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Stolpernd im Finstern über niedere Zäune, schritt ich tapfer im Straßenschmutz von Fenster zu Fenster. Ich klopfte leise an die Fensterscheiben und rief:
»Wollen Sie einen Wanderer übernachten lassen?«
Als Antwort auf meine Anfrage sandte man mich zu den Nachbarn, ins Gesindelhaus, zum Teufel. Aus einem Fenster versprach man die Hunde auf mich zu hetzen, aus einem andern drohte man mir in nicht mißzuverstehender Weise mit der Faust, wieder aus einem andern rief eine kreischende Frauenstimme:
»Trolle dich, so lange du noch ganz bist, mein Mann ist zu Hause …«
Höchst wahrscheinlich pflegte sie nur in Abwesenheit ihres Mannes Nachtgäste aufzunehmen. Bedauernd, daß er zu Hause war, ging ich ans folgende Fenster und bat: »Gute Leute, laßt doch einen Wanderer bei euch übernachten.«
Man antwortete mir freundlich: »Gehe in Gottes Namen weiter.«
Und das Wetter war schlecht, ein feiner kalter Regen rieselte herab, und die schmutzige Erde war dicht umhüllt von Finsternis. Zuweilen kam ein heftiger Windstoß und fuhr raschelnd durch die Zweige der Bäume und über die nassen Strohdächer. Er verursachte allerhand unheimliche Geräusche; durch Seufzen und Stöhnen unterbrach er die dunkle Stille der Nacht, ein schauriges Konzert. Uebelgelaunt, wahrscheinlich durch das traurige Vorspiel des nahenden Herbstes, verweigerten die Glücklichen, die sich unter Dach und Fach befanden, mir das Unterkommen. Ich bemühte mich noch lange vergebens, die Unfreundlichkeit der Leute zu bekämpfen. Da es mir nicht gelang, mußte ich meine Hoffnung, ein Nachtlager unter Dach zu finden, aufgeben. Ich ging ins Feld hinaus, hoffend, vielleicht einen Heu- oder Strohfeimen zu finden, um darin zu nächtigen. Obwohl nur ein glücklicher Zufall mich in dieser dichten Finsternis einen solchen entdecken lassen konnte.
Ich war noch nicht lange gegangen, so erblickte ich, kaum drei Schritt vor mir, etwas Großes, Dunkles, noch finstrer als die Finsternis selbst. Was war es? Ich vermutete ein Brotmagazin und ging darauf zu. Die Brotmagazine pflegt man auf Pfählen oder Steinen zu erbauen. Zwischen dem Boden des Magazins und dem Erdboden befindet sich ein hohler Raum, wo ein anständiger Mensch noch Platz nehmen kann, er braucht sich nur auf den Bauch zu legen und unterzukriechen.
Wahrscheinlich wollte das Schicksal mich nicht nur unter Dach, sondern sogar unter die Diele bringen. Zufrieden damit, kroch ich über die trockene Erde, mit Brust und Seilen nach einem ebenen Fleckchen für meine Lagerstätte fühlend. Plötzlich erscholl eine warnende Stimme:
»Halten Sie sich links, Verehrtester.«
Das klang nicht schrecklich, aber wahrlich unerwartet.
»Wer ist hier?« fragte ich.
»Ein Mensch mit einem Stock.«
»Einen Stock besitze ich auch, sind aber Streichhölzer da?«
»Auch Streichhölzer besitze ich.«
»Das ist gut.«
Ich sah darin zwar nichts Gutes, weil nach meinem Dafürhalten wenigstens noch Brot und Tabak zu meinem Wohlbefinden gehört hätten und nicht nur Streichhölzer.
»Also man läßt im Dorfe nicht übernachten?« fragte die Stimme des Unsichtbaren.
»Man läßt nicht,« sagte ich.
»Auch mich ließ man nicht.«
Das war klar, vorausgesetzt, daß er sich überhaupt um ein Nachtlager im Dorfe beworben hatte. Vielleicht war es ihm aber gar nicht um ein solches zu thun, möglicherweise war er nur hier untergekrochen, um irgend ein lichtscheues Unternehmen ins Werk zu setzen und den günstigen Augenblick dazu hier abzuwarten. Freilich ist jede Arbeit gottgefällig, indes beschloß ich doch meinen Stock fest in der Hand zu hallen.
»Sie ließen nicht, die Teufel!« wiederholte die Stimme. »Die Verruchten! Bei gutem Wetter lassen sie, aber in einem solchen – so heule!«
»Und wohin gehen Sie?« fragte ich.
»Nach … Nikolajeff. Und Sie?«
Ich sagte wohin.
»Mitreisender also. Nun brennen Sie einmal ein Streichholz an, ich will rauchen.«
Die Streichhölzchen waren feucht geworden, ich mußte lange ungeduldig streichen an den Brettern über meinem Kopfe. Endlich kam ein kleines Flämmchen zum Vorschein, und aus dem Dunkel tauchte ein blasses Gesicht auf mit dichtem schwarzen Bart.
Große kluge Augen blickten mich lächelnd an, weiße blitzende Zähne leuchteten unter dem dunklen Schnurrbart hervor, und der Mann fragte mich: »Wollen Sie rauchen?«
Das Streichholz erlosch, wir entzündeten ein neues und besahen uns wiederum gegenseitig, worauf mein Schlafgenosse in überzeugter Weise verkündete:
»Nun, es scheint mir, wir beide brauchen uns nicht zu genieren … Nehmen Sie eine Zigarette!«
Er hatte eine andere zwischen den Zähnen, und wenn er einige kräftige Züge that, flammte sie auf und warf auf sein Gesicht einen schwachen rötlichen Schimmer. Um Stirn und Augen des Mannes zogen sich tiefe und fein geschnittene Falten. Vorher bei Beleuchtung mit dem Streichhölzchen hatte ich bemerkt, daß er in den Ueberresten eines alten wattierten Paletots steckte, umgürtet mit einem Strick; an den Füßen hatte er Halbstiefel, aus einem Stück Leder gearbeitet, – »Porschni,« wie man sie in den Donaugegenden nennt.
»Ein Wandersmann?« fragte ich.
