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Zwanzigstes Kapitel.

Joachim Rinkhart erwachte ebenso matt und zerschlagen, wie nun schon seit Wochen Tag für Tag. Als er sich aber bewußt ward, wo er war, und daß er nicht müsse von früh bis abend ein liebenswürdiger Gatte und geistig bedeutender Mann sein, fühlte er seine Krankheit weniger. Mit einem leisen Anflug von Behagen überlegte er, was sich dem Tag abgewinnen lasse, deren jeder nur noch ein Abschiedsgeschenk des Lebens war. Einzig der Gedanke an Ferdinand störte ihn, aber den Bruder mußte er nun schon mit in den Kauf nehmen, und er schrieb ihm, da er die Treppen scheue, wollten sie sich um die und die Zeit in der Schackgalerie treffen.

Für eine halbe Stunde früher erbat er sich Annemaries Begleitung dorthin.

Dieser zweite Brief versüßte ihm den ersten. Ein sanftes Glücksgefühl überkam ihn, als er die Anrede schrieb: »Liebe Annemarie.« Das war nun keine Redensart mehr, und sie wußte es auch, und da dies Wort nun doch einmal dastand mit allem Leid und aller Wonne, die es dem Wissenden barg, so tat sich Joachim keinen Zwang an und gab seinem Morgengruß noch außerdem so viel Wärme und Zärtlichkeit mit, daß Annemarie voll Angst und Herzklopfen spürte, wie man wohl mit sich allein in einsamer Nacht glatte Rechnung führen kann, daß aber am wachen Tag die anderen diese Rechnung mit leichter Hand wieder durcheinander werfen.

An Wendelin hatte Joachim überhaupt nicht gedacht, und dem war auch gestern Abend wenig nach glatter Rechnung zumute gewesen. Obwohl Monsieur gleich nach der Heimkehr vom Walde bei ihm einsprach und ihm die Gewißheit brachte, daß die Bienen harmlos fröhlich, ohne Argwohn und ohne Gewitterschaden in ihre Zellen eingeflogen seien.

»Sie hätten wiederkommen sollen, Doktor Wendelin, nicht so allerältester Herr sein. Dem gewitterängstlichen Baby sein Jäckchen überziehen, es dem Schaffner übergeben und wieder kommen. Solchen Tag erleben wir nicht zum zweitenmal. Aber ich sag's ja! – Auch genießen ist eine Wissenschaft. Und die Professur müßte man mir verleihen. Bei gutem Honorar nehm ich sie an. – Lieber Doktor, was war das nett bei Blitz und Donner in dem huschlichen Waldwärterhaus. Ich sage Ihnen, der Mann denkt bis an sein selig Ende an diesen Tag. Getauft haben wir sein Tuskulum und ihn dazu – so was fidel verlegenes wie das Gesicht sah noch keiner. Und dann kam unsere Schönheit als Waldfee. Mimte und improvisierte. Ich sag Ihnen! – es ist heraus, gestern verriet sie's: sie geht zur Bühne. Aber auch so was! – Die Böhning wird mit berühmt, der Helikon bekommt im Bädeker eine halbe Seite. – Und Morsach! Rein überschlagen hat er sich vor Genialität – er war –«

»Wie der Natas in Hauffs Memoiren des Satans, Vorgeschichte, letztes Kapitel. Lesen Sie es nach, Monsieur, das ist gut vorm Einschlafen in Ihrer Stimmung. Und morgen früh schicken Sie dem Genie einen sauern Häring hinüber, denn hoffentlich ist er noch so viel Erdensohn, daß er Katzenjammer bekommt vom über die Schnur hauen.«

– »Wendelin ist doch von allen närrischen Kerlen, die ich kenne, der närrischste,« sagte Mangold oben zu seiner Frau. »Heute war er wieder mal durchaus unverständlich.«

Wendelin selber aber verstand sich ganz gut. Seit er Annemarie in Morsachs Armen gesehen, wußte er, daß er sie nicht nur gern hatte wie einen guten Freund, den man sich allenfalls nach reiflicher Überlegung auch zum unkündbaren Lebenskameraden erbittet, oder wie die Schönheit, die einen vier Wochen lang um den Verstand bringt.

Liebe war das, die Königin, die sich nicht mit Brocken begnügt, sondern den ganzen Menschen hinnimmt und durchdringt, so daß jede Handlung und jeder Gedanke von ihr bedingt und begleitet ist. Nichts, gar nichts mehr war in ihm von Ruhe, Überlegung und Vernunft. Er begehrte Annemarie, er sehnte sich nach ihr, er mußte ihr Lächeln sehen und die nachdenkliche Lieblichkeit ihrer Augen, er mußte den Glanz ihrer Fröhlichkeit um sich spüren und die junge Stimme Hermann Rinkharts weltkundigen Idealismus verfechten hören. Er dachte zugleich an alles, was ihn je an ihr entzückt oder befremdet hatte, und sein Herz verlangte das alles mit herrischer Ungeduld noch einmal und wieder und für alle Ewigkeit.

