den Feiertagen? Was für ein Feiertag war es aber? Warum waren die Pferde im Garten und die Soldaten beim Badehaus? Und wer brüllte auf dem Hof:
»Sie sind ein dämlicher Bengel, Genosse! Was? Die Leute sind müde? Es ist zu früh, um müde zu werden! Wenn diese Dummköpfe nicht wären . . .«
In der Ferne wurde irgendwo geschrien, aber das Schreien betäubte und rief Kopfsausen hervor. Und dann schien er keine Füße mehr zu haben; seine Beine bewegten sich von den Knien abwärts nicht. Den Apfelbaum an der Wand hatte der Maler Wanka Lukin gemalt, – ein Dieb, der die Kirche bestohlen hatte und im Gefängnis gestorben war.
In die Laube kam jemand herein, der sehr breit war und eine zottige Mütze trug; er brachte einen kalten Schatten und starken Teergeruch mit herein.
»Ist das Tichon?«
»Ja, gewiß . . .«
Auch Tichons brummige Antwort klang betäubend laut. Der alte Hausknecht streckte die Hände aus und schien über dem knarrenden Fußboden zu schweben.
»Wer brüllt da?«
»Sacharka Morosow.«
»Und warum ist der Soldat da?«
»Es ist Krieg.«
Nach einem Schweigen fragte Artamonow:
»Ist der Feind bis hierher gekommen?«
»Das ist ein Krieg gegen dich, Pjotr Iljitsch . . .«
Pjotr sagte streng:
»Scherze nicht, alter Dummkopf, ich bin nicht dein Genosse!«
Er vernahm die ruhige Antwort:
»Das ist der letzte Krieg! Wir wollen nie wieder Krieg! Jetzt sind alle Menschen Genossen. Für einen Dummkopf bin ich aber wirklich schon zu alt.«
Es war klar, daß Tichon ihn verhöhnte. Jetzt setzte er sich, ohne Umstände und ohne die Mütze abzunehmen, zu den Füßen des Herrn hin. Auf dem Hof wurde mit heiserer, sich überschlagender Stimme kommandiert:
»Und nach acht Uhr abends haben keinerlei Gestalten mehr auf den Straßen zu erscheinen!«
»Wo ist meine Frau?« fragte Artamonow.
»Sie ist Brot suchen gegangen.«
»Wieso – suchen?«
»Ja, wie denn sonst? Brot ist kein Ziegelstein, es liegt nicht auf der Erde herum.«
Das Dunkel im Garten wurde immer dichter und blauer. Neben dem Badehaus gähnte und heulte der Soldat – er war jetzt ganz unsichtbar, nur das Bajonett glänzte wie ein Fisch im Wasser. Artamonow wollte Tichon so manches fragen, er schwieg aber; Tichons Worte waren ja doch nicht zu verstehen. Überdies gerieten die Fragen durcheinander und verwirrten sich, und man konnte nicht daraus klug werden, welche die wichtigste war. Und er hatte großen Hunger.
Tichon brummte:
»Der Dummkopf hat früher als alle anderen die Wahrheit begriffen. So hat sich alles gewendet. Ich sagte: alle kommen ins Zuchthaus, und so ist es auch gekommen. Alle sind wie Staub mit einem Lappen weggewischt worden. Wie Hobelspäne weggefegt. So ist es, Pjotr Iljitsch. Jawohl. Der Teufel hat gehobelt und du hast mit geholfen. Und wozu war das alles? Man hat gesündigt und gesündigt, – die Sünden sind ohne Zahl! Ich habe immer zugeschaut und habe mich gewundert! Wann kommt das Ende? Jetzt ist euer Ende angebrochen. Nun lastet die Vergeltung schwer wie Blei auf euch . . . ›Der Reisewagen hat ein Rad verloren‹ . . .«
»Er redet irre«, entschied Artamonow, fragte aber dennnoch:
»Warum bin ich hier?«
»Man hat dich aus dem Hause gejagt.«
»Und Miron?«
»Alle . . .«
»Und . . . Jakow?«
»Er ist längst nicht mehr da.«
»Wo ist Ilja?«
»Man sagt, er sei mit jenen zusammen. Darum bist du wohl noch am Leben, weil er mit ihnen ist, denn sonst . . .«
»Er redet irre,« entschied Pjotr Artamonow mit Bestimmtheit, verstummte und dachte: »Der Alte ist schwachsinnig geworden. Es war auch zu erwarten.«
Über den Himmel waren kleine, trübe Sterne verstreut, die es früher gar nicht gegeben zu haben schien. Und es waren ihrer auch nicht so viele gewesen.
