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Am nächsten Morgen erwartete Raiskij mit Spannung das Erwachen Weras. Er hatte seine eigene Leidenschaft vergessen, seine Phantasie verharrte in schüchternem Schweigen, und seine ganze seelische Energie konzentrierte sich in der Beobachtung dieser fremden Leidenschaft, die, wie er meinte, gleich einer schillernden, ihre Giftzähne weisenden Schlange aus Wera herausschaute.
Er war nachdenklich und in sich gekehrt, suchte den fragenden Blicken der Großtante auszuweichen und verwünschte sich selbst darum, daß er Wera das Ehrenwort gegeben, niemandem, am wenigsten Tatjana Markowna, ein Wort zu sagen, wodurch er selbst in eine recht peinliche Lage geriet.
Tatjana Markowna aber hatte schon mehrmals mit ihm über Wera zu reden begonnen.
»Mit Wera ist etwas nicht in Ordnung«, hatte sie kopfschüttelnd gesagt.
»Was denn?« fragte Raiskij obenhin und bemühte sich, dabei gleichgültig zu bleiben.
»Sie gefällt mir nicht, es ist noch schlimmer als neulich; sie geht so düster umher, so schweigsam, und manchmal scheint es mir, als habe sie Tränen in den Augen. Ich habe mit dem Arzt gesprochen – der kommt mir wieder mit den Nerven. Irgendwelche Anfälle müssen es sein, oder sonst was ...«
Die Großtante beendete ihre Rede nicht und schwieg nachdenklich.
Raiskij aber wartete voll Ungeduld, ob Wera nicht endlich käme. Schließlich, ganz spät, erschien sie. Ein kleines Mädchen trug ihr den warmen Mantel, den Hut und die Schuhe mit den Doppelsohlen nach. Sie wünschte Tantchen einen guten Morgen, bat um Kaffee, aß mit Appetit ein paar Zwiebäcke und erinnerte Raiskij daran, daß sie zusammen Einkäufe in der Stadt und dann einen Spaziergang übers Feld und durch den Hain machen wollten.
Sie benahm sich ganz so, als sei gar nichts vorgefallen. Von ihrem gestrigen Benehmen war nur eine gewisse Ungebundenheit in den Bewegungen und eine ihr sonst nicht eigene Hast im Sprechen übriggeblieben. Sie tat sich offenbar Zwang an, um ihre nervöse Aufregung zu verbergen.
Sie begann sogar mit Polina Karpowna, die unerwartet im Kabinett der Großtante erschien, über allerhand Toilettenangelegenheiten zu reden. Polina Karpowna hatte verschiedene moderne Schnittmuster mitgebracht, nach denen für Marfinkas Aussteuer Kleider genäht werden sollten; in Wirklichkeit war's ihr mehr darum zu tun, zu hören, ob Boris Pawlowitsch schon zurück sei.
Sie wollte um jeden Preis ein Gespräch unter vier Augen mit ihm herbeiführen und suchte einen passenden Moment zu erhaschen, um sich neben ihn setzen zu können. Endlich gelang es ihr, und sie fragte ihn, ob er ihr nicht irgend etwas ohne Zeugen zu sagen habe.
Sie sah ihn mit müdem Blick an, suchte seinen Augen zu begegnen und begann leise: »Je comprends, dites tout! Du courage! Ich verstehe, sagen Sie alles! Mut!«
›Hol dich der Teufel!‹ dachte er, runzelte die Stirn und rückte von ihr ab.
Endlich zog Wera ihren Mantel an, nahm seinen Arm und sagte: »Gehen wir!«
Die Krizkaja wollte durchaus mit ihnen gehen, aber Wera suchte sie loszuwerden, indem sie sagte: »Wir gehen zu Fuß und haben einen weiten Weg, und Sie, liebe Polina Karpowna, haben diese lange Schleppe und sind überhaupt für einen Spaziergang viel zu elegant angezogen. Draußen ist es feucht.«
Und so gingen sie denn ohne Polina Karpowna fort.
Raiskij schwieg und beobachtete Wera, während sie sich bemühte, recht natürlich zu erscheinen, und über das Wetter, über Bekannte, denen sie begegneten, über irgendein frisch renoviertes Haus, das noch vor kurzem ganz verfallen ausgesehen, ihre Bemerkungen machte. Sie erzählte, daß im Winter der Saal der Adelsversammlung neu ausgemalt werden sollte, daß die große Verkaufshalle ein Dach aus Eisenblech bekommen würde, und sie blieb sogar stehen, um zuzuschauen, wie an einer Stelle die Straße neu aufgeschüttet wurde.
Sie schien sogar recht zufrieden mit diesem Spaziergang durch die Stadt, der ihr um so gebotener erschien, als man sie schon lange nicht mehr gesehen hatte und die Leute Gott weiß was denken konnten.
Raiskij erwiderte kein Wort auf ihre anscheinend so ungezwungenen Bemerkungen, hinter denen er ganz andere Dinge vermutete.
»Vielleicht war es unrecht von mir, daß ich Sie der Gesellschaft Polina Karpownas beraubt habe?« bemerkte sie, um ihn aus seinem Schweigen herauszulocken.
Er zuckte ärgerlich die Achseln.
»Ich scherze nur«, sagte sie, einen aufrichtigeren Ton anschlagend. »Ich will, daß Sie den Tag mit mir verbringen sollen, oder noch besser: mehrere Tage, bevor Sie abreisen«, fuhr sie fast schwermütig fort. »Lassen Sie mich nicht allein, entziehen Sie mir Ihre Gesellschaft nicht. Sie werden bald abreisen – dann habe ich niemanden!«
»Ich fürchte, Wera, daß ich dir gar nicht nützen kann, eben darum, weil ich nichts weiß. Ich sehe nur, daß du in irgendein Drama verwickelt bist, und daß die Katastrophe entweder schon eingetreten ist oder bald eintreten muß.«
Sie zuckte zusammen.