Es gab keine Wahl mehr und kein Vielleicht in seinem Leben, es hieß nicht mehr die, oder eine andere, oder am besten keine. Es gab nicht Arbeitslust noch Lebensfreude mehr ohne Annemarie, und er meinte nun auch ganz genau zu wissen, daß Hermann Rinkhart ihn mit seinem Testament vor der Einsamkeit hatte behüten wollen, die ihm selber am Ende leid geworden war. Aber der Schüler hatte der Erkenntnis des Meisters nicht getraut, und statt zuzugreifen und festzuhalten, gezögert – bis es zu spät war.

›Am ersten Tag hielt ich ihre Seele in der Hand, scheu und vertraulich hörte sie nur auf mich, heute flieht sie erschreckt davon, ob ich mich nahe oder ein anderer.‹

Aber obgleich sich Wendelin all seine Fehler und all seine schlechten Aussichten mit nüchterner Grausamkeit vorhielt, lachte ihn doch eine heimliche Freude im tiefsten Herzensgrunde aus: denn heute kam Annemarie, und wenn sie ihm nur erst gegenüber in dem roten Sesselchen saß, dann würde doch alles gut werden.

Im Dunkel der unruhigen Nacht verschüttete er sich diese Freude immer wieder mit kleinmütigen Zweifeln. Als aber der Morgen kam mit seiner klaren Frische, wurden auch seine Gedanken licht.

Reine Luft strömte ins Zimmer, und rein und klar lag das Leben da: Sie gehörte ihm ja. Sie mußte fühlen wie er. Eben der gestrige Tag mit seinen schwülen Stunden würde sie ihm schenken. Der Schrecken wurde überwunden, aber sie wußte nun wieder, wo ihre Heimat war und wer ihre Sprache redete.

Wendelin legte den Schluß seiner Gedenkschrift zurecht, einen Brief des Verlegers dazu, dessen Freude über den stattlichen Nachlaß des Gelehrten Annemarie genießen sollte und sah sich dann prüfend um.

Die Vase! – Gerade heute war sie leer. Das ging natürlich nicht. Wendelin sah nach der Uhr: eine halbe Stunde blieb ihm noch. Er lief nach dem nächsten Blumenladen.

Dort war er schwer zu befriedigen; endlich wählte er Lilien und ein paar Zweige der japanischen Kletterrose, deren dicke rote Blütenbündel wie eitel Sommerglück aussahen.

›Sehnsucht und Erfüllung,‹ dachte er und steckte die Blumen in den gläsernen Schaft. Als er aber nach der Wasserflasche griff, sah er ein Briefchen auf dem Tisch liegen, das Annemaries Handschrift trug.

Er erschrak. Was konnte sie ihm schreiben?

Langsam nahm er ihn, langsam schnitt er ihn auf.

»Vorbei,« sagte er.

Es waren nur wenige Zeilen, unruhig und ungleich standen die Buchstaben da, die sonst zierlich gerundet und gleichmäßig einander folgten.

›Vergeben Sie mir, daß ich heute nicht komme. Ich habe meine Gedanken schlecht beisammen und werde auch anders in Anspruch genommen. Mittag erfahren Sie alles.‹

Weiter nichts. Eigentlich gar nichts. Und doch viel zu viel: – ›Ihre Gedanken nicht beisammen und keine Zeit für mich.‹ Er begriff das gar nicht; er war so sicher gewesen, daß sie heute alles andere überwunden haben würde und nur für ihn da sein, wie er nur an sie dachte.

Die Blumen bekamen kein Wasser, Wendelin ging die Flucht seiner Wohnung ab, hin und wider. Er öffnete sein kleines Versuchskäfter, stand an dem blanken Holztisch still, faßte gedankenlos Messer und Zangen und legte sie wieder hin, trat zu den Glasröhrchen, wo auf der Gelatine Sporen wucherten, sah sie an und sah sie nicht, ging wieder hinüber und wieder auf und ab.

›Warum bist Du gestern nicht mit ihr heim gefahren!‹ Gedieh seine Unruhe bis dahin, so bewies er sich, wie gar nichts ihm das genützt haben würde. Half ihr der Gedanke an ihn nicht, so tat's auch seine Gegenwart nicht.

›Aber du wüßtest wenigstens, wie es steht!‹

Einmal trat er ans Fenster und stand nun wieder lange, ohne es zu wissen, wie er vorhin nicht gewußt hatte, daß er auf- und abging.

Drüben stand Morsach und sah ihm zu: – ›Wußte Wendelin, was gestern geschehen war? Hatte Annemarie ihm erzählt? – Denn zusammen waren sie natürlich nach Hause gefahren, zusammen!‹ Den Kopf hatte er gestern abend über dem Gedanken verloren. Und heute zum Frühstück hatte er sie darum fragen wollen, ganz glatt und frech, und ob es Wendelin sei, vor dem er die Segel streichen müsse.

Aber Annemarie trank ihren Kaffee als die festmüden Ameisen noch schliefen, und nun war ihr nