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Wer bis vor kurzer Zeit die Tagebücher der Brüder Goncourt las und liebte, dachte dabei gewiss am allerwenigsten an die ein wenig wohlfeile, aber recht schmerzliche Aktualität, die sie nunmehr gewonnen haben, weil jene Eintragungen, die aus den Jahren 1869 bis 1871 stammen, auch vieles politisch Interessante und uns Heutige besonders Angehende enthalten. Die Brüder Goncourt – sie waren für uns vor allem die Vertreter des »dixhuitième«, des 18. Jahrhunderts – unter Anführungszeichen! – das man am Ende des 19. erst wieder entdeckte, des 18. Jahrhunderts mit den frech sensuellen Marquisen, den hübsch lasterhaften Modellen Watteaus und Fragonards, den ein wenig geistreich überspitzten Schäferinnen und Schäfern, der Luft vor der Sintflut; aber auch die Entdecker Japans und Chinas, nicht des weltpolitischen, wohl aber des künstlerischen Ostasiens. Ausserdem waren die Goncourt die Wortführer des literarischen Naturalismus; wenn auch in einigem Abstande von Zola darf man sie so nennen. Ihre Romane, »Die Tochter Elisa«, »Germinie Lacerteux« gehören zu den bedeutsamsten Werken, die die moderne Literatur eingeleitet haben. Ueberdies unterhielt dieses Brüderpaar so viele und vielfältige menschliche Beziehungen von höchster Ergiebigkeit, dass ihre persönlichen Erlebnisse ebenso Literatur werden konnten, wie ihre Literatur Erlebnis war. Dabei waren die beiden wahrhaftig keine Journalisten auf der Jagd nach Stoff und verwertbarem Manuskript, sondern richtige gentilhommes de lettres, Kavaliere, fast Dandys, erfüllt von einer tiefen Verachtung der Plebs. Ihre Neigung zum Höfischen, zu einzelnen Persönlichkeiten, besonders weiblichen Persönlichkeiten des vertriebenen französischen Hofes, zum Dynastischen kam zwar nicht aus politischem Verstande; sie waren Antirepublikaner, Monarchisten, Royalisten – sie selbst hätten sich sogar das Wort erlaubt: »Empereuristen« – aus Gefühl; die Argumente zu ihren Sentiments fanden sie erst später.
Es war schliesslich kein Wunder, dass diese Männer, die sich so tief in das galante Zeitalter vertieft hatten, die als erste, den subtilen und exklusiven Reiz violetter, altjapanischer Lackkästchen und farbiger Holzschnitte und vieler anderer recht nuancierter Dinge der Künste empfunden hatten, auch im wirklichen Leben an den Menschen weniger die Bedeutsamkeit sozialer Entwicklungen als den Reiz merkwürdiger Erscheinungen suchten und spürten. Als Kunstkritiker, besser gesagt als Kulturgeschichtsschreiber, hingegeben der Kenntnis und Erkenntnis von Stilen, Stimmungen und Sonderbarkeiten jeglicher Art, als Menschen durch Freundschaft verbunden Gavarni und Daumier, den ersten Vorimpressionisten, entwickelten sie für ihre eigene Produktion einen Stil, der nur bei Menschen, die sich aufs intensivste mit den bildenden Künsten beschäftigen, aufblühen kann. Es ist der Stil des Pointillismus, der sich weder an Adjektiven, noch an Anekdoten genugtun kann, der »ambiance«, des Spiels der Stimmungen. Die Goncourt waren schon auf dem Wege von Zola zu Flaubert. Doch ist ihr Stil nicht so erarbeitet wie der Flauberts, allerdings auch nicht so »sobre«, so kunstvoll nüchtern; er ist antiklassisch, bewusst modern; sie nützten das Persönlichkeitsrecht des Stilisten bis zur Willkür aus, nicht nur bis zur Grenze des französischen Wortschatzes, oft selbst gegen die Gesetze der Syntax.