»Ja, ich wandre. Und Sie?«
»Ebenfalls.«
Er bewegte sich geschäftig, dabei klirrte etwas Metallenes, scheinbar eine Theekanne oder Kessel, das sind unentbehrliche Requisiten eines Pilgers nach den heiligen Stätten. Aber in seinem Tone war nichts, was an jene fuchsschlaue Frömmelei und Unterwürfigkeit erinnerte, welche stets den Pilger kennzeichnet. Es war in seinem Wesen nichts Bigottes und in seiner Rede nichts Salbungsvolles, nichts von andächtigem Stöhnen und Seufzen über sich und die sündhafte Welt, kein Wort von der »Schrift«. Ueberhaupt hatte er keine Aehnlichkeit mit den professionsmäßigen Pilgern nach den heiligen Stätten, keine Aehnlichkeit mit dieser schlimmsten, vielgestaltigen Ausgeburt des in Unzahl »landstreichenden Russentums«, schlimm im höchsten Grade wegen ihrer moralischen Eigenschaften, und ganz besonders deshalb, weil dieser entmenschte Schnorrertypus eine Fülle von Lüge und Aberglauben in das nach geistiger Nahrung schmachtende Dorf trägt. Dazu kam noch, daß er nach Nikolajeff ging, wo keine heilige Stätte zu finden ist.
»Und woher kommen Sie denn?« fragte ich.
»Von Astrachan.«
In Astrachan giebt es aber auch keine heilige Stätte, und ich fragte ihn nun wieder:
»So gehen Sie also wohl von ›Meer zu Meer‹ und nicht nach heiligen Stätten?«
»Ich besuche auch heilige Orte. Warum soll ich nicht auch einen heiligen Ort aufsuchen? Dort verpflegt man uns ja gut, besonders wenn man sich mit den Nonnen in Intimitäten einläßt. Unsereiner wird von ihnen immer geachtet, weil er eine große Abwechselung in ihr Leben hineinbringt. Und wie denken Sie darüber?«
– Ich erklärte …
»Ja Pflegestätte! … Woher aber kommen Sie? … Stecken Sie doch ein Streichholz an, wir wollen rauchen. Wenn man raucht, ist einem, als ob es wärmer wird.«
Es war wirklich kalt, sowohl durch den eindringenden Wind als auch infolge unserer nassen Kleidung.
»Vielleicht wollen Sie essen? Ich habe Brot, Kartoffeln und zwei gebratene Krähen. Wollen Sie?«
»Eine Krähe?« fragte ich neugierig.
»Essen Sie etwa diese nicht? Unsinn!« …
Er schob mir eine große Stulle Brot zu.
»Ich habe noch niemals Krähen gekostet.«
»Na, da haben Sie, kosten Sie! Im Herbst sind die Krähen außerordentlich schmackhaft. Und auch nachher ist es viel angenehmer, eine Krähe zu essen, die man selbst erworben hat, als Brot oder Speck, der dir durch die Hand des Nächsten gereicht wird aus dem Fenster seines Hauses …, welches du doch immer, nachdem du die milde Gabe empfangen hast, in Brand stecken möchtest« …
Diese Worte klangen sehr kategorisch und ausdrucksvoll. Der Gebrauch von Krähen als Nahrungsmittel war zwar neu für mich, doch wunderte ich mich darüber nicht weiter, wußte ich doch, daß in Odessa im Winter auch Ratten verzehrt werden und in Rostow – Schnecken. Was ist denn hierbei Unglaubliches? Haben doch selbst die Pariser, als sie sich im Belagerungszustande befanden, mit Vergnügen allerhand Schund verzehrt. Manche Menschen aber befinden sich ihr ganzes Leben lang im Belagerungszustande.
»Und wie fangen Sie denn diese Krähen?« erkundigte ich mich.
»Nicht mit dem Mund freilich. Man kann sie mit einem Stock erschlagen oder auch mit einem Stein, aber richtiger ist es, sie zu angeln. Man bindet an das Ende einer langen Peitsche ein Stück Speck oder Brot, die Krähe ergreift, verschlingt es; nun packt man sie, dreht ihr dann den Kopf ab, rupft sie, nimmt sie aus, steckt sie auf einen Stock und bratet sie auf einem Feuer.«
»Wie gut wäre es jetzt, an einem solchen Lagerfeuer zu sitzen,« stöhnte ich.
Die Kälte wurde immer empfindlicher, es schien, als ob der Wind selbst erfröre. Heulend und stöhnend prallte er an die Wände des Speichers, damit vermischte sich zuweilen das Heulen der Hunde, das Krähen der Hähne, der wehmütige Glockenklang der Dorfkirche, die in Dunkelheit verborgen war. Die Regentropfen fielen schwer von dem Dach des Magazins auf die feuchte Erde.
»Es ist langweilig, schweigend zu liegen,« sagte mein Schlafgenosse.
»Zum Sprechen ist es aber zu kalt,« bemerkte ich.
»So stecken Sie ihre Zunge in den Busen … Da wird ihr warm werden.«
»Ich danke für den Rat.«
»Also werden wir zusammen gehen, haben wir doch denselben Weg.«
»Ja, wir gehen.«
»So wollen wir uns bekannt machen … Ich bin zum Beispiel ein Edelmann, Pawel Ignatjeff Promtoff.«
Ich stellte mich auch vor.
»Nun, jetzt möchte ich wissen, wie sind Sie auf diesen Pfad geraten, aus Schwäche zum Schnaps, nicht wahr?«
»Aus Ueberdruß am Leben, Langeweile.«
»Na, auch das ist möglich … Kennen Sie eine Veröffentlichung des Senats unter dem Titel: ›Auskünfte über Gerichtsverhandlungen‹?«
»Ich kenne das …«
»Ist Ihr Name dort gedruckt?«
Ich war zu der Zeit noch nirgends gedruckt und sagte ihm das.
»Ich bin ebenfalls nicht ›angedruckt‹.«
»Aber Sie hoffen wohl?«
»Alles ist in Gottes Hand!«
»Aber Sie scheinen mir ein lustiger Mensch zu sein?«
»Nun, soll man sich denn grämen?«
»Nicht jeder würde in Ihrer Lage so sprechen,« sagte ich, die Aufrichtigkeit seiner Worte bezweifelnd.
