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An einem Sommerabend irrte ich einst durch die schiefen engen Gassen der Vorstadt inmitten kleiner Häuschen, die vor Alter verfallen waren, und guckte durch die offene Tür in eine Schenke hinein, in der ich zu meiner Verwunderung zahlreiche Leute ganz still sitzen sah.
Ich besah mir die Schenke – ein kleines Zimmerchen mit schiefer Diele und gesenkter Decke; im Halbdunkel unterschied ich zerzauste Köpfe, Kattunhemden ohne Gürtelspangen, entblößte Füße oder solche in alten Schuhen und in der Ecke neben einem Tischchen eng aneinandergepreßt eine Gruppe von fünf oder sechs Personen. Eine von ihnen redet mit dicker, heiserer Stimme:
»Und bei mir zu Hause, da wächst eine Pappel, die ist ganz anders als die euren da – gerade ist sie, wie eine Kerze vor 'nem Heiligenbild.«
Ich trat über die Schwelle – zwei Männer warfen mir einen Blick zu und wandten sich schweigend nach der Richtung, woher die Stimme kam. Der alte Kneipenwirt, der hinter dem Schenktisch saß, erhob sich lautlos, – ich ersuchte leise um eine Flasche Bier.
»Bei mir zu Hause ist alles anders, alles ist lieb . . . nur die Armut ist geradeso wie hier . . .«
»Die ist überall gleich . . .« sagte eine andere Stimme.
Ich saß an einem Tische unter dem Fenster, und sah mir die Leute an und über ihre Köpfe hinweg das Gesicht dessen, der die Pappel erwähnt hatte. Auch ich liebe die Pappeln, – sie steigen so gerade zum Himmel empor.
Es war ein Weib, das von ihnen gesprochen hatte. Sie war etwas angeheitert; ihre dicken Lippen lächelten mit dem selig-wehmütigen Lächeln eines Menschen, der sich an etwas Schönes erinnert hat. Groß und voll, stemmte sie sich schwerfällig mit der Brust an den Tisch und mit geschlossenen Augen und traurig den Kopf wiegend sprach sie:
»Nirgends ist's einem so wohl, als daheim . . .«
»Der Arme hat seine Heimat dort, wo er Brot hat,« versetzte einer mit dünner Stimme.
Ein Mann, der gegenüber dem Weibe saß, schenkte ein Glas Branntwein ein und schob es ihr hin.
»Trink aus!«
Es war ein hochgewachsener, hagerer Mensch mit einem Wald schwarzer Haare, in einem zerrissenen Hemde und offenen Kragen. Er hatte große Augen, die er ruhelos nach allen Richtungen rollte; unaufhörlich glättete er seinen schwarzen, dichten zerzausten Bart. Neben ihm saß ein stämmiger, rothaariger Bursche mit einem Soldatenschnurrbart und einem Riemen am Kopfe, dem Anscheine nach ein Bäcker. Als dritter saß dem Weibe gegenüber der mir bekannte Klempner Njuschka. Er war sehr betrunken, schlummerte leicht und betrachtete das Weib durch die Wimpern, die schwer über seine trüben Pupillen hinabfielen. Bisweilen öffnete er den Mund wie ein schläfriger Fisch und murmelte dabei:
»So sing doch, sing doch!«
Die anderen, etwa sechs Personen, verschwammen im Halbdunkel und in den Wolken des Tabakqualmes. Alle saßen unbeweglich und tranken schweigend Branntwein und Bier; dann und wann nur schleuderte einer ein Wort in die Luft hinaus, das einem kleinen Vogel gleich aus einer Ecke des Zimmers in die andere flog.
»Du gehst zum Beispiel auf den Jahrmarkt,« erzählte das Weib, »da singen die Blinden – wie wohl tut's, es mit anzuhören! Wie wohl!«
Bei dem anderen Fenster, mir gegenüber, saß am Tische ein Mann, dessen Gesicht dem eines Küsters ähnlich war. Lange Haare fielen ihm auf die Schultern und auf den runden Rücken; ein verfilzter, roter Bart breitete sich fächerartig über die Brust aus. In dem Übermaß der Haare erschien sein Gesicht klein und mißgestaltet. Er trug einen schwarzen, ganz verdrückten Rock und ein gestärktes Hemd, das auch verdrückt und schmutzig war. Unter dem Bart guckte das Ende des aufgelösten Krawattenknotens hervor. Sein linkes Auge war bläulich unterlaufen und geschwollen und das rechte war starr auf das Weib gerichtet.