»Was ist dir?« fragte er besorgt.
»Es ist so frisch draußen, ich friere«, sagte sie, die Schultern bewegend. »Was für ein Drama? Ich bin nicht ganz gesund, bin verstimmt. Der Herbst ist da, und im Herbst zieht sich der Mensch, wie alle Tiere, gleichsam in sich selbst zurück. Auch die Vögel sind schon fort – sehen Sie doch die Kraniche da oben!« sagte sie und zeigte nach einer krummen Linie von schwarzen Punkten, die hoch über der Wolga in der Luft hinzog. »Wenn alles ringsum düster und bleich und traurig wird, ist auch die Seele traurig gestimmt ... nicht wahr?«
Sie wußte selbst, daß er sich mit solchen Reden nicht leicht abspeisen ließ, und redete nur, um nicht die Wahrheit sagen zu müssen.
Er schwieg und suchte immer und immer wieder nach dem Schlüssel des Rätsels.
»Ich möchte dich etwas fragen, Wera ...«, begann er.
»Was denn?« unterbrach sie ihn voll Unruhe und fügte, ohne seine Antwort abzuwarten, hinzu: »Gut, fragen Sie, aber nicht heute – vielleicht in ein paar Tagen. Um was handelt es sich denn?«
»Um die Briefe, die du an mich geschrieben hast.«
»Ja – was ist mit ihnen?«
»Erinnerst du dich, daß du mir schriebst, du teilest meine Auffassung von der Ehrlichkeit?«
Sie dachte nach, und es schien, daß sie sich zu erinnern suche.
»Ja ... ja ... gewiß, natürlich ... Ich schrieb das ... nun, also was?«
Er sah sie durchdringend an.
»Hast du diesen Brief geschrieben?«
»Wer denn sonst?« versetzte sie plötzlich lebhaft, »gewiß habe ich ihn geschrieben. Hören Sie«, fügte sie dann hinzu, »lassen wir diese Auseinandersetzungen, wie ich Sie schon bat, für ein anderes Mal. Ich bin krank und schwach. Sie waren gestern Zeuge dieses Anfalles. Ich weiß jetzt nicht einmal mehr genau, was ich Ihnen schrieb, ich bringe alles durcheinander.«
»Gut, lassen wir es für ein anderes Mal!« sagte er mit einem Seufzer. »Aber sag mir wenigstens, wozu du mich brauchst? Warum hältst du mich hier zurück? Warum willst du, daß ich noch bleiben, daß ich diese Tage mit dir zubringen soll?«
Sie stützte ihren Arm fest auf den seinigen, schmiegte sich an seine Schulter und bat ihn mit den Augen, doch nicht weiter in sie zu dringen.
»Du liebst mich doch nicht! Du weißt, daß ich an dein kokettes Spiel nicht glaube – und so viel Achtung wirst du wohl vor mir haben, daß du mich nicht geradezu zum Narren machst. Ich sehe doch, wenn mein Geist unbefangen ist, wenn ich nicht im Fieber bin, daß du deinen Scherz mit mir treibst. Warum geschieht das?«
Sie preßte heftig seinen Arm an sich und bat wiederum mit den Augen, sie nicht weiter zu fragen.
»Das eine darf ich doch wenigstens fragen: Was soll ich dir? Es kann dir doch nicht entgehen, wie sehr mich das alles erregt und peinigt, diese Leidenschaft, diese ewigen Schläge, die du meinem Herzen, meiner Eigenliebe versetzest.«
»Ja, Ihrer Eigenliebe ...«, wiederholte sie zerstreut.
»Gut, sagen wir Eigenliebe, streiten wir nicht darüber, was Eigenliebe und was das sogenannte ›Herz‹ ist. Aber du mußt mir doch sagen, was ich dir eigentlich soll? Es ist mein gutes Recht, dich danach zu fragen, und es ist deine Pflicht, mir offen und ehrlich auf diese Frage zu antworten, wenn du nicht willst, daß ich dich für falsch, daß ich dich für boshaft halte.«
Sie ließ den Kopf auf die Brust sinken und ging weiter, während er ihre Antwort erwartete.
»Lassen wir das jetzt.«
»Auch das sollen wir lassen? Nein, davon gehe ich nicht ab!« sagte er in zorniger Aufwallung und entriß ihr heftig seinen Arm. »Du spielst mit mir wie die Katze mit der Maus! Ich gestatte dir das nicht mehr – genug der Scherze! Deine eignen Geheimnisse kannst du für dich behalten, solange du willst, ja du brauchst sie mir überhaupt nicht zu enthüllen. Was jedoch mich betrifft, so erwarte ich eine sofortige Antwort von dir. Was soll ich dir hier? Welche Rolle hast du mir zugeteilt, und warum soll ich sie spielen?«
»Sie haben diese Rolle selbst gewählt, Vetter ...«, entgegnete sie sanft und blickte zu Boden. »Sie baten mich, ich solle Sie nicht fortschicken.«
In ohnmächtigem Ärger über ihren berechtigten Vorwurf trat er zur Seite und ging, weit ausschreitend, durch den Straßenkot, während sie ihren Weg auf dem Holztrottoir fortsetzte.