Tichon griff nach der Mütze, drückte sie mit den Händen zusammen und brummte wieder:
»Nun habt ihr das Aufstoßen bekommen von eurer listigen Dummheit. Den Bettlern ist leichter zumute.«
Plötzlich fragte er mit veränderter Stimme:
»Erinnerst du dich noch an den Jungen des Kontoristen?«
»Nun – und wenn?«
Pjotr Artamonow war sich nicht ganz klar darüber, ob diese unerwartete Frage ihn erschreckt oder nur überrascht hatte. Er verstand aber sogleich alles, als Tichon sagte:
»Du hast ihn getötet wie Sachar das Hündchen. Wozu hast du ihn getötet?«
Artamonow wußte nun Bescheid: Tichon hatte ihn endlich doch angezeigt, und nun war er, trotz seiner Krankheit, verhaftet worden. Das erschreckte ihn jedoch nicht allzusehr, sondern empörte ihn eher durch seine unmenschliche Dummheit. Er stützte sich auf die Ellbogen, hob den Kopf und begann leise, vorwurfsvoll und spöttisch zu sprechen, wobei er Bitterkeit auf der Zunge und Trockenheit im Munde fühlte:
»Du lügst! Es gibt für jedes Vergehen eine Frist, nach welcher es verjährt ist. Du hast aber alle Fristen verstreichen lassen. Ja! Und du bist verrückt geworden. Du hast vergessen, was du gesehen und was du damals selbst gesagt hast . . .«
»Was habe ich denn gesagt?« unterbrach ihn der Alte. »Ich habe es natürlich nicht gesehen, aber ich habe es verstanden! Ich habe das gesagt, um zu sehen, was du tun würdest. Ich habe dir was vorgelogen, und du warst froh und hast dich an die Lüge geklammert. Ich habe dir immer zugesehen und habe gewartet und gewartet . . . Ihr seid alle so. Alexej Iljitsch hat seinen Schwiegervater, den Trunkenbold, angestiftet, Barskis Schenke anzuzünden; dein Vater hat das durchschaut und hat es so eingerichtet, daß man den Betrunkenen totgeschlagen hat. Nikita Iljitsch wußte es, er kam durch seinen Verstand auf alles. Er hätte darüber schweigen sollen, er hat es mir aber aus Zorn über dich erzählt. Ich sagte: ›Du bist ein Mönch, du mußt alles vergessen, ich werde es aber im Gedächtnis bewahren.‹ Ihr habt ihn durch euer Tun eingeschüchtert. Ihr habt ihn in die Schlinge getrieben und dann ins Kloster geschickt: bete für uns! Er fürchtete sich aber, für euch zu beten, – er wagte es nicht! Und darum hat er Gott verloren . . .«
Es schien, als könnte Tichon so bis ans Ende aller Zeiten weiterreden. Er sprach leise, sinnend und scheinbar ohne Zorn. Er war jetzt in dem dichten, heißen Dunkel des späten Abends fast unsichtbar. Seine ungehobelte Rede, die an das nächtliche Rascheln von Küchenschaben erinnerte, erschreckte Artamonow nicht, bedrückte ihn aber durch ihre Schwere und ließ ihn vor Staunen verstummen. Er kam immer mehr zu der Überzeugung, daß dieser unbegreifliche Mensch wahnsinnig geworden war. Jetzt seufzte er lange, als werfe er eine Last von seinen Schultern und fuhr fort, ebenso eintönig das Vergangene und nun Überflüssige aufzuwühlen:
»Ihr Artamonows habt auch mir meinen Glauben genommen. Nikita Iljitsch hat mich euretwegen vom Wege abgebracht und mich gottlos gemacht . . . Ihr kennt weder Gott noch den Teufel. Es ist nur Trug, daß Heiligenbilder in eurem Hause hängen. – Was habt ihr aber statt dessen? Daraus kann man nicht klug werden! Etwas scheint doch da zu sein. Ihr seid Betrüger. Ihr habt vom Betrug gelebt. Jetzt ist das alles zu sehen: man hat euch entblößt, entkleidet . . .«
Artamonow bewegte mit Mühe seinen Körper und ließ die furchtbar schweren Füße auf die Erde hinab, die Sohlenhaut fühlte aber den Fußboden nicht, und es schien dem Alten, die Füße hätten sich losgelöst und wären fortgegangen, während er in der Luft hängen geblieben war. Das erschreckte ihn, und er packte Tichon mit den Händen an der Schulter.