»Die Lage ist wohl rauh und kalt, sie wird sich aber doch mit Anbruch des Tages ändern. Es wird die Sonne aufgehen … sie wird doch aufgehen? Dann werden wir hier herauskriechen, werden Thee trinken, essen, uns erwärmen. Ist das denn schlecht?«
»Gut,« stimmte ich ein.
»Nun, so sehen Sie, alles Schlechte hat auch seine guten Seiten …«
»Alles Gute hat auch seine schlechten Seiten.«
»Amen!« rief Promtoff im Tone eines Diakon.
Bei Gott, seine Gegenwart heiterte mich auf! Ich bedauerte, daß ich sein Gesicht nicht sehen konnte, welches nach der reichen Intonation seiner Stimme zu schließen, sehr ausdrucksvoll sein mußte. Wir sprachen lange mit einander über Kleinigkeiten, hinter denen wir den beiderseitigen Wunsch, uns kennen zu lernen, verbargen. Im Innern ergötzte mich die Geschicklichkeit des Mannes, mit der er mich nötigte, mich auszusprechen, während er über seine Person schwieg.
Während wir ruhig und friedlich uns unterhielten, hörte der Regen auf, und die Finsternis begann, ohne daß wir es gemerkt hatten, zu weichen. Im Osten erglühte bereits ein zartrosiger Streifen des beginnenden Morgens. Mit dem Anbruch des Tages entwickelte sich gleichzeitig die Frische des Morgens, die so angenehm und anregend auf uns wirkt, wenn sie uns in warmer und trockener Kleidung findet.
»Könnten wir nicht hier etwas auffinden, um uns ein Feuer anzuzünden, trockene Spähne etwa?« fragte Promtoff.
Ueber die Erde kriechend, suchten wir herum, konnten aber nichts finden. Dann entschlossen wir uns, irgend ein nicht ganz fest angebrachtes Brett abzuschlagen. Nachdem das geschehen, verwandelten wir es in Spähne. Hierauf machte Promtoff den Vorschlag, zu versuchen, ein Loch in die Diele des Speichers zu bohren, um Kornfrüchte zu erlangen, da Roggen in Wasser gekocht eine gute Nahrung giebt. Ich protestierte dagegen, mit der Begründung, daß dies nicht angängig wäre, denn wir würden aus dem Magazin einige Pud herauslassen, um vielleicht zwei bis drei Pfund davon zu nehmen.
»Aber was kümmert Sie das?« fragte Promtoff.
»Man muß doch,« so hörte ich, »Achtung vor fremdem Eigentum haben!«
»Das, Väterchen, muß man nur dann, wenn man selbst Eigentum besitzt, und auch nur aus dem Grunde, weil dieses für jeden andern auch fremdes Eigentum ist.«
Ich schwieg und dachte mir, daß dieser Mann doch wohl extrem liberal in Eigentumsfragen sein müßte und infolgedessen die Annehmlichkeit einer Bekanntschaft mit ihm auch ihre Schattenseiten habe.
Bald zeigte sich die Sonne heiter und hell leuchtend. Zwischen den zerrissenen Wolken, die langsam nach Norden zogen, zeigte sich der blaue Himmel, überall erglänzten die Regentropfen. Promtoff und ich krochen unter dem Speicher hervor und gingen durch das abgemähte Feld nach einer Allee von Bäumen, die wir von weitem erblickten.
»Dort ist ein Fluß,« sagte mein Bekannter.
Ich sah ihn mir bei hellem Tageslicht an, und er machte auf mich den Eindruck eines ungefähr vierzigjährigen Mannes, dem das Leben kein Scherz war. Seine Augen, dunkel und tief in ihre Höhlen zurückgesunken, glänzten ruhig und selbstvertrauend. Wenn er dagegen dieselben zusammenkniff, bekam sein Gesicht einen schlauen, verbissenen Ausdruck. In seinem festen Gang, dem festgeschnallten Tornister, zeigte sich die Gewohnheit des Landstreicherlebens, die Erfahrung des Wolfes und die schlaue Anpassungsfähigkeit des Fuchses.
»Wir gehen,« so sprach er. »Gleich hinter diesem Fluß, ungefähr sechs Werst, kommt das Dorf M., von demselben führt dann ein gerader Weg nach Neu-Prag. Um dieses Städtchen wohnen Stundisten, Baptisten und noch andere schwärmende Bäuerlein. Sie verpflegen ausgezeichnet, wenn man ihnen etwas Tröstliches aufschneidet. Aber von der ›Schrift‹ mit ihnen – kein Wort! Sie selbst sind in der Schrift wie zu Hause.«
Wir suchten uns einen Platz unterhalb einer Gruppe von schwarzen Pappeln, sammelten Steine, die am Ufer des von Regen getrübten Flusses herumlagen und brannten auf diesen Steinen ein Feuer an. Ungefähr zwei Werst von uns lag auf einer Anhöhe ein Dorf, auf dessen Strohdächern das rosige Gold der Morgenröte erglänzte. Die Wände der weißen Bauernhäuschen waren verdeckt von pyramidenförmig gewachsenen Pappeln, die mit ihrer Herbstfarbe in der Morgensonne prangten.
»Ich will baden,« erklärte Promtoff, »das ist unbedingt nötig nach einer so schlecht zugebrachten Nacht. Ich rate es auch Ihnen, und während wir uns erfrischen, kocht der Thee auf. Wissen Sie, man muß dafür sorgen, daß unsere Natürlichkeit stets sauber und frisch bleibt.«
Indem er dies sprach, entkleidete er sich. Sein Körper hatte Rasse, er war schön gebaut und mit festen, gut entwickelten Muskeln versehen. Als ich ihn ausgezogen sah, erschienen mir die von ihm abgelegten schmutzigen Lumpen doppelt so häßlich und abscheulich, als bisher. Wir badeten im kalten, schäumenden Wasser des Flusses, sprangen hinaus aufs Ufer, zitternd und blau vor Kälte, und zogen unsere am Feuer erwärmten Kleider schnell an. Hierauf setzten wir uns an den Feuerherd, um Thee zu trinken.
Promtoff hatte einen eisernen Krug. Er füllte denselben mit kochendem Thee und bot ihn mir zuerst an. Allein der Teufel, der immer bereit ist, über den Menschen sich lustig zu machen, rüttelte mich an einer der lügenhaften Saiten meines Herzens, und ich erklärte großmütigst:
»Ich danke! Trinken Sie zuerst, ich will warten.«
Ich sagte dies in der festen Ueberzeugung, daß Promtoff unbedingt Lust haben würde, mit mir in Großmut und Höflichkeit zu wetteifern, woraus ich nachgeben und zuerst trinken wollte. Er aber sagte ganz einfach:
»Nun, gut …« – und brachte den Krug an seinen Mund.
