Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
. . . Nachdem er sein Abendgebet gesprochen hatte, zog sich Tichon Pawlowitsch langsam aus und kratzte seinen Rücken. Dann trat er ans Bett, das von einem bunten, weiten Kattunvorhang halb verdeckt war.
»Und gib uns deinen Segen, Herr,« flüsterte er noch einmal gähnend und machte das Zeichen des Kreuzes über seinem Munde. Und dann schob er den Vorhang weg und betrachtete die breite, mächtige Gestalt seiner Frau, die von den weichen Falten des Bettuches bedeckt war.
Tichon Pawlowitsch zog streng die Brauen zusammen und musterte eingehend und aufmerksam die unbewegliche, vom Schlaf überwältigte Fettmasse.
»'ne Maschine,« murmelte er halblaut.
Er ging an den Tisch zurück, löschte die Lampe aus und brummte wieder:
»Hab ich ihr nicht gesagt, der Hexe: komm in den Heuschober schlafen. Nein, sie wollte nicht. So 'n Eichenklotz. Na also, schieb dich ein bissel.«
Er schob seine schlafende Ehehälfte vorsichtig mit der Faust zur Seite und streckte sich neben ihr aus, ohne sich mit dem Bettuch zuzudecken, und dann stieß er sie noch einmal, nichts weniger als zärtlich, mit dem Ellbogen. Sie stieß einige unartikulierte Laute aus und bewegte sich heftig; schließlich drehte sie sich, laut schnarchend, auf die andere Seite.
Tichon Pawlowitsch seufzte bekümmert und blinzelte durch eine Falte des Bettvorhanges zur Decke hinauf. Zitternde Schatten bewegten sich dort oben, die das Mondlicht hervorrief und die ewige Lampe, die in der Ecke des Schlafzimmers vor einem Heiligenbilde hing. Durch das offene Fenster drang der stille, laue Nachtwind aus dem Garten herein, und mit ihm kam das leise Rauschen der Blätter, der Erdgeruch und der Geruch von frischem Fell. Man hatte es heute dem Braunen abgezogen, und nun hing es an der Speicherwand zum Trocknen. Von dem Mühlrad fielen mit einem weichen Laut einzelne Tropfen und im Walde hinter dem Damm schrie eine Rohrdommel. Leise glitt der tiefe, stöhnende Ton durch die Luft, und wenn er aufhörte, rauschten die Blätter noch stärker und von irgendwoher kam das summende Lied einer Mücke.
Tichon Pawlowitsch verfolgte die Schatten am Plafond, bis ein Schein in der vorderen Ecke des Zimmers seinen Blick anzog. Das Flämmchen der ewigen Lampe zuckte dort leise im Winde, und das dunkle Gesicht des Heilands trat bald hellerleuchtet hervor, bald wurde es noch dunkler. Einen großen, schweren Gedanken schien es zu denken, und Tichon Pawlowitsch seufzte und bekreuzte sich inbrünstig.
Ein Hahn krähte.
»Ist's denn schon zwölf?« fragte sich Tichon Pawlowitsch. Jetzt krähte ein zweiter Hahn, ein dritter, und so ging es fort, bis endlich hinter der Wand der Rote aus Leibeskräften aufkreischte; aus dem Hofe antwortete der Schwarze, und jetzt war der ganze Geflügelhof wach und feierte laut und eifrig die Mitternacht.
»Teufel,« fluchte Tichon Pawlowitsch wütend, »ich kann nicht schlafen, daß euch . . .«
Nach dem Fluchen wurde ihm etwas wohler. Die entsetzliche, unerklärliche Schwermut, die ihm das Herz abdrückte seit seiner letzten Fahrt in die Stadt, quälte ihn weniger, wenn er böse war; und wenn er wütend wurde, verschwand sie ganz. Aber in den letzten Tagen lief alles im Hause so ruhig und glatt ab, daß er seiner bedrängten Seele nicht einmal durch einen herzhaften Fluch Luft machen konnte. Kein Mensch und kein Ding gaben einen richtigen Anlaß; man hatte gemerkt, daß der Hausherr bei schlechter Laune war und man richtete sich danach. Und Tichon Pawlowitsch sah, daß das ganze Haus sich vor ihm fürchtete und ein Unwetter erwartete, und er fühlte sich gewissermaßen vor allen schuldig, was ihm noch nie passiert war. Er schämte sich förmlich, weil alle im Hause plötzlich so schweigsam waren und vor ihm davonliefen, und das schwere, unverständliche Gefühl, das er aus der Stadt mitgebracht hatte, quälte ihn mehr und mehr.
Nicht mal Kusma Kociak, der neue Müllerknecht, ließ sich bei einer Sünde ertappen. Er war ein frischer, junger Bursch, kräftig und rauflustig. Seine Augen waren heiß und blau; regelmäßige, kleine Zähne hatte er, weiß wie Schaum waren sie und immer zu einem etwas frechen Lächeln gefletscht. Aber jetzt schlich er förmlich, wurde dienstfertig und ehrerbietig; seine lustigen Lieder, die er sonst so gerne sang, hatten aufgehört und die Witzworte, die er sonst nach allen Seiten schleuderte, verstummten. Und Tichon Pawlowitsch merkte das alles und dachte im stillen: Ich muß nett geworden sein, Teufel auch. Und immer mehr fühlte er sich in der Macht von einem dunkeln, unbestimmten Etwas, das ihm am Herzen nagte.
Tichon Pawlowitsch liebte es, mit sich und seinem Leben zufrieden zu sein, und wenn ihn dies Gefühl überkam, war er immer noch bemüht, die Stimmung künstlich zu erhöhen. Er dachte dann an seine Wohlhabenheit, an die Achtung, die die Nachbarn vor ihm hatten, und an alles andere, was ihn in seinen Augen erhöhen konnte. Alle im Hause kannten diese Schwäche des Hausherrn, die vielleicht nicht einmal Ehrgeiz war, sondern nur der Wunsch eines gesunden, satten Wesens, das Gefühl seiner Gesundheit und Sattheit noch mehr zu genießen. Diese Stimmung brachte Tichon Pawlowitsch zu einer gewissen Gutmütigkeit den Menschen und Dingen gegenüber, und wenn er sich auch nie etwas in seiner Würde vergab, so hatte er unter seinen Bekannten doch den Ruf eines gutherzigen Mannes. Und nun war plötzlich dies lebensfrohe, beharrliche Gefühl verschwunden, fortgeflogen, erloschen, und an seiner Stelle stand etwas Neues, Schweres. Und es war so dunkel und unbegreiflich, dieses Neue.
»Pfui, Teufel, daß dich . . .« flüsterte Tichon Pawlowitsch und lauschte auf die stillen Seufzer der Nacht. Er lag noch immer neben seiner Frau, und ihm wurde unerträglich heiß unter dem dicken, weichen Deckbett; unruhig warf er sich hin und her, wünschte seine Gattin zu allen Teufeln und ließ schließlich die Beine auf den Boden hinuntergleiten. Dann setzte er sich auf den Bettrand und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.
Im Dorf, das fünf Werst von der Mühle entfernt lag, schlug die Glocke des Nachtwächters. Die traurigen Metalltöne schwangen sich vom Kirchturm herab, langsam segelten sie durch die stille Luft, um dann spurlos zu verschwinden. Im Garten knisterte ein Zweig und im Walde schrie wieder die Rohrdommel. So dumpf und trübe klang das und dabei doch höhnisch, als wollte die Rohrdommel Tichon Pawlowitsch auslachen.
Er stand auf und setzte sich in einen Ledersessel, der am Fenster stand. Er hatte ihn unlängst bei einer Nachbarin, einer alten verkrachten Gutsbesitzerin, für zwei Rubel erstanden, und wie das kühle Leder jetzt seinen Leib berührte, zuckte er zusammen und sah sich scheu um.
Es war schwül. Durch die Blumentöpfe auf dem Fensterbrett und die Zweige des Ahorns, der vor dem Fenster stand, drangen die Mondstrahlen ins Zimmer und zeichneten ein zitterndes, schattenhaftes Muster auf der Diele. Einer der Flecke, gerade in der Mitte, sah aus wie der Kopf der alten Gutsbesitzerin. Wie damals beim Handel schwankt der alte Kopf in der dunklen Pelzmütze vorwurfsvoll hin und her und die alten Lippen bewegen sich lispelnd.
»Fürcht dich vor Gott, Müller. Mein Seliger hat den Stuhl kurz vor seinem Tode für achtzehn Rubel gekauft. Und ist's denn lange her, daß er tot ist? Der Stuhl ist ganz neu, und du bietest anderthalb Rubel?«
Und da liegt auch schon der Selige, Fiodor Petrowitsch, neben ihr auf dem Fußboden; ganz deutlich sieht Tichon Pawlowitsch den zottigen Kopf mit dem dichten, langen Schnurrbart.
»Gott steh mir bei,« seufzte Tichon Pawlowitsch und stand vom Stuhle auf. Dann hob er die Blumen vom Fensterbrett, stellte sie auf den Fußboden und setzte sich selbst an ihre Stelle. Die Schatten auf der Diele wurden schärfer und heller.
Hinter dem Fenster war's still und trübe. Unbeweglich standen im Garten die Bäume, wie zu einer dunkeln, dichten Mauer zusammengekeilt, hinter der etwas Schreckliches vorgehen mußte. Und vom Mühlrad tropfte das Wasser so monoton und dabei doch helltönend, als wollte es etwas reinwaschen. Unmittelbar unter dem Fenster schwankten die langen Stiele der Malven. Tichon Pawlowitsch bekreuzte sich und schloß die Augen. Und da erstand langsam in seiner Phantasie wieder jene Geschichte in der Stadt, die ihn um seine Ruhe gebracht hatte.
Über die staubige, von grellen Sonnenstrahlen durchglühte Straße bewegt sich langsam ein Leichenzug. Die Ornate des Geistlichen und des Diakons blenden die Augen mit ihrem Glanz; das Weihrauchfaß in den Händen des Diakons schwankt, und kleine, blaue Wölkchen zerfließen in der Luft.
»Hei-ei-li-«, singt der kleine, graue Geistliche mit dünner Tenorstimme.
»-ger«, ergänzt der tiefe Baß des Diakons den Gesang. Der Diakon ist ein großer, stämmiger Mann mit einem Kranz dichter, schwarzer Haare über dem Gesicht und großen, guten Augen, die fortwährend lächeln.
»Gott,« fließen die beiden Stimmen ineinander und steigen zusammen in die wolkenlose, blendende Höhe auf, wo alles so still und leer ist.
»Unsterblicher,« brüllt der Diakon, und seine mächtige Stimme übertönt alle Geräusche der Straße: das Kreischen der Wagenräder und das Scharren der Füße auf dem Pflaster und das halbunterdrückte Gemurmel der zahlreichen Menge, die den Toten begleitet. Und wieder brüllt er und reißt die Augen auf so weit er kann, und dann dreht er sein bärtiges Gesicht nach den Leidtragenden um, als wollte er sagen:
»Eh, diesen Ton hab ich aber gut rausgebracht.«
Im Sarge liegt ein Herr in einem Überrock. Das Gesicht ist spitz und mager und es ist in einem so ruhigen und ernsten Ausdruck erstarrt.In Rußland wird der Sarg offen über die Straße getragen und erst am Friedhof der Deckel darüber geschraubt. Der Sarg wird ungleichmäßig getragen und der Kopf des Toten fällt bald auf die eine und bald auf die andere Seite. Tichon Pawlowitsch wirft einen Blick in dies Gesicht und bekreuzt sich seufzend, und dann folgt er dem Zuge, von der Menge mitgezogen und lebhaft durch die mächtige Stimme und Gestalt des Diakons angezogen. Der Diakon geht und singt, und wenn er gerade nicht singt, plaudert er ruhig mit einem der neben ihm herschreitenden. Der Mann, der da im Sarge liegt, scheint in dem Diakon keine traurigen Gedanken zu wecken, und er denkt wohl nicht daran, daß man ihn auch einmal so über die Straße tragen wird, um ihn in die Erde zu verscharren, und daß er dann keinen einzigen Ton mehr wird singen können, auch den allerniedrigsten nicht.
Und in Tichon Pawlowitsch steigt ein unangenehmes Gefühl gegen den lustigen Diakon auf. Er bleibt stehen und läßt eine ganze Menge Leute vorgehen. Und dann wendet er sich an einen Gymnasiasten:
»Wer wird da begraben, mein Lieber?«
Der Gymnasiast schaut ihn groß an und antwortet gar nichts. Das beleidigt Tichon Pawlowitsch . . .
»So ein kleiner Bursch und hat keine Spur von Achtung vor älteren Leuten. Hauen müßt man euch. Meinst, ich werde nicht erfahren, was ich wissen will? So 'ne Bande!«
Er geht weiter und kommt wieder an den Sarg. Den tragen vier Männer, aber sie gehen rasch und halten nicht Schritt, so daß dem einen fortwährend der Zwicker von der Nase herunterfällt. Und wenn er ihn wieder auf seinem Nasenbein festklemmt, schüttelt er seine dichte, rote Mähne.
»Der Selige muß nicht schwer sein,« denkt Tichon Pawlowitsch, »'n Beamter wahrscheinlich, die sind immer so 'n bißchen hager . . .«
Der ganze Zug bewegt sich so rasch, als wenn der Tote schon bei Lebzeiten allen entsetzlich überdrüssig geworden wäre, so daß man jetzt froh ist, ihn endlich loszuwerden. Tichon Pawlowitsch bemerkt es.
»Wie sie laufen!« denkt er. »Und warum haben sie solche Eile? Auch Menschen das. War er nicht auch ein Geschöpf Gottes und hat das getan und jenes getan? Und wenn er tot ist, schmeißen sie ihn mir nichts dir nichts in die Grube. ›Geh, wir haben keine Zeit‹.«
Und Tichon Pawlowitsch wird ganz elend zumute. Die Zeit wird kommen, wo man auch ihn so schleppen wird. Vielleicht ist sie nicht mal ferne. Er ist siebenundvierzig Jahre alt.
»Und was ist denn das?« fragt er sich selbst. Auf dem Sargdeckel liegen Kränze, Bänder mit goldenen Buchstaben und Blumen.
»N' ja . . . es muß doch eine wichtige Persönlichkeit gewesen sein. Aber die Leidtragenden sehen doch alle 'n bißchen ärmlich aus. Es ist doch lauter Elend . . . Wer wird denn da begraben?« fragt der Müller einen wohlgestalteten Herrn mit einer Brille und gekräuseltem Bart.
»Ein Schriftsteller,« antwortet der Herr leise, und dann läßt er einen Blick über die Gestalt Tichon Pawlowitsch' gleiten und fügt erklärend hinzu: »ein Mann, der Bücher geschrieben hat.«
»Wir verstehen schon,« antwortet Tichon Pawlowitsch rasch, »auf die ›Niwa‹ sind wir auch abonniert und das Töchterchen liest sie alle. War der Selige einer von den Bedeutenden?«
»Nein . . . keiner von den Bedeutenden,« lächelt der Herr mit der Brille.
»So . . . das macht nichts . . . doch ein verdienstvoller Mensch . . . Die Sonne hat einen andern Ruhm als der Mond und nicht alle Sterne glänzen gleich . . . Aber Kränze sind doch da. Und heiß ist's heute.«
Tichon Pawlowitsch tut das Herz weh, er weiß nicht warum, aber ihm tut das Herz weh . . . als wenn ihn jemand mit Zangen kniffe, und es drückt so.
Und die tiefe Stimme des Diakons singt noch immer . . .
»Heiliger, Unsterblicher . . .«
Und der zitternde Tenor des Geistlichen bricht sich mühselig Bahn durch die tiefen Baßwellen des Diakons und fleht leise und schüchtern:
»Erba–arm dich unser.«
Die Füße der Leidtragenden schlagen dumpf gegen den Boden und wirbeln Staub auf; der Verstorbene schüttelt den Kopf und darüber spannt sich hoch der heiße, klare Julihimmel.
Tichon Pawlowitsch fühlt sich sonderbar bedrückt. Er will weder denken noch sprechen. Er paßt sich dem Schritt der Nachbarn an und läßt sich von der allgemeinen trüben Stimmung mitreißen. Er geht mit, und tief drinnen in der Brust sitzt ihm dieser saugende Gram, und er hat weder Luft noch Kraft genug, ihn zu verjagen.