Die Bedeutung ihres »Journal« ist mit diesen Andeutungen wahrlich bei weitem noch nicht umgrenzt. Man müsste ein Inhaltsverzeichnis oder wenigstens ein Namenregister all der Personen verfassen, die in diesen Tagebüchern sprechend oder doch als Schattenbilder auftreten, um zu erweisen, was sie als Dokument für die Kenntnis jener so wichtigen Jahrzehnte französischer Entwicklung, des Jahrhundertendes bedeuten. Man findet unter den eingeführten Figuren Arbeiter und Prinzessinnen, Kollegen von der literarischen Zunft und Omnibuskutscher, Schauspielerinnen und Deputierte, Geschäftsleute und Maler, Menschen, die die Goncourt liebten und solche, die sie verlachten, andere, die sie verachteten und sogar einige, für die sie schwärmten. Und da die beiden Brüder den Standpunkt der Diskretion nicht kannten, sondern Abend für Abend aufschrieben, was sie im Laufe der Tage und Nächte gesehen oder gehört hatten, so musste schon nach kurzer Zeit, gewiss aber nach Jahrzehnten solcher treuer Chronistentätigkeit ein wahrer Schatz von gut, wenn auch oft höchst einseitig gesehenen, also stilisierten, manchmal in ihrer Wahrhaftigkeit grausamen Skizzen beisammen sein. Waren die Goncourt von einer menschlichen Erscheinung noch so angezogen, so hinderte sie das doch nie mit ihren scharfen Augen die Runzeln im Antlitz der geliebten Persönlichkeit zu entdecken, Kuriositäten oder Torheiten, die im Gespräch gefallen waren, gewissermassen zum ewigen Gedächtnis aufzuzeichnen. Schon nachdem die ersten Bände erschienen waren, in denen noch eine gewisse Selbstzensur zur Schonung Lebender gewaltet hatte, erhob sich deshalb ein Sturm der Entrüstung gegen das Buch, mehr noch gegen die in ihm zutage tretende Methode restloser und rücksichtsloser Verwertung des Erlebten, gegen die kühle Objektivierung vertrauter Menschen und anvertrauter Menschlichkeiten. Das tiefe Problem des Literaten, die Frage nämlich, ob und inwieweit das Erlebte auch ohne wesentliche Umformung, ja ohne schonende Distanz wiedergegeben und dem Publikum als Druckwerk ausgeliefert werden darf, war wieder einmal und zwar gelegentlich eines sehr krassen Falles aufgerollt worden. Denn wenn auch die Brüder nach ihrem eigenen Gefühl weitgehende Rücksichten genommen hatten, so wehrten sich dennoch mehr oder minder laut die meisten Modelle gegen die Bilder, die von ihnen entworfen worden waren und in denen sie eben Karikaturen entdeckten; andere, als deren Wortführer wir den Philosophen Renan hören werden, empfanden es, sprechen wir es offen aus, als Vertrauensbruch, als menschliche Unreinlichkeit, dass Gespräche, die sie in einem geschlossenen Raume, geschützt durch den Wall des freundschaftlichen Vertrauens, das sie als stillschweigend verbürgt ansahen, geführt hatten, überhaupt veröffentlicht würden. Für diesen ganzen Komplex von Fragen, wie weit der Schriftsteller gehen darf oder nicht in der Benutzung des Erlebten, hatten die Goncourt wenig Verständnis, oder sie wollten keines haben. Das zeigt die Antwort auf einen Brief Renans, die sie als Vorwort zu einem der späteren Bände des Tagebuchs drucken liessen, und die wir hier wiedergeben, nicht nur, weil es sich darin um Gespräche aus dem Jahre 1870/71 handelt, die auch in unsere Auswahl aufgenommen worden sind. Man hört aus dieser Polemik auch manches andere für die politische Stimmung des intellektuellen Frankreichs jener Tage Wesentliche heraus. Diese »Verteidigungsrede« E. de Goncourts lautet:
Antwort an Herrn Renan.
Herr Renan beehrte mich vor einigen Jahren mit der Mitteilung, der »Figaro« habe einen gefälschten Brief veröffentlicht, so als stamme er von ihm. Seine Verachtung alles Gedruckten sei aber so gross, dass er nicht einmal berichtigt habe.
Der Herr Renan des letzten Jahres ist wahrhaftig sehr verändert.
Gelegentlich alter Gespräche aus dem Jahre 1870, die in meinem Journal wiedergegeben sind, veröffentlicht der Petit Lannionnais folgenden Brief von der Hand des Verfassers des Leben Jesu Christi:
Paris, 26. November 1890.
»... Ach, mein lieber Vetter, wie danke ich Ihnen, dass Sie sich in dieser Zeit der Lüge, der falschen Vetterngeschwätze und der falschen Berichte für mich entrüsten. Alle diese Erzählungen des Herrn von Goncourt über Diners, zu deren Geschichtsschreiber sich zu machen er durchaus kein Recht hatte, sind durchaus Umformungen der Wahrheit. Er hat nicht verstanden und schreibt nun uns zu, was sein Geist, der jeder allgemeinen Idee verschlossen ist, ihn glauben oder hören liess. Was nun mich im besonderen betrifft, so protestiere ich mit allen meinen Kräften gegen dieses traurige Reportertum ... Es ist mein Leitsatz, dass das Getreibe der Toren keine ernsten Folgen hat ...«
Aber all die Kanonenschüsse dieses Briefes haben dem gütigen Mann noch nicht genügt. Jeden Tag gab es ein neues Interview, in dem er in seiner von Stunde zu Stunde wachsenden Entrüstung erklärte:
Am 6. Dezember, im Paris, dass mir der Sinn für abstrakte Dinge vollständig abgehe.
Am 10. Dezember, im XIX e Siècle, dass ich den Sinn für Moral verloren habe.
Am 11. Dezember, in der Presse, dass ich unintelligent, vollständig unintelligent sei.
Vielleicht hat Herr Renan auch noch ganz andere Dinge gesagt, in den Interviews, die ich nicht gelesen habe.