»Wohin?« fragte Tichon, seine Hände rauh abschüttelnd. »Rühr' mich nicht an! Du hast keine Kraft mehr, du wirst mich nicht erwürgen. Dein Vater hatte Kraft genug, doch hat er damit nur geprahlt. Ich sage, ihr habt mir den Glauben genommen, ich weiß jetzt gar nicht, wie ich sterben soll. Ich habe mich in euch vergafft, ihr Teufel . . .«
Artamonow wurde immer hungriger, und ihm flößten seine Füße große Angst ein.
»Ist es denn möglich, daß ich sterbe? Ich bin noch keine fünfundsiebzig Jahre alt. O Gott . . .«
Er versuchte sich wieder hinzulegen, ihm fehlte aber die Kraft, die Beine zu heben. Da befahl er Tichon:
»Hilf mir, hebe meine Beine auf!«
Tichon legte die toten Beine seines vormaligen Herrn auf die Bank, spuckte aus und setzte sich wieder, mit der Hand in der Mütze herumstochernd. In seinen Fingern glänzte etwas. Artamonow sah genau hin: es war eine Nadel, Tichon nähte in der Dunkelheit an seiner Mütze und bestätigte dadurch seinen Wahnsinn. Über ihm huschte ein grauer Nachtfalter herum. Im Garten zogen sich drei gelbe Lichtstreifen durch die Luft hin. Eine Stimme sprach aus großer Entfernung, aber deutlich:
»Genossen, es gibt und wird für uns keine Umkehr geben . . .«
Tichon übertönte diese Stimme:
»Und dann dein Vater; er hat meinen Bruder umgebracht.«
»Du lügst«, sagte Artamonow unwillkürlich, fragte aber sogleich: »Wann?«
»Jetzt willst du auf einmal wissen, wann es war . . .«
»Was lügst du in einem fort, Wahnsinniger?« empörte sich Artamonow plötzlich und fühlte, wie der Hunger ihn aussaugte und ausdörrte. »Was willst du? Bist du mein Gewissen, mein Richter? Warum hast du über dreißig Jahre geschwiegen?«
»Ich habe eben geschwiegen. Das bedeutet, daß ich nachgedacht habe!«
»Du hast Bosheit in dir angesammelt? Ach . . . Nun, geh und mach' bei der Polizei Anzeige.«
»Es gibt keine Polizei mehr!«
»Sag' dort: er hat mich mein ganzes Leben ernährt, richtet ihn! Du hast mich ja schon angezeigt! Was willst du noch, nun? Drücke mich an die Wand, schüchtere mich ein, verlange Geld, nun?«
»Du hast kein Geld. Du hast nichts. Und es war auch nichts mehr da. Auf die Richter pfeife ich aber. Ich bin mein eigener Richter.«
»Womit drohst du also, Irrsinniger?«
Tichon schien aber gar nicht zu drohen, Artamonow fühlte das dunkel. Tichon brummte:
»Nun ist für alle Kaine das Ende gekommen. Warum hat man meinen Bruder umgebracht?«
»Das von deinem Bruder ist erlogen!«
Die beiden Alten sprachen schneller und unterbrachen einander.