Man kommt auf den Friedhof, bleibt am Grabe stehen und stellt den Sarg auf den Hügel Erde, der neben der Grube aufgeworfen ist. Und das geschieht alles so ungeschickt, so sonderbar! Der Verstorbene bekommt einen Ruck und wendet sich halb nach dem Grabe um, dann fällt er wieder in seine frühere Stellung zurück. Es ist, als hätte er Umschau gehalten und sei jetzt froh, daß man nun bald aufhören werde, ihn zu rütteln und in der Sonne zu braten. Und der Diakon brüllt noch immer aus Leibeskräften, der Geistliche müht sich, nicht hinter ihm zurückzubleiben; irgend jemand aus der Menge singt dumpf mit. Die Töne steigen über dem Friedhof auf; sie verfangen sich zwischen den Kreuzen und den ausgemergelten Bäumen, und sie bedrücken Tichon Pawlowitsch.
Und jetzt kommt die Hauptsache.
Der wohlgestaltete Herr, den Tichon Pawlowitsch nach dem Verstorbenen gefragt hatte, tritt an den Rand des Grabes, fährt sich mit der Hand durchs Haar und sagt:
»Meine Herrschaften! . . .«
Er sagt das so, daß der Müller zusammenschrickt und den Blick noch fester auf ihn richtet. Die Augen des Herrn glänzen sonderbar. Er senkt sie erst auf das offene Grab zu seinen Füßen, dann läßt er sie über das Publikum gleiten, und die Pause zwischen dem ersten Ausruf und der eigentlichen Rede ist so lang, daß alle, die am Friedhof sind, Zeit haben, still zu werden und vor Erwartung förmlich zu erstarren. Und dann beginnt eine weiche Baßstimme zu sprechen, eine träumerische, fast traurige Stimme. Der Redner begleitet seine Worte mit weiten Handbewegungen und seine Augen leuchten hinter den Brillengläsern. Tichon Pawlowitsch versteht nicht alles, was der Herr sagt, aber er begreift doch, daß der Verstorbene arm gewesen ist, obwohl er zwanzig Jahre für das Wohl seiner Mitmenschen gearbeitet hatte, und er hat keine Familie gehabt, niemand hatte ihn geliebt und niemand hatte ihn geschützt. Bis er vor Ermattung im Spital gestorben war, einsam, wie er sein lebelang gewesen war.
Tichon Pawlowitsch tut der verstorbene Schriftsteller leid und das Weh in seiner Brust wird noch größer. Er sieht den Toten scharf an, er mißt dies magere, eingefallene Gesicht mit den Augen und dann die kleine, dünne, gerade Gestalt, und plötzlich findet er, daß der Selige wie ein Nagel aussieht. Und er lächelt über seinen Gedanken. In diesem Augenblick erhöht der wohlgestaltete Herr seine Stimme und ruft: »Ein Schicksalsschlag nach dem andern traf dieses Haupt, bis es endlich erschlagen wurde. Da liegt er, ein Mann, der sein ganzes Leben der undankbarsten, der schwersten Arbeit geweiht hat: ein gutes Leben bereiten auf Erden für alle Menschen, für alle Menschen ohne Ausnahme . . .«
Die Augen des Redners bleiben in diesem Augenblick gerade an Tichon Pawlowitsch' Gesicht hängen. Sie fangen das Lächeln auf und schleudern einen zornigen Blick auf den Müller. Und Tichon Pawlowitsch überkommt eine gewisse Verlegenheit und er zieht sich um einen Schritt zurück, er fühlt sich beinahe schuldig vor dem Verstorbenen und vor diesem Manne, der von ihm spricht.
Die Sonne brennt unbarmherzig, der blaue Himmel blickt so ruhig auf das Totenfeld hinunter und auf die Menge um das Grab, und die Stimme des Redners spricht noch immer, traurig und die Seele ergreifend.
Tichon Pawlowitsch wendet leise den Kopf und sieht die finsteren Gesichter der andern. Er ist nicht der einzige, den der Gram erfaßt hat.
»Wir haben unsere Seelen mit dem Unrat der kleinlichsten Sorgen erstickt und haben uns gewöhnt, ohne Seele zu leben, wir haben uns so sehr daran gewöhnt, daß wir nicht einmal mehr merken, wie hölzern und gefühllos und tot wir alle geworden sind. Und wir verstehen Menschen, wie ihn, nicht mehr.«
Und Tichon Pawlowitsch hört zu.
»Er,« das ist der Tote; aber sie sind ja alle tot, wenn man diesem wohlgestalteten Herrn glauben soll, alle, alle, denn sie haben ja ihre Seelen mit Unrat erstickt.
»Richtig,« sagte er jetzt zu sich selber, »das ist wahr . . . hab ich denn nicht meine Seele vergessen, großer Gott?« Tichon Pawlowitsch seufzte und öffnete wieder die Augen. Eine Welle der warmen Nachtluft ergoß sich durch das geöffnete Fenster, und sie überschüttete den träumenden Mann mit dem Duft des taufrischen Grases und der Blumen. Aber auch der Geruch des muffigen, stehenden Wassers aus dem Teiche kam mit hinein.
Die Schatten auf der Diele erzitterten noch stärker, als wollten sie versuchen, sich zu erheben und fortzufliegen. Der Müller stand vom Fensterbrett auf, schob den Lehnstuhl wieder auf seinen alten Platz und trat ans Bett zurück. Seine Frau hatte das Deckbett im Schlaf abgeworfen, sie schnarchte und schnaufte und hatte die fleischigen Arme auseinandergeworfen. Diese Arme und die entblößte Brust seiner Frau schienen Tichon Pawlowitsch in dieser Nacht nicht am Platze, sie verhöhnten ihn förmlich. Wütend warf er das Leintuch über den Leib des Weibes, nahm ein Kissen und ging wieder ans Fenster. Er setzte sich wieder in den Lehnstuhl, legte das Kissen aufs Fensterbrett und stützte sich darauf.
Und wieder begann er zu grübeln.
Seit jenem Begräbnis lebte ein Gefühl in ihm, das ihn zwang, sich selbst wie einen ganz fremden Mann zu betrachten, den er zwar kannte, der ihm aber gleichzeitig ganz neu war.
»Aj, aj, aj, Tichon, aj, aj, aj,« murmelte er kopfschüttelnd, »was ist denn das mit dir, Bruderherz?« Er machte sich Vorwürfe, ohne sich recht klar darüber zu werden, was er meinte, sein früheres Leben oder dies neue, grämliche. Und plötzlich fiel ihm eine Schar weißer Tauben ein, die an jenem denkwürdigen Begräbnistag hoch am Himmel über dem Friedhof geschwebt hatte. Er schloß die Augen und stellte sich ganz deutlich die weißen Punkte an dem blauen Himmel vor . . . und wieder machte er sich Vorwürfe . . .
»Was, Bruder, hat's jetzt 'n bißchen Not bei dir? Nun, und leb jetzt so, quäl dich.«
Ringsum war alles so deutlich hell und dabei doch beängstigend still, als erwarte er etwas. Und die unruhigen, sonderbaren Gedanken, Gedanken, die den Lauf des täglichen Lebens unterbrechen, bewegten sich noch immer durch das ungeübte Hirn des Müllers. Sie kamen und schwanden und kamen wieder, aber in noch größeren Massen, noch schwerer. So fliegt an Sommertagen ein Wölkchen über den Himmel und schwindet und wächst irgendwo in den Strahlen der Sonne . . . aber dann kommt noch eines und noch . . . und noch . . . und über die Erde kriecht schließlich eine grollende, unheilschwere Gewitterwolke. Von den vielen Gedanken hatte sich bei dem Müller eine neue, sonderbare Eigenschaft entwickelt. Er merkte alles und behielt alles, und bei allem stellte er sich die Frage: Wozu ist das nötig?
Niemand von uns ist vor einem solchen Anprall von Gedanken sicher, die das gewohnte tägliche Leben erschüttern, und jeden kann die ernste Frage: »Warum?« zur gleichen Kümmernis bringen.
»Wir ersticken unsere Seele.« Tichon Pawlowitsch fielen wieder die Worte des Redners ein, und er krümmte sich förmlich. Dieser Mann hatte ihm das mit so gerührter Stimme zugerufen und hatte so traurig dazu gelächelt. Und Tichon Pawlowitsch fühlte die Wahrheit dieser Worte.
»Es ist richtig,« dachte er jetzt wieder, »meine Seele lebt nicht, Geschäfte, immer Geschäfte, das ist die Hauptsache. Ich habe keine Zeit, an meine Seele zu denken. Und nun ist sie plötzlich und wahrhaftig auferstanden . . . Jetzt hat sie eine günstige Stunde abgepaßt und ist wieder heraufgekommen . . . Also, da hast du's. Das sind Geschäfte. Und wozu viel Geschäfte machen, wenn man doch sterben muß? Für den Tod? . . . Womit treten wir vor Gottes Antlitz? Und da rüttelt die Seele uns auf: ›Ermanne dich, Mensch, denn du weißt nicht, wann deine Stunde kommt . . . Herr, erbarme dich . . .‹« Über Tichon Pawlowitsch' Leib lief ein Schauer, er bekreuzte sich und blickte scheu nach der Ecke, wo das Bild des Heilands hing. Immer noch zitterten die Schatten der ewigen Lampe auf seinem Gesicht; es war noch immer so dunkel und ernst und schien seinen großen Gedanken zu denken, immer, in Ewigkeit . . . Den Müller überlief es ganz kalt . . . Und was, wenn er plötzlich jetzt . . . oder nein, morgen . . . was, wenn er morgen plötzlich stirbt . . . Das passiert. Man ist erst gar nicht krank, aber man legt sich einfach nieder und stirbt . . . fertig.
»Anna,« rief Tichon Pawlowitsch laut, »Anna, ich kann sie nicht packen, die Worte zu meinen Gedanken . . . Wache wenigstens für einen Moment auf, um Gottes Barmherzigkeit willen . . . Ein Mensch quält sich und sie schläft!«
Aber seine Frau hörte nicht, vom Schlaf überwältigt. Und ohne ihre Antwort abzuwarten, stand Tichon Pawlowitsch auf und zog sich an. Er ging auf die Veranda hinaus, blieb dort einen Moment stehen und schritt in den Garten.
Es tagte schon. Im Osten wurde es hell und unter einer grauschwarzen Gewitterwolke, die sich schwer, fast unbeweglich, am Horizonte streckte, kam ein hellroter Streifen hervor. Die Wipfel der Linden und Ahornbäume schwankten leise; in kleinen, dem Auge unsichtbaren Tropfen fiel der Tau. In der Ferne schlug ein Wachtelkönig und im Walde, hinter dem Teiche, pfiff melancholisch ein Star. Es war frisch, und den Star fror wohl.
»Und einen Kopf hat der Herr,« dachte Tichon Pawlowitsch. »Große Gedanken hat er . . . Mit ihm könnte ich über die Seele reden . . . Er würde mir alles erklären, was und wie . . . Kann ich denn selbst was? Mein Kopf ist dazu überhaupt nicht eingerichtet.«
Und der Müller ließ traurig seinen großen, nicht zum Denken eingerichteten Kopf hängen und fuhr doch fort zu grübeln:
»Sollte ich vielleicht zum Lehrer nach Jamki fahren? Das ist auch so einer . . ., so ein Nagel. Der Pope Aleksej sagt, er hat über mich in Zeitungen geschrieben . . . So 'ne gelbmäulige Natter.«
Und Tichon Pawlowitsch fiel ein, wie er sich geschämt hatte, als seine Tochter in der Zeitung von seiner gelungenen Operation mit den Kiriuschensker Bauern gelesen hatte. Sie hatte das Gesicht hinter der Zeitung versteckt und leise gefragt:
»Papachen, war das wirklich so?«
Da war er wütend geworden.
»Ist dein Vater denn ein Menschenquäler? War das wirklich so! Was lernst du eigentlich im Gymnasium, Schaf du?«
Und es war doch so gewesen, wie der Lehrer es beschrieben hatte. Aber das konnte er doch der Tochter nicht eingestehen. Was verstand denn die? Jetzt ist er überhaupt quitt mit den Kiriuschenskern. Als das Wasser seinen Damm beinahe fortriß und sie bei ihm arbeiteten, haben sie's zur Hälfte wieder eingebracht . . . Drei Silberrubel pro Tag und Kerl hat er zahlen müssen. Richtiger Krieg . . . Keiner hatte es billiger gemacht . . . Da hast du den Deckel . . . Ja. Und der Lehrer war auch dabei gewesen . . .
»Na, Kaufmann,« hatte er gefragt, »hat man Euch auch ein bißchen gegen die Wand gedrückt? . . .« Und dabei hatte er gelacht. So ein gelbes, trockenes Gesicht hatte der Lehrer. Und streng war's . . . oh!
»Ihr seid schlecht, Kaufmann . . . Und gierig seid Ihr . . .«
Der Müller ärgerte sich jetzt und fühlte doch: es war so. Gierig ist er, das ist wahr, und schlecht ist er, das ist auch wahr.
»Wird's denn noch nicht bald Tag, Herrgott,« dachte er. »Wann wird's denn endlich hell?« Der rote Streifen unter der Gewitterwolke wurde breiter und heller.
In der Nähe flüsterten Menschen. Der Müller trat an den geflochtenen Zaun und legte sich auf die Bank, die daneben stand, denn er war ganz elend vor Schlaflosigkeit. Und die Stimmen kamen immer näher, mit hellem Klang in der frischen, klaren Morgenluft.
»Bitte nicht, Motria. Verschwende deine Worte nicht umsonst, ich bleib nicht.«
Tichon Pawlowitsch fuhr zusammen und erhob sich halb, wobei er sich auf seinen Ellbogen stützte. Die Stimmen waren jetzt ganz nah, in den Holunderbüschen hinter dem Zaun. Und es war Kuska Kosiak, der Müllerknecht, und noch jemand.
»Bitte nicht, sag ich. Ist nicht in meiner Macht, daß ich hierbleibe. Ich gehe hinter die Kuban . . .«
»Und ich, Kusia, was tu ich? Denke nach, wie soll ich ohne dich sein? Ich liebe dich ja, mein Falke, ich hab dich so gern, mein freier Vogel du,« antwortete Kuska eine tiefe Frauenstimme.
»Eh! Motria, mich haben schon viele geliebt, von allen noch hab ich Abschied genommen, und es ging immer noch. Sie haben geheiratet und sind in der Arbeit versauert. Manchmal begegnet man ihnen wieder mal und schaut und traut seinen Augen nicht. Sind das denn wirklich die, die ich mal geküßt und liebgehabt habe . . . Eine schaut immer hexenmäßiger aus als die andere. Nein, Motria, nein. Mir ist's nicht beschieden, zu heiraten, du kleine Närrin du. Mein freies Leben tausch ich für keine Frau ein und für keine Hütte. Geboren bin ich hinter einem Zaun und sterben werd ich hinter einem Zaun. Das ist schon mal mein Schicksal. Bis zu meinen grauen Haaren werd ich hin und her wandern . . . Immer am Fleck bleiben kann ich nicht . . .«
»Und ich, Kusia, und ich? Was soll ich tun ohne dich? Denk einmal nach? Hast du mich denn gar nicht mehr lieb? Tu ich dir denn gar nicht leid? Was fängst du denn mit mir an?«
»Du, was ich mit dir anfange! Dich laß ich hier . . . du sollst den Witwer Tschekmarew heiraten. Kinder hat er, das ist wahr, aber er ist ein guter Bauer.«
»Du liebst mich nicht,« seufzte die Frauenstimme. Die Worte schienen von selbst aus ihr aufzusteigen, ohne daß sie sie sagte.
»Ich liebe dich nicht . . . Ich muß dich doch liebhaben, wenn ich hier mit dir stehe und rede. Wenn ich dich nicht lieb hätte, würd ich mich nicht um dich kümmern. Mit den Mädels verliert man seine Zeit nur, wenn man sie lieb hat, und wenn man sie nicht lieb hat, was soll man denn mit ihnen? . . . Und leid tust du mir auch, aber wie leid einem ein Mensch auch tut, sich selbst hat man noch lieber. Schau, es war doch noch viel schlimmer, wenn wir beide uns zum Abschied zanken wollten. Nicht wahr? Und jetzt ist alles gut und zärtlich und in Frieden. Ich, heißt es, gehe meinen Weg und du gehst deinen Weg. Wie's einem das Schicksal bestimmt . . . Ech, was ist da viel zu reden? Küß mich noch 'mal, meine Taube.«
Das Geräusch von Küssen berührte Tichon Pawlowitsch' Ohr und erstarb dann im Rauschen der Blätter. Der Star sang lauter und lustiger, die Hähne hinter der Mühle begrüßten das Morgenrot. Und immer höher stieg es auf, der erwachenden Erde entgegen.