Alles das, mein sanfter Jesus, wegen der Verbreitung allgemeiner Gedanken des Denkers, allgemeiner Gedanken, die alle Welt ihn in Magny oder anderswo entwickeln hörte, allgemeiner Gedanken, die aus seinen Büchern hervorleuchten, wenn sie dort nicht schon ganz klar formuliert sind, allgemeiner Gedanken, für deren Verbreitung er gedankt hätte – ich habe allen Grund, es zu glauben –, wenn sich nicht die klerikale Partei der Sache bemächtigt hätte, um ihm einen Strick zu drehen.
Aber denken wir zurück an jene letztvergangenen Jahre, jene Jahre, die der Polemik, die sich zwischen Herrn Renan und mir erhoben hat, vorangingen. Hier, was ich im letzten Band der ersten Serie meines Tagebuches schrieb:
»Der charmanteste Mensch und der aus herzlichem Gefühl höflichste, je mehr man ihn kennt und je näher man ihm kommt. Er ist der Typus der moralischen Grazie in einem ungraziosen Körper; bei diesem Apostel des Zweifels findet man die hohe und intelligente Liebenswürdigkeit eines Priesters der Wissenschaft.«
Nun, lasst uns sehen, ist das die Sprache eines Feindes, eines Schriftstellers, der darauf ausgeht, boshaft die Worte des Mannes, dessen Gespräche er wiedergibt, ihres natürlichen Sinnes zu entkleiden? Ist es nicht viel eher die Sprache eines Freundes des Mannes, allerdings – das gebe ich zu – eines Feindes seines Gedankens; das aber habe ich auch in die Widmung des Buches, das ihm bestimmt war, geschrieben.
In Wirklichkeit weiss alle Welt, dass Herr Renan zu der Gruppe der grossen Denker gehört, der Verächter vieler menschlicher Konventionen, die demütigere Geister noch verehren, Leute wie ich nämlich, denen es an »allgemeinen Ideen« fehlt; es ist auch jedem bekannt, dass diese grossen Denker die Neigung haben, derzeit in der Verehrung des Vaterlandes eine ganz ebenso aus der Mode gekommene Sache zu sehen, wie die Verehrung des Königs unter der alten Monarchie war; eine Neigung, die Menschlichkeit über Frankreich zu setzen: Ideen, die noch nicht die meinen sind, aber die ohne Zweifel in der philosophischen und menschlichen Entwicklung über meinen bourgeoisen Ideen stehen.
Und das ist alles, was meine Gespräche an den Tag bringen. Denn ich habe niemals gesagt, dass Herr Renan sich über die deutschen Siege gefreut habe oder sie berechtigt gefunden hätte; ich habe aber gesagt, dass er die deutsche Rasse als eine der französischen Rasse überlegene erachtete, vielleicht aus demselben Gefühl heraus wie Nefftzer – weil sie protestantisch ist. Nun, mein Gott, die Neigung, das Vorurteil, das in den zwei oder drei Jahren vor dem Krieg unsere grossen französischen Denker für Deutschland hatten, ist für niemand ein Geheimnis, und den Dinergästen von Magny hatten während dieser Jahre die Ohren geklungen von der Ueberlegenheit der deutschen Wissenschaft, der Ueberlegenheit der deutschen Kammerfrauen, der Ueberlegenheit des deutschen Sauerkrauts, usw. usw., schliesslich und endlich von der Ueberlegenheit der Fürstin von Preussen über alle anderen Prinzessinnen der Erde.
Und wie unintelligent, Herr Renan, Sie mich auch in den Augen des Publikums erscheinen lassen wollten, es war mir doch im Jahre 1870 noch genügend Gedächtnis geblieben, um nicht das Deutschland Goethes und Schillers mit dem Bismarcks und Moltkes zu verwechseln, und ich habe nie genug Phantasie gehabt, um in meinen Gesprächen Einwürfe wie die Saint-Victors zu erfinden.
Und dann, Herr Renan, man klagt Leute nicht an, dass sie faseln und brutal sind, dass sie den Sinn für Moral verloren haben, auf die Lektüre von Vettern und Freunden hin. Auf welche Höhe Sie auch immer die öffentliche Meinung gestellt hat, man muss sich doch gefälligst herablassen, selbst zu lesen, was die Leute geschrieben haben, die man so übel zurichtet. Sie zerschmettern mich, es ist wahr, und Sie sagen es mir zu oft, aus der Höhe von Tausenden von Kubikfuss jener intellektuellen Atmosphäre, in der Sie schweben, schweifen und über mir »herumtanzen«, um die Worte René François', des Predigers des Königs, in seinem Essay über die Wunder der Natur anzuwenden. Einen Rat, Herr Renan: man hat Ihren Stolz derart mit grobem Weihrauch berauscht, dass Sie den Sinn für die Grössenverhältnisse der Wesen und der Situationen verloren haben. Es ist sicher sehr viel, im neunzehnten Jahrhundert eine Aera eröffnet zu haben, in der man jedem Gegenstand, jedem Gefühl, losgelöst von jeder Ueberzeugung, jedem Enthusiasmus, jeder Entrüstung gegenüber die skeptische Rhetorik des »Für und Wider« anwenden kann, dazu noch das hübsch satanische Kichern eines Zweifels an allem haben, und überdies noch, als Nachfolger Bossuets, unsere Heilige Geschichte in der flüssigen Prosa der Romane der Madame Sand bearbeitet haben. Gewiss ist das viel, ich gebe es zu, aber doch wirklich nicht genug, um über unserem Planeten zu schweben, so wie Sie zurzeit schweben – und ich glaube, dass die Zukunft dies Ihrem Gedächtnis mit einiger Härte zur Kenntnis bringen wird.