»Ich war dort,« sagte er plötzlich mit dumpfer, brüllender Stimme und schlug mit der Fläche seiner riesengroßen Hand auf den Tisch.
Alle drehten sich um, und das Weib reckte den Hals ihm entgegen.
»Ich war in Kiew . . . in Belocerkow . . . und in vielen anderen Städten, deren Namen ich mich nicht mehr entsinne. Alles habe ich gesehen, alles gekannt, wovon du sprichst. Der Djneper . . . heisa, du mein breiter Djneper! Ich hab's gesungen, als ich im Opernchor war.«
Seine tiefe Grabesstimme hallte machtvoll durch den Raum; mit der Luft zugleich sog die Brust sie ein und ihr traurig-hoffnungsloser Klang erfüllte mich mit Schwermut.
»Weib, setze dich her, ich bewirte dich mit Bier.«
Der schwarze hagere Mann stand auf und erklärte:
»Das gibt es nicht! Ich bewirte sie . . .«
»Einerlei, du oder ich. Es ist einerlei.«
»So s–sing doch,« ächzte der Klempner.
Das Weib blickte freundlich den Mann mit dem blaugeschlagenen Auge an und sagte:
»Wenn Sie dort waren, wissen Sie selbst . . .«
»Das Herz des Einfältigen, Weib, gleicht einem zerschlagenen Gefäße – es hält kein Wissen fest . . . so sprach Jesus, Sohn Sirachs . . . Kannst du singen, Weib? Ich gebe dir zwanzig Kopeken.«
Er begann unbeholfen mit der Hand seine Hosentasche abzutasten.
»Wird schon auch ohne Sie bezahlt!« rief verächtlich der schwarze Mann mit den unruhigen Augen.
»Einerlei! Alles ist einerlei! Du, ich, sie . . . wir alle sind wie der Unrat des Esels in der Wüste auf dem Wege nach Jerusalem . . .«
Der Rothaarige blickte drohend den Philosophen an, zog den Tabaksbeutel aus der Tasche und hob ihn in die Höhe. Es klimperte Geld darin.
»Hast's gesehen?« fragte der Rote und steckte den Beutel wieder in die Tasche.
Das Weib schloß die Augen, wiegte den Kopf hin und her und sagte:
»Als hätt ich's vor meinen Augen . . . sie sitzen am Wege auf der Erde, die liebe Sonne sticht auf den Kopf und der Wind übersät sie mit Staub . . .«
»Wahr ist's! Ich erinnere mich!« rief der Mann mit dem blaugeschlagenen Auge, als hätte er einen Hammer niedersausen lassen.
Ringsherum stehen viele Menschen; sie bilden einen lebendigen Zaun . . . Und die Blinden singen.
Der großen Brust des Weibes entrang sich ein tiefer, bebender Ton:
»Mü–ütter–er–chen! . . .«
»Wahr ist's!« brüllte der einstige Opernchorsänger und schlug von neuem mit der Hand auf den Tisch.
»Verzeihen Sie . . . so stören Sie doch nicht!« schrie der schwarze Mann aufgeregt. – »Ich bin selbst ein Sänger. Und wenn ich auch keine Ochsenstimme habe wie Sie, – ich stelle allezeit noch meinen Mann . . .«
»Narr!« versetzte der Mann mit der Ochsenstimme. »Was zürnest du? Ist es dir nicht bekannt: ›Die Rede des Einfältigen ist wie eine Last auf dem Wege, und im Munde des Dummen – ist sein Herz, – des Weisen Mund aber ist in seinem Herzen.‹«
Der Rothaarige blinzelte seinem Kameraden zu, stieß ihn mit dem Ellbogen in die Seite und stülpte die Hemdärmel hinauf; der schwarze hagere Mann aber preßte die Zähne fest aneinander und ballte die Fäuste.
Aus der Ecke hervor erklang eine dünne Stimme:
»Wenn Sie ein gebildeter Mann sind, mein Herr, so stören Sie die Leute in ihrem Vergnügen nicht . . . Sie führen schöne Worte im Munde und schimpfen . . . das ziemt sich nicht.«
Das Weib öffnete die Augen, seufzte und schloß sie wieder. Dann warf sie den Kopf zurück, legte eine Hand auf die Brust und begann mit tiefer, starker, dem Schmettern einer ehernen Trompete gleichender Stimme zu singen:
»O, habt doch Erba–a–rmen mit den armen Blinden,
Die wir nicht arbei–ei–beiten können . . .