»O, du, mein Kusia, mein Liebster . . . mein Einziger, du . . . nimm mich mit, deine Taube,« flüsterte das Mädchen wieder.
»Also da hast du's! Fängst du schon wieder an? . . . Ich küsse sie und hab sie lieb wie 'n gescheites Mädel, und sie hängt mir wie ein Stein am Hals, ach Mädel, Mädel! Und immer ist das so ein Getue mit euch.«
»Bin ich denn kein Mensch? . . .«
»Nu, 'n Mensch! Nu? Und ich? Bin ich denn kein Mensch? Wie sie redet . . . Wir waren zusammen, weil wir uns lieb hatten . . . und jetzt ist's Zeit, Abschied zu nehmen . . . Das werden wir auch in Liebe und Freundschaft tun. Du mußt leben und ich auch. Stören wollen wir uns nicht . . . Leben muß man so und so, wie's einem zusteht . . . Und du lamentierst, Närrchen. Du, denk lieber daran: ist es süß, mich zu küssen? Nu? Ach . . . du . . . Süße!«
Wieder kam das Geräusch von Küssen, von leidenschaftlichem, atemlosem Geflüster unterbrochen, und dazwischen tiefe, stöhnende Seufzer.
Und plötzlich erzitterten die Wipfel der Bäume und der Himmel selbst zitterte mit und lächelte mit so einem rosigen, frischen Lächeln – jetzt schaute der erste Sonnenstrahl auf die Erde hinunter, und wie um ihn zu begrüßen, rauschte leise der schläfrige Garten und bewegte sich und ein frischer, leichter Wind wehte, voll der verschiedensten Düfte.
Kuska Kosiak war so durchdrungen von seinem guten Recht und in seinen Worten klang so ein Ton selbstbewußter Unabhängigkeit, und dazwischen die schmerzbebende, leidenschaftliche Stimme des Mädchens. Tichon Pawlowitsch' Gram legte sich bei diesen Tönen.
»Ach du, Teufel,« dachte der Müller, »Mädchenjäger du.«
Etwas wie Neid stieg in ihm auf gegen diesen lustigen, freien Menschen. Wie der zu leben verstand und wie überzeugt er war von seinem Recht! Und dann schämte sich der Müller plötzlich, er wußte selbst nicht recht warum: halb, weil er gelauscht, und halb, weil er neidisch gewesen war. Er stand auf, seufzte noch einmal schwer und wollte ins Haus gehen.
»Es ist Zeit, Motria. Ich muß zur Arbeit. Also komm dann.«
»Ich würde kommen. Aber ich kann nicht kommen, du, mein Falke,« stöhnte das Mädchen.
»Weine nicht, du. Die Zeit kommt und vergeht und trocknet die Tränen. Und bis dahin werden wir beide uns noch mehr als einmal sehen. Nicht so? Leb wohl, mein Süßes.«
Hinter Tichon Pawlowitsch' Rücken knarrte der Zaun
»Wie im Wind
Die Steppe« . . .
»Ech . . . Guten Morgen, Herr!«
Tichon Pawlowitsch zog seine Mütze und schaute verwirrt seinen Arbeiter an.
»Morgen!«
Kuska Kosiak blieb vor ihm stehen in einer freien, kraftstrotzenden Stellung. Unter dem roten, halboffenen Hemd sah man die breite, braune Brust, sie atmete tief und regelmäßig; die rötlichen Schnurrbartspitzen bewegten sich spöttisch; darunter glänzten die weißen, regelmäßigen Zähne, und die großen, blauen Augen zwinkerten listig. Tichon Pawlowitsch kam sein Knecht plötzlich wie eine ungeheuer wichtige und stolze Persönlichkeit vor. Und er empfand das Bedürfnis, sich so rasch als möglich zu entfernen, damit Kuska nicht seine Überlegenheit über seinen Herrn merke.
»Lumpst du immer?«
»Wenn Zeit und Lust da ist, warum nicht ein bissel lumpen? Wenn die Arbeitszeit kommt, tu ich auch das. Wessen schütten wir heute auf? Soll ich des Popen Roggen fertigmachen oder was? Und die Grobkornmaschine ist auch nicht mehr in Ordnung. Sie mahlt und mahlt; aber sie geht zu tief, man schüttet Graupen hinein und sie gibt Staub wieder.«
»Ja, das geht . . . ich werde bald . . .« antwortete Tichon Pawlowitsch, und plötzlich, fast wider Willen, fuhr er fort . . . »Ich, Bruder, lag hier auf der Bank und hab gehört, wie du da . . . wie du mit dem Mädel umgegangen bist . . . Flink bist du mit ihnen . . .«
»Bekannte Geschichten,« sagte Kuska und zupfte seinen Schnurrbart.
»Und du hast schon viel Mädels so verdorben, was?«
»Hab nicht gezählt. Und was heißt verdorben? Ich verstümmle sie nicht.«
»Das schon, aber doch . . . zum Beispiel, tut dir, Kuska, denn das Mädel nicht leid?«
»Natürlich, es tut mir immer leid, so ein Mädel, aber sich selbst hat man halt noch lieber.«
»Und wenn zum Beispiel ein Kind kommt . . . Ist doch auch schon passiert, was?«
»Ist wohl schon passiert. Wer weiß das viel?«
Kuska begann das Verhör offenbar zu langweilen. Er trat von einem Fuß auf den andern, kniff brummig die Lippen zusammen und räusperte sich.
Aber Tichon Pawlowitsch gefiel es, den Knecht durch seine Fragen in Verlegenheit zu bringen; er zog die Brauen zusammen und fuhr fort:
»Und eine Sünde ist es . . . Was tust du mit der Sünde?«
»'ne Sünde?«
»So zu handeln, ja.«
»Aber die Kinder werden doch egal geboren, ob sie vom Mann kommen oder von einem Vorübergehenden,« sagte Kuska und spuckte skeptisch aus.
»Das sagst du ganz falsch. Vom Mann – da ist das Kind ganz in Ordnung, und von dir . . . wie kommt's denn von dir? Und wenn das Mädel aus Scham das Kind in den Teich wirft, dann kommt die Sünde über dich.« Der Müller kanzelte seinen Knecht herunter und empfand ein gewisses Vergnügen dabei.
»Ja, aber Herr, wenn man ein bissel tiefer nachdenkt,« begann Kuska ernst und trocken, »dann kommt doch raus, daß man immer sündigt, was man auch tut. So ist's sündhaft und so ist's sündhaft.« Kuska wies mit dem Arme erst nach rechts und dann nach links. »Wenn man spricht, kann's sündhaft sein, und wenn man schweigt, kann's sündhaft sein. Und wenn man was tut, kann's eine Sünde werden, und wenn man nichts tut, kann's auch eine sein. Findet sich denn ein Mensch da zurecht? Oder soll man ins Kloster gehen? Dazu fehlt einem doch die Lust.«
Sie schwiegen. Kuska schauerte in der Morgenfrische.
»Du hast ein lustiges Leben, Bruder,« seufzte Tichon Pawlowitsch, »ein leichtes.«
»Beklag mich nicht,« anwortete Kuska achselzuckend.
»Ein angenehmes Leben . . . N' ja . . . also . . . Also geh und schütt' auf.
»Des Popen Roggen?«
»Schütte des Popen Roggen. Ich komm später hin . . . Und wie einfach du denkst . . . Wirklich. Alles ist sündhaft . . . N' ja . . . Leicht bist du, Kuska, wie 'ne Blase.«
»'ne Blase, na, vielleicht auch wie 'ne Blase.«
Kuska betrachtet seinen Herrn aufmerksam.
»Weiß Gott! Mein Mitjka macht sie so. Er bläst auf 'nem Strohhalm und dann wird sie so groß und bunt wie ein Regenbogen und fliegt und fliegt und platzt zuletzt.«
Kuska lächelte.
»Womit Ihr mich aber auch vergleicht, Herr!«
»Ist aber ganz richtig . . . Und du gehst fort von mir?«
»Ich werd gehen.«
»Ja, wohin treibt's dich? . . . Wenn du bleibst, geb ich dir noch Zulage.«
»Brauch sie nicht. Es ist eng hier. Ich muß doch fort.«
»Ist mir leid um dich. Du bist ein guter Arbeiter,« sagte Tichon Pawlowitsch nachdenklich.
»Nein, ich werde doch lieber gehen. In die Steppe muß ich . . . dort ist's so frei . . . Ach du, mein . . . Mir wird's ja auch um Euch leid tun, Herr . . . Hab mich eingewöhnt hier . . . Und ich werde fortgehen, weil's mich zieht. Mit sich selbst soll der Mensch sich nicht zanken. Wenn jemand mit sich selbst in Streit kommt, kann man ihm getrost auf die Stirn schreiben: Der Mensch geht zugrund!«
»Das ist richtig, Kuska, ach, wie richtig das ist!« Tichon Pawlowitsch stieg sogar das Blut zu Kopfe und er kniff die Augen zusammen . . . »Ich bin auch mit mir im Streit . . .«
»Tichon Pawlowitsch, komm Tee trinken!« rief seine Frau aus dem Hause.
»Ich ko–omme. Geh auch du, Kuska, und fang an mit Gott.«
Kuska schaute blinzelnd und halbverstohlen in des Herrn Gesicht und entfernte sich pfeifend.
* * *
In dem großen, sauberen Zimmer stand ein Tisch vor dem Fenster und auf ihm ein summender Samowar, daneben ein rundes, weißes Brot und ein Krug Milch. Hinter dem Tisch saß des Müllers Frau, sie sah rotbäckig und frisch und gesund aus, und die ganze Stube war von heller Morgensonne durchflutet.
Tichon Pawlowitsch trat langsam ins Zimmer und ebenso langsam an den Tisch. Er betrachtete mürrisch den Rücken seiner Frau, hielt die Hände auf dem Rücken und kaute an seinem Bart.
»Guten Morgen, Pawlytsch,« sagte sie, mit liebenswürdigem Lächeln den Kopf nach ihm umdrehend. »Warum hast du denn heut nacht wieder nicht geschlafen? Du mußt was dagegen tun. Ich bin schon ganz nachdenklich geworden . . .«
»Also vor lauter Denken hast du die ganze Nacht wie eine Fabrikröhre musiziert,« lächelte der Müller. – »Und ich hab schon nachgedacht, warum pfeift meine Anna denn so? Also das kommt vom Denken.«
»Was du nicht für Witze machen kannst. Aber gottlob, du hast doch wenigstens gelächelt, und die letzten Tage hast du gar nicht mehr gelacht, dein Lachen war wie verschwunden . . . Und immer warst du so böse.«
»Das Lachen kann auch verschwinden bei solch einem Leben,« antwortete Tichon Pawlowitsch halblaut.
»Ist was im Geschäft nicht in Ordnung?« fragte die Frau ängstlich.
»Nicht um Brot allein, steht in der Schrift geschrieben . . . Nein also, das ist an mir zur Wahrheit geworden . . . Am Herzen hat's mich gepackt und drückt . . ., und es wird drücken, bis ich meine Seele befreie . . . Wir haben unsere Seele erstickt mit allem möglichen Dreck und jetzt stöhnt sie und hat keine Luft.«
»Man muß der Kirche was schenken, dann wird das wieder vergehen,« rief seine Frau.
Der Müller schwieg und dachte an den Popen. Väterchen Aleksej war ein gieriger Pope, sehr gierig. Wenn der Müller mit den Bauern in der Umgegend Geschäfte machte, hatte ihm das Väterchen oft schon ein Bein gestellt.
»Oder man könnte eine Waise ins Haus nehmen,« rief die Frau weiter.
»Ja, das vielleicht. Bei den Diabilking zum Beispiel.«
»Soll ich dir noch Tee einschenken? Warum hast du das Glas zugedeckt?«
»Ich will nicht mehr.«
Tichon Pawlowitsch schaute seiner Frau ins Gesicht, und sie kam ihm plötzlich so fett und so dumm vor. Warum in aller Welt lächelte sie denn fortwährend?
»Und den Doktor müßte man doch holen lassen. Ja, soll ich?«
»Scher dich fort mit dem Doktor zusammen,« sagte der Müller wütend und ging ins Nebenzimmer, wo er auf seinen Sohn stieß, der auf dem Fußboden schlief. Tichon Pawlowitsch blieb stehen und begann, aufmerksam das schwarze Lockenköpfchen zu betrachten, das sich tief in die Kissen eingewühlt hatte. Auf den braunen Backen des Kindes und auf der Stirne standen kleine Schweißtropfen.
»Wie er schläft,« dachte Tichon Pawlowitsch, »und wie er dabei schnarcht. Was weißt du, was für ein Weg dir im Leben bereitet ist? . . .«
»Tichon Pawly–ytsch, Kuska ruft Euch!«
Das war die Stimme der schiefmäuligen Marfutka. Ohne es zu wollen, hatte der Müller im vorigen Jahr ihre ganze Familie zugrunde gerichtet, und es fiel ihm jetzt ein, als er ihre Stimme hörte. Marfutkas Vater, Foma, war Arbeit suchen gegangen, irgendwohin, aber vorher war er noch einmal zum Müller gekommen und hatte sich vor der Veranda aufgepflanzt:
»Also du gibst uns keinen Aufschub? So–o! Nun, auch gut. Also leb' wohl, Pawlytsch. Gott ist dein Richter. Man muß annehmen, unsere Tränen werden noch über dich kommen. Auch du, mein Freund, wirst einmal weinen. Leb wohl.«
Und lange hatte Foma noch vor dem Hause gestanden, hatte sich bald den Rücken und bald die Seiten gekratzt und mit verzerrtem Gesicht immer dieselben Worte wiederholt:
»Also du gibst uns keinen Aufschub? So–o!« Bis ihn der Müller davongejagt hatte.
»Ja, allerhand Dinge gibt's,« dachte Tichon Pawlowitsch jetzt. »Und manches ist wirklich nicht nach Gottes Gebot. Aber man kann nicht anders, sonst schadet man seiner Reputation.«
Aber diese Erwägungen beruhigten ihn nicht. Immer mehr Gedanken stiegen auf und bedrückten ihm die Brust, so schwer, so tief.
»Ich fahr nach Jamki,« entschloß er sich plötzlich. »Marfa, sag Jegor, er soll das Pferd anspannen.«
In der Tür der Graupenkammer stand Kuska, ganz weiß von Mehlstaub, und schaute pfeifend zum Himmel hinauf. Unter den leuchtenden Strahlen der Sonne verzogen sich gerade die letzten Überbleibsel der Gewitterwolke. In der Graupenkammer war alles in Bewegung und lärmte entsetzlich. Hinter der Mühle liefen eilig die silbernen Wasserwellen und zischten und brausten. Die Luft war von den schweren, ächzenden Tönen erfüllt und über allem lag der Staub wie ein dünner Nebel.
»Tichon Pawlowitsch, der Riemen reißt gleich in Stücke,« sagte Kuska und spuckte aus.
»Dann hol einen neuen bei meiner Frau,« sagte Tichon Pawlowitsch. »Na, wie geht's mit der Arbeit? . . .« Er hatte noch nie so freundlich mit seinem Arbeiter gesprochen, und es fiel ihm selbst auf.
»Es geht,« antwortete Kuska und beobachtete den Herrn halb mißtrauisch.
»Nun gut, und du, heißt es, bist eine Blase.«
»Nun ja, eine Blase, wenn Ihr wollt,« sagte Kuska unwillig und zuckte die Achseln.
»Und ein leichtes Leben hast du . . . ja . . .«
»Und wozu sollte man es sich schwermachen?«
»Das ist richtig,« nickte der Müller und seufzte. Er konnte das, wonach er Kuska so gern fragen wollte, unmöglich in Worte fassen, und er fühlte, daß er sich viel in seiner Würde vergab, wenn er so schweigsam und mit gesenktem Kopf vor seinem Arbeiter stand.
»Und wenn's zum . . . Sterben kommt, . . . was dann?«
»Wenn's dazu kommt, dann legen wir uns hin und sterben,« antwortete Kuska und betrachtete seinen Herrn immer mißtrauischer.
»So–o. Und die andern Menschen?«
»Die andern? Wenn ihre Stunde kommt, werden auch sie sterben.«
»Ja–a,« seufzte Tichon Pawlowitsch. »Das ist so. Alle sterben. Und das ist traurig für den Menschen . . .«
Kuska zupfte leicht seinen Schnurrbart, versenkte eine Hand in seine roten, dichten Haare, die andere in seine Hosentasche und trat von einem Fuß auf den andern. Plötzlich ging ein breites Lächeln über sein Gesicht:
»Ihr solltet in die Stadt fahren, Herr, und Euch mal ordentlich austoben. Das wird Euch am besten helfen. Denn in Eurer Seele schaut's aus wie beim Schornsteinfeger unterm Gürtel. Nicht wahr?«
Und Kuska berührte die Schulter seines Herrn mit der Hand und lachte. Diese Bewegung und sein Lachen frappierten den Müller. Er lächelte den Arbeiter blöde an und fühlte sich doch gleichzeitig verletzt. Es war beinah wie ein körperlicher Schmerz.