Doch kehren wir zu meiner gerechten und berechtigten Verteidigung zurück, und geben wir einen Auszug aus meinem Interview im Echo de Paris, wo Herr Jules Huret sehr getreu meine Worte wiedergegeben hat.
»Ich bestätige, dass die Gespräche, die ich in den vier erschienenen Bänden wiedergegeben habe, sozusagen stenographische Protokolle sind, die nicht allein die Ideen der Sprecher wiedergeben, sondern meist sogar ihre eigenen Ausdrücke; ich habe auch das feste Vertrauen, dass jeder uninteressierte und klarsehende Leser zugeben wird: mein Wunsch, mein Ehrgeiz war, die Männer, die ich porträtierte, wahr wiederzugeben, und für nichts in der Welt ihnen Worte zuzuschreiben, die sie nicht ausgesprochen haben.«
»Ihre Erinnerungen waren also ohne Zweifel noch sehr frisch, als Sie sie schrieben?«
»Ach, am Abend selbst, beim Nachhausekommen, oder spätestens am nächsten Tage in der Früh. In dieser Beziehung ist also gar keine Gefahr einer Verwirrung.«
»Ich deutete nun Herrn von Goncourt an, dass die schlechte Laune des Herrn Renan nicht allein von der angeblichen Untreue des Phonographen herrühre, sondern auch daher, dass er sich überhaupt gestattet habe, seine vertraulichen Mitteilungen zu enthüllen.«
»Ja, ich weiss,« sagte mir Herr von Goncourt, »Herr Renan behandelt mich als ›indiskreten Herrn‹. Ich nehme den Vorwurf an und schäme mich durchaus nicht; denn meine Indiskretionen sind nicht ›Veröffentlichungen aus dem Privatleben', sondern ganz einfach Veröffentlichungen der Gedanken, der Ideen meiner Zeitgenossen: Dokumente für die intellektuelle Geschichte des Jahrhunderts.«
»Ja, ich wiederhole es,« betonte Herr von Goncourt mit einer Gebärde der Ueberzeugung und der offensichtlichen Aufrichtigkeit, »ich schäme mich durchaus nicht, denn seit die Welt besteht, sind die nur ein wenig interessanten Memoiren einzig und allein von Indiskreten geschrieben worden, und mein ganzes Verbrechen besteht darin, noch zu leben nach Ablauf der zwanzig Jahre, seit sie geschrieben worden sind, und wo sie zur Veröffentlichung bestimmt waren, – und als Mensch gesprochen, das kann ich nicht bedauern!«
»Bevor ich ging, hatte ich Herrn von Goncourt noch gefragt, ob er wisse, was Herrn Renan, ausser den klar zu Tag liegenden Gründen, gereizt haben könne, aus seinem gewöhnlichen Skeptizismus so völlig und so schroff herauszutreten. Herr von Goncourt lächelt, ohne zu antworten.
»Ich deutete also an, dass Herr Renan vielleicht politischen Ehrgeiz habe, dass der Sitz Sainte-Beuves seine Träume beunruhigen möge, und dass die Paradoxe von einst ihn vielleicht in seiner neuen Karriere stören könnten.« Ja, mein Lächeln hatte gesagt, was Herr Jules Huret andeutete.
Und auf mein Wort, Hand aufs Herz, ich habe die Ueberzeugung: wenn der philosophische Denker nicht von sehr irdischem Ehrgeiz geplagt wäre, hätte er nicht vor der Oeffentlichkeit seine »allgemeinen Ideen« des Cabinet particulier verleugnet.
Ein letztes Wort: Ich habe mir versagt, Herrn Renan sogleich eine Antwort zu erteilen. Ich wollte, dass als Rückendeckung meiner Antwort dieser gedruckte Band da sei, der, ich sage es noch einmal, dem Geiste jedes unabhängigen und nicht gegen mich voreingenommenen Lesers die Gewissheit bringen muss, dass meine Gespräche mit dem oder jenem – wie sich Herr Magnard im Figaro ausdrückte – »vor lauter Authentizität schwitzen«.
Edmond de Goncourt.
Ob nun der eine oder der andere recht hat, besonders auch der Kritiker, der die Authentizität so drastisch rühmte, das Publikum, mehr noch die Nachwelt hat sicher den Nutzen von solcher Indiskretion, zumal wenn der Indiskrete so gute Augen hatte und eine so feine Feder wie Goncourt.