»Seien Sie mir nicht böse, Vetter, kommen Sie hierher! Ich habe Sie nicht etwa zurückgehalten, um Sie zu kränken – nein!« flüsterte sie, ihn zu sich heranwinkend. »Kommen Sie hierher, zu mir!«
Er reichte ihr wieder den Arm.
»Ich bitte Sie nur um eins – sprechen Sie jetzt nicht von dieser Sache, regen Sie mich nicht auf, damit es mir nicht wieder so geht wie gestern! Sie sehen, ich halte mich kaum auf den Füßen ... sehen Sie mich doch an, fassen Sie meine Hand an!«
Er nahm ihre Hand – sie war bleich und kalt und das blaue Geäder trat deutlich hervor. Ihr Hals und ihre Taille waren schmächtiger geworden, ihr Gesicht hatte die lebhafte Farbe verloren, es machte den Eindruck der Schwäche und Traurigkeit. Er vergaß wieder seine eigne Person und empfand einzig Mitleid mit ihr, der so schwer Geprüften.
»Ich will nicht, daß man zu Hause meinen Zustand bemerkt. Ich bin sehr schwach ... schützen Sie mich!« flehte sie ihn an, und ihre Augen füllten sich sogar mit Tränen.
»Behüten Sie mich ... vor mir selbst! Kommen Sie, sobald es dämmert, so gegen sechs Uhr nachmittags, zu mir hinüber ... ich werde Ihnen dann sagen, warum ich Sie zurückgehalten habe.«
»Verzeih mir, Wera – auch ich bin nicht mehr Herr meiner selbst!« sagte er, tief gerührt durch ihren Kummer, und drückte ihr die Hand. »Ich sehe, daß du große Qualen erduldest – und ich weiß nicht, was dich quält. Doch ich werde nicht fragen ... ich will und muß deinen Schmerz schonen – obschon es mir schwer wird und ich selbst darunter leide. Ich werde also kommen, du kannst auf mich rechnen.«
Sie erwiderte seinen Händedruck lebhaft und flüsterte:
»Ich werde Ihnen alles sagen ... wenn ich die Kraft dazu besitze.«
Ein Gefühl der Bangigkeit, eine schlimme Vorahnung beschlich ihn.
Sie kamen an den Läden vorüber. Wera machte für sich und Marfinka Einkäufe und unterhielt sich dabei ungezwungen und lebhaft mit den Ladeninhabern, wie sie es auch mit den Bekannten, die ihnen begegneten, getan hatte. Mit diesen war sie sogar auf der Straße stehengeblieben, um sich über allerhand kleine, alltägliche Angelegenheiten zu unterhalten. Dann machte sie einem kleinen Patenkinde, dem Töchterchen einer Kleinbürgerin, einen Besuch und übergab der Mutter den Kleiderstoff, den sie für das Kind und die Mutter gekauft hatte. Als hierauf Raiskij einen Besuch bei Koslow vorschlug, ging sie bereitwillig darauf ein.
Sie betraten eben den Torweg des Hauses, als plötzlich aus der Seitenpforte Mark Wolochow heraustrat. Er nickte Raiskij nur flüchtig zu, gab auf die Fragen, wie es Leontij gehe, gar keine Antwort und eilte, Wera kaum ansehend, mit raschen Schritten durch die Seitengasse davon.
Wera hatte einen Augenblick wie festgebannt dagestanden, doch faßte sie sich sogleich und eilte mit raschen Schritten, an Raiskij vorüber, die Treppe hinauf.
»Was ist mit ihm?« fragte Raiskij, während er Mark nachblickte – »kein Wort hat er geantwortet, und wie er gleich losrannte! Und auch du bist erschrocken. Ist er es am Ende, der dort immer schießt? Ich habe ihn dort schon mit seiner Büchse getroffen«, fügte er scherzend hinzu.
»Natürlich – wer soll es sonst sein?« sagte Wera munter, ohne sich umzuwenden, während sie Koslows Zimmer betrat.
›Nein, nein‹, dachte Raiskij, ›dieser zerlumpte, herumlungernde Zigeuner sollte ihr Idol sein? Nein, tausendmal nein! Übrigens ... warum nicht? Die Leidenschaft ist grausam, sie macht den Menschen blind. Sie fragt nicht nach den Sitten und Anschauungen der Menschen, sie unterwirft sie ihrer ungezügelten Laune. Aber Wera hatte doch keine Gelegenheit, sich diesem Mark zu nähern! Sie fürchtet sich vor ihm, wie alle Welt sich vor ihm fürchtet.‹
Koslow ging noch immer, ganz ebenso wie gestern, mit schwankenden Schritten, als sei er berauscht, von einer Ecke zur andern, verhielt sich schweigsam, wenn jemand ihn besuchte, und schüttete nur vor Raiskij sein Herz aus. Er war so mutlos, so willensschwach und verzagt, klagte nur leise murrend sein Leid, horchte auf jedes draußen vorüberrasselnde Fuhrwerk, lief erregt zur Tür und kam jedesmal ganz verzweifelt zurück.
Als Raiskij und Wera ihn erneut aufforderten, zu ihnen überzusiedeln, schwieg er; er hörte kaum hin, oder sagte nur:
»Jaja, später ... in zwei, drei Wochen.«
»Vielleicht nach Marfinkas Hochzeit?« sagte Wera.
»Ja, nach der Hochzeit, nach der Hochzeit«, wiederholte Leontij mechanisch. »Ich danke sehr, ja ... vorläufig aber bleibe ich noch hier. Ich danke herzlich.«
Er starrte plötzlich Wera an und schien verwundert, sie bei sich zu sehen.