Denn unsere Augen können nicht se–ehen.«
Alle in der Schenke waren still geworden. Der schwarze Mann hatte sich niedergesetzt und bewegte im Takt zu der eintönigen Weise die Hand. Er wandte sich bedeutungsvoll um, hob einen Finger in die Höhe und lispelte:
»Sch . . .«
Allein es bedurfte dessen nicht. Alle saßen unbeweglich, wie hinfällige Greise, die sich in der Sonne wärmen. Der Mann im Überrock reckte den Hals, schob sich näher zu dem Weibe und horchte, gleichsam erstarrt, aufmerksam hin. Eines seiner Augen erschien mir im Halbdunkel ungeheuer groß und schwarz, wie erloschene Kohle, das andere war klein und leuchtete in lebhafter Spannung.
»O–o, nicht sehen sie die Welt Go–otte–es.«
»O–o, die helle So–o–nne sehn sie nicht!«
»Ha–abt Erba–armen mit den armen Blinden.«
Die Weise des Sanges klang eintönig, einem Schluchzen gleich. Sie bestand aus zwei Noten etwa, aus nur zwei Noten. Sie waren in der Melodie angeordnet wie Zähne an einer langen eisernen Säge, doch ihre monotone Bewegung schuf eine Musik, die mit durchdringendem Weh ins Herz schnitt.
»Habt Erba–ar–men, ihr Menschen Go–ottes . . .«
Es klang aus den Tönen des Liedes die unsagbare Pein des Menschen, der die Sonne sehen will und es nicht vermag, das jammervolle Stöhnen der Hoffnungslosigkeit.
»O–o, wir se–e–h–en nicht, wohin wir gehen.«
Die Stimme des Weibes versinnbildlichte treffend die dumpfe Verzweiflung eines Menschen, der durch die Finsternis in Banden geschlagen ist. Die Worte in ihrem Liede klangen abgerundet; sie zitterten konvulsivisch in der Anstrengung, den Schmerz und die Gewalt des Gefühls wiederzugeben, das sie ausdrücken wollten . . .
In der Kneipe war es still. Die volle Stimme des Weibes erfüllte das ganze Zimmer, umhüllte alle in der Schenke gleichsam mit einer düstern Woge und floß in einem breiten, zitternden Strome durch die offene Tür auf die Straße.
Ich blickte auf die gesenkten Köpfe der Menschen, auf ihre Körper, die von dem Liede und dem Dunkel umhüllt waren, und durch das Fenster auf den Himmel. Die Sonne war untergegangen, und im Westen erglühte der Himmel in leuchtend rotem Lichte. Im Feuer der untergehenden Sonne verschwamm eine seltsam geformte kleine Wolke, die einem gewaltigen Vogel mit ausgespannten Flügeln glich. Auf dem purpurnen Vorhang am Horizont zeichneten sich scharf die schwarzen Bäume, und die Wolke, die einem Vogel glich, schien zu ihren Zweigen hinunterzusinken. Auf dem Felde war es still und öde. Nur durchsichtige Schatten glitten über die Erde hin, sie kamen verstohlen rechts und links von der Sonne her, die tief in die Erde versunken war. Die dumpfe, bebende Stimme des Weibes erfüllte mich, wie Wasser ein Gefäß erfüllt, und mir schien, auch alle anderen seien voll der schluchzenden Töne. Alle saßen unbeweglich, alle schwiegen. Nur einmal erklang die heisere Stimme des betrunkenen Njuschka:
»Wa–arum heult sie?«
Allein seine Stimme ging im Gesang unter, wie ein Stein in einem tiefen Bache, wo auch der Klang des Auffallens kaum zu hören ist.
»O–o, heilige Mu–utter Gott–e–es, o–o, wo–ofür hast du uns so be–str–aft,« sang das Weib und wiegte den Kopf im Takt zu dem Liede. Es war, als betete sie, und die Finger ihrer an die Brust gepreßten Hand bewegten sich, als berührte sie straff gespannte, den Menschen verborgene Saiten in ihrem Herzen.
Ich sah, wie der rothaarige Bauer, der einen Riemen auf dem Kopfe hatte, die Hand zu dem Weibe hinstreckte und ein großes Fünfkopekenstück vor ihr niederlegte. Er legte es nieder und – bekreuzigte sich.