Die Verlockung, die Tagebücher der Goncourt in deutscher Sprache wiederzugeben, hat gewiss schon früher mancher gespürt. Wir selbst planten eine solche Ausgabe seit Jahren; und wenn es uns auch schon immer klar war, dass eine lückenlose Wiedergabe des französischen Textes für einen deutschen Leserkreis denn doch trotz aller amüsanten Einzelheiten ermüdend wäre, so hätten wir doch gewünscht eine mehrbändige Auswahl zu geben, insbesondere aber eine, die nach anderen Gesichtspunkten gefasst gewesen wäre als der hier vorliegende Band. Die Weltgeschichte hat auch in diesem geringen Falle mitgewirkt. Schon das ganz subjektive Gefühl des Herausgebers, was gerade jetzt den Leser mehr, was ihn minder interessiert, ergibt ein gewisses, wenn auch nur loses System jeder Auswahl. Und wenn auch in unserem Falle das Bemühen sehr stark war, Anderes zu geben als ein bloss aktuelles Kriegsbuch, so ist es doch unmöglich gewesen, den Grundton aufs Künstlerische zu legen, was in anderen Zeiten natürlich hätte geschehen müssen. Die Goncourt, die in Trödlerläden und Ateliers nach Merkwürdigkeiten aus allen Winkeln alter und neuer Kunst herumspürten, in Menschenherzen nach Absonderlichkeiten suchten, erscheinen in diesem Buche, wie es nun als eine Auswahl aus den Tagebüchern der Jahre 1869 bis 1872 geboten wird, weniger prägnant. Eher sieht man die Literaten, die, von einem grossen Weltenschicksal getroffen, aus ihrem Dasein hinter Bücherwällen und Bibelots geschleudert werden, es zwar noch oft genug mühsam versuchen, ihre alten stilleren Wege zu gehen, aber immer mehr erkennen müssen, dass das Volkesschicksal ihr eigenes ist, selbst wenn sie das »Volk« noch so sehr hassen. Die spezifischen Kunst- und Künstlerprobleme, die sonst in den Tagebüchern einen recht grossen Raum einnehmen, werden hier nur gelegentlich gestreift. So reizvoll es ist die Goncourt auf ihren Sammlergängen zu begleiten, mit ihnen in die letzten »Salons« – Salons sind immer die letzten! – zu treten, vorläufig mussten wir es uns versagen. Dafür schien es richtig, die Gespräche Goncourts mit den verschiedensten Partnern in einiger Ausführlichkeit aufzunehmen, nicht nur weil es wesentlich scheint zu wissen, wie das intelligente, besser: das intellektuelle Frankreich die Krisen und Katastrophen von 1870 und 1871 aufnahm, sondern auch weil die Brüder Goncourt ganz besondere Typen einer Art Schriftsteller waren, die es heute auch in Frankreich nicht mehr gibt: wahrlich Aristokraten der Literatur, und weil sie ganz ausserordentliche Möglichkeiten hatten, die verschiedenartigsten Stimmen über die Ereignisse der damaligen Gegenwart, über begangene Fehler und befürchtete Katastrophen zu hören. Von rechts und links, von der royalistischen und von der anarchistischen Seite, von Künstlern und ironischen, auch sich selbst ironisierenden Journalisten, von der Regierung oder vielmehr von den sich ablösenden Regierungen; aus den Kreisen des Faubourg St. Germain und dem Milieu eleganter Herrendiners wie des im Café Brébant tagenden, kurz aus den verschiedensten Quellen flossen ihnen Meinungen und Anekdoten zu. Und wenn man auch gewiss nicht alles, was sie mitteilen, als pure Wahrheit nehmen muss, es ergibt sich doch ein Bild der politischen und sozialen Situation des damaligen Frankreichs, das vor wenigen Jahren noch den Deutschen eine gute Lehre für die Zukunft hätte abgeben können, heute merkwürdige Parallelen zu Gegenwärtigem erlaubt.
Irgendwelche Rücksicht auf Vollständigkeit, auf den historischen Gang der Ereignisse konnte in dieser Auswahl ebensowenig genommen werden, wie schliesslich die Brüder Goncourt selbst in ihren Tagebüchern eine pragmatische Geschichtsschreibung oder auch nur eine rückschauend zusammenhängende Darstellung der Ereignisse des deutsch-französischen Krieges und der Kommune beabsichtigt hatten. Erwähnt sei schliesslich noch, dass wir aus den Tagebüchern des Jahres 1869, wie dann aus jenen der Jahre 1872 und 1873 nur das auf die wesentlichen Monate 1870/71 Bezügliche genommen haben, während wir aus den Eintragungen während der Jahre 1870/71 alle nach irgendeiner Richtung die Zeit und ihre Menschen beleuchtenden Abschnitte genommen haben. Dass viel an sich Interessantes gestrichen wurde, war vom Umfang gefordert; ausserdem aber mussten auch wir uns einer gewissen Selbstzensur unterziehen. Gerade jetzt erfährt man ja auch, dass in Frankreich selbst heute, 45 Jahre nach dem Tode des einen Bruders Goncourt, mehr als ein Jahrzehnt nach dem Hinsterben des andern, der Verleger die Herausgabe weiterer Bände der Tagebücher, die nach dem Testament jetzt hätten erscheinen sollen, für unmöglich erklärte, weil noch immer Schaden durch eine solche Veröffentlichung Menschen oder gar dem Vaterlande selbst zugefügt werden könnte. Dieselbe