»Ach du, Kuska . . . Was sagst du? Nach Jamki werd ich fahren, zum Lehrer . . . ich muß mit ihm sprechen.«
»Fahrt zu. Duniaschka Dikowa wird Euch dort mit solchen Gesprächen kommen, daß Euch die Gedanken aus dem Kopf springen werden, wie die Wanzen aus dem Feuer,« murmelte Kuska dem Müller nach.
Fünf Minuten später trabte der satte Braune Lukitsch gemächlich über den weichen, gekrümmten Weg, der von beiden Seiten dicht von Haselbüschen und Vogelbeeren eingefaßt war. Die schmiegsamen Zweige berührten Tichon Pawlowitsch' Kopf und guckten ihm ins Gesicht, und wenn ihm ein Blatt in den Mund kam, spuckte der Müller es aus und wandte den Kopf. Aber immerfort dachte er an sein zerrüttetes Leben.
»Schlimm, alles ist schlimm,« murmelte er tiefseufzend. Warum alles schlimm war, wußte er nicht, aber er fühlte es. Alles war schlimm.
»Auch ein Leben . . . Man lebt wie alle Menschen und weiter nichts . . . Und plötzlich überkommt einen ein solches Nachdenken und dreht alles um, von oberst zu unterst.«
In sonderbarer, springender Reihenfolge zogen die Gedanken durch das schwerfällige Hirn des Mannes, und sie waren ihm alle so ungewohnt und fremd und neu. Ihm taten die früheren, ruhigen Tage leid, als alles noch hell und froh war.
Nach dem Abendtee hatte er früher oft auf der Veranda gesessen mit Frau und Tochter und Sohn, und Mitjka hatte schreckliche Geschichten aus der »Reise um die Erde« vorlesen müssen. Ringsumher war alles dann so still gewesen und friedlich. Und die Seele war rein und ruhig, man hatte an nichts zu denken. Manchmal kam ein hübsches Bild in dem Buch vor! Bäume waren darauf gemalt mit riesigen Zweigen und daneben ein Fluß. Weit war das und groß und viel Raum gab's; aber nicht so einsam und langweilig wie unsere russischen Gegenden, sondern so verlockend sah das aus. Und die Familie begann dann zu überlegen: »Hier könnte man aber eine Mühle aufstellen.« Und wenn sie darüber geredet hatten, verfielen sie in so ein liebes, warmes Schweigen, weich wie ein Federbett. Kein Mensch wollte mehr den Mund öffnen. So gut war das gewesen . . ., ohne Gedanken . . .
Jetzt zeigte sich Jamki. Die Getreidedarren und Kornkammern und kleinen Hütten kletterten an einer leicht ansteigenden Anhöhe empor, wie von Riesenhand zur Erde geschleudert, und es war, als bückten sie sich zitternd und verschüchtert und wagten es nicht, sich in einer geraden Linie aufzupflanzen. Über ihnen breitete sich ruhig, teilnahmslos der blaue Himmel. Und unter dieser blendenden Hülle sahen die grauschmutzigen, elenden kleinen Gebäude noch ärmlicher und jämmerlicher aus.
»Ach du, mein Gott, das sind auch menschliche Wohnungen,« dachte Tichon Pawlowitsch, sich dem Dorfe nähernd. »Und in jedem von diesen Käfigen leben menschliche Seelen, wenn's auch ausschaut, wie für Mücken gebaut. Na, also. Lukitsch, beweg dich!«
»Ich fahre zum Lehrer . . . Und wozu? . . . Um mit ihm zu sprechen . . . Was soll denn das für ein Gespräch werden? Er wird mir Vorwürfe machen, wird sagen: Mensch, denk an deine Seele! und wird mir alles erklären. Und ich werde sagen: Nur weiter . . . sprich, und scheue dich nicht . . . Ich bereue . . . Ich bin ein sündiger Mensch . . . In der Zeitung hast du richtig geschrieben . . . ich habe sie gerupft. Sie haben mich zwar auch gerupft, aber sie mich nur einmal und ich sie dreimal. Willst schreiben – schreibe! Nur zu. Aber erst erkläre mir das: Warum hab ich früher gelebt und war ganz ruhig, und schau, was jetzt aus mir geworden ist. Ist das eine Grenze, die dem Menschen gesetzt ist, oder sein eigner Unverstand? Ist's vom Schicksal beschert, oder denkt er sich das selber aus? . . . Nu–u, Lukitsch!«
Lukitsch wieherte, denn der Staub setzte sich ihm in die Nasenlöcher, schüttelte den Kopf und bewegte rüstig seine Beine. So brachte er seinen sündigen Herrn nach Jamki.
Da war auch schon die Schule. Sie sah allerdings eher wie eine umgestülpte Fähre, als wie ein Tempel der Wissenschaft aus. An einem der drei Fenster saß der Lehrer und schnitzelte an einem Stock. Gleichgültig schaute er jetzt den Müller an, der vor dem Hause hielt.
»Guten Tag, Alexander Iwanowitsch. Ich bin zu dir zu Besuch gekommen, nimmst mich auf?«
»Seien sie willkommen!« antwortete der Lehrer und trat vom Fenster zurück.
Der kalte Ton des Lehrers und sein ernstes, mageres Gesicht verwirrten Tichon Pawlowitsch, und sein Herz krampfte sich, unangenehm berührt, zusammen.
Er machte sich lange beim Wagen zu schaffen und band die Zügel umständlich am Sitz fest, bevor er ins Haus trat. Als er an einem der Fenster vorüberging, sah er gerade den Lehrer ein Buch auf den Boden stellen, und er tat das mit einem beißenden Lächeln.
»Nochmals guten Tag,« sagte der Müller, als er ins Zimmer trat, mit etwas gezwungener Heiterkeit, und streckte dem Lehrer die Hand entgegen. »Uff, ist das heiß !«
Der Lehrer streckte ihm schweigend seine kalten, knochigen Finger entgegen, nickte sonderbar mit dem Kopf und sagte kurz:
»Setzen Sie sich.«
»Setzen wir uns,« willigte der Müller ein und setzte sich auf die Fensterbank, auf der vorher der Lehrer gesessen hatte, der jetzt hustend und die Hände auf dem Rücken, im Zimmer umherging, mit immer rascheren Schritten.
Einen Moment lang herrschte drückendes Schweigen. Tichon Pawlowitsch saß auf der Fensterbank und rieb sich mit der linken Hand das Knie; mit den Fingern seiner Rechten glättete er seinen Bart. Er betrachtete aufmerksam die ärmliche Einrichtung des kleinen Stübchens, das zwei Türen aufwies; die eine führte in den Korridor, die andere in die große, scheuerartige Schule. Als Möbel standen in der Kammer nur ein Tisch, zwei Stühle, eine Schlafbank, ein Bord mit einigen Büchern und die Bank, auf der Tichon Pawlowitsch saß.
Jetzt trat der Lehrer ans Bord und musterte die Bücher, als wollte er sich überzeugen, ob es auch dieselben Bücher seien, die vor der Ankunft des Gastes dagestanden hatten.
Beiden war unbehaglich zumute, und sie fühlten das ganz deutlich, wodurch ihnen noch unbehaglicher wurde.
Und noch immer schwiegen sie.
Endlich trat der Lehrer vom Bord zu dem Gast.
»Brauchen Sie was von mir?« fragte er und schaute den Müller scharf an. Seine Stirn war gerunzelt und die Brauen finster zusammengezogen. Er hätte husten müssen, hielt aber aus irgendeinem Grunde den Husten zurück und preßte die Lippen krampfhaft aufeinander, wodurch dunkelbraune Flecke in seinem Gesicht entstanden und seine magere, eingefallene Brust sich nervös emporhob.
»Hm, hm,« brummte der Müller und wandte seine Augen vom Lehrer ab, während er unwillkürlich dachte:
»Was für 'n Jammerlappen! Lange wirst du nicht mehr husten, Bruderherz.«
Ihm fiel der »Nagel« ein, über den der wohlgestaltete Herr so eine lange Rede gehalten hatte.
»Wie soll ich dir das erklären, Alexander Iwanowitsch?«
Und während er sprach, mußte der Müller fortwährend denken:
»An dessen Grab wird man nicht mal 'ne Rede halten. So im stillen wird er eintrocknen. Die Bauern werden ihn in die Erde verscharren, und – fertig. Weiter nichts . . . Und er schreibt doch auch . . . Eine schwache Lunge muß er haben . . . Er schreibt – und lebt im Dorf. Wie soll man da eine Unterhaltung beginnen?«
»Trinken Sie vielleicht Tee?« fragte der Lehrer wieder. Jetzt brach der Husten doch los, mit furchtbarer Gewalt, und der Lehrer griff mit beiden Händen nach seiner Brust. Sein Gesicht wurde ganz grau; er krümmte und wand sich, und in seiner Brust schnarrte und pfiff und knarrte es, als wenn dort eine alte Wanduhr versteckt wäre, die jetzt zum Stundenschlagen ausholte.
»Wir können auch Tee trinken,« entschied Tichon Pawlowitsch. »Aber wie du hustest, Alexander Iwanowitsch. Und woher kommt das, zur Sommerszeit . . . ah . . .?«
»Ja, das ist mal so,« antwortete der Lehrer und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Aber in seiner Stimme klang etwas unendlich Trauriges. Der Müller fühlte, wie's ihn ganz kalt überschauerte bei diesen einfachen, nichtssagenden Worten.
»Iwanowna, machen Sie den Samowar zurecht,« rief der Lehrer zum Fenster hinaus. Bald darauf klirrte etwas Eisernes im Korridor, und Tichon Pawlowitsch wußte wohl, daß es die Samowarröhre war, die so klirrte. Aber wie er das Gespräch mit dem Lehrer beginnen solle, wußte er nicht.
Der schwieg auch und zog die Brauen zusammen und senkte die gerunzelte Stirn. Wieder dauerte das Schweigen lange und wieder ärgerte es sie beide.
»Die Röhre ist umgefallen,« begann Tichon Pawlowitsch endlich. Der Lehrer stand auf und ging an die Türe:
»Iwanowna, die Röhre ist umgefallen.«
»Das weiß ich schon. Ich bin ja hier,« antwortete eine brummige Frauenstimme.
Aber das Fallen der Röhre ermutigte diese beiden Menschen förmlich, die schon anfingen, beängstigend aufeinander zu wirken.
»Nun ja, also,« begann der Lehrer und rieb seine linke Seite. »Sie wollen also mit mir reden? . . .«
»Ja . . .« bestätigte der Müller, mit dem Kopfe nickend.
»Gut . . . Ich kann mir denken, um was es sich handelt.«
»Nu . . .« Tichon Pawlowitsch zog die Brauen in die Höhe und lächelte ungläubig.
»Natürlich darum, daß ich in der Zeitung über Sie geschrieben habe,« fuhr der Lehrer fort und zog die Brauen noch mehr zusammen, wobei die Stirne sich noch mehr runzelte.
»Ich hab mir doch gedacht, daß du das geschrieben hast,« rief der Müller, »ach du! . . .«
Der Lehrer hatte einen solchen Ausruf offenbar nicht erwartet. Er riß die Augen weit auf und starrte seinem Gast ins Gesicht:
»Haben Sie's gedacht?«
»Ich hab's gedacht. Natürlich, dachte ich, das ist er, denn das können nur zwei . . . Er und der Pope Aleksej . . . Der ist auch böse auf mich.«
»Das heißt? Was ist das eigentlich?« wunderte sich der Lehrer. »Bin ich denn auf Sie böse?«
»Was denn sonst?«
»Ja, aber warum denn?«
»Das mußt du wissen. Du hast's geschrieben – und fertig. Und ich versteh's jetzt wie ich will . . .«
»Erlauben Sie. Ich habe das nicht infolge einer persönlichen Abneigung gegen Sie geschrieben, sondern aus einem Gefühl der Gerechtigkeit heraus.« Der Lehrer zitterte heftig und geriet immer mehr in Hitze; jetzt fügte er noch mit lauter Stimme hinzu:
»Sie haben kein Recht, zu behaupten, ich hätte das geschrieben, weil ich böse bin auf Sie, jawohl!«
»Red nur zu,« antwortete der Müller mit einer skeptischen Handbewegung. »Warum hast du's dann geschrieben?«
»Darum, weil Sie mit den Kiriuschensker Bauern nicht . . . nicht ehrlich vorgegangen sind.«
»Sieh mal einer an. Nicht ehrlich. Und wie mein Damm verbessert werden mußte, sind deine Bauern da mit mir ehrlich vorgegangen? Aber über sie hast du nicht geschrieben, was, Alexander Iwanowitsch?«
»Aber erlauben Sie.« Der Lehrer geriet immer mehr in Hitze.
Sein Gesicht bedeckte sich mit Flecken und er begann sonderbar zu stottern. Offenbar wollte er viel sagen, wußte aber nicht, womit beginnen. Seine Ohren zitterten eigentümlich, die Augen glänzten und das magere, nervöse Gesicht veränderte sich von Minute zu Minute.
Und der Müller schaute ihn an und wurde ebenfalls wütend.
»Was ist da zu erlauben? Hast über mich geschrieben – dann schreib auch über sie. Bin ich mit ihnen gewissenlos vorgegangen, so weißt du, daß sie's mit mir nicht anders gemacht haben. Warst selbst dabei. Aber da schweigst du. Und du sagst, aus Gerechtigkeit! Ach du . . .«
»Nun, und was weiter?« fragte der Lehrer und krümmte sich noch mehr, und plötzlich begann er hastig, die Worte halbverschluckend und fortwährend hustend:
»Sie begreifen nicht . . . ich konnte nicht . . . das heißt, ich . . . Weiß der Teufel, wessen Sie mich verdächtigen . . . Was für eine Feindschaft soll ich denn gegen Sie haben? . . . Das heißt, nein . . . diese Feindschaft ist vorhanden . . . Sie wird immer da sein.« Jetzt schrie der Lehrer laut.
»Na also, siehst du wohl? Du sagst, aus Gerechtigkeit. Was ist das für eine Gerechtigkeit, wenn du 'ne Wut hast gegen mich? Ach du! Lang leben kannst du nicht mehr und quälst die Leute. Meine Tochter hat mich beschämt mit deinem Geschreibsel. Die eigene Tochter, verstehst du? Warum? frag' ich dich.«
»Erlauben Sie.« Die Stimme des Lehrers war jetzt gellend laut. »Was geht mich Ihre Tochter an? Ich sage nicht, daß ich Sie persönlich hasse . . . Ich hasse Ihre ganze Gruppe, die Klasse . . .«
»Sprich mir nicht mit so klugen Worten. Ist nicht nötig. Ich versteh dich auch so gut.«
»Nein, ich . . . Sie beleidigen mich mit Ihren Verdächtigungen. Sie können mich mit Tatsachen widerlegen, wenn das möglich ist, mir beweisen, daß ich die Tatsachen falsch aufgefaßt habe, daß ich unrecht habe, aber sagen . . .«
»Ich kann dir alles sagen.« Der Müller schlug sich mit der Hand gegen die Brust und stand im Vollgefühl seines Wertes vom Stuhle auf . . . »Ich bin wer . . . Auf hundert Werst in der Runde kennt und achtet man mich, und du bist achtzehn Rubel monatlich wert . . .«
»Ich will nicht,« stampfte der Lehrer mit dem Fuß auf. Er erstickte förmlich vor Aufregung und neuen Hustenanfällen. Und während er hustete und sich stöhnend wand und nach Luft schnappte, stand Tichon Pawlowitsch mit Siegermiene vor ihm und fuhr laut und deutlich zu sprechen fort. Sein Gesicht war rot und erregt; er war von seinem Recht und seinem Edelsinn überzeugt, und er wollte auch den Lehrer davon überzeugen, denn er fühlte sich jetzt sehr großmütig und wollte verzeihen.