»Wera Wassiljewna!« sagte er ganz verwirrt. »Weißt du auch, Boris Pawlowitsch«, fuhr er, zu Raiskij gewandt, fort, »wer außer mir noch deine Bücher gelesen und mir beim Ordnen geholfen hat?«
»Wer denn?« fragte Raiskij.
Doch Koslow hörte seine Gegenfrage nicht; er war bereits wieder in der andern Ecke des Zimmers und lauschte nach der Straße hinaus. Dann öffnete er plötzlich das Luftpförtchen des Fensters und steckte den Kopf hinaus.
»Wer rief da eben? War's nicht eine Frauenstimme?« sagte er ganz erschrocken und horchte gespannt, mit weit geöffneten Augen, hinaus.
»Leinwand! Schöne Leinwand! Alle Sorten Zwirn!« ließ sich die durchdringende Stimme einer Hausiererin von weitem vernehmen. Koslow schlug ärgerlich das Luftpförtchen zu.
»Wer hat denn die Bücher gelesen?« wiederholte Raiskij seine Frage.
Doch Koslow hörte wieder nicht, sondern setzte sich aufs Bett und ließ den Kopf hängen. Wera flüsterte Raiskij zu, daß es ihr peinlich sei, Leontij Iwanowitsch in diesem Zustande zu sehen, und so verabschiedeten sie sich von ihm.
»Ich wollte dir noch etwas sagen, Boris Pawlowitsch«, sagte Koslow nachdenklich – »doch ich hab's vergessen.«
»Du meintest, es habe noch jemand meine Bücher gelesen?«
»Ganz recht ... da sitzt dieser Jemand!« sagte Leontij plötzlich, während er auf Wera zeigte.
Raiskij blickte nach ihr hin; sie sah eben zum Fenster hinaus und zog ihn am Ärmel.
»Gehen wir, gehen wir!«, sagte sie und eilte auf die Straße.
Sie kehrten nach Hause zurück. Wera übergab einen Teil der Einkäufe der Großtante, das übrige ließ sie in ihr Zimmer bringen. Dann forderte sie Raiskij auf, mit ihr einen Spaziergang durch den Hain, durch die Felder und an die Wolga hinunter zu machen.
»Gehen wir dorthin!«, sagte sie, auf irgendeinen Hügel zeigend, und kaum hatten sie das Ziel erreicht, als sie ihn sogleich wieder nach einem andern Punkt mit sich zog, der eine besonders schöne Aussicht auf den gewundenen Lauf der Wolga haben sollte. Im nächsten Augenblick aber watete sie schon wieder durch den Ufersand, in dem ihre Füße bis an die Knöchel versanken.
Sie schaute in die Ferne, zeigte Raiskij ein Schiff, das ganz weit hinten dahersegelte, und lief dabei hastig, mit ungleichmäßigen, unsicheren Schritten, häufig stehenbleibend, tief Atem schöpfend und die Haarsträhnen aus dem Gesicht schüttelnd, weiter und weiter.
»Warum machst du dich so müde, Wera? Du bist doch so schwach!« sagte er.
»Ich habe einen ganz merkwürdigen Durst. Luft möchte ich trinken!« sagte sie und wandte ihr Gesicht nach der Seite, von der der Wind herblies.
»Sie mutet sich ja zu viel zu ... verausgabt die letzten Kräfte«, flüsterte er vor sich hin.
Er brachte sie nach Hause, wo man bereits mit dem Mittagessen auf beide wartete.
›Um sechs Uhr also!‹ ging es ihm durch den Kopf, und er erwartete mit Ungeduld den Abend.
Nach dem Mittagessen war er im Salon vor Müdigkeit eingeschlafen und erwachte erst wieder, als es bereits sechs Uhr geschlagen hatte und die Dämmerung hereingebrochen war.
Er ging zu Wera, traf sie jedoch nicht zu Hause an. Marina sagte, das gnädige Fräulein sei zur Abendmesse gegangen, doch wußte sie nicht zu sagen, ob sie nun nach der Dorfkirche auf dem Berge oder nach der Vorstadt gegangen sei.
In der Vorstadtkirche musterte Raiskij alle Anwesenden und prägte sich, während er Wera suchte, die Physiognomien aller alten Weiber ein, die in der Kirche waren. Wera war nicht anwesend, und so ging er nach der kleinen Kirche auf dem Berge. Dort sah er gleichfalls zunächst nur ein paar alte Frauen und Männer. Dann aber erblickte er in einem dunklen Winkel hinter einer Säule Wera. Mit vorgeneigtem Kopf, den Schleier vor dem Gesicht, kniete sie auf den kalten Steinen des Fußbodens.
Er trat hinter eine zweite Säule in ihrem Rücken.
Während sie betete, stand er da und sann über ihre Lage nach; ein Gefühl tiefen, zärtlichen Mitleids mit ihr erfüllte sein Herz, als er sie sich so nutzlos in dem schweren Kampf aufreiben sah.
Er blickte auf dieses junge, kaum erblühte und doch schon so schwer heimgesuchte Leben; er sah, wie das Schicksal dieses jugendliche Geschöpf bedrängte und quälte, obschon es keine andere Schuld trug als die, daß es glücklich sein wollte. Und er grollte im stillen über die grausamen, niemand verschonenden Gesetze des Seins, die dieser schwachen, kaum zur Entfaltung gelangten Lilie dasselbe schwere Kreuz auferlegten wie irgendeinem hartgesottenen Bösewicht.
›Allein um ihrer Schönheit willen sollte sie verschont bleiben. Doch wer ist's, der sie schonen soll? Und was hat sie überhaupt verschuldet?‹ dachte er, und unwillkürlich geriet er in den Bann der mystischen Vorstellung, daß es im Menschenleben gewisse vom Schicksal vorbereitete, geheimnisvolle Momente gebe, in denen ein unerwartetes Zusammentreffen von Umständen oder eine Begegnung dem Menschen eine unheilvolle Idee, ein krankhaftes Gefühl, einen verbrecherischen Wunsch einflößt, wovon ihm nur Pein und Marter erwächst – und alles dies um irgendeines ihm selbst unbewußten, unbekannten Zweckes willen, der ihn unerbittlich zu aufreibendem Kampfe zwingt.
In anderen Momenten wieder, so schien es ihm, treten Zufälle ein, die, von einer unbekannten Macht herbeigeführt, den Menschen vor seinem Verhängnis bewahren, so daß er den jähen Abgrund, den er unbewußt überschreitet, erst gewahr wird, wenn er ihn in seinem Rücken hat.
Während er so das wirre Gewebe seines eignen Lebens, wie alles Lebens überhaupt, durchmusterte und den forschenden Blick auf Weras kaum begonnenes Dasein wandte, durchschaute er immer klarer dieses Spiel künstlich verflochtener Zufälligkeiten, diesen Irrlichtertanz schlimmer Täuschungen und Verblendungen, diese im vorhinein gelegten Fallstricke, diese Fehltritte, Irrungen, Entgleisungen – und diese anscheinend ebenso zufälligen Auflösungen der verwirrten Fäden und Knoten.
›Was soll man tun? Soll man um jeden Preis diesem Kampf mit all seinen Fährlichkeiten zu entrinnen suchen und einem sicheren, sturmlosen, ruhigen Hafen zustreben, wie es auch diese schlichten Seelen hier tun?‹ Er ließ seinen Blick über die Köpfe der betenden Greise und Greisinnen hinschweifen. ›Oder soll man ohne vieles Nachdenken in den trüben Fluten dieses ziellos dahinströmenden Lebens mitschwimmen? Wo ist der Schlüssel zum Verständnis all dieser Dinge, zur Erkenntnis eines wirklich vernunftgemäßen, gangbaren Weges?‹
Er blickte auf Wera. Sie verharrte unbeweglich im Gebet und wandte die Augen nicht von dem Gekreuzigten ab.
›Die Ärmste!‹ dachte er betrübt, ging hinaus und setzte sich, Wera erwartend, in der Vorhalle nieder.
Nach einem Weilchen kam sie heraus. Sie reichte ihm schweigend die Hand, und sie gingen den Berg hinunter.
»Sie waren in der Kirche?« fragte sie.
»Ja, ich war dort«, antwortete er.
Sie schritten langsam bergab durch das Dorf und kamen über das ungepflügte Feld nach dem Garten. Wera ging mit gesenktem Kopf, während Raiskij nur immer an die Aufklärungen dachte, die sie ihm hatte geben wollen, und diese erwartete. Der Wunsch, aus der quälenden Ungewißheit endlich herauszukommen und seinen eigenen Leiden ein Ende zu setzen, trat in diesem Augenblick bei ihm in den Hintergrund. Er dachte vielmehr an sie – er fühlte, daß ihm allein jetzt die Pflicht oblag, ihr zur Seite zu stehen, ihren Weg zu erhellen, ihr bei der Lösung irgendeines verhängnisvollen Knotens, beim Überschreiten eines jähen Abgrunds zu helfen, sie erforderlichenfalls mit seiner Erfahrung, seiner Vernunft, seinem Herzen, seiner ganzen Kraft zu unterstützen.
Sie hatte ihn selbst dazu aufgefordert, hatte halb und halb ein Bekenntnis vor ihm abgelegt, und wenn sie es nicht ganz tat, so geschah es nur, weil die ihr eigene Vorsicht sie davon zurückhielt, und weil vielleicht auch noch ein Rest von Stolz in ihr vorhanden war, der sie hinderte, sich für besiegt zu erklären.
Wie gern hätte er ihr seine Hilfe zuteil werden lassen! Aber er wußte ja nichts, und er hatte nicht einmal das Recht, seine Befürchtungen irgend jemandem mitzuteilen.
Aber selbst wenn sie ihn von dem gegebenen Ehrenwort entband, wenn er der Großtante alle seine Vermutungen und Befürchtungen mitteilte – würde das wohl den gewünschten Erfolg haben? Es war nicht anzunehmen. Die veraltete Lebensweisheit der Großtante, so praktisch sie auch sein mochte, würde an Weras Trotz zuschanden werden, die einen kühneren Verstand, einen lebendigeren Willen, ein entwickelteres Denken besaß als Tatjana Markowna.
Sie hatte ein Verständnis für die modernen Begriffe, die mehr und mehr in das öffentliche Bewußtsein übergegangen waren; sie hatte offenbar irgendwo diese neuen Ideen, dieses neue Wissen in sich aufgenommen und stand unvergleichlich hoch über den Menschen, in deren Mitte sie lebte. Sosehr sie auch bemüht war, ihre geistige Überlegenheit nicht merken zu lassen, so verriet sie sich doch zuweilen durch ein zufällig hingeworfenes Wort oder die Nennung des Namens irgendeiner Autorität auf dem einen oder andern Gebiete der Wissenschaft.
Ihre Zunge wurde gleichsam auf Schritt und Tritt zur Verräterin an ihr selbst; ihr freier Gedankenflug, der ihn gleich bei seiner ersten Begegnung mit ihr so überrascht hatte, ihr ganzer geistiger Zuschnitt, ihr Charakter – alles dies verlieh ihr ein solches Übergewicht über die Großtante, daß alle Bemühungen Tatjana Markownas, ihr aus irgendwelchen Nöten zu helfen, sicherlich vergeblich gewesen wären.
Die Großtante konnte wohl Wera vor irgendeiner groben Verirrung warnen, konnte sie vor einer Krankheit, einem plumpen Betruge bewahren, sie mit eigener Lebensgefahr aus dem Feuer retten; was aber konnte sie tun, um Wera vor einer Leidenschaft zu retten, falls sie wirklich in eine solche verstrickt war?
Zweifellos war die Großtante eine kluge Frau, die mit sicherem Blick und richtigem Urteil die Erscheinungen des Lebens, wie sie sich ihrem Auge darboten, zu deuten wußte. Sie hatte auch einen recht klaren Verstand, der sich in dem kleinen Königreich, das sie regierte, wohl bewährte; sie war eine berufene Richterin menschlicher Tugenden und Laster, die sie streng nach den Gesetztafeln Moses' und nach dem Evangelium beurteilte.
Ganz gewiß aber war sie keine Kennerin des Lebens, soweit das Spiel menschlicher Leidenschaften es bestimmt und zu einem buntfarbigen, aus feinsten Fäden gewebten Gebilde gestaltet. Kein Mensch ließ sich hier in dieser stillen, ländlichen Einsamkeit von dieser Seite des Lebens auch nur etwas träumen, am wenigsten Tatjana Markowna, die – alte Jungfer.
Wenn sie einmal in ihren jungen Jahren die Liebe, die Leidenschaft oder etwas Ähnliches kennengelernt hatte, so war das doch höchstens eine Leidenschaft ohne Erfahrung, eine unerwiderte oder gewaltsam unterdrückte Neigung gewesen – kein Liebesdrama, sondern ein lyrisches Gefühl, das in ihr allein sich abspielte, in ihr erlosch, in ihrer Seele begraben ward, ohne eine Spur zu hinterlassen oder in das helle Bild ihres Lebens auch nur einen einzigen, noch so kleinen Riß zu bringen.
Wie sollte sie etwas ahnen von den Schrecknissen dieses Kampfes? Wie konnte sie einer, die zu versinken drohte, die Hand reichen und beim Umgehen des Abgrunds behilflich sein? Sie hätte auch gar nicht an das Vorhandensein einer Leidenschaft geglaubt; sie hätte einfach nach Tatsachen gefragt.
Diese Schüsse in der Tiefe der Schlucht, diese geheimnisvollen Spaziergänge Weras dort unten im Dickicht – gewiß, das waren wohl Tatsachen, aber gegen diese Tatsachen hätte die Großtante eben ihre Maßnahmen getroffen. Sie hätte ihre Hauspolizisten mit Knütteln bewaffnet und als Wachen ausgestellt, hätte dem Liebhaber aufgelauert und Wera damit nur einen neuen Schlag versetzt.
Oder sie hätte Wera nicht aus dem Hause gelassen – und auch das wäre eine Demütigung, eine Kränkung gewesen, da sie damit ihre Freiheit verletzt hätte. Nie würde Wera eine so grobe Vergewaltigung ertragen, sie würde einfach vor der Großtante fliehen, wie sie vor ihm über die Wolga geflohen war. Es gab kein Mittel, mit dem die Großtante hier hätte helfend eingreifen können. Wera war ihrer Moral und ihrem Erfahrungskreise entwachsen, alle Belehrungen und Ermahnungen Tatjana Markownas hätten sie nur verletzen können oder, wie jene traurige Historie von der armen Kunigunde, ihren Spott herausgefordert. Der letzte Rest von Vertrauen zur Großtante wäre dadurch vielleicht bei Wera zerstört worden.
Nein, diese Autorität war veraltet; sie konnte wohl noch einer Marfinka Respekt einflößen, nicht aber der unabhängigen, geistig entwickelten, modern denkenden Wera.
Das einzige Mittel, den Schlüssel zu dem Geheimnis ihres Herzeleids zu finden, hielt Wera selbst in der Hand; doch sie vertraute ihn niemandem an, sie warf nur jetzt, da ihre Kraft sie im Stich ließ, gelegentlich ein Wort, eine Anspielung hin, um erschrocken alles wieder zurückzunehmen und sich von neuem zu verstecken. Offenbar fühlte sie sich nicht stark genug, den gordischen Knoten zu durchhauen, und ihr Stolz oder ihre Gewohnheit, nach eignem Gutdünken zu leben, wenn sie auch dabei zugrunde ging, verschloß ihr das Wort im Munde.
Alles das ging Raiskij durch den Kopf, während er schweigend neben Wera herschritt. Um jeden Preis hätte er sie zum Sprechen bringen mögen, nicht mehr um seiner selbst willen, sondern nur noch um ihretwillen, um sie zu retten. Aber er wußte nicht, wie er es anfangen sollte, ihr endlich die Zunge zu lösen. Schließlich wollte er es noch einmal versuchen, ihr von der Seite her beizukommen. Vielleicht würde er in der Unterhaltung aus ihren Antworten auf seine Fragen einen Anhalt gewinnen, vielleicht würde irgendein Name fallen, bei dem er dann verweilen könnte, um ihr so das Geständnis zu erleichtern, das ihr anscheinend so ungemein schwerfiel, daß sie es trotz ihres Versprechens nicht über die Lippen zu bringen vermochte. Mit List und Schlauheit wollte er sich ihr nahen. Sie war jetzt müde und erschöpft, vielleicht plauderte sie in einem schwachen Augenblick aus, was er wissen wollte.