Ich wandte mich zur Seite und besah mir angelegentlich die vor uns liegende öde Steppe. Ich wollte damit Promtoff glauben machen, daß ich seine dunklen, über mich höhnisch spottenden Augen nicht sähe. Er aber schlürfte den Thee, kaute das Brot, mit den Lippen schmatzend, und führte alles dies quälend langsam aus. Vor Kälte zitterte selbst mein Inneres, so daß ich bereit war, den kochenden Thee mir in die Faust einzuschenken.
»Wie,« fragte Promtoff lachend, »ist es etwa nicht vorteilhaft, delikat zu thun?«
»O weh!« sagte ich.
»Nun, so ist's auch hübsch! Lassen Sie sich belehren … Warum denn andern überlassen, was einem selbst angenehm und vorteilhaft ist. Zwar wird gesagt, daß alle Menschen Brüder sind, jedoch hat niemand es versucht, durch einen Geburtsschein dies zu beweisen …«
»Denken Sie in der That so?«
»Wozu würde ich denn so sprechen, wenn ich nicht so gedacht hätte?«
»Wissen Sie, der Mensch liebt doch immer, sich in einem andern Lichte zu zeigen.«
»Ich verstehe nicht, wodurch ich bei Ihnen ein solches Mißtrauen gegen mich erweckt habe …« zuckte dieser Wolf mit den Achseln. »Etwa dadurch, daß ich Ihnen Brot und Thee gab? Ich that aber dieses nicht aus brüderlichen Gefühlen, sondern aus Neugierde. Ich sah einen Menschen in einer fremden Gegend und wollte wissen, wie und wodurch ihn das Schicksal aus dem Leben hinausgestoßen hat …«
»Auch ich möchte das … Sagen Sie mir doch, wer und was Sie sind?« fragte ich ihn. Er sah mich fragend an, und nach einer kurzen Pause sagte er:
»Ein Mensch weiß niemals genau, wer er ist … man muß ihn fragen, für wen er sich selbst betrachtet.«
»Meinetwegen mag es so sein.«
»Nun … ich denke, daß ich ein Mensch bin, dem das Leben zu eng ist. Das Leben ist schmal, aber ich bin breit … Vielleicht ist das nicht richtig. Aber in der Welt giebt es eine eigentümliche Sorte Menschen, die, wie es scheint, von dem ewigen Juden abstammen. Ihre Besonderheit besteht darin, daß sie niemals eine Stätte auf dem Erdboden finden, wo sie sich fest niederlassen könnten. In ihrem Inneren wohnt ein glühendes Verlangen nach etwas Neuem … Die kleinen Menschen unter diesen können sich niemals Hosen nach ihrem Geschmack aussuchen und fühlen sich daher immer unzufrieden und unglücklich. Die Bedeutenderen befriedigt nichts – weder Geld, noch Frauen, noch Ehren … Solche Menschen werden im Leben nicht geliebt – sie sind frech und unverträglich. Die meisten Menschen sind doch bloß Groschen, – Scheidemünze …, sie unterscheiden sich voneinander lediglich durch das Jahr ihrer Prägung. Der eine mehr abgerieben, der andere etwas neuer, aber ihr Wert bleibt derselbe, – das Material einerlei, und in allem sind sie bis zum Ekel einander ähnlich. Aber ich, sehen Sie, bin kein Groschen … obgleich ich vielleicht nur einen Pfifferling wert bin. Da haben Sie alles.«
Er sprach dies mit einem skeptischen Lächeln, und es schien mir, als wenn er selbst seinen eigenen Worten nicht glaubte. Indessen erweckte er in mir eine spannende Neugier, und ich entschloß mich, ihm so lange zu folgen, bis ich erfahren habe, wer er eigentlich sei. Daß er ein sogenannter »intelligenter Mensch« sei, daran war mir kein Zweifel, giebt es doch viele derselben unter den Landstreichern, aber all diese sind tote Menschen, sie verlieren jede Selbstachtung, jede Fähigkeit, ihrem eigenen Wesen irgend einen Wert beizulegen, und ihr Leben besteht lediglich darin, daß sie mit jedem Tag noch tiefer in Schmutz und Niedertracht versinken, bis sie endlich, darin gänzlich aufgelöst, aus dem Leben verschwinden.
Aber in Promtoff war etwas Festes, Standhaftes, und er klagte auch nicht über das Leben, wie seine Schicksalsgenossen es zu thun pflegen.
»Nun gehen wir,« schlug er vor.
»Wir gehen.«
Wir erhoben uns vom Erdboden, erwärmt durch den Thee und die Sonne, und gingen am Ufer, dem Laufe des Flusses folgend, entlang.
»Und wie erlangen Sie Ihre Nahrung,« fragte ich Promtoff. »Arbeiten Sie?«
»Ob ich a-ar-beite? Nein, dazu habe ich keine Lust.«
»Nun, wie machen Sie es denn?«
»Sie werden es schon sehen.«
Er verhielt sich schweigend. Hierauf, als wir einige Schritte gegangen waren, begann er irgend ein lustiges Liedchen durch die Zähne zu pfeifen. Seine scharfblickenden Augen hielten prüfend Umschau über die Steppe, dann schritt er fest weiter wie ein Mann, der seinem Ziele entgegengeht.
Ich schaute ihn an, und das Verlangen, zu erfahren, mit wem ich es zu thun habe, entbrannte immer heftiger in mir.
Eine weite, öde und stille Steppe umgab uns. Ueber uns schien heiter und freundlich die Sonne des Südens. Wir atmeten mit voller Brust die reine, ermutigend wirkende Luft. Wir gingen weiter und weiter, dorthin, wo sich uns eine Fülle kleiner Lämmerwölkchen am Horizonte in einem schönen farbenreichen Bilde darstellte.