»Ach, du gerechter Mensch, du. Bevor du andere Menschen überführst, überfuhr dich doch selbst. Was für 'nen Wert hast du denn danach? Ich bin zu dir gekommen wie zu einem klugen Menschen und wollte mit dir reden . . . über die Seele wollte ich mit dir reden, was und wie, denn meine Seele ist mir in Aufruhr gekommen . . . Und womit fängst du an? . . . Hast du mich vielleicht verstanden? . . . Hast geschrieben? Nun, und was, wenn du geschrieben hast? Wer hat's denn gelesen? Kein Mensch außer dem Popen . . . Ich bin noch immer so wie ich war, bin ganz so geblieben wie ich war, n' ja . . . Ich komme zu dir mit meiner Seele und nicht mit Feindschaft, und du redest nur von deinem Zeug und schreist mich noch an. Kannst du denn auf mich schreien? Achtzehn Rubel monatlich bekommt er, lebt allein wie 'n kleiner Finger, und der spricht von Gerechtigkeit! Ech! Leb wohl, Bruder. Ich nehme dir deine Frechheit nicht übel, aber du tust mir leid, du tust mir sehr leid . . . Leb wohl. Du hast ein schlechtes Leben und wir müssen alle sterben . . . das darf man nicht vergessen . . . ja.«
Am Schlusse seiner Rede wurde Tichon Pawlowitsch sehr traurig und ihm kamen beinahe die Tränen. Den Lehrer schüttelte ein entsetzlicher Hustenanfall, er saß gebückt auf seinem Stuhle und zitterte am ganzen Leibe; den Kopf ließ er tief herunterhängen, die eine Hand hatte er an die schmerzende Lunge gedrückt, mit der andern fuchtelte er aufgeregt, krampfhaft in der Luft herum, wahrscheinlich in dem ohnmächtigen Wunsche, den Müller zu unterbrechen.
Er tat dem Müller schrecklich leid, und gleichzeitig wollte er für sein Leben gern etwas Gefühlvolles sagen, so etwas, was des Lehrers Herz beklemmt hätte, mit demselben Gefühl, von dem seines, des Müllers Herz schon voll war. Aber nichts Derartiges kam heraus. Er fand solche Worte nicht, wenn auch seine Stimme zitterte und sich in niedrigen, fast weinenden Tönen verlor. Der Müller war sich bewußt, daß alles, was zwischen ihm und dem Lehrer vorgefallen war, sehr beleidigend war, für ihn und für den Lehrer, und er wollte diese schwere Szene so rasch als möglich abbrechen.
»Leb wohl . . . Denk nicht im Bösen an mich . . . Du kommst vor Gottes Gericht . . .« Er winkte noch einmal mit der Hand, drückte seine Mütze tief in die Stirne und ging hinaus.
»Nein, erlauben Sie,« hörte er die heisere, erregte Stimme des Lehrers hinter sich.
»Auch gut,« brummte der Müller in sich hinein und machte die Zügel los.
»Kommen Sie zurück . . . Wir müssen . . .« Der Lehrer erschien wieder am Fenster. Er beugte sich halb auf die Straße hinaus, wobei er sich mit der einen Hand an den Pfosten klammerte und mit der andern heftig gestikulierte.
»Niemand muß was . . . Wir sind alle Menschen . . .« brummte Tichon Pawlowitsch wieder und setzte den einen Fuß in den Wagen.
»Kommen Sie zurück,« schrie der Lehrer.
Er schrie sehr sonderbar. Tichon Pawlowitsch drehte sich um und schaute ihn an. Sein Gesicht war schrecklich, die Augen trübe; die Stirne stand in Schweiß und der Hals war krampfhaft zusammengezogen.
Dem Müller ging es durch und durch.
»E . . . ich komme ein andermal. Ganz egal.«
Noch einmal winkte er mit der Hand und versetzte Lukitsch einen mächtigen Hieb, der den Wagen sofort im Galopp fortriß. Der Lehrer schrie ihm noch etwas nach.
»Fahr zu,« schrie Tichon Pawlowitsch und schlug das Pferd noch einmal; er knirschte sogar mit den Zähnen, als wollte er das bittere Gefühl, das in ihm aufstieg, ersticken.
Als er das Dorf hinter sich hatte, wurde er allmählich ruhiger. Lukitsch lief noch immer eilig über den staubigen Weg, der sich jetzt zwischen den goldigen Flächen reifenden Kornes schlängelte. Vor ihnen am Horizont ballte sich langsam eine Gewitterwolke zusammen. Dunkle, schwarzblaue Wolkenfetzen stauten sich zu einer großen schwarzen Masse, die langsam dem Müller entgegenzog und einen tiefen Schatten auf die Erde warf. Und auch auf die Seele legten sich ihm wieder Schatten. Und die Wolke senkte sich immer tiefer, als wollte sie ihm den Weg verstellen. Der Müller zog die Zügel an und lenkte das Pferd unwillkürlich nach links, auf eine breitere und ausgefahrenere Straße. Jetzt blieb die Wolke rechts und vor ihm in den gelben Getreidewogen tauchte wie eine kleine, dunkle Insel der Wald auf. Durch die hügelige Ebene, die noch grell von der Sonne beschienen war, zogen sich hier und da, wie breite, schwarze Bänder, schon aufgepflügte Äcker; traurig stachen sie von den gelben, reichen Feldern ab. Dem Müller war, als stiege aus diesen traurigen Äckern etwas auf, was ihm verwandt war.
Der Wind bewegte die Ähren und sie neigten sich flüsternd auf und nieder, als wollten sie mit dem blauen Himmel sprechen. Lukitsch lief und die schwarze Waldinsel rückte ihnen näher und näher; allmählich wurde sie grün und hob sich deutlicher und reliefartiger von dem grellen Gelb der Felder und dem verschwommenen Blau des Himmels ab.
»Aber ich fahre ja zur Eisenbahnstation,« dachte der Müller, als hinter einem Hügel eine Reihe Telegraphenstangen auftauchte und die braune Hütte des Bahnwächters, die in einem Erdhaufen, der um sie aufgeworfen war, fast verschwand.
»Und warum sollte ich nicht in die Stadt fahren?« dachte der Müller. »Das Pferd schick ich mit irgend jemand von der Station nach Hause . . . N' ja. Beim Lehrer bin ich gewesen und hab mit ihm gesprochen. Che, che, 'n Lehrer. Kannst ja lehren, meinetwegen, aber lern du selber auch was, versteh, was um dich vorgeht, was und wie. Was für ein Teufel hätte mich denn zu dir gebracht, wenn meine Seele mich nicht gedrängt hätte! Und du, Lehrer, müßtest immer auf so einem Punkt stehen, daß der Mensch dich erreichen kann, ohne sich zu verstümmeln. Und so . . . was so? Mit seiner Strenge ist der höher hinaufgeklettert als 'ne Ofenröhre und predigt von dort . . . fertig. Nun, und versteh dich selbst, Bruder, wenn du kannst, ich kann's nicht . . . Auch so 'n Wohltäter, so ein hundertpfündiger . . . Und was, wenn ich reden will und ich hab keine Worte?«
Je länger er nachdachte, je klarer wurde ihm, daß der Lehrer an allem schuld war. Wie war denn die Sache gewesen? Er, Tichon Pawlowitsch, hatte ja mit Fleiß das Gespräch über die Zeitungsnotiz aufgenommen, um den harten Lehrer zu beschämen und zu erweichen und um ihm zu zeigen, wie sehr er, der Müller, von Schuldgefühl durchdrungen sei und wie schwer es ihm auf der Seele liege. Und wäre der Lehrer ein weicherer Mensch, so hätte er ihm seine Gedanken auseinandersetzen können. Aber es war so herausgekommen, daß der Lehrer bis zu den Wolken hinaufgestiegen war . . . Als der Müller sich überzeugt hatte, daß sich alles wirklich so und nicht anders zugetragen hatte, fühlte er sich sehr gekränkt und beleidigt.
»Ach, Menschen! Ihr könnt euch um einen anderen nicht kümmern, wenn ihr ihn nicht braucht und ihr euch nicht vor ihm fürchtet. Ist das gut!? Und noch gar Lehrer, gelehrte Menschen. Man sieht schon, eure eigene Strenge ist euch mehr wert als eine fremde Seele . . .«
Und als er fühlte, wie frei und rasch sich jetzt plötzlich die Gedanken in seinem Kopfe formten, rief Tichon Pawlowitsch laut:
»Jetzt sollten wir miteinander kämpfen, Lehrer; wer weiß, wer jetzt siegen würde.«
Lukitsch lief wacker auf die Station zu, die jetzt ganz hinter dem Hügel hervorkam, und ihm entgegen kam, pfeifend und schwere Rauchmassen ausstoßend, der Zug und erfüllte die Luft umher mit dumpfem Geräusch.
Dem Geräusch, das der Eisenbahnzug machte, antwortete wie ein Echo der Donner. Die Gewitterwolke kam immer näher und bedeckte schon fast zwei Drittel des Himmels . . .
Einige Minuten später saß Tichon Pawlowitsch schon im Waggon und ließ sich durch die Steppe tragen. Mit den Augen verfolgte er die langen, gelben Kornfelder und die aufgepflügten schwarzen Ackerstreifen.
Den schwarzen Himmel durchzuckten unaufhörlich Blitze und der Donner rollte über dem rasch dahineilenden Zug. Das Klirren der eisernen Ketten und das Knirschen der Räder auf den Schienen ging in dem Getöse des Gewitters unter und die grellen Lichter der Blitze blendeten die Augen.
»Wohin fahre ich?« dachte Tichon Pawlowitsch und drückte sich schüchtern in eine Ecke.
Dort draußen zitterte und wankte alles und bewegte sich, als ginge eine gigantische Zerstörungsarbeit vor sich . . .
»Was hab ich in der Stadt zu tun?« fragte der Müller sich traurig.
Es schüttelte und rüttelte ihn durch und durch. Der Blitz zwang ihn, die Augen zu schließen, und wenn der Donner kam, zitterte er und machte das Zeichen des Kreuzes. Endlich schlief er ein, kläglich in seine Ecke gedrückt.
»Wohin soll ich gehen? Zu wem?« fragte sich Tichon Pawlowitsch, als er den Bahnhof verlassen und bereits planlos durch eine Reihe von Straßen gegangen war. Er verspürte gar keine Lust, irgend jemand von seinen Bekannten aufzusuchen, ja, und überhaupt, er hatte zu gar nichts Lust.
Unterwegs hatte er geschlafen; einmal in der Stadt angekommen, war er in ein Gasthaus gegangen, hatte dort eine warme Brühe gegessen und Tee getrunken und dann in den Regen hinausgeschaut.
Es regnete stark und lange – fast drei Stunden lang, und all die drei Stunden hatte der Müller am Fenster gesessen, wie erstarrt in seinen Gedanken. Dann hatte er sich entschlossen, wieder nach Hause zu fahren, und war an den Bahnhof gegangen, aber der Zug war schon fort.
Er blieb am Bahnhof sitzen und schaute zu, wie die Waggons und Lokomotiven hin und her bugsiert wurden und wie die Kondukteure der Lastzüge, die Weichensteller, die Heizer und andere Bahnarbeiter, lauter bräunliche, nach Fett und Kohle riechende Gesellen, eilig hantierten, schrien, umherliefen und gestikulierten. Züge kamen und gingen, und dies wirre, eilige Treiben kam Tichon Pawlowitsch entsetzlich unnütz und unüberlegt vor. Wozu in aller Welt arbeitet man so viel und so hastig, wozu schleppt man so viel Waren von einer Stadt in die andere und wieder zurück, wenn doch alle Menschen sterben müssen – wenn einmal ihre Stunde kommt. Und sie kommt vielleicht schon morgen . . . Man sollte mehr um seine Ruhe besorgt sein . . . Und wieder stieg in ihm der Wunsch nach Ruhe auf, nach so einer tiefen, schlafähnlichen Ruhe, ohne Gedanken und ohne Sorgen. Und dieser Wunsch zog ihn vom Bahnhof fort. Er ging wieder in die Stadt und schritt jetzt kalt und gleichgültig durch die Straßen. Ihn bewegte jetzt nur noch das, was sich so dumpf in seiner Seele rührte und ihn am Leben hinderte.
Auf der Straße war es still und dunkel. Die Laternen waren noch nicht angezündet, und doch ging schon der Mond auf. Über den Himmel segelten eilig die letzten fetzenartigen Überbleibsel der Gewitterwolken, und an den Häusermauern und über das Pflaster krochen dichte Schatten. Die Luft war feucht und schwül; es roch nach frischem Grün und fauliger Erde, und dazu kam noch ein eigentümlich schwerer Geruch, so etwas spezifisch Städtisches. Im Stadtgarten spielte der Wind leicht in den Zweigen, und dadurch entstand ein leises, flüsterndes Geräusch. Und dies leise Flüstern und die Schatten der Gewitterwolken gaben dem ganzen Bilde etwas Trauriges, Müdes. Die Straße war eng, leer, wie erdrückt von dieser nachdenklichen Stille. Irgendwo in der Ferne rollte ein Wagen, und das Rollen der Räder klang in der Stille herausfordernd frech, es tat beinahe weh.
Der Müller ging langsam, mit auf dem Rücken gekreuzten Händen die Straße hinauf. Unaufhörlich beschäftigte er sich mit seinen schweren, nebelhaften Halbgedanken und Halbgefühlen, die ihm das Herz bedrückten und die Seele.
Und plötzlich brach in die Stille ein Gewirr von Tönen ein.
Es waren die Klänge von Blasinstrumenten; sie klammerten sich förmlich ineinander und stiegen in einem wirbelnden lauten und doch harmonischen Walzer auf. Nur die eine Note war schwer und wie abgehackt – »uff, uff,« klang es. Sie fand keinen Zusammenhang mit den andern und stieg immer höher als die übrigen . . . Es war, als wollte sich etwas Großes, Schweres in ungeschickten Sprüngen befreien . . . aber es ging nicht.
»Hineingehen? Soll ich?« fragte sich der Müller und blieb vor einem offenen Tor mit zwei hellbrennenden Laternen stehen. Hinter dem Tor zog sich schnurgerade eine Akazienallee. Und während er noch überlegte, ob er hineingehen solle oder nicht, schritt der Müller schon durch die Akazienallee und musterte die Laternen, die an einem Seil längs der Bäume hingen. Die Laternen schaukelten im Winde und warfen scheckige Flecke auf den bräunlichen Weg. Die Allee machte plötzlich eine scharfe Schwenkung nach rechts, und Tichon Pawlowitsch erblickte eine Estrade, auf der die Militärmusik spielte; vor der Estrade standen kleine Bänke und auf ihnen sah er dunkle Gestalten. Aber er wollte nicht hingehen und setzte sich auf eine der Bänke, die zu beiden Seiten der Allee standen.
Die Bäume rauschten und über ihnen zogen immer rascher die Wolkenfetzen . . . Eine Frau kam an Tichon Pawlowitsch vorüber . . . Er schaute ihr gleichgültig nach; da drehte sie sich um und ging wieder an ihm vorbei. Er schickte ihr in Gedanken ein Schimpfwort nach – aber sie machte plötzlich wieder kehrt und setzte sich direkt neben ihn und schaute ihm ins Gesicht.
Dunkle, forschende Augen blitzten vor ihm auf; dann sah er aufgeworfene, rote Lippen und eine gerade, schöne Nase.
Angeekelt, wie es einem gesetzten Manne geziemt, zog er sich zurück, und ihm wurde noch öder zumute.
»Langweilst dich, Kaufmann?« fragte seine Nachbarin.
»Ja–a!« antwortete er in langgezogenem Ton und fügte ärgerlich hinzu: »Geh zum Teufel und stell nicht hier umsonst deine Netze auf . . . Bin kein solcher.«
Sie lachte auf. Und sie hatte ein tiefes, angenehmes Lachen.
»Wie böse! . . . Hab keine Angst, geschieht dir nichts. Ich langweil mich auch und deswegen hab ich gefragt . . .«
Er antwortete nicht und hoffte, sie werde bald gehen. Aber sie ging nicht. Sie gähnte nur ein paarmal leise und blieb ruhig neben ihm auf der Bank sitzen. Er schielte ein wenig zu ihr hinüber und sah, daß sie noch sehr jung und schön war. Lange schwiegen sie beide. Die Musik machte eine Pause und fing dann wieder zu spielen an, aber es klang diesmal weniger laut.
»Was fängst du denn hier Maulaffen, wenn du dich langweilst?« fragte der Müller plötzlich seine Nachbarin.
»Und warum sitzest du denn hier?« fragte sie kurz zurück, ohne ihn anzuschauen.