Ohne die Augen zu öffnen, betastete das Weib die Münze mit der Hand, nahm sie zwischen die Finger, klopfte mit ihr leise auf den Tisch und legte sie wieder an dieselbe Stelle. Der Rothaarige seufzte auf, bewegte sich und ließ von neuem den Kopf sinken.
Die Dunkelheit in der Schenke wuchs immer mehr und mehr, auch die Macht des Liedes der Blinden wuchs. In mir erweckte dieses Lied ein wunderliches, großes und banges Gefühl. Es tat mir leid um alle: um die Blinden, die Sehenden, um mich selbst, um all das, was ich in meinem Leben gesehen hatte. Auch ich hätte von manchem singen mögen. Ich blickte zum Himmel, auf den purpurnen Widerschein der Sonne, die von der Erde dahinzog, und dachte voll Bangigkeit: Wird sie wieder aufgehen? . . .
Und noch andere wunderliche Gedanken entstanden in meinem Kopfe . . . Der unsäglich traurige Gesang schien in meinem ganzen Körper zu beben, ich hörte nichts außer ihm und er klang so, als weinten alle in der Schenke.
Jetzt hatte sich zu der Stimme des Weibes eine zweite gesellt, noch dumpfer als die ihre. Sie klang nicht laut, keine Worte begleiteten sie, nur Töne, dem fernen Donnerrollen gleich. Die tiefe, volle Flut der Töne breitet sich in der Luft aus wie ein Sammetstreifen; die Scheiben klirren in den Fenstern; die Worte des Weibes stützen sich auf sie, sie wachsen empor in diesen Tönen, die das Erdreich für sie bilden . . . Nun ist's, als summten zwei Trompeten in der Luft – die eine, die größere, gab der Melodie das Leitmotiv, die andere, die kleinere, fügte düsteres Weinen, grauenvolle Worte hinzu. Und in der Ärmlichkeit der Klänge lag etwas seltsam Trauriges, das die Seele schmerzhaft zusammenpreßte . . .
»Blind sind die A–au–gen, blind ist die Se–ele,
O . . . o . . . Und keine Tränen gibt es, um zu wei–ei–nen.«
»O–o–o!« tönt das düstere Echo in der Luft.
Das sang der langhaarige Mann mit dem blaugeschlagenen Auge. Er saß zusammengekauert und reckte den Hals dem Weibe entgegen; seine Haare fielen auf seine Wangen, auf sein ganzes Gesicht nieder und ließen es verschwinden. Die Enden seiner Krawatte schaukelten hin und her, als baumle um den Hals dieses Menschen eine Schlinge.
»Ha–abt Erba–armen, ihr gu–uten Menschen . . .« erklang es klagend in der Schenke.
»Genug!« rief der schwarze Mann und schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Schweig!« versetzte mit brüllender Stimme der Mann mit dem blaugeschlagenen Auge.
Das Weib schien die beiden Rufe nicht gehört zu haben. Ohne die Augen zu öffnen, spielte sie mit den Fingern auf der Brust, wiegte den Kopf und sang:
»He–elfet, die ihr an Gott gla–aubt. O–o–o!« hallte das Echo nach.
Ich erhob mich von meinem Platze, warf das Geld für das Bier hin und ging raschen Schrittes aus der Schenke, in der es schon ganz dunkel und schwül geworden war, hinaus auf die Straße, ging hinaus auf das Feld, wo die Reflexe des Sonnenunterganges noch nicht erloschen waren und ringsum alles in tiefer Stille lag. Gierig sog ich die Luft ein, ich ging, atmete und blickte auf den Himmel, die ersten Sterne erwartend.
Jetzt breitet sich vor mir ein weiter, gerader Weg in die Ferne aus, gegen Sonnenuntergang. Auf beiden Seiten stehen unbeweglich traurige Birken, die auf etwas zu horchen scheinen; kein Zweigchen regt sich. Ein Nachtvogel schwebt geräuschlos in der Luft vorbei. Der schwarze Vogel tauchte unmerklich auf, wie Erinnerungen in der Seele auftauchen und verschwand in dunkler Ferne.
Ich ging immer weiter, leise erlosch vor mir die Abendröte und in meiner Brust ertönte ein dumpfes Echo:
»Blind sind die Augen, blind ist die Se–ele. He–elfet, o he–elfet, die ihr an Gott gla–aubt . . .«