Als wir in die Straße eines Dorfes einlenkten, fuhr uns ein Hund kläffend zwischen die Beine und sprang mit lautem Gebell um uns herum. Sobald wir ihn ansahen, sprang er erschreckt und winselnd zur Seite, um sich gleich darauf mit zudringlichem Gebell uns wieder zu nähern. Auf sein Gebell kamen noch mehr Hunde zum Vorschein, die indes nicht dieselbe Hartnäckigkeit besaßen, sondern nach ein- und zweimaligem Gekläff wieder verschwanden. Die Gleichgiltigkeit seiner Genossen schien den braunen Hund noch mehr gereizt zu haben.
»Sie sehen, was für eine gemeine Natur!« sagte Promtoff, mit dem Kopf auf den sich ereifernden Hund zeigend. »Und doch lügt er, er weiß, daß er ohne Grund bellt; er ist auch gar nicht schlecht, er ist bloß feige und will sich vor seinem Herrn auszeichnen. Es ist ein rein menschlicher Zug, und zweifellos in dem Hunde auch durch einen Menschen erzogen. Die Menschen verderben die Tiere … Es wird noch eine Zeit kommen, wo die Tiere bald ebenso gemein sein werden wie ich und Sie.«
»Ich danke schön,« sagte ich.
»Keine Ursache. Indessen muß ich jetzt losschießen.« … Auf seinem ausdrucksvollen Gesicht erschien eine demutsvolle Miene, die Augen blickten blöde, seine Haltung wurde gebeugt und seine Lumpen blähten sich auf.
»Ja, man muß sich an seinen Nächsten wenden mit einer Bitte um Brot,« erklärte er mir seine Umwandlung und begann scharf in die Fenster der Häuser hineinzusehen. An einem Hause unter dem Fenster stand eine Frau, ein Kind auf dem Arm tragend und es mit der Brust nährend. Promtoff verbeugte sich und sagte bittend:
»Gnädigste, geben Sie doch wandernden Leuten Brot.«
»Es thut mir leid,« antwortete die Frau, uns einen verächtlichen Blick zuwerfend.
»Soll dir doch die Milch in der Brust stocken, du Hundestochter!« fluchte mit strenger Stimme mein Mitreisender.
Die Frau schrie auf wie von einer Schlange gebissen und ging auf uns los.
»Ach Sie …«
Promtoff wich nicht von der Stelle, blickte ihr ins Gesicht mit seinen schwarzen Augen, deren Ausdruck wild und unheilverkündend war. Das Weib wurde blaß, zitterte, und etwas vor sich hinmurmelnd, ging sie schnell ins Haus hinein.
»Wollen wir gehen,« schlug ich Promtoff vor.
»Noch nicht! Wir wollen warten, bis sie uns Brot bringt.«
»Sie wird ihren Mann mit der Heugabel auf Sie hetzen.«
»Sie verstehen viel!« lächelte skeptisch dieser Wolf.
Und er hatte recht. Die Frau erschien vor uns, hielt in der Hand einen halben Laib Brot und ein solides Speckstück. Schweigend näherte sie sich Promtoff, machte eine tiefe Verbeugung und sagte bittend:
»Wollen Sie es doch freundlichst nehmen, Mann Gottes, zürnen Sie doch nicht.«
»Es bewahre dich nun Gott vor bösem Auge, vor Behexung und Krankheiten!« segnete sie eindringlichst Promtoff; und wir gingen.
»Hören Sie doch,« sagte ich, als wir uns von dem Hause entfernten, »was ist es bei Ihnen für eine befremdende, um nicht noch mehr zu sagen, Art zu bitten?«
»Diese Art ist eine vollständig richtige … Wenn sie auf ein Weib tüchtig mit den Augen losschießen, so nimmt sie Sie für einen Zauberer, sie erschrickt und giebt Ihnen nicht allein Brot, sondern die ganze volle Tasche ihres Mannes ab. Wozu soll ich denn betteln und mich vor ihr erniedrigen, wenn ich befehlen kann? Ich dachte es mir immer, daß es besser ist, abzunötigen, als zu betteln … Nun, allerdings, wo man nichts abdringen kann, da muß man auch betteln.«
»Kam es aber nicht vor, daß man Ihnen, anstatt Brot …?«
»Auf den Buckel gab? … Nein, sie möchten es bloß probieren. Ich besitze, Väterchen, ein magisches Papierlein … Sobald ich dasselbe einem Bäuerlein zeige, so ist es sofort – mein Sklave. Wollen Sie, ich zeige es Ihnen?«
Ich hielt dieses ziemlich schmutzige und zerknüllte Papierlein in meinen Händen und besah es. Es war ein Durchgangspaß, ausgestellt für Pawel Ignatjef Promtoff, der auf administrativem Wege aus Petersburg ausgewiesen war, um damit von Astrachan nach Nikolajeff zu gehen. Auf dem Dokument war ein Amtssiegel des Astrachaner Polizeiamts aufgedrückt und die entsprechende Unterschrift darunter … alles, wie es sich gehört …
»Ich begreife nicht!« sagte ich, indem ich das Dokument seinem Inhaber zurückgab, »wie kommen Sie, ein aus Petersburg Ausgewiesener, aus Astrachan?«
Er lachte laut, und sein ganzes Wesen drückte seine Ueberlegenheit über mich aus.
»Und doch ist es sehr einfach! Denken Sie mal – man wies mich aus Petersburg aus und stellte es mir unter gewissen Ausnahmen frei, mir einen Wohnort zu wählen. Ich nannte, sagen wir zum Beispiel, Kursk. Ich komme hin und melde mich auf der Polizei … ›Ich habe die Ehre, mich vorzustellen.‹ Die Kursker Polizeiverwaltung kann mich unmöglich freundlich empfangen – hat sie doch von ihren eigenen Sorgen den Kopf voll. – Sie glaubt vor sich einen Gauner zu haben, und zwar einen äußerst gewandten Gauner, den man in der Hauptstadt durch die Macht und Hilfe des Gesetzes nicht loswerden konnte, und zu dessen Ausrottung administrative Maßregeln ergriffen werden mußten. Deshalb wird sie auch immer froh sein, mich irgend wohin abstoßen zu können, und sei es – mit dem Kopf in den Abgrund. Indem ich ihre Verlegenheit sehe, komme ich ihr nun aus Menschlichkeit zu Hilfe. »Da ich« – so schlage ich ihr vor – »mir selbst einen Wohnort gewählt habe, so wird es Ihnen vielleicht recht sein, wenn ich mir auch diesmal wieder ihn selbst wähle?« Die Polizei ist zufrieden, mich vom Halse zu haben. Ich sage ihr auch, daß ich bereit bin, aus dem Gebiete, in welchem sie die Unantastbarkeit der Personen und des Eigentums zu wahren hat, mich zu entfernen; für meine Liebenswürdigkeit muß ich aber etwas auf die Reise haben. Sie geben mir fünf, zehn und mehr Rubel – je nach Stimmung und Charakter. Immerhin geben sie es mit Vergnügen. Ist es den Beamten doch lieber, fünf Rubel zu verlieren, als eine überflüssige Unruhe durch meine Person sich auf den Hals zu laden, nicht wahr?«
»Mag sein,« sagte ich.