Es fiel ihm ein, daß sie seinen Fragen bisher stets ausgewichen war, wenn er wissen wollte, woher sie ihre Kenntnisse und ihr überraschend klares Urteil über so viele Dinge besaß, die einem jungen Mädchen in ihrer Lage sonst fremd blieben. Woher stammte ihre kühne, freie Denkweise, ihr Selbstvertrauen und ihre Selbstbeherrschung? Das waren doch sicherlich nicht Resultate der Erziehung, die sie in der französischen Pension genossen hatte! Wer war ihr Mentor, ihr geistiger Führer gewesen? So sorgsam er auch Umschau hielt – er sah niemanden, der es hätte sein können.
Ganz allmählich dachte er ihr das Geständnis zu entlocken.
»Hör einmal, Wera, ich wollte dich etwas fragen«, begann er in gleichgültigem Ton. »Leontij erwähnte heute, du hättest die Bücher in meiner Bibliothek gelesen, und du hast doch nie von ihnen gesprochen! Ist's richtig, was er sagte?«
»Ja, einige davon habe ich gelesen. Warum?«
»Mit wem hast du sie gelesen, mit Koslow?«
»Einzelne – ja. Er hat mir den Inhalt einiger Werke erklärt. Andere habe ich allein gelesen, noch andere mit dem Priester, Nataschas Mann.«
»Welche Bücher hast du mit dem Priester gelesen?«
»Ich erinnere mich jetzt nicht mehr. Die Kirchenväter zum Beispiel. Er hat sie mir und Natascha erläutert, und ich bin ihm dafür sehr verpflichtet. Auch Spinoza habe ich mit ihm gelesen ... und Voltaire.«
Raiskij lachte unwillkürlich.
»Worüber lachen Sie?« fragte sie.
»Welch ein Übergang – von den Kirchenvätern zu Spinoza und Voltaire! Die Bibliothek enthält ja auch sämtliche Enzyklopädisten. Hast du die auch gelesen?«
»Nein, das wäre doch zu viel verlangt! Nikolai Iwanowitsch hat einiges davon gelesen und mir und Natascha den Inhalt mitgeteilt.«
»Wie kommt es, daß ihr nicht bis zu Feuerbach gelangt seid, und zu seinen Geistesverwandten ... den Sozialisten und Materialisten?«
»Auch zu denen sind wir gelangt«, sagte sie mit schwachem Lächeln, »das heißt nicht ich und auch nicht Natascha, sondern eben nur ihr Mann. Er bat uns, einzelne Stellen auszuschreiben, die er mit dem Bleistift bezeichnet hatte.«
»Weshalb?«
»Er wollte sie wohl für eine Entgegnung in einem Journal oder sonstwie verwenden, ich weiß das nicht mehr.«
»In der Bibliothek meines Vaters sind diese neuen Bücher nicht vorhanden. Woher hattet ihr sie?« fragte Raiskij lebhaft und spitzte dabei die Ohren.
Sie schwieg.
»Vielleicht von jenem unter Polizeiaufsicht stehenden Verbannten, dem du damals geholfen hast? Erinnerst du dich nicht? Du schriebst mir von ihm.«
Sie hörte nicht auf ihn, sondern ging nachdenklich schweigend weiter.
»Du hörst nicht zu, Wera?«
»Wie? Doch, ich höre ...«, sagte sie, aus ihrem Brüten erwachend. »Wo ich die Bücher herbekam? Nun, so von dem einen und andern hier in der Stadt.«
»Wolochow hat diese Bücher hier verteilt ...«, bemerkte er.
»Kann sein. Ich habe sie von den Lehrern bekommen.«
›Ist vielleicht einer von den Lehrern, irgendein Monsieur Charles, im Spiel?‹ ging's ihm durch den Kopf.
»Was hält denn Nikolai Iwanowitsch von Spinoza und allen diesen Autoren?«
»Sehr viel; ich habe mir nur wenig davon gemerkt.«
»Was sagte er von ihnen?« fuhr Raiskij eindringlich fort.
»Er bezeichnete ihre Schriften als Versuche stolzer Geister, der Wahrheit aus dem Wege zu gehen, sich neben der Wahrheit her eigene Seitenwege zu suchen – er meinte aber, daß sie doch wieder alle zum Hauptwege zurückführen.«
»Was sagte er sonst noch?«
»Was er sonst noch sagte? Ich weiß das nicht mehr so genau. Er meinte unter anderem, daß alle diese Versuche nur der Sache der Wahrheit dienen, daß sie gleichsam im Feuer läutern. Es sei dies ein unvermeidlicher Kampf, ohne den der Sieg und die Herrschaft der Wahrheit nicht von Bestand sein würden. Er hat so viel und so vielerlei in diesem Sinne geredet!«
»Und die Frage des Pilatus, was Wahrheit sei – hat er die nicht beantwortet?«
»Ja – er sah sie dort«, sagte sie, nach der Kirche zurückweisend, »wo wir soeben waren. Aber das wußte ich auch ohne ihn.«
»Und du meinst, daß er recht hatte?« fragte er, in dem Bestreben, wenigstens einen flüchtigen Blick in ihre Seele zu werfen.
»Ich meine es nicht nur, sondern ich glaube fest, daß er recht hat. Und Sie?« fragte sie lebhaft, während sie sich nach ihm umwandte.
Er nickte bejahend mit dem Kopf.