Aufrichtigkeit, die solche Folgen hat, schafft aber den Wert des Buches. Deshalb ist auch in unserer Auswahl manches trotz aller Ausschaltungen noch enthalten, das auf den ersten Blick als unpatriotisch gescholten werden mag. Ich habe trotz allem ein gutes Gewissen. Leere Pikanterien und öde Schimpfereien sind natürlich weggelassen worden ; wo aber das Gefühl des belagerten Franzosen scharf und charakteristisch zum Ausdruck kommt, schien es mir wichtiger, diesen Ausdruck bestehen zu lassen als einer äusserlichen Rücksicht zu folgen. Dass wir uns mit den Meinungen der Goncourt über den deutschen Kaiser, deutsche Soldaten, deutsche Gelehrte, die Deutschen überhaupt nicht identifizieren, braucht wohl nicht erst hervorgehoben zu werden. Wenn aber einer sein Vaterland in einer schweren Krisis sieht, dazu Ross- und Hundefleisch – isst und seine Nerven aufbraucht, schreibt er leicht hässliche Dinge, und wir brauchen uns nicht zu wundern oder gar zu erzürnen, wenn er ein zugetragenes böses Gerücht im Tone einer festgestellten Wahrheit mitteilt oder vorschnelle Verallgemeinerungen für Psychologie ausgibt. Gewiss sind diese gelegentlichen Ergüsse nicht allzuernst zu nehmen. Sie sind aber auch nicht gleichzustellen dem, was jetzt zeitgenössische Franzosen verfertigen. Die Brüder Goncourt, in unserm Falle Edmond de Goncourt, denn der eine Bruder Jules starb ja gerade im Kriegsjahre, hatte eine förmliche Objektivitätswut, ein Wahrheits- und Schilderungsbedürfnis. Die Lust an der Anekdote war bei ihm so gross, dass er keinen Freund, ja nicht einmal den geliebten Bruder schonte, wenn es galt etwas Wesentliches oder auch nur Kurioses aufzunotieren. Da sollte seine Feder vor einem Feinde haltmachen, wenn sie Groteskes, Spitzes, Exotisches, Wüstes, Abscheuliches, kurz Interessantes niederzuschreiben vermochte? Unter diesem Gesichtspunkte muss man jene Stellen – der Leser wird sie bald genug gefunden haben –, die fürs erste Deutsche verletzen können, lesen. Sie sind hier nicht wiedergegeben, weil etwa der mitgeteilten Tatsache irgendeine Wahrheit beigemessen wird, sondern weil schon die Tatsache, gar aber die Form der Goncourt'schen Aufschreibungen charakteristisch ist. Einem Künstler der Memoirentechnik wie Goncourt darf man das Vorrecht der Ungerechtigkeit sozusagen einräumen. Er selbst nannte einmal die Art seines Bruders auf solche Art Beobachtungen zu machen und niederzuschreiben »deshumanisé«; und an einer anderen Stelle entschuldigt er die eigene Grausamkeit der Analyse, die auch nicht aussetzt, als es sich um das tiefste Leid handelt, das er zu erleben hatte, den Tod des Bruders: den Vorwürfen gegenüber, die er erwartete, er habe die Krankheit des Vielgeliebten nicht allein Schritt für Schritt beobachtet, sondern diese Beobachtungen bis zur Agonie auch mit peinlicher Grausamkeit aufnotiert, ruft er aus: »Und doch habe ich ihn mehr geliebt als alle die anderen, aber ich glaubte, dass die Schilderung der Agonie und des Sterbens eines Mannes, der an der Literatur und der Ungerechtigkeit der Kritik zugrunde geht, nützlich ist für die Geschichte der Literatur.« Dieser Gesichtspunkt, »nützlich für die Geschichte der Literatur«, ist – ins Abstrakte geweitet – der Leitsatz der Goncourt für ihr ganzes publizistisches Leben, der ihnen jeden Mangel an Diskretion und jeden Mangel an Takt sozusagen erlaubt. Gerade die Seiten, die vom Sterben des Bruders und der Verlassenheit, die sein Tod dem Ueberlebenden bringt, handeln und die mit zu den erschütterndsten menschlichen Dokumenten gehören, nicht in unsere Auswahl aufzunehmen, bedurfte es begreiflicherweise eines schmerzlichen Entschlusses, zumal das Sterben Jules' in das Kriegsjahr fällt, so dass die Mitteilungen über den Anfang des Krieges und die Krise des französischen Volkes in den Tagebüchern der Jahre 1870/71 weniger den Eindruck von Beobachtungen eines Zeitgenossen machen als den von Erinnerungen und Stoffsammlungen eines Späteren. Denn Edmond, der überlebende Bruder, hat erst geraume Zeit nach dem Tode Jules' in seinem Herzen – und daher den Tagebüchern – Platz für die grossen Schicksale der Nation gefunden. Das geschah an jenem Zeitpunkte natürlich, als die Ereignisse auch ihn persönlich so stark anfassten, dass der Schmerz um den Verblichenen zwar nicht verblasst, aber doch weniger Material zu Aufzeichnungen ergibt als die täglichen Geschehnisse, mögen sie nun dem Stoff nach »gross« oder geringfügig sein. Wir hoffen, in einem späteren Bande diese Seiten nachtragen zu können, die gewissermassen das typische Schicksal der Goncourt in einem supremen Augenblick zeigen: nämlich wie der Literat das Leben bezwingt, dann aber der Tod den Literaten überwältigt und wiederum: wie das intensivste Sonderschicksal zurücktreten muss hinter die Erlebnisse der Nation.