»Jawohl, so ist es in der That. Und nun versehen sie mich mit einem Papierlein, welches keine Aehnlichkeit mit einem Paß hat. In diesem Unterschied zwischen diesem Papierlein und einem Paß liegt gerade seine magische Kraft. Auf demselben steht geschrieben: Ad–mi–ni–stra–tiv herausgeschickt aus Pe–ters–burg! O, ich zeige dieses Papier dem Gemeindevorsteher, der in der Regel stockdumm ist, und von dem Inhalt des Papiers nicht das mindeste versteht. Er hat aber Angst vor demselben, ist doch ein Amtssiegel darauf. Ich sage zu ihm: ›Auf Grund dieses Papiers bist du verpflichtet, mir Nachtlager zu geben!‹ Er giebt. ›Du mußt mich verpflegen!‹ Er verpflegt. Anders kann er auch nicht, denn in dem Papier ist ja ausdrücklich gesagt: aus Petersburg administrativ. Weiß der Teufel, was dieses »administrativ« sein mag? Vielleicht bedeutet es, daß sein Inhaber als Geheimpolizist ausgesandt ist, um Untersuchungen über Gewerbeverhältnisse, Falschmünzereien, heimliche Branntweinbrennereien anzustellen, vielleicht gar darüber, ob man fleißig die orthodoxe Kirche besucht. Sodann kann auch sein, daß es sich um Grund- und Bodenverhältnisse handelt. Denn wer kann klug daraus werden, was das »administrativ aus Petersburg« bedeutet. Vielleicht bin ich irgend ein verkleideter … Der Bauer ist dumm, was versteht er denn?«
»Ja, er versteht sehr wenig,« bemerkte ich.
»Das ist eben gut!« erklärte Promtoff sehr lebhaft und überzeugt, »eben so soll er auch sein, und lediglich in einer solchen Gestalt ist er auch unentbehrlich für alle, wie die Luft. Denn, was ist ein Bauer? Ein Bauer ist für alle Menschen Nahrungsmaterial, das heißt ein eßbares Tier. Zum Beispiel ich, könnte ich denn auf der Welt existieren ohne den Bauer? Für die Existenz eines Menschen ist unbedingt nötig: Sonne, Wasser, Luft und der Bauer.«
»Aber der Boden?«
»Wenn nur der Bauer da ist, Erdboden wird schon sein! Man braucht ihm nur zu befehlen: ›he du, Bäuerlein, schaff mal Erde!‹ und die Erde ist geschaffen. Der Bauer kann ja gar nicht ungehorsam sein.«
Er sprach gern, dieser lustige und heitere Kauz! Wir waren schon längst aus dem Dorfe heraus, gingen an vielen Landhäusern vorbei und gelangten von neuem in ein Dorf, welches gleichsam im vergilbten Herbstlaub versunken war. Promtoff schwatzte lustig wie ein Zeisig; ich hörte zu und dachte über den Bauer und über die für mich neue Parasitengestalt, welche den bäuerlichen Wohlstand zernagt, nach. »Wann wird man dem Bauer mit etwas Gutem vergelten, für all das Schlechte, was man ihm so reichlich anthut? Hier neben mir geht ein Produkt des städtischen Lebens, ein cynischer und kluger Landstreicher, der auf Kosten der Säfte dieses Bauern lebt, ein Wolf, der seiner Wolfsmacht vertraut …«
»Hören Sie mal!« – ich erinnerte mich plötzlich eines Umstandes –, »wir begegneten uns unter Lebensverhältnissen, die mich die magische Kraft Ihres Papiers bezweifeln lassen, wie ist das zu erklären?«
»Ei!« lachte Promtoff, »das ist ganz einfach, ich habe schon diese Gegenden passiert, und nicht immer ist es ratsam, sich in Erinnerung zu bringen.«
Seine Offenheit gefiel mir. Offenheit ist immer eine gute Eigenschaft, und es ist zu bedauern, daß man ihr so selten unter anständigen Menschen begegnet. Ich hörte aufmerksam auf das ungezwungene Geschwätz meines Mitreisenden, prüfend, ob er wirklich der war, für den er sich ausgab.
»Hier ist vor uns ein Dorf … Wollen Sie, ich will Ihnen die Macht meines Papierleins zeigen,« schlug Promtoff vor.
Ich wies dieses Anerbieten zurück und ersuchte ihn, mir lieber zu erzählen, wofür man ihn mit diesem Papierlein belohnt hatte.
»Das ist eine lange Geschichte,« sagte er mit einer Handbewegung, »aber ich werde es Ihnen noch einmal erzählen, bis dahin wollen wir ausruhen und etwas beißen. Mit Nahrungsmitteln sind wir vorläufig versehen, ins Dorf zu gehen und den Nächsten zu beunruhigen haben wir jetzt also noch nicht nötig.«
Wir gingen abseits vom Wege und setzten uns auf die Erde, unsere Mahlzeit abzuhalten. Hierauf streckten wir uns hin, recht faul geworden durch die heißen Sonnenstrahlen, wie durch den sanften Steppenwind, und schliefen ein. Als wir nun erwachten, stand die Sonne bereits rot und groß am Horizont, und über die Steppe lagerten sich die Schatten des südlichen Abends.
»Nun sehen Sie« – erklärte Promtoff – »das Geschick will es, daß wir die Nacht in diesem Dörflein zubringen sollen.«
»Kommen Sie, so lang es noch hell ist« – schlug ich vor.