»Ich bin ein Fremder . . . Wohin soll ich gehen? . . .«
»Geh ins Hotel, wo du abgestiegen bist, oder sonst in eine Schenke.«
»Ach was,« antwortete Tichon Pawlowitsch und fügte nach einer Weile hinzu: »Allein langweile ich mich dort . . .«
»Soll ich sie vielleicht auf der Straße zusammenlesen?«
»Im Wirtshaus findet sich immer was.«
»Hm, das ist schon richtig . . .«
»Und wirklich, warum sollte ich nicht in eine Schenke gehen?« dachte Tichon Pawlowitsch . . . »Und die da . . . dies Weibsbild mitnehmen . . . Vielleicht zerstreut mich das . . .«
Und plötzlich war sein Entschluß gefaßt.
»Kommst du mit, wenn ich in eine Schenke geh'?«
Sie antwortete nicht sofort, und sagte dann zögernd:
»Meinetwegen . . . Aber mich wird hier ein Mensch suchen.«
»Was für 'n Mensch denn wieder?« fragte er ungläubig.
»Nein, wirklich . . . ein Handwerker.«
»Was brauchst ihn? . . . Spuck auf ihn und komm!«
Der Gedanke an einen lustigen Abend kam ihm immer verlockender vor.
»Na ja, ich geh schon . . . Er wird uns vielleicht entgegenkommen.«
»Ist gar nicht nötig,« brummte der Müller und stand auf, »also vorwärts!«
Sie stand auf und ging neben ihm her. Groß und schlank war sie und trug ein weißes Kopftuch, und er war ein dicker Mann und seine Poddewka ging ihm weit über die Knie.
»Nein, wenn wir ihm begegnen würden, wär's gut,« sagte sie und fügte erklärend hinzu:
»Er hat keine Hände.«
»Wieso?«
»Die Maschine hat ihm die Hände fortgerissen.«
»Wozu brauchst du ihn dann?« wunderte sich Tichon Pawlowitsch.
»Er singt aber schön.«
»Nu?«
»Wir wollten heut zusammen in den Wald am Fluß gehen.«
»So? . . .« lächelte der Müller. »Nun, und was jetzt?«
»Nichts,« antwortete sie kurz.
Sie traten aus dem Garten; der Müller fragte sie nach einer Schenke und rief dann eine Droschke herbei.
Der Wagen stolperte und polterte über das unregelmäßige Pflaster zwischen zwei Häuserreihen. Es war noch nicht spät. Aus den Fenstern drang Lampenschimmer und Stimmengeräusch auf die Straße. Sie kamen an einem kleinen weißen Hause vorbei, und der Müller hörte das dröhnende Lachen einer tiefen Baßstimme, dem das leise, hübsche Kichern einer Frau antwortete.
»Die Menschen lieben alle . . . und machen sich keine Sorgen und denken nicht nach,« dachte er, und wieder stieg so ein bitteres Gefühl in ihm auf. Und es war auch Mitleid mit sich selber dabei.
»Du sagst, er hat keine Hände?« fragte er nach einer Pause das Weib.
Sie hatte sich fest an ihn geschmiegt; mit der einen Hand hielt sie sich am Wagen fest und mit der anderen umklammerte sie sein Knie.
»Wer? Mischa? Ja . . .,« antwortete sie.
»So. Und was ist er dir, ein lieber Freund oder was?«
»Nu–u. So was. Er ist schon alt und krank. Er ist ein alter Bekannter von mir, hat mich auf den Händen rumgeschleppt, als ich klein war.«
»Sieh mal einer an. Und was ist dein Vater?«
»Er ist tot?«
»An der Cholera ist er gestorben . . . Wir sind bald da.«
»So . . . Und vorher, womit hast du dich da beschäftigt?« fragte der Müller neugierig. Ihm wurde wohler, wenn er sprach.
»'ne Schneiderin war ich,« antwortete sie.
»Sieh mal an!«
Einige Minuten später saßen sie in einer Ecke des großen Wirtshaussaales. Die Schenke war schmutzig und eng und es stank. In der Mitte lärmte eine Gesellschaft betrunkener Fuhrleute um einen Tisch; an einem Fenster, auf dem blühender Geranium und Fuchsien standen, tranken zwei verdächtige Individuen Tee. Der eine war kahlköpfig, hatte eine Habichtnase und hustete fortwährend. Der andere sah wie ein Soldat aus und hatte einen schwarzen Schnurrbart. Er pfiff melancholisch durch die Zähne und schaute in sein Glas. In der Ecke hinter dem Kachelofen hockte ein alter Mann mit weißen Haaren; er hatte ein müdes, frommes Gesicht und zwinkerte süßlich mit seinen kleinen Augen. Und dann waren noch ein paar Menschen da – sie saßen sonderbar verstreut in dem großen, rauchgeschwärzten Zimmer, und keiner scherte sich viel um den andern.
Der Müller und seine Freundin setzten sich in eine dunkle Ecke an der Türe, in einen kleinen abgegrenzten Raum, von dem aus sie das ganze Zimmer gut übersehen konnten. Die Schenke war durch fünf Hängelampen beleuchtet. Ihr Tisch stand am offenen Fenster und von der Straße wehte ein warmer Wind hinein. Er brachte auch verschiedene sonderbare Gerüche mit.
»Wie heißest du, Schöne?«
»Anna.«
»Na also, Anuschka, trinken wir eins zur Bekanntschaft.«
Vor ihnen stand eine Flasche Branntwein; er schenkte zwei Gläschen ein und sie stießen an. Anuschka nahm das Kopftuch ab und wurde noch schöner. Ihr Haar war dicht, kastanienfarbig und wellig; längliche braune Augen hatte sie, und tief drinnen in ihnen steckte so ein lebhafter, flackernder Funke. Sie kniff sie zusammen und öffnete sie dann wieder weit, während sie mit der weißen vollen Hand die Falten glättete, die ihre Perkaljacke auf der Brust warf.
»Kannst auch 'nen Russischen tanzen?« fragte der Müller und betrachtete sie aufmerksam. Er dachte, daß sie gut aussehen müsse beim Tanzen, namentlich dann, wenn sie ihrem Partner halb den Rücken zuwandte und dabei so mit den Augen lockte.
»Ich tanze,« antwortete sie und schenkte sich von neuem ein.
»Und trinkst auch?« lachte Tichon Pawlowitsch.
»Bei unserem Geschäft muß man trinken,« antwortete sie ruhig, »es geht nicht anders.«
»Ist das denn so schwer?« fragte der Müller, ohne ein gewisses Mißtrauen zu verbergen, mit ironischem Lächeln.
Sie antwortete nicht sofort. Erst zuckte sie nur mit den Schultern und glättete ihr Haar. Dann brach sie ein kleines Stück Schwarzbrot ab, roch daran mit der Miene einer Gewohnheitstrinkerin, legte es schließlich in den Mund und begann dann langsam kauend:
»Hei, wenn man euch zwingen wollte, jedes Weibsbild zu küssen, die's von euch verlangen wollte, 's würde euch auch übel werden, wenn ihr auch Männer seid. Und unsereins muß – denn es ist unser Brot. Und hübsche gibt's wenig unter euch, die meisten schauen aus, daß einen ekelt . . . Und dann ist's auch eine Sünde. Wir sind nicht gefühllos . . . Wenn wir an Gott denken, schämen wir uns. Manchmal, so im Katzenjammer, drückt's einen so, daß man am liebsten den Kopf in eine Schlinge stecken möchte . . . Na, dann nimmt man gleich ein halbes Maß und spült das 'runter . . . Dann kommt man wieder 'rein . . . Ohne Branntwein geht's nicht . . . so 'n Leben.«
Schon als sie zu sprechen begann, fühlte Tichon Pawlowitsch, wie der Funke in ihren Augen ihn am Herzen packte und kniff. Und die Augen wühlten so sonderbar in seinem Gesicht, wie um sich seine Züge einzuprägen. Und als sie dann von denen begann, die sie anekelten, und eine Pause machte, fühlte er, daß etwas Beleidigendes darin für ihn lag. Und zuletzt sprach sie gar von Gott. Dazu hatte er sie wahrhaftig nicht eingeladen.
Eine dumpfe Wut gegen dies Weibsbild stieg in ihm auf, und er antwortete streng und hart:
»Wem was beschieden ist, der hat auch sein Kreuz zu tragen . . . N' ja. Und ich bin mit dir hergekommen, um mich zu amüsieren und nicht um Fastenpredigten zu hören. So 'n Gespräch ist gar nicht am Platze bei unserem Geschäft. Ich wünsche mich zu erheitern und mit Lärm . . . verstehst? Hundert Silberrubel schmeiß ich auf den Tisch, aber meine Seele soll Ruhe haben. Sturm soll sein. Kannst du mir bei diesem Geschäft helfen, so sollst du einen Papierzehner bekommen. Aber so soll's sein.«
Seine Augen flackerten plötzlich in wildem Feuer auf und er fuhr sich mit der Hand über die Kehle, dann schüttelte er den Kopf und zwinkerte.
Sie verstand ihn, und ihr ganzes Wesen war im Moment verändert. Bis jetzt war er ihr wie ein Waschlappen vorgekommen, wie ein solider Familienvater, der auch die Sünde nur bis zu einer gewissen Grenze treiben wollte, aber jetzt begriff sie, daß die Sache sich noch ganz anders gestalten konnte. Ihre Augen blitzten, als sie jetzt rasch vom Stuhl aufsprang und das Kopftuch überwarf.
»Das hätten Sie gleich sagen sollen,« rief sie lebhaft, »aber Sie mahlen mit Ihrer Zunge, kein Mensch begreift was und warum. Warten Sie, ich komme gleich wieder. Ein Harmonikaspieler wird gleich hier sein; wir werden Lieder singen und tanzen. Und gehen Sie inzwischen dahin« – sie wies mit dem Finger ins Nebenzimmer – »und bestellen Sie Tee und Branntwein und was dazu. Na, ich gieß auch noch eins 'runter.«
Sie stürzte rasch noch ein Glas herunter, lächelte und verschwand.
Tichon Pawlowitsch rief nach dem Kellner, richtete ihm alles aus, was sie aufgetragen hatte, und ging in den Nebenraum. Es war eine Art Korridor, sonderbar eng und rauchig. Die drei Fenster gingen auf die Straße hinaus; an der einen Zwischenwand hing ein Bild, das eine Jagd darstellte, an der anderen – eine nackte Frau. Tichon Pawlowitsch betrachtete aufmerksam beide Bilder und setzte, sich dann an einen runden, kleinen Tisch, der vor einem breiten Lederdiwan stand, über dem wieder ein Bild hing. Aber man konnte nicht recht unterscheiden, was es darstellte; es konnte eine gemähte Wiese sein, aber ebensogut das Meer bei stillem Wetter. In der Mitte des Bildes war ein großer brauner Fleck; das konnte eine Hütte sein, aber auch ein Schiff, nach Belieben. Zu beiden Seiten des Bildes brannten zwei Lampen. Im großen Zimmer lärmte das Publikum; es kamen immer mehr Leute; die Gläser klirrten und die Stöpsel flogen krachend aus den Flaschenhälsen.
»Wollen 'mal versuchen, uns aufzurappeln,« dachte Tichon Pawlowitsch und schenkte sich von neuem Branntwein ein.
»Und nach der Rappelei werden wir wieder leben. Vielleicht geht's dann wieder. Hab mich genug mit mir rumgequält. Wenn ich verstehen könnte, was und wie – das wär' was anderes. Aber verstehen kann ich's nicht. Es drückt mich und ich weiß nicht, was mich drückt. Es saugt an mir – und fertig . . . Also sagen wir, ein Mensch stirbt – was ist denn dabei? Ist doch sehr einfach, er hat gelebt und darum ist er auch gestorben. Ich werde auch sterben . . . Seine Seele soll man nicht vergessen – das ist schon richtig. Aber was will sie? Wenn ich das verstehen könnte!«
Ihm fiel Kuska ein.
»Der weiß sich zu helfen und gibt sich freie Bahn. Lebt und will von nichts wissen . . . und Gedanken quälen ihn nicht. Und er hat doch auch eine Seele, wenn man sich's recht überlegt. Und der Lehrer hat eine Seele. Und doch, alle Menschen sind verschieden. Und diese da – dies Frauenzimmerchen sagt auch – es ist eine Schande zu leben. Und warum eine Schande, wenn's das Schicksal so will? Ohne Gottes Wille fällt kein Haar von deinem Kopf . . .« Und wieder fiel ihm etwas Unklares, Fernes ein, was ihm wieder Kopf und Herz wie mit einem feuchten, schweren Nebel bedeckte.
Er seufzte schwer, leerte sein Glas von neuem und lehnte sich gegen das Sofa.
Und wieder lauschte er auf seine Gedanken.
Ganz deutlich sah er plötzlich die große Trompete der Militärkapelle vorhin im Garten.
»Uf, Uf,« brüllte sie und schien aus dem Kreise der anderen Töne fliehen zu wollen. Und dann fiel ihm plötzlich das Wagengerassel ein, das so roh die Stille des Abends unterbrochen hatte.
»Kann man sich denn selbst verstehen, wenn der Mensch wie 'ne Mühle ist? Den ganzen Tag schüttet man alles Mögliche auf seinen Verstand auf!« Tichon Pawlowitsch war förmlich aufgebracht, aber er wußte nicht recht gegen wen.
»Die haben's gut, die verstehen können. Aber wir, was sollen wir denn tun? Wir sind kleine Leute, unwissend. Die Seele . . . ich verstehe. Aber wo ist mein richtiger Weg . . . wo soll ich den finden? Da sitzt der Nagel.«
Aber tief in seinem Innern quälte ihn noch etwas, so etwas Scharfes, Ätzendes, und es stach wie mit Nadeln. Und ihm war, als hatte er sich in zwei geteilt: die eine Hälfte wollte die andere irgendwohin stoßen; er mußte sich selbst vorsichtig aus dem Wege gehen, sowie er oft verschiedenen Bauern aus dem Wege gehen mußte, mit denen er Abmachungen getroffen hatte.
»Streit ich denn mit ihm?« bewies er sich selber und runzelte die Stirn. »Ich habe gesündigt und mein Herz ist versteinert – ich verstehe . . . Aber was soll ich denn jetzt tun? Wenn die Fastenzeit kommt – werde ich Buße tun, und bis dahin muß ich's halt tragen – so oder so.«
Und doch begriff er zuletzt klar, daß er unmöglich lange hier allein bleiben könnte, sonst mußte der Gram ihn wieder packen. Und er fürchtete sich davor. Dort drüben im Garten und auf dem Wege hierher hatte er ihn nicht mehr gespürt, aber jetzt stand er wieder deutlich vor ihm; er wuchs und umklammerte ihn fester und fester.
Der Müller fühlte sich wieder unbehaglich, fast verlegen. Er stürzte noch ein Glas Branntwein hinunter und ging dann in das große Zimmer hinüber, wo er schon vorher gesessen hatte.
»Und wohin hat sich diese Teufelspuppe denn versteckt?« dachte er empört.
Man betrachtete ihn draußen mit neugierigen Blicken und der Mann mit dem Soldatengesicht beobachtete ihn mit einem Paar Augen, die nichts Gutes zu prophezeien schienen.
Der Müller machte kehrt und fuhr zurück. Vor ihm stand ein großer Mann in einem roten Hemde, dessen Ärmel baumelnd von den Schultern herabfielen. Sie waren leer. Ein keilförmiger, blonder Bart verlängerte noch das blasse, vertrunkene Gesicht mit den fieberhaft glänzenden grauen Augen. Der Hals war sehr lang, mit stark vortretendem Adamsapfel, was der ganzen Gestalt etwas Kranichartiges gab. An den Füßen trug er Filzstiefel und Plüschhosen, die an den Knien stark abgerieben waren. Er war sicherlich schon gegen fünfzig Jahre alt; aber die glänzenden Augen ließen ihn jünger erscheinen. Er maß Tichon Pawlowitsch mit einem durchdringenden Blick und ging dann an ihm vorüber in das lange Zimmer.
»Also Sie sind der Kaufmann?« sagte er, als er sah, daß der Müller ihm folgte.
»Ich . . .«
»Schenken Sie mir ein Gläschen ein.«
»Mit Vergnügen.«
»Und reichen Sie's mir.«
Der Müller schenkte ein Gläschen Branntwein ein und führte es an die Lippen des Krüppels. Der zog erst unter sonderbarem Pfeifen die Luft ein und schlürfte dann den Schnaps, bis auf den letzten Tropfen.