Diesmal musste scheinbar Geringfügiges in unserer Auswahl den Vorzug haben: die gewissen kleinen Tatsachen des Lebens, auf die zu achten gerade die Goncourt ihre Zeit wieder gelehrt haben und die für uns ein doppeltes Interesse erlangen, weil manche Organisationsfrage unserer Zeit ihre Lösung in Paris damals schon gefunden hat, und wir aus den Tagebüchern nicht nur solche Tatsachen selbst erfahren, sondern auch ihre Reflexe, die Gedanken, die man sich in politischen und Künstlerkreisen Tag und Nacht über die Regierungsmassnahmen machte; Aeusserungen des Unmuts und manchmal ganz verblüffende Wiedergaben von Sätzen, die man glauben könnte, gestern in der elektrischen Strassenbahn aus dem Munde eines Mannes oder Frau, die nie den Namen Goncourt gehört hatten, vernommen zu haben. Die Rationierung der Lebensmittel, die Brot- und Fleischkarte, die Kundenliste beim Schlächter, die Polonaisen vor den Läden der Charcutiers und Epiciers, das Versickern der Milch, schliesslich die Veränderung der täglichen Menüs ins Groteske, ja schliesslich Widerliche, all das, soweit es unseren Zuständen gleich ist, ebenso aber insofern unsere im Grossen viel schrecklicheren Unseligkeiten dennoch nicht zu solchen Folgen geführt haben – wir verzehren weder die Tiere aus dem Zoo noch begegnen wir in der Hauptstadt armen Dirnen, die sich für ein Stück trockenes Brot anbieten –, all das wird von Goncourt aufgezeichnet mit der Treue des Chronisten, der wohl manchmal schon beim Schreiben daran gedacht hat, dass er für künftige Kulturforscher Material liefert. Dass die Pariser während der Zeit der Einschliessung, der Kommune es weit schlechter hatten als wir heute, nicht nur psychisch, sondern auch im rein Materiellen, weiss man auch aus anderen Quellen, u. a. aus den Aufzeichnungen des braven Sarcey. Sie assen Strohbrot, wo wir über eine ungünstigere Mehlmischung klagen. Der Kellner im vornehmen Restaurant wehrte sich kaum gegen die Behauptung, das servierte Rostbeef stamme von einem müden Droschkengaul, und mit halb ironischer Sachlichkeit stellt Goncourt selbst fest, dass man »Filet vom Pferd« an der etwas schwärzlichen Färbung des gebratenen Fleisches erkennt. Wir aber ... Anderes aber erweist dieselben Stimmungen und Gegenstimmungen, denen wir heute oft unterliegen. Der Ausruf Goncourts: »Bei dieser Dauer des Krieges ...« ist im ersten Kriegsjahre im selben Sinne von manchem unter uns getan worden, der heute ebenso, wie das in Paris im Jahre 1871 geschah, lernen musste, ein paar Wochen oder Monate beschränkten und bedrückten Lebens als eine verhältnismässig geringe, mit Resignation hinzunehmende Fügung des Schicksals zu betrachten. Und spricht Goncourt an einer anderen Stelle von der »inkommensurablen Dummheit«, die in vielen Regungen der grossen Masse, aber auch der massgebenden Kreise zutage tritt, so erweckt er damit die Erinnerung an den gleichen, von uns jetzt allzuoft gedachten Gedanken. Von besonderem Interesse wird es für manche sein, an diesen täglichen Aufzeichnungen der Vergangenheit mitzuerleben, was wir, wenn wir es auch nicht wollen, auch heute durchmachen: Das Sichgewöhnen ans Schrecklichste, die Abstumpfung dem menschlichen Schmerz und Leid gegenüber, das Verfliessen des Unerhörten in das Gewohnheitsmässige, den Uebergang des Niedagewesenen in die Alltagswelt. Nicht nur an den Kanonendonner hatten sich die Pariser Tag für Tag so sehr gewöhnt, dass die Gärtner ihre Arbeit höchstens unterbrachen, wenn das Grollen aus der Ferne einmal aussetzte; auch die vielen fürchterlicheren, persönlichen Erlebnisse, die Dezimierung des Freundes- und Bekanntenkreises, der Anblick von Ambulanzwagen mit Verwundeten, die Begegnung der Kriegskrüppel, später während der Kommune die täglichen Füsilladen werden allmählich von Goncourt und seinen Freunden als gewöhnliche Erlebnisse aufgenommen, zu denen man bei den freundschaftlichen Zusammenkünften, den Diners bei Brebant, oder dem in der Künstlergeschichte berühmten »Diner des Spartiates« gewissermassen zwischen zwei Gängen des Essens seine Anmerkungen macht, um dann über die dumme Regierung zu schimpfen.