»Haben Sie nur keine Angst, heute übernachten wir unter Dach.«
Er hatte auch recht. Im ersten Bauernhaus, wohin wir uns mit der Bitte um Nachtquartier wandten, lud man uns gastfreundlich ein, einzutreten.
Der Hauswirt, kernig von Gestalt und gutmütig, kam eben von dem Felde gefahren, wo er gepflügt hatte; seine Frau bereitete das Abendbrot. Vier schmierige Bengel, die in einer Ecke des Hauses aneinander gedrängt saßen, blickten von dort aus mit neugierigen, schüchternen Augen auf uns. Die behäbige Frau machte sich viel zu schaffen, flink und stillschweigend ging sie oft vom Hause in den Flur und zurück, indem sie bald Brot, bald Melonen, bald Milch hereinbrachte. Der Wirt saß uns gegenüber auf einer Bank und rieb sich nachdenklich das Kreuz, indem er uns fragende Blicke zuwarf. Es folgte bald darauf eine gewöhnliche Frage. »Wohin gehen Sie denn?«
»Wir gehen, guter Mann, von ›Meer zu Meer‹, bis zur Stadt Kiew,« antwortete lebhaft Promtoff, in den Worten eines alten Wiegenliedes …
»Was giebt es dort in Kiew?« fragte der Mann nach einigem Nachdenken.
»Aber wissen Sie denn nicht, die heiligen Reliquien!«
Der Mann blickte auf Promtoff und spuckte schweigend. Hierauf fragte er: »Woher kommen Sie denn?«
»Ich aus Petersburg, er aus Moskau,« antwortete Promtoff …
»So, so,« sprach der Bauer und zog seine Augenbrauen. »Was ist das, dieses Petersburg? Die Leute sagen, daß es auf dem Meer erbaut ist und vom Meer überflutet wird.«
Die Thüre ging auf, und es erschienen zwei Bauern.
»Wir kommen zu dir, Michael,« erklärte einer von denselben.
»Was führt euch zu mir?«
»Siehst du, es ist so eine Sache … Was sind das für Leute?«
»Diese da?« fragte der Wirt, indem er mit dem Kopfe nach uns zeigte.
»Jawohl.«
Der Wirt schwieg, sann eine Weile nach, drehte langsam den Kopf und erklärte:
»Weiß ich denn? … woher soll ich das wissen?«
»Sie sind wahrscheinlich Wanderer?« fragten sie uns.
»Jawohl,« antwortete Promtoff.
Es stellte sich ein langes Schweigen ein, während dem die drei Bauern uns anhaltend verdächtig und neugierig besahen … Endlich setzten sie sich alle um den Tisch und begannen laut schmatzend blutrote Melonen zu verzehren.
»Vielleicht ist einer von Ihnen auch Schriftkundiger?« wandte sich einer der Bauern an uns.
»Beide,« antwortete kurz Promtoff.
»Wissen Sie denn, was ein Mensch thun soll, wenn es ihn im Rücken sticht und brennt, so daß er nachts nicht schlafen kann?«
»Gewiß wissen wir es!« erklärte Promtoff.
»Na und was denn?«
Promtoff kaute lange an seinem Brote, hierauf reinigte er die Hände an seinen Lumpen und blickte sinnend an die Zimmerdecke, dann begann er in entschiedenem Tone:
»Man pflücke Brennesseln, befehle dem Weibe, in der Nacht mit diesen Brennesseln den Rücken zu reiben, hierauf streiche man Hanföl mit Salz auf die schmerzenden Stellen; das ist alles, was Sie thun können!«
»Und was wird daraus?« erkundigte sich ein Bauer.
»Gar nichts wird daraus,« sagte Promtoff achselzuckend.
»Gar nichts?«
»Jawohl, gar nichts.«
»Na aber, wird es denn helfen?« fragte der Bauer.
»Wird helfen.«
»Na, werde versuchen … Danke Ihnen.«
»Zur guten Gesundheit!« sagte Promtoff mit ernster Miene.
Ein langes Stillschweigen, – Schmatzen der Melonenesser –, Geflüster der Kinder.
»Haben Sie vielleicht gehört,« begann der Hauswirt, »wie ist es … ist Ihnen vielleicht bekannt … vielleicht haben Sie in Petersburg oder in Moskau ›mit der Spitze Ihres Ohres‹ gehört … wegen Sibirien … darf man hinübersiedeln oder nicht? Der Dorfschulze – lügt er, oder spricht er die Wahrheit? – sagte, daß es durchaus nicht geht.«
»Man darf nicht!« – erklärte Promtoff kurz.
Die Bauern sahen sich gegenseitig an, und der Wirt murmelte vor sich hin:
»Mag ihm doch ein Frosch in den Bauch kriechen.«
»Man darf nicht!« erklärte von neuem Promtoff, und sein Gesicht nahm einen verklärten Ausdruck an. »Und zwar darf man es deshalb nicht, weil überall so viel Boden vorhanden ist, als man haben will.«
»Richtig ist es zwar, daß für die Toten überall genug Erde vorhanden ist, für die Lebendigen aber wäre noch zu wünschen, daß …« erklärte bitter ein Bauer.
»In Petersburg hat man beschlossen,« fuhr Promtoff feierlich fort, »den Bauern und Gutsbesitzern ihren Grund und Boden abzunehmen, für die Krone nämlich.«
Die Bauern stierten ihn wild mit den Augen an und schwiegen. Promtoff warf ihnen strenge Blicke zu und fragte:
»Abnehmen für die Krone, wissen Sie denn warum?«
Das Schweigen nahm einen gespannten Charakter an, und die armen Bäuerlein schienen vor Staunen und Erwartung zu bersten. Ich sah sie an und konnte kaum meine Wut über die Art und Weise, wie Promtoff diese armen Leute zum besten hatte, zurückhalten. Aber sein freches Lügengewebe aufdecken, hieße ja, ihn den Fäusten der Bauern preisgeben. Ich schwieg daher, niedergedrückt von diesem unerfreulichen Dilemma.
»So sprechen Sie doch, guter Mann,« bat leise und schüchtern einer der Bauern.