»Nimmst du was dazu?«
»Nach dem ersten Glase noch nicht.«
»Soll ich noch einschenken?«
»Danke untertänigst.«
Der Krüppel sprach mit hoher, metallartiger Stimme, und nach den ersten zwei Gläsern glänzten seine Augen noch mehr und auf den Wangen traten zwei grelle Flecke hervor. Tichon Pawlowitsch reichte ihm ein Stück Brot mit gesalzenem Fisch. Der Krüppel griff mit den Lippen danach, setzte sich auf den Diwan und legte das Brot auf den Rand des Tisches. Er aß, indem er tief den Hals bückte. Wenn er ein Stück abbiß, mußte er die Unterlippe weit vorschieben, um auf diese Weise das Brot am Hinunterfallen zu hindern.
Tichon Pawlowitsch schaute ihm zu, und dieser verstümmelte Mensch tat ihm leid.
»Wie ist denn das gekommen mit den Händen?« fragte er mitleidig.
»Sehr einfach. Ich war mal betrunken und kam unter den Treibriemen – eins, zwei, drei – drei Monate Spital, und dann war der Bettler fertig.« Der Krüppel sprach hastig und maß den Müller mit scharfen, stechenden Augen.
»Weh tat's wohl sehr, was?« rief der Müller und schnalzte mit den Lippen.
»Ja . . . aber das ist vorüber. Und was vorüber ist, das ist eben nicht mehr da. Schlimm ist nur das, was da ist, und auf alles andere kann man spucken.«
»Das heißt?« fragte Tichon Pawlowitsch unsicher.
»Sehr einfach. Ohne Hände kann man nicht leben. Sogar Almosen kann man nicht annehmen – und das ist schon eine Gemeinheit. Wenn man den Mund vorstreckt, können sie einem die Zähne ausschlagen.«
»Das ist richtig.« Tichon Pawlowitsch lachte.
Der Krüppel hatte was Lebhaftes, Keckes an sich, und seine Augen glänzten so klug. Und Tichon Pawlowitsch dachte im stillen, daß er gewiß ein lustiger, guter Bursch sei, wenn ihm auch die Arme fehlten.
»Nichts ist wahrer,« nickte der Krüppel und hustete laut.
»Und wo bleibt Anuschka?« fragte der Müller.
»Wo haben Sie sie . . . abgefangen?« fragte der Krüppel.
»Hab sie im Stadtgarten . . . getroffen.« Der Müller erachtete es als notwendig, seiner Stimme einen merkwürdig langen Klang zu geben.
»Ah! . . .«
»Was denn? . . .«
»So . . .«
»Ein schönes Mädchen . . .« sagte Tichon Pawlowitsch. Er fühlte dunkel, daß das feindliche Gefühl seines Zechkumpans gegen ihn immer mehr wuchs.
»Die ist auch ein Krüppel,« warf der andere ein.
»Wieso denn?«
»Sie hat keine Seele. Mir hat die Maschine die Arme entzweigemacht und ihr hat das Leben die Seele entzweigemacht. Das Leben armer Leute ist ein verfluchtes; es macht alle zu Krüppeln ohne Grund. Verflucht!«
Sie schwiegen. Der Krüppel bewegte sich unruhig auf dem Diwan hin und her, wie von Ungeduld gepeinigt. Und der Müller beobachtete ihn verstohlen und fühlte sich immer unbehaglicher. Er fürchtete sich beinahe; die bekannten Nadelstiche in seinem Innern begannen wieder. Denn man fühlt sich wohler während eines Gespräches und man merkt nicht, was in einem vorgeht, wenn man von äußerlichen Dingen redet.
»Noch ein Gläschen?«
»Geben Sie her. Aber das ist das letzte, sonst kann ich nicht singen.«
»Warst du mal Sänger?«
»Ich? Ich war schon alles. Uhrmacher war ich, Sänger war ich, Weichensteller an der Eisenbahn. Mit Hornarbeiten hab ich gehandelt; Ladendiener war ich . . . ich weiß nicht mehr alles. Hab lang gelebt.«
»N' ja . . . So! . . .« murmelte der Müller, von der Vielseitigkeit des andern betroffen. Wieder schwiegen sie.
»Warum Anuschka gar nicht kommt?«
»Aniuta?« Der Krüppel krümmte sich förmlich. »Die wird schon kommen.« Er lachte trocken. »Seien Sie nur ganz ruhig . . . Sie haben ihr ja zehn Rubel versprochen und sie tut's auch für einen . . .« Er wand krampfhaft seinen langen Körper und hustete.
»Wissen Sie, ich kenn diese Aniuta seit ihrem sechsten Jahr. N' ja. Wie gefällt Ihnen das? Ich hab sie auf meinen Händen getragen und ihr Pfefferkuchen gekauft, und jetzt leb ich selbst unter ihrem Schutz . . . Ich hab ihr Pfefferkuchen gebracht, und jetzt bringt sie mir Brot und Schnaps . . . Die Zeiten sind veränderlich und die Menschen sind Viecher. Übrigens geht alles nach seinen Gesetzen, und der Mensch ist auf Erden nichts anderes als ein faulender Wurm. Alles ist in Ordnung – weinen und klagen führt zu nichts. Leb und warte, bis es dich zerbricht, und wenn's dich zerbrochen hat, wart auf deinen Tod. Das ist alles, was man an klugen Worten hat. Verstanden? Aniuta und ich und Sie – wir alle haben in unserer Kindheit alles verloren und bis jetzt nichts gefunden, nicht mal nen trockenen Holzapfel. Richtig. Weiter ist nichts zu sagen. Alle Gespräche sind Blödsinn und Unsinn. Früher hatte ich mal ne andere Meinung vom Leben, hab mich sehr viel gekümmert um meines und um das von anderen Leuten – was und wie . . . Heut spuck ich auf alles. Das Leben geht seinen vorgeschriebenen Weg, und es muß so gehen, ich kann nichts dazu tun . . . Das sind Gesetze, läßt sich nichts dagegen machen . . . Und 's ist auch nicht nötig, denn sogar der, der alles weiß, weiß nichts. Glauben Sie mir . . . Ich hab mit den klügsten Menschen darüber gesprochen, mit Studenten und mit vielen Dienern der heiligen Kirche. Che, che! Räsonieren tun die Leute über das und vieles andere. Dumm, ganz dumm ist's. Wozu räsonieren, wenn Gesetze und Kräfte da sind? Und was soll man dagegen tun, wenn all unsere Hilfsmittel im Kopfe liegen und der auch den Gesetzen unterliegt und den Kräften? Verstehen Sie? Das ist sehr einfach. Das heißt, leb und rühr dich nicht, sonst wirft dich die Kraft gleich zu Boden, und sie besteht aus deinen eignen Eigenschaften und den Plänen und den Bewegungen des Lebens. Das nennt man – Phi–lo–so–phie des wirklichen Lebens . . . Verstanden?«
Und der Krüppel geriet immer mehr in Eifer, während er dem Müller seine abgerissenen, nebelhaften Phrasen ins Gesicht schleuderte. Der Ton seiner Stimme war sonderbar. Tiefe Bitternis klang darin und vollkommene Trostlosigkeit und ätzender Spott, und dazu kam noch eine fast mystische Furcht vor den Gesetzen und Kräften, von denen er sprach. Er sagte diese Worte mit sonderbarer Betonung und dämpfte die Stimme, wenn er sie aussprach; aber ihren Sinn verstand er schwerlich.
Tichon Pawlowitsch verstand wenig von den wirren Worten des anderen; aber eine nervöse Bangigkeit überkam ihn, und er fühlte dunkel, daß sie ihm etwas erklärten. Und als der Krüppel jetzt atemlos eine Pause machte, fragte er schüchtern und nachdenklich:
»Das heißt, der Mensch kann sich nirgends hintun.«
»Nicht einen Zoll weit,« nickte der Krüppel und beugte sich dann mit dem ganzen Körper zu Tichon Pawlowitsch hinüber.
»Die Gesetze,« sagte er mit strenger und gedämpfter Stimme, »die geheimen Gesetze und Kräfte, verstehen Sie?«
Er zog die Brauen zusammen und schüttelte vielsagend den Kopf:
»Niemand weiß was . . . Nebel.«
Er machte wieder einige hastige Bewegungen und zog den Kopf ein, und der Müller dachte, daß sein Zechkumpan ihm jetzt sicherlich mit dem Finger drohen würde – wenn er Arme hätte. Aber er hatte ja keine Arme.
»Das heißt also: Leb und beklag dich nicht und ergib dich. Weiter nichts.«
»N' ja–a–a!« antwortete der Müller und runzelte nachdenklich die Stirn.
»Nun – und die Seele?« fragte er dann schüchtern.
»Die Seele . . . Haben Sie schon Säuglinge und kleine Kinder in Schenken und ähnlichen Orten gesehen? Das ist die Seele auf Erden. Eine Prüfung wird ihr auferlegt . . .«
»Nun, und wenn dann das Gewissen? . . .«
»Da kommen sie . . .« nickte der Krüppel.
In der offenen Tür stand schweratmend und erhitzt Anuschka; hinter ihr sah man ein Gesicht mit spöttisch-blinzelnden Augen und einem kecken Schnurrbart.
»Michail Antonitsch . . . Kostia ist gekommen . . . Und ich bin müde.«
»Kostia,« rief der Krüppel freudig, »das ist gut. Das wird gut werden, großartig. Kostia, komm her . . . Schau dir den an, Kaufmann; das ist ein Talent. Das ist die Seele.«
Hinter Anuschkas Ellbogen kroch noch ein magerer, gelber Mann hervor. Er war buckelig und hatte eine eingefallene Brust. Seine dünnen Lippen standen halboffen und zeigten zwei Reihen schwarzer, mit Weinstein bedeckter Zähne.
Es wurde laut im Zimmer.
Der Schnurrbärtige mit den spöttischen Augen entpuppte sich als Harmonikaspieler. Er setzte sich sofort in eine Sofaecke und nahm seine Harmonika auf den Schoß; sie war groß und mit unzähligen Klappen versehen. Er griff einen merkwürdig hohen, schrillen Akkord, warf Tichon Pawlowitsch einen triumphierenden Blick zu und goß sich ein Gläschen Branntwein ein.
Außer Anuschka war noch ein zweites Mädchen gekommen; Tania nannte sie ein junger Mensch in einem städtischen Rock, der halb wie ein sauberer Handwerker und halb wie ein Kommis aus einem kleinen Laden aussah. Sie setzten sich ans Fenster, während Anuschka, der Harmonikaspieler, Kostia, der Krüppel und Tichon Pawlowitsch eine Gruppe um den Tisch bildeten. In dem großen Nebenraum waren jetzt auch beinahe alle Tische besetzt; lauter, trunkener Lärm drang herein und mischte sich in die ohrenbetäubenden Töne der Harmonika.
Der Krüppel und Kostia flüsterten halblaut miteinander. In Kostias Gesicht leuchteten ein Paar tiefliegende Augen und unter ihnen lagen große, dunkle Flecke. Er trug eine lange Poddewka, wie der Müller, und darüber ein rotes Hemd. An den Füßen hatte er Stiefel. Anuschka sprach eifrig mit dem Harmonikaspieler und lächelte listig; aber er blickte nur einmal gleichgültig zu dem Müller hinüber und schwieg.
Alle fühlten sich etwas verlegen, und Tichon Pawlowitsch verlor seine ganze Haltung, als er sich plötzlich von soviel Fremden umringt sah, die sich dazu noch alle so wenig um ihn kümmerten. Er kam sich wie hinausgestoßen vor, wohin, wußte er selbst nicht recht; aber trotz des Nebels, der sich infolge des genossenen Branntweins und des Gesprächs mit dem Krüppel auf sein Gehirn gelegt hatte, fühlte er doch dunkel, daß er die Rolle des Gastgebers übernehmen müsse. Jetzt zwinkerten Anuschka und Tania einander zu und begannen zu kichern, und der Mann im städtischen Rock lachte laut und gutmütig mit. Der Harmonikaspieler entlockte seinem Instrument lange, quietschende Töne, und Kostia und der Krüppel sprachen noch immer miteinander.
Tichon Pawlowitsch räusperte sich, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und die anderen verstanden ihn. Alle scharten sich enger um den Tisch; Anuschka sprang vom Sofa auf und setzte sich neben ihn auf einen Stuhl, und auch das andere Paar kam vom Fenster in die Mitte des Zimmers.
»Zum Anfang trinken wir eins, meine Herrschaften,« erklärte Tichon Pawlowitsch, und es gefiel ihm, daß er diese Worte so gesetzt, beinahe solid gesagt hatte.
Und sie tranken. Dem Krüppel reichte Kostia das Glas, denn er saß neben ihm.
»Sie,« wandte sich Tichon Pawlowitsch an den Krüppel. »Sie, als solch ein Mensch.« Er stockte und starrte die armlosen Schultern des Krüppels an.
»Übernehmen Sie das Kommando. Lustig soll's sein; daß sich alles im Kreise dreht, will ich . . . Trinken wir noch eins, um reinzukommen.«
»Das geht,« nickte der Krüppel mit dem Kopf. Je mehr er trank, je größer wurden seine Augen, und der Adamsapfel begann zu zucken.
»Trinken wir und dann singen wir im Chor. Was? Du, Kostia, fängst an und singst die erste Stimme, Anuschka hilft und Sie, Mark Iwanitsch, spielen auf der Harmonika.«
Jetzt sprachen alle durcheinander. Der junge Mann im städtischen Rock behauptete, daß sie zu einem Chor zu wenig Stimmen hätten; der Harmonikaspieler war derselben Ansicht und unterstützte sie durch eine Menge technischer Ausdrücke.
»Es geht nicht, denn Sie haben alle Dur–, das heißt laute Stimmen. Es wird nichts als Geschrei herauskommen. Ein Trio wird grad gut sein; also zu dritt muß man singen.«
Anuschka schmiegte sich wie ein Kätzchen an den Müller; sie war schon etwas angeheitert und erregt. Er bemühte sich noch, eine gewisse Gesetztheit zu wahren, lächelte aber schon trunken und zwickte sie in die Hüften; dann kreischte sie leise und klopfte ihn auf die Hände. Sie vergaßen sich schon ein wenig, und um sie wogte der Streit, was und wie man singen solle.
Zur Türe schauten diverse typische Wirtshausphysiognomien hinein; sie betrachteten eine Weile die erregte Gesellschaft und verschwanden dann, um wieder anderen Platz zu machen.
»Mark Iwanitsch, das ist aber falsch,« rief der Krüppel bekümmert.
»Nein, nein,« antwortete der Harmonikaspieler in tiefem Baß.
Nur Kostia nahm an dem Streit nicht teil. Er hatte sich in eine Ecke des Diwans gekauert und saß mit vorgestreckter Brust und halbgeschlossenen Augen. Er war plötzlich sehr blaß geworden.
»Kustiuschka, stimm an,« rief Tania mit hoher Sopranstimme und stützte beide Arme auf den Tisch. Ihr Kavalier flüsterte ihr etwas ins Ohr und wies dabei nach dem Müller, der seine Nachbarin um die Taille gefaßt hatte und ihr ein Gläschen Likör an die Lippen führte. Sie zierte sich und wandte den Kopf weg. Tania warf den beiden einen trägen Blick aus ihren stumpfen, blauen Augen zu und nahm wieder ihre alte Stellung ein:
»Also fangt doch mal an,« rief sie dem Harmonikaspieler zu.
Aber der Krüppel bog seinen ganzen Körper zu ihm herüber und rief mit lauter, tönender Stimme, während ihm der Speichel aus dem Munde spritzte:
»Das ist wieder falsch. Man muß mit Trauer anfangen; das bringt die Seele erst in Ordnung, und dann zwingt man sie zuzuhören.«
»Was heißt denn das?« fragte der Harmonikaspieler skeptisch und zog die Brauen zusammen.
»So – Trauer ist sie gleich zugänglich . . . Verstehen Sie? Ihr müßt ihr eine Schlinge hinwerfen, zum Beispiel »Die Sonne geht rot unter«, dann bleibt sie stehen und erstarrt ganz. Und dann packt Ihr sie wieder mit was anderem, »Auf den Wiesen« vielleicht; aber mit Wirbel und Flammen und Tanz – brennen muß es. Brennen müßt Ihr sie, damit sie in Bewegung kommt, ordentlich. Dann geht schon alles seinen Gang. Dann beginnt die richtige Raserei. Man will etwas und braucht doch nichts. Sehnsucht und Freude . . . das spielt so alles zusammen im Regenbogen.«
Der Krüppel sprach beinahe atemlos vor Erregung und bewegte sonderbar den ganzen Körper, als wollte er gleich auf den Boden hinuntergleiten und sich dem Harmonikaspieler vor die Füße werfen. Und der Lärm in der Schenke wuchs immer mehr; chaotisch trunken wurde er jetzt.
Plötzlich brach eine hohe Tenorstimme durch den Lärm. Sie vibrierte krankhaft und der Ton war langgezogen, traurig.
