Johann Wolfgang von Goethe
Kurze Schriften zu Kunst und Literatur 1792 - 1797
Johann Wolfgang von Goethe

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Plato, als Mitgenosse
einer christlichen Offenbarung
[Im Jahre 1796 durch eine Übersetzung veranlaßt]

Niemand glaubt genug von dem ewigen Urheber erhalten zu haben, wenn er gestehen müßte, daß für alle seine Brüder eben so wie für ihn gesorgt wäre; ein besonderes Buch, ein besonderer Prophet hat ihm vorzüglich den Lebensweg vorgezeichnet und auf diesem allein sollen alle zum Heil gelangen.

Wie sehr verwundert waren daher zu jeden Zeiten alle die, welche sich einer ausschließenden Lehre ergeben hatten, wenn sie auch außer ihrem Kreise vernünftige und gute Menschen fanden, denen es angelegen war, ihre moralische Natur auf das vollkommenste auszubilden! was blieb ihnen daher übrig, als auch diesen eine Offenbarung und gewissermaßen eine spezielle Offenbarung zuzugestehen.

Doch es sei! diese Meinung wird immer bei denen bestehen die sich gern Vorrechte wünschen und zuschreiben, denen der Blick über Gottes große Welt, die Erkenntnis seiner allgemeinen ununterbrochenen und nicht zu unterbrechenden Wirkungen nicht behagt, die vielmehr um ihres lieben Ichs, ihrer Kirche und Schule willen, Privilegien, Ausnahmen und Wunder für ganz natürlich halten.

So ist denn auch Plato früher schon zu der Ehre eines Mitgenossen einer christlichen Offenbarung gelangt, und so wird er uns auch hier wieder dargestellt.

Wie nötig bei einem solchen Schriftsteller, der bei seinen großen Verdiensten den Vorwurf sophistischer und theurgischer Kunstgriffe wohl schwerlich von sich ablehnen könnte, eine kritische, deutliche Darstellung der Umstände unter welchen er geschrieben, der Motive aus welchen er geschrieben, sein möchte, das Bedürfnis fühlt ein jeder, der ihn liest nicht um sich dunkel aus ihm zu erbauen, – das leisten viel geringere Schriftsteller – sondern um einen vortrefflichen Mann in seiner Individualität kennen zu lernen; denn nicht der Schein desjenigen was andere sein konnten, sondern die Erkenntnis dessen was sie waren und sind, bildet uns.

Welchen Dank würde der Übersetzer bei uns verdient haben, wenn er zu seinen unterrichtenden Noten uns auch noch, wie Wieland zum Horaz, die wahrscheinliche Lage des alten Schriftstellers, den Inhalt und den Zweck jedes einzelnen Werkes selbst kürzlich vorgelegt hätte.

Denn wie kommt z. B. Ion dazu, als ein kanonisches Buch mit aufgeführt zu werden, da dieser kleine Dialog nichts als eine Persiflage ist? Wahrscheinlich weil am Ende von göttlicher Eingebung die Rede ist! Leider spricht aber Sokrates hier, wie an mehreren Orten, nur ironisch.

Durch jede philosophische Schrift geht, und wenn es auch noch so wenig sichtbar würde, ein gewisser polemischer Faden; wer philosophiert ist mit den Vorstellungsarten seiner Vor- und Mitwelt uneins, und so sind die Gespräche des Plato oft nicht allein auf etwas, sondern auch gegen etwas gerichtet. Und eben dieses doppelte Etwas, mehr als vielleicht bisher geschehen, zu entwickeln, und dem deutschen Leser bequem vorzulegen, würde ein unschätzbares Verdienst des Übersetzers sein.

Man erlaube uns noch einige Worte über Ion in diesem Sinne hinzuzufügen.

Die Maske des platonischen Sokrates, denn so darf man jene phantastische Figur wohl nennen, welche Sokrates so wenig als die aristophanische für sein Ebenbild erkannte, begegnet einem Rhapsoden, einem Vorleser, einem Deklamator, der berühmt war wegen seines Vortrags der homerischen Gedichte und der so eben den Preis davon getragen hat und bald einen andern davon zu tragen gedenkt. Diesen Ion gibt uns Plato als einen äußerst beschränkten Menschen, als einen, der zwar die homerischen Gedichte mit Emphase vorzutragen und seine Zuhörer zu rühren versteht, der es auch wagt über den Homer zu reden, aber wahrscheinlich mehr um die darin vorkommenden Stellen zu erläutern als zu erklären, mehr bei dieser Gelegenheit etwas zu sagen als durch seine Auslegung die Zuhörer dem Geist des Dichters näher zu bringen. Denn was mußte das für ein Mensch sein, der aufrichtig gesteht, daß er einschlafe wenn die Gedichte anderer Poeten vorgelesen oder erklärt würden. Man sieht, ein solcher Mensch kann nur durch Tradition oder durch Übung zu seinem Talente gekommen sein. Wahrscheinlich begünstigte ihn eine gute Gestalt, ein glückliches Organ, ein Herz fähig gerührt zu werden; aber bei alledem blieb er ein Naturalist, ein bloßer Empiriker, der weder über seine Kunst noch über die Kunstwerke gedacht hatte, sondern sich in einem engen Kreise mechanisch herumdrehte und sich dennoch für einen Künstler hielt und wahrscheinlich von ganz Griechenland für einen großen Künstler gehalten wurde. Einen solchen Tropf nimmt der platonische Sokrates vor, um ihn zu Schanden zu machen. Erst gibt er ihm seine Beschränktheit zu fühlen, dann läßt er ihn merken, daß er von dem homerischen Detail wenig verstehe und nötigt ihn, da der arme Teufel sich nicht mehr zu helfen weiß, sich für einen Mann zu erkennen der durch unmittelbare göttliche Eingebung begeistert wird.