»Es soll der Boden deshalb abgenommen werden, damit die ganze Erde gerecht und richtig unter die Bauern verteilt wird. Es ist dort« – Promtoff führte dabei eine seitliche Handbewegung aus – »anerkannt worden, daß der Bauer der wahre Wirt der Erde ist, und deshalb wurde also verordnet, niemand nach Sibirien zu lassen. Die Verteilung ist nun abzuwarten.«
Einem der Bauern fiel bei diesen Worten ein Stück Melone aus der Hand. Sie alle blickten Promtoff auf den Mund mit gierigen Blicken und schwiegen, bestürzt über seine wunderbare Verkündigung. Nach einigen Sekunden ertönte gleichzeitig ein vierfacher Aufschrei:
»O heilige Mutter Gottes!« seufzte hysterisch die Frau.
»Ach, vielleicht lügen Sie?«
»So sprechen Sie doch, guter Mann!«
»Nun weiß ich, warum die Morgenröten in diesem Jahre so auffallend grell waren,« schrie überzeugt der Bauer mit den Kreuzschmerzen auf.
»Das ist bloß ein Gerücht,« sagte ich, »vielleicht stellt sich das noch als eine Erfindung heraus.«
Promtoff sah mich mit wahrem Staunen an und sprach erregt:
»Wieso ein Gerücht? Wieso eine Erfindung?«
Und es strömte aus seinem Munde eine Melodie der frechsten Lügen, – eine süße Musik für seine Zuhörer, außer mir. Er verfaßte viel Erheiterndes und Hinreißendes, so daß die Bauern bereit waren, »ihm in den Mund hineinzuspringen«, mir aber wurde eigentümlich zu Mute, diese phantasievolle Lüge anzuhören, welche in ihrem Endresultate auf die Köpfe dieser beschränkten Leute ein großes Unglück heraufbeschwören konnte. Ich ging aus dem Hause und legte mich auf den Hof, darüber nachdenkend, wie ich das häßliche Spiel meines Reisekameraden vereiteln könnte. Noch lange klang seine Stimme in meinen Ohren, dann schlief ich ein …
Ich wurde von Promtoff bei Sonnenaufgang geweckt.
»Stehen Sie auf, wir gehen!« sprach er.
Neben ihm stand verschlafen der Hauswirt, und die Reisetasche Promtoffs war gespannt nach allen Seiten. Wir verabschiedeten uns von ihm und gingen fort. Promtoff war heiter, sang, pfiff und blickte mich von der Seite ironisch an. Ich überlegte eine Rede für ihn, während ich stillschweigend an seiner Seite schritt.
»Nun, warum kreuzigen Sie mich nicht?« fragte er plötzlich.
»Und Sie gestehen also, daß es Ihnen zukommt?« erkundigte ich mich trocken.
»Nu, das versteht sich doch von selbst. Ich verstehe Sie und weiß, daß Sie mich dafür hassen. Ich will Ihnen sogar sagen, wie Sie es machen würden. Wollen Sie? Doch – wozu diese Aufregung? Lassen Sie es lieber. Was für Schlimmes ist darin, daß die Bauern etwas schwärmen werden? Sie werden dadurch nicht klüger. Ich aber gewinne dadurch. Sehen Sie mal, wie sie meine Reisetasche vollgepackt haben!«
»Aber Sie könnten doch die Leute unter den Stock bringen!«
»Kaum … Und wenn auch? Was geht mich der fremde Rücken an? wenn ich nur den meinigen schadlos halte. Das ist freilich unmoralisch, aber was geht es mich wieder an, ob es moralisch oder unmoralisch ist? Gestehen Sie doch, daß es ganz egal ist!«
»Wahrhaftig,« dachte ich, »der Wolf mag gar nicht so unrecht haben …«
»Nehmen wir sogar an, daß sie durch mich auch leiden werden, aber würde trotzdem auch nachher der Himmel nicht noch ebenso blau und das Meer ebenso salzig sein?«
»Thun Ihnen die Leute nicht leid?«
»Mit mir hat auch keiner Mitleid … Ich bin wie die Männertreu, und jeder, dem mich der Wind unter die Füße weht, stößt mich zur Seite.«
Er war ernst und konzentriert böse, und seine Augen glänzten rachgierig.
»Ich verfahre immer so, und zuweilen noch schlimmer … Einem Bauern im Soratower Gouvernement empfahl ich gegen Leibschmerzen auf Schaben gegossenes Baumöl zu trinken … weil er geizig war. Welch eine Unzahl von Bosheiten und drolligen Späßen habe ich nicht schon im Laufe meiner Wanderung angerichtet? Wieviel albernen Aberglauben und Schwärmereien führte ich nicht in die geistige Atmosphäre der Bauern ein? Und überhaupt, ich geniere mich gar nicht das zu gestehen … Warum sollte ich das? auf Grund welcher Gesetze, frage ich? Es giebt keine anderen Gesetze außer denen, die in mir sind! Das ist meine Ueberzeugung.«
»Indessen, womit Sie prahlen!« …
... »Mit schlechtem, freilich von Ihrem Standpunkte aus … Aber ich, sehen Sie, bin kein Freund von wohlanständigen Gesichtspunkten .. Ich nehme an, daß, wenn man mich – mit der Knute, so muß ich nicht mit der Stirn, sondern ebenfalls mit dem Stock …«
Als ich das hörte, dachte ich mir, daß es meinerseits sehr vernünftig sein würde, den ersten Psalm des Königs Davids mir vor die Seele zu führen und einem Sünder aus dem Wege zu gehen. Aber vorher wollte ich seine Lebensgeschichte noch kennen.
Ungefähr drei Tage brachte ich noch in seiner Gesellschaft zu, und in diesen drei Tagen überzeugte ich mich von vielem, was ich früher nur vermutet hatte. So ist mir zum Beispiel klar geworden, auf welchem Wege in den Reisesack Promtoffs verschiedene unnötige und alte Sachen hineingeraten waren, wie kupferne Leuchter, Spitzenstücke, Korallenschnüre und dergleichen. Ich erkannte, daß ich meine Rippen der Gefahr aussetzte, und daß ich sogar dahin geraten könnte, wo gewöhnlich derartige Sammler wie Promtoff hineingeraten. Es war dringend nötig, mich von ihm zu trennen … Aber, seine Geschichte!
Und siehe da, eines Tages, als uns ein rauher Sturm das Vorwärtsschreiten unmöglich machte, und wir zitternd vor Kälte uns in einen Heuschober flüchteten, erzählte mir Promtoff dieselbe.