»Ach, bei U-unwetter . . .«
»Sch-sch-sch,« zischte der Krüppel und warf den Kopf zurück. Er ließ einen Blick über das Publikum gleiten, bittend und ängstlich zugleich und dabei auch erfreut. Aber das Publikum war schon still und starrte Kostia an. Der saß noch immer auf dem Diwan, mit blassem Gesicht und krampfhaft zitternden Lippen. Die Töne rangen sich von diesen Lippen los, immer höher, stärker; aber sie waren wie gebrochen und sie kamen aus einer kranken Brust.
»Tania, mein Täubchen, sing mit,« flüsterte der Krüppel flehend.
»Weht der Wind und stöhnt,«
ging Kostia plötzlich in einen erzählenden Ton über.
Gleichgültig, als wollte sie sagen: »Ich kann's, mir ist's ganz egal,« schaute Tania zu Kostia hinüber und stemmte die Hand fest gegen die rechte Backe. Und noch ehe er mit seinen gesprochenen Worten fertig war, begann sie:
»Und meinen Ko-opf«
»Quält ein böser Schmerz,«
fuhr Kostia fort, noch immer unbeweglich, wie in sich selbst versunken. Er war klein, hager und gelb, und es war sonderbar, daß diese gekrümmte Gestalt so schöne, starke Töne hervorbringen konnte. Das Lied ging weiter, Ton um Ton. Kostias hoher, metallischer Tenor vibrierte, schluchzte und erstarrte plötzlich; aber immer, ehe er ganz verklungen war, griff Tanias Sopran ein; er stieg nachdenklich, traurig aus ihrer Kehle auf; gleichmäßig, trostlos ruhig klang er, fast fatalistisch eintönig, was die Worte noch trauriger machte. In der Türe des Zimmers stand eine Schar von Menschen mit roten, schwitzenden, erregten Gesichtern; hinter ihr im Schanksaal klirrten die Gläser und lärmten trunkene Stimmen; aber sie wurden immer stiller, und die Menge an der Türe drängte sich mehr und mehr ins Zimmer.
»Ach, dann geh ich in die Steppe«
erzählte Kostia traurig, mit roten Flecken im Gesicht.
»Ste-eppe«
fing Tania das Wort auf, aber ihre Stimme klang wie das gleichgültige Echo eines fremden Schmerzes. »Suche dort mein Los . . .«
Die Stimmen flossen ineinander und stiegen in einer einzigen, warmen Welle auf. Sie ließen die mit Fuselgeruch und Schweiß und Tabak geschwängerte Luft des Zimmers erbeben, schmeichelten sich in die Seelen der Zuschauer, erzitterten dann plötzlich und bebten und schluchzten, als wäre ihnen der Raum zu eng, zu drückend. Dann brach Kostias Stimme ab und schwieg, und Tania fuhr allein fort:
»Mütterchen, du Ste-eppe,
Mütterchen, du Steppe.«
Wieder begann Kostia mit einem Sehnsuchtsschrei:
»Nimm die Waise auf.
Nimm die Waise auf.«
Eine neue, dritte Stimme griff ein.
Es war beinahe eine Fistelstimme, aber sie schluchzte so aufrichtig und war Kostias Stimme so verwandt; sie flehte förmlich um Aufnahme. Sie verschmolz ganz mit Kostias Stimme; biegsam und zitternd wie jene bildete sie ihr Echo, den Schatten ihrer Haupttöne, und sie weinte und schluchzte, sang aber nur die Selbstlaute mit.
Es war der Krüppel, der mitsang, mit geschlossenen Augen und vorgestrecktem Adamsapfel.
Gleichmäßig, tief klang wieder Tanias Sopran dazwischen; wie ein breiter, dichter Sammetstreifen rollte er sich irgendwo im Raume auf, und darauf tanzten in phantastischen Mustern goldene und silberne Faden, Kostias und des Krüppels Stimmen.
Das Publikum lauschte gierig auf die traurige Geschichte der Waise, die in der Steppe ihr Los sucht. Tichon Pawlowitsch saß unbeweglich auf seinem Stuhl, ließ den Kopf hängen und saugte förmlich jeden Ton ein. Der alte Gram war bei den Klängen wieder erwacht; aber etwas Neues war dazugetreten, etwas Ätzend-Süßes, das ihm das Herz angenehm kitzelte. Ihm war, als begösse man ihn mit etwas Warmem, Dichtem. Wie frischgemolkene Milch war es. Und es drang in sein Inneres ein und füllte alle Adern; es reinigte sein Blut, es scheuchte seinen Gram auf und vergrößerte, erweiterte ihn noch; aber er wurde ganz weich und tat nicht mehr so weh. In jeder dieser Empfindungen war noch etwas Brennendes, Zwickendes; aber vereint riefen sie in der Seele des Müllers einen sonderbaren, süßen Schmerz hervor. Wie ein großer Eisklumpen lag es auf seinem Herzen, und er schmolz jetzt und zerfiel in kleine Stücke, und die stachen ihn.
Anuschka hatte den Kopf auf die Schulter ihres Nachbars gelegt und blieb unbeweglich in dieser Stellung. Die Augen hatte sie auf den Boden geheftet. Der Harmonikaspieler zupfte nachdenklich an seinem Schnurrbart, und der Mann im städtischen Rock stand wieder am Fenster und lehnte sich gegen die Wand. Er streckte komisch den Kopf vor, als wollte er die Töne mit dem Munde auffangen, und die Menge in der Türe scharrte und bewegte sich dumpf wie ein einziges, großes Tier.
Die drei sangen und berauschten sich an ihrem eigenen Lied.
Es klang schwer und leidenschaftlich, wie das Gebet eines büßenden Sünders; es war traurig und sanft wie das Weinen eines kranken Kindes; es war voll verzweifelten, hoffnungslosen Grams, wie jedes gute russische Lied.
»O, ich si-itze am Me-ere.«
schluchzte Kostia, dem der Schweiß auf die Stirne trat und wie Tränen über die Backen lief.
»O-o-a, o-o-o-o-a,«
begleitete ihn der Krüppel. Er hatte die Augen fest zusammengeklemmt und seine Nasenflügel zitterten nervös, und auch die Lippen und das Kinn zitterten.
»Und ich su-uche mein Lo-os«
Das war Tanias verzweifelte Stimme, und sie schüttelte den Kopf und lächelte so sehnsüchtig, so bitter.
»Meine Seele«,
sang Kostias schluchzender Tenor,
»– wa-aschen Tränen,
Bittre Trä-änen wa-aschen sie,«
zitterte die Stimme des Krüppels.
Die Töne schluchzten und schwebten weiter, immer weiter. Sie schienen abzureißen und zu ersterben; aber sie wurden wieder stärker, sie griffen den letzten sterbenden Klang auf und schwangen ihn wieder empor in die Höhe, und dort weinte und schluchzte und sank er wieder; der Fistelton des Krüppels verdeckte ihre Agonie, und Tania sang und Kostia schluchzte; er holte ihre Worte ein, er fing sie auf und wiederholte sie, und es war, als sollte das Lied kein Ende nehmen, als sollte die Waise in Ewigkeit ihr Los in der Steppe bei Sturm und Regen suchen, als der Müller plötzlich aufsprang.
»Brüder,« ächzte er dumpf, »Brüder, um Christi willen, ich kann nicht mehr.«
Sein Gesicht war rot und mit Tränen bedeckt; der Bart war von den herabrollenden Tränen durchnäßt und hatte sich zu einem Knäuel zusammengeballt; in den erschrockenen, weitgeöffneten Augen lag etwas Wildes, Begeistertes, das zugleich kläglich und brennend war. Beim Aufstehen hatte er Anuschka fortgestoßen und sie war beinahe gefallen. Jetzt starrte sie den Krüppel mit stumpfen, trüben Augen an – wie ein müdes Tier.
»Meine Seele habt ihr mir durchstochen. Genug – mein Gram. An mein krankes Herz habt ihr gerührt. Seit ich lebe, hatte ich so eine Stunde noch nicht.«
Tania warf ihm einen stumpfen Blick zu, und aus ihrer Kehle stiegen noch immer die gleichmäßigen, saftigen Töne auf; sie waren warm, diese Töne, aber ohne Feuer.
»Brüder, es brennt jetzt wie Kohlen in mir, so stark ist mein Gram. Was soll ich jetzt tun? Nach dem Messer könnt ich greifen.« Der Müller stöhnte noch immer dumpf und rollte die Augen, während er sich mit beiden Händen die Brust rieb.
»Trinken wir. Aber mit Gebraus und Tosen. Ach du, Leben!«
Der Krüppel und Tania brachen ab. Tania schenkte sich sofort ein halbes Glas Branntwein ein und goß es rasch hinunter, als hätte sie brennende Kohlen in ihrem Innern und müßte sie löschen. Der Krüppel atmete schwer. Er war plötzlich zusammengebrochen; die Wangen waren eingefallen und die Augen blickten stumpf und trüb, wie die der beiden Dirnen,.
»Schenk auch mir ein, Mark Iwanowitsch,« sagte er.
»Ihr habt prächtig gesungen,« sagte der Harmonikaspieler leise, und führte das Glas an seine Lippen.
Die Menge an der Türe bewegte sich und erhob einen chaotischen Lärm. Aufmunternde Ausrufe wurden laut und dazwischen liebkosende Schimpfworte.
»Glü-ück, ach du mein Glü-ück,«
schluchzte plötzlich Kostias Tenor dazwischen.
Er sang die ganze Zeit mit geschlossenen Augen und mußte von seinen eigenen Tönen hypnotisiert worden sein. Denn er, hatte das Geschrei überhört – er hatte einfach eine Pause gemacht, und jetzt sang er weiter. Man lachte. Die Menge an der Türe brüllte vor Vergnügen, und Tania lachte mit. Kostias Begeisterung kam ihnen unendlich komisch vor. Aber ihr Lachen weckte ihn auf. Er riß die Augen auf, nervös und erhitzt, schaute die lachenden Gesichter an und zog sich förmlich in sich zusammen; dabei wurde sein Gesicht blaß, es verlöschte fast. Jetzt war er wieder das kleine, gelbe Männchen von früher.
»Mädel, trink,« traktierte Tichon Pawlowitsch Anuschka. »Trink, amüsier dich. Ich rase heut, mich selbst würd ich zerstören.«
Der Harmonikaspieler griff nach seinem Instrument, dachte einen Moment nach, warf den Kopf zurück und spielte etwas Lustiges.
»Seht Ihr, wie wir des Kaufmanns Seele gerührt haben?« flüsterte ihm der Krüppel zu und stieß ihn mit dem Fuß an. Der Harmonikaspieler nickte nur schweigend mit dem Kopf. Tania war verschwunden und der Mann im städtischen Rock stand an der Tür und musterte das lärmende Publikum. Freche Gesellen tauchten an Tichon Pawlowitsch' Tisch auf und tranken seinen Branntwein. Er stieß mit allen an und war schon leicht berauscht. Und auch Anuschka war nicht mehr ganz nüchtern.
»Tanzen will ich. Mark, spiel den Komorinsker Marsch,« rief sie, die Schultern bewegend. Der Krüppel beobachtete sie mürrisch vom Diwan aus und biß sich auf die Lippen.
»Nu, Michail Antonitsch, sei nicht böse. Ist ja alles eins,« lächelte sie ihm zu. »Man lebt nur einmal in der Welt! . . .«
»Und wenn das Weib viermal leben würde, wär es doch viermal ein Vieh,« antwortete er grimmig.
»Freund, schimpfe nicht. Sie ist ein liebreizendes Mädchen und ich liebe sie,« brauste der Müller auf. »Ihr habt meine Seele gerührt und sie gereinigt. Ich fühl mich jetzt so, ach! Ins Feuer würd ich laufen.«
»Der Mensch hat nirgends hinzulaufen . . . Schenk mir lieber ein.«
»Nicht laufen? Nirgends? Das ist richtig. Deine Hand. Ja, also Hände hast du nicht . . . Dann küssen wir uns.«
Er umarmte den Krüppel und küßte ihn. Kostia schenkte sich Branntwein ein und trank ein Glas nach dem andern, denn niemand kümmerte sich um ihn.
»'nen Russischen spiel. Tanzen will ich,« schrie Anuschka wieder. Der Harmonikaspieler griff einen merkwürdigen Akkord und begann dann »Über die Straße, die Straße«.
Anuschka stemmte die Arme in die Hüften und bewegte die Schultern. Erhitzt und verführerisch schön, glitt sie mit langsamen, pfauartigen Bewegungen vor dem vom Wein erregten Müller hin und her und warf ihm lockende Blicke zu.
»Ach du! Ich komm dir nach!« schrie er und stampfte mit beiden Füßen auf. Dann tanzte er ihr nach.
Und der Krüppel beobachtete ihn mit gefletschten Zähnen und verdrehte seine Augen.
Wieder staute sich eine lärmende Menge in der Türe und schaute den Tanzenden zu.
»Tichon rast,« schrie der Müller drohend, »ein Mensch hat sich erneuert. Ech – ma.«
* * *
Vier Tage darauf fuhr Tichon Pawlowitsch des Nachts von der Eisenbahnstation nach Hause.
Der Kopf tat ihm weh; er war verstimmt und zerschlagen und der Wagen schüttelte ihn hin und her. Von dem viertägigen, wüsten Rausch war ihm ein ekelhaftes, bitteres Gefühl in der Brust zurückgeblieben, und jetzt stellte er sich seine Frau vor und den Empfang, den sie ihm wohl bereiten würde. »Was, Väterchen,« würde sie sagen, »hast du dich wieder von der Kette losgerissen?« Und dann würde sie natürlich vom Alter sprechen und von seinen grauen Haaren, und von den Kindern und von der Schande und von ihrem unglücklichen Leben. Tichon Pawlowitsch schauderte und spuckte auf die Straße. Dann brummte er:
»Auch 'n Leben!«
»Was sagt Ihr?« fragte sein Fuhrmann der redselige »Pantelej von der Eisenbahnstation«. Er hieß so zum Unterschied von einem andern Pantelej »dem Eingewanderten.«
»Nichts, fahr zu und kümmere dich um nichts,« antwortete Tichon Pawlowitsch wütend.
»Aha. Das kommt vor. Der Mensch denkt und denkt, und plötzlich spricht er mit sich selber laut. Das kommt vom vielen Denken, wenn . . .«
»Schweig!« unterbrach ihn Tichon Pawlowitsch.
»Na ja. Ich kann auch schweigen,« antwortete Pantelej nachgiebig und fing nach einigen Minuten wieder an.
Die Nacht war dunkel und die Steppe in tiefe Dämmerung gehüllt; am Himmel lagen unbeweglich graue Wolken. Nur an einer Stelle glänzte ein weißlicher, sonderbarer Fleck; das war der Mond, der durch die schweren Wolken durchbrechen wollte und es doch nicht konnte.
Sie kamen bis an den Zaun.
»Halt!« rief Tichon Pawlowitsch und kletterte vom Wagen herunter. Er schaute sich um.
Vierzig Schritt vor ihm lag sein Haus, wie ein dunkler, kantiger Haufen, rechts davon der gestaute Damm. Das dunkle Wasser war unbeweglich und sah unheimlich aus. Und alles war so still und drückend. Die Weidenbäume waren in dichte Schatten gehüllt und standen so gerade da und blickten so streng und so ernst. Irgendwo fielen Tropfen . . . Jetzt kam plötzlich der Wind vom Walde her; das Wasser bewegte sich erschrocken und plätscherte einmal auf, ganz leise, kläglich . . . Und die Weiden schüttelten den Schlaf ab und rauschten feierlich.
Tichon Pawlowitsch sah, wie das vom Winde bewegte Wasser wieder ruhig wurde. Ganz allmählich geschah's. Jetzt bewegte sich nur noch die oberste Fläche ganz leise.
Und Tichon Pawlowitsch seufzte tief auf und ging ins Haus. Er murmelte: »Das Leben . . . ist nur ein Schwanken . . . Verstehst du, daß das nicht das ist . . . ja freilich . . .«
Aber das beruhigte ihn nicht.
Schuldig fühlte er sich plötzlich vor aller Welt und vor sich selbst, und bevor er ins Haus trat, blieb er stehen und griff nach seinem Bart. Er zerrte ihn und schüttelte dabei den Kopf, und dann sagte er laut:
»Du bist ein alter, schmutziger Teufel, Tichon.«
»Was?« schrie Pantelej »von der Eisenbahnstation« aus dem Dunkel.
»Nichts, mach daß du weiterkommst.«
Irgendwo krähten die Hähne.