Wenn das heiliger Boden ist, so möchte die aristophanische Bühne auch ein geweihter Platz sein. So wenig der Maske des Sokrates Ernst ist den Ion zu bekehren, so wenig ist es des Verfassers Absicht den Leser zu belehren. Der berühmte, bewunderte, gekrönte, bezahlte Ion sollte in seiner ganzen Blöße dargestellt werden und der Titel müßte heißen: Ion, oder der beschämte Rhapsode; denn mit der Poesie hat das ganze Gespräch nichts zu tun.

Überhaupt fällt in diesem Gespräch, wie in andern platonischen, die unglaubliche Dummheit einiger Personen auf, damit nur Sokrates von seiner Seite recht weise sein könne. Hätte Ion nur einen Schimmer Kenntnis der Poesie gehabt, so würde er auf die alberne Frage des Sokrates: wer den Homer, wenn er von Wagenlenken spricht, besser verstehe, der Wagenführer oder der Rhapsode? keck geantwortet haben: gewiß der Rhapsode: denn der Wagenlenker weiß nur ob Homer richtig spricht; der einsichtsvolle Rhapsode weiß ob er gehörig spricht, ob er als Dichter, nicht als Beschreiber eines Wettlaufs seine Pflicht erfüllt. Zur Beurteilung des epischen Dichters gehört nur Anschauen und Gefühl und nicht eigentlich Kenntnis, obgleich auch ein freier Blick über die Welt und alles was sie betrifft. Was braucht man, wenn man einen nicht mystifizieren will, hier zu einer göttlichen Eingebung seine Zuflucht zu nehmen? Wir haben in Künsten mehr Fälle, wo nicht einmal der Schuster von der Sohle urteilen darf, denn der Künstler findet für nötig subordinierte Teile höhern Zwecken völlig aufzuopfern. So habe ich selbst in meinem Leben mehr als einen Wagenlenker alte Gemmen tadeln hören, worauf die Pferde ohne Geschirr dennoch den Wagen ziehen sollten. Freilich hatte der Wagenlenker recht, weil er das ganz natürlich fand; aber der Künstler hatte auch recht die schöne Form seines Pferdekörpers nicht durch einen unglücklichen Faden zu unterbrechen. Diese Fiktionen, diese Hieroglyphen, deren jede Kunst bedarf, werden so übel von allen denen verstanden, welche alles Wahre natürlich haben wollen und dadurch die Kunst aus ihrer Sphäre reißen. Dergleichen hypothetische Äußerungen alter und berühmter Schriftsteller, die am Platz wo sie stehen zweckmäßig sein mögen, ohne Bemerkung wie relativ falsch sie werden können, sollte man nicht wieder ohne Zurechtweisung abdrucken lassen; so wenig als die falsche Lehre von Inspirationen.

Daß einem Menschen, der eben kein dichterisches Genie hat, einmal ein artiges lobenswertes Gedicht gelingt, diese Erfahrung wiederholt sich oft, und es zeigt sich darin nur, was lebhafter Anteil, gute Laune und Leidenschaft hervorbringen kann. Man gesteht dem Haß zu daß er das Genie suppliere, und man kann es von allen Leidenschaften sagen, die uns zur Tätigkeit auffordern. Selbst der anerkannte Dichter ist nur in Momenten fähig sein Talent im höchsten Grade zu zeigen, und es läßt sich dieser Wirkung des menschlichen Geistes psychologisch nachkommen ohne daß man nötig hätte, zu Wundern und seltsamen Wirkungen seine Zuflucht zu nehmen, wenn man Geduld genug besäße, den natürlichen Phänomenen zu folgen, deren Kenntnis uns die Wissenschaft anbietet, über die es freilich bequemer ist vornehm hinweg zu sehen als das was sie leistet mit Einsicht und Billigkeit zu schätzen.

Sonderbar ist es in dem platonischen Gespräch, daß Ion, nachdem er seine Unwissenheit in mehreren Künsten, im Wahrsagen, Wagenfahren, in der Arzneikunde und Fischerei bekannt hat, zuletzt doch behauptet daß er sich zum Feldherrn besonders qualifiziert fühle. Wahrscheinlich war dies ein individuelles Steckenpferd dieses talentreichen aber albernen Individui, eine Grille, die ihn bei seinem innigen Umgang mit homerischen Helden angewandelt sein mochte, und die seinen Zuhörern nicht unbekannt war. Und haben wir diese und ähnliche Grillen nicht an Männern bemerkt, welche sonst verständiger sind als Ion sich hier zeigt? ja wer verbirgt wohl zu unsern Zeiten die gute Meinung die er von sich hegt, daß er zum Regimente nicht der Unfähigste sei?

Mit wahrer aristophanischer Bosheit verspart Plato diesen letzten Schlag für seinen armen Sünder, der nun freilich sehr betäubt dasteht, und zuletzt, da ihm Sokrates die Wahl zwischen dem Prädikate eines Schurken oder göttlichen Mannes läßt, natürlicherweise nach dem letzten greift und sich auf eine sehr verblüffte Art höflich bedankt, daß man ihn zum Besten haben wollen. Wahrhaftig! wenn das heiliges Land ist, möchte das aristophanische Theater auch für einen geweihten Boden gelten.

Gewiß, wer uns auseinander setzte, was Männer wie Plato im Ernst, Scherz und Halbscherz, was sie aus Überzeugung, oder nur diskursive gesagt haben, würde uns einen außerordentlichen Dienst erzeigen und zu unserer Bildung unendlich viel beitragen; denn die Zeit ist vorbei da die Sibyllen unter der Erde weissagten; wir fordern Kritik und wollen urteilen ehe wir etwas annehmen und auf uns anwenden.

 


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