»Ich lüge? Ich war damals bei ihm . .«
»Bei wem?«
»Bei meinem Bruder. Ich bin davongelaufen, als dein Vater ihn kaltmachte. Dein Vater hat ihn verbluten lassen. Wozu war das Blut nötig?«
»Du kommst zu spät . . .«
»Nun also, – jetzt hat man euch umgestoßen und zu Boden geworfen, und du bist schutzlos. Ich halte mich aber abseits, wie bisher . . .«
»Du bist wahnsinnig . . .«
Artamonow fühlte, daß der vormalige Erdarbeiter ihn in eine Ecke, in eine Grube trieb, wo alles ununterscheidbar, unverständlich und furchtbar war. Er wiederholte beharrlich:
»Du kommst zu spät. Du lügst, du hast keinen Bruder gehabt. Solche Menschen wie du haben gar nichts . . .«
»Sie haben ein Gewissen.«
»Du selbst hast mir meinen Sohn Ilja irre gemacht!«
»Ihr Artamonows habt mich irre gemacht, und Nikita Iljitsch hat die Wunde noch vertieft!«
»Er sagt aber, du hättest ihm das getan!«
»Wie oft wollte ich deinen Vater umbringen! Ich hätte ihm mit dem Spaten eins über den Kopf versetzt . . . Ihr seid schlau . . .«
»Du selbst . . .«
»Ihr habt euch den Serafim angeschafft. Auch er hat mich wirr gemacht: er tat niemandem etwas zuleide und lebte doch sündhaft. Wie geht denn das? Überall waren Ränke . . .«
»Wer da? W–wohin?« schrie jemand zornig und laut in der Dunkelheit. »Hat man euch Gesindel nicht gesagt, ihr sollt euch nach acht Uhr nicht mehr zeigen?«
Tichon erhob sich, ging zur Tür und versank in der Dunkelheit. Der durch Aufregung, Hunger und Müdigkeit zermürbte Artamonow sah durch die drei Streifen öligen Lichtes im Garten etwas Breites und Schweres vorübergleiten. Er schloß die Augen und erwartete nun etwas endgültig Furchtbares.
»Hast du etwas?« fragte Tichon jemanden.
»Das ist alles!«
Das war die Stimme seiner Frau! Wo war sie gewesen, warum hatte sie ihn mit diesem Alten alleingelassen?
Artamonow öffnete die Augen, erhob sich auf den Ellenbogen und blickte auf die durch zwei schwarze Gestalten versperrte Türe. Ihm fiel plötzlich ein, wie er sein ganzes Leben darüber nachgedacht hatte, wer sich an ihm vergangen hatte, und wer die Schuld daran trug, daß sein Leben so bedrückend wirr, so von Betrug gesättigt war? Und jetzt eben war ihm alles klar geworden!
Seine Frau kam auf ihn zu, beugte sich nieder und flüsterte:
»Nun, Gott sei Dank . . .«
»Tichon, hier ist der Mensch, der an allem schuld ist!« sagte Artamonow bestimmt und seufzte erleichtert auf. »Sie war habgierig, sie hat mich beeinflußt, jawohl!«
Er brüllte triumphierend:
»Ihretwegen ist auch Bruder Nikita zugrunde gegangen. Du weißt es ja selbst, ja . . .«
Artamonow geriet außer Atem. Es war so seltsam, daß seine Frau gar nicht beleidigt war, nicht erschrak, nicht weinte. Sie streichelte mit zitternder Hand sein Kopfhaar und flüsterte ängstlich, aber liebevoll:
»Still, schrei' nicht! Hier sind alle so böse . . .«
»Gib mir zu essen . . .«
Sie steckte ihm eine Gurke und ein schweres Stück Brot in die Hand; die Gurke war warm und das Brot klebte wie Teig an den Fingern.
»Was soll das? Ist das für mich? Das ist alles?«
»Sei still, um Christi willen!« flüsterte Natalia. »Es gibt doch nichts! Und dann, die Soldaten . . .«
»Das gibst du mir – für alles? Für all die Angst, für das ganze Leben?«
Er wog das Brot auf der Hand, murmelte etwas und ahnte, daß etwas unerträglich, tödlich Kränkendes geschehen war, woran nicht einmal Natalia die Schuld trug.
Er schleuderte das Brot zur Tür hin und sagte mit dumpfer, aber fester Stimme:
»Ich will nichts!«
Tichon hob das Brot auf, brummte und blies darauf; Natalia versuchte das Stück ihrem Mann wieder in die Hand zu stecken und flüsterte:
»Iß, iß! Sei nicht böse . . .«
Artamonow stieß ihre Hand zurück, schloß fest die Augen und wiederholte mit grimmiger Wut durch die Zähne:
»Ich will nicht. Geh weg!«