»Warum fragen Sie mich nach diesen Dingen?«
»Es gibt doch Leute, die das alles nicht glauben; ich wollte wissen, auf welchem Standpunkt du stehst.«
»Ich meine doch, ich habe Sie nie darüber im Zweifel gelassen. Sie haben mich oft im Gebet gesehen.«
»Ja, doch hätte ich dich gern laut beten hören. Sag einmal – um was bittest du eigentlich, Wera ... für wen?«
»Für die Ungläubigen.«
»So ... und ich dachte, du betest, daß dein Kummer, daß deine Unruhe von dir weichen mögen.«
»Mein Kummer beruht eben darin ...«, flüsterte sie so leise, daß er ihre Worte nicht hörte.
Als sie an der Kapelle vorüberkamen, blieb sie einen Augenblick davor stehen. Es war dunkel in dem kleinen Raum. Mit einem heimlichen Seufzer ging sie weiter, dem Garten zu, und immer langsamer ging sie. Als sie an das alte Haus gelangt war, machte sie halt und bat Raiskij durch ein Kopfnicken, näherzukommen.
»Hören Sie, was ich Ihnen sage ...«, begann sie leise und unentschlossen, als müßte sie sich Zwang antun.
»Sprich, Wera.«
»Sie sagten ...«, fuhr sie noch leiser sprechend fort, »das sicherste Mittel gegen diese ... Unruhe ... sei, nicht dahin zu gehen.«
Sie zeigte nach der Schlucht hin.
»Allerdings – ich weiß kein besseres Mittel.«
»Ich wollte Sie nun bitten.«
Sie war stehengeblieben und hielt ihn am Saume des Paletots fest.
»Sprich nur, Wera«, flüsterte auch er, in leichter Ungeduld zitternd, wie in schlimmer Vorahnung. »Gestern noch dachte ich nur an mich, an meinen eigenen Schmerz und Kummer; heute aber gehört dir allein mein ganzes Denken und Sinnen – ob ich dir nicht eine Last abnehmen, dir beim Lösen eines Knotens behilflich sein, dich vielleicht retten kann.«
»Ja, helfen Sie mir ...«, sagte sie, während sie mit ihrem Taschentuch die Tränen fortwischte, die ihr in die Augen getreten waren. »Ich bin so schwach ... so krank ... meine Kraft reicht nicht ...«
»Würde Tantchen nicht doch noch besseren Rat wissen als ich? Sei offen gegen sie, Wera; sie ist eine Frau, sie wird deinen Kummer vielleicht besser verstehen.«
Wera preßte das Taschentuch noch fester an ihre Augen und schüttelte abwehrend den Kopf.
»Nein, sie versteht das nicht ... sie hat nichts der Art kennengelernt.«
»Was kann ich also für dich tun? Sag mir alles.«
»Fragen Sie mich nicht, Vetter, ich kann Ihnen nicht alles mitteilen. Ich würde es von Herzen gern sagen, Tantchen sowohl wie Ihnen ... und ich werde es auch einmal tun ... wenn alles vorüber ist ... jetzt aber vermag ich's nicht.«
»Wie kann ich dir aber helfen, wenn ich weder von deinem Kummer noch von der drohenden Gefahr etwas Näheres weiß? Entdecke dich mir, dann wird die nüchterne Analyse eines fremden Verstandes deine Zweifel zerstreuen, vielleicht auch die Schwierigkeiten beseitigen und dich auf glatte, ruhige Bahnen zurückführen. Es genügt zuweilen, daß man seine Lage klar und nüchtern überschaut – das allein schon schafft Erleichterung. Und wenn du selbst dich nicht stark genug dazu fühlst, dann laß mich die Sachlage prüfen! Du weißt, daß zwei Köpfe oft klüger sind als einer.«
»Hier bedarf es keiner Köpfe, keiner Analyse ...« sagte sie fast verzweifelnd, »es ist auch nicht nötig, mich auf ruhige Bahnen zu lenken ... alle Worte sind überflüssig.«
»Wie vermag ich dir also zu helfen?«
Sie sah ihn aus nächster Nähe tränenerfüllten Auges an.
»Verlassen Sie mich nicht, verwenden Sie kein Auge von mir«, flüsterte sie. »Und wenn dort unten« – sie zeigte nach der Schlucht – »wieder der Schuß fällt ... dann seien Sie an meiner Seite. Lassen Sie mich nicht hin, sperren Sie mich ein; mit Gewalt, wenn es sein muß. So weit ist es mit mir gekommen!« flüsterte sie, wie über sich selbst entsetzt, warf verzweifelnd den Kopf zurück, als wollte sie einen Seufzer unterdrücken, und richtete sich dann plötzlich wieder auf. »Und vor allem ...«, sprach sie leise weiter, »sprechen Sie nie mit einem Menschen darüber, auch mit mir selbst nicht! Das ist alles, was Sie für mich tun können – darum habe ich Sie zurückgehalten! Ich bin eine abscheuliche Egoistin, ich habe Sie in Ihren Plänen gestört. Aber ich fühlte, daß ich schwach wurde ... ich hatte sonst keinen Menschen, Tantchen hätte mich nicht verstanden. Sie allein ... verzeihen Sie mir!«
»Du hast wohl daran getan«, sagte er voll Eifer. »Verfüge ganz über mich – ich habe jetzt alles begriffen und bin bereit, für immer hierzubleiben, nur um dich zu beruhigen, wenn dir das wirklich deine Ruhe wiedergibt.«
»In acht Tagen werden die Schüsse für immer aufhören«, sagte sie, ihre Tränen mit dem Tuch trocknend.
Sie nahm seine beiden Hände und drückte sie; dann ging sie, ohne sich umzusehen, in ihr Zimmer. Leise, mit ungleichmäßigen Schritten, stieg sie, sich am Geländer festhaltend, die Treppe hinauf.