Die Psychose des Krieges, die jetzt manche als eine spezifische Erscheinung unserer Zeit aufgefasst haben wollen, können wir an vielen Beispielen schon in diesen Tagebüchern feststellen und beobachten. In diesem Licht muss man auch die Aeusserungen Goncourts über den Kaiser, den deutschen Kaiser natürlich, über Bismarck, die Dummheiten, die Goncourt über Deutschland vorbringt (6. und 7. August 1872 und 19. Juli 1874), betrachten und sich dabei erinnern, dass er noch weit härter über die Machthaber des eigenen Volkes urteilte ... Für den Psychologen wird es von ganz besonderem Reiz sein, zu verfolgen, wie die Selbstanalyse, die Goncourt an gewissen Tagen von seiner Stimmung gibt, chauvinistische und unsinnige Aeusserungen über die Deutschen, die natürlich immer Preussen genannt werden, geradezu ankündigt. Doch darf man nicht ungerecht sein und übersehen, dass derselbe Goncourt an vielen Stellen zugibt, wie manierlich sich die deutschen Soldaten bei der Besetzung französischen Bodens benommen haben, und dass der in Paris getane Schaden – und zwar von Franzosen beschrieben – seine Ursache mittelbar oder unmittelbar in dem Tun des französischen Volkes hatte, und dass dies von Goncourt und seinen Freunden zugegeben wird. Die Art z. B., wie über die Wirkungen des Krieges und die Zerstörungen der gerade Goncourt so teuren Denkmäler geurteilt wird, ist lehrreich für die jetzt übliche Manier oder Manie am unrechten Platze Sentimentaler und Kunstfreundlicher, nicht allein weil es sich zeigt, dass der Krieg, den wir erleben, durchaus nicht den Anfang mit solchen Schicksalen gemacht hat, oder auch nur in entsprechendem Masse Schrecklicheres verursacht, sondern vor allem weil Goncourt, der doch sicherlich ein Kunstmensch war, den Verwüstungen gegenüber ein weitaus gesünderes Urteil hat als die französischen Schriftsteller, die sich heute in einen Paroxysmus hineinreden, wenn ein Stück Gotik zertrümmert wird, auf das sie selbst bisher nie Rücksicht genommen hätten.
Eine Einleitung darf den wesentlichen Inhalt des Buches, das sie ja nur ankündigen soll, nicht auspressen. So reizvoll es also auch wäre, noch auf vielerlei hinzuweisen: so auf den Stil des Literaten bei der Schilderung blutiger Vorgänge oder dann wieder lächerlicher Torheiten, auf das politische Raisonnement des Kreises, für den Goncourt ein typischer Repräsentant ist, oder auch wie der Künstler in Goncourt trotz all der Wirrsale und Widerstände nicht untergeht und plötzlich wieder in Notizen über künftige Werke, in Anmerkungen über Dinge, die der leidigen Politik und dem unseligen Kriege ganz fern sind, aufersteht. Es muss dem Leser überlassen bleiben, selbst seinen Weg zu finden. Er wird bei einiger Aufmerksamkeit ausser ein paar Dutzend Anekdoten, die auch nicht zu verachten sind, manches Prophetische finden, so in dem Gespräch vom 2. Januar 1872 (S. 261 ff. unserer Auswahl) und bei allem Widerstreben gegen Ton und Inhalt mancher Goncourt'schen Eintragung sich vielleicht der Hoffnung anschliessen, dass – alle Distanz von Zeit, Rasse und was sonst noch den Weltkrieg von dem uns heute vielleicht mit Unrecht weniger heftig und entsetzlich scheinenden des Jahres 1870/71 trennt, gewahrt – uns Deutschen bald nach dem Frieden ein Tagebuch gegeben wird, das ein solches Niveau hat und einen solchen persönlichen Wert; eines, das für die besten Deutschen unserer Zeit so charakteristisch wäre, wie das der Brüder Goncourt für die geistigsten Franzosen jener Generation ist. Gewiss möchten wir nicht, dass ein repräsentativer Deutscher so die Welt sieht, insbesondere die deutsche Welt, wie sie Goncourt gesehen hat, gar in den Jahren, die wir jetzt leben. Immerhin, jene ein wenig femininen, aber auch im guten Sinne »vornehmen« französischen Schriftsteller wie Goncourt sind uns bei allem Skeptizismus, allem Literatentum, das in ihrem Blute liegt, lieber als die Schreihälse von 1915/16, die sich in eine Hysterie hineingehetzt haben und epileptische Anfälle für Kraftbeweise halten; sie schädigen durch ihr Tun die Möglichkeit einer Annäherung in nicht allzu fernen Jahren aufs erheblichste, während Goncourt trotz seiner gelegentlich nicht wiederzugebenden heftigen Ausfälle gegen »preussische Unverfrorenheit« selbst schon zwei Jahre nach dem Kriege nach München und ins Bayerische Hochland reiste und so in eigner Person zeigte, dass man Brücken wieder aufbauen kann, selbst wenn man nur kurze Zeit vorher von der Notwendigkeit, die früher bestandenen in die Luft zu sprengen, fest überzeugt war.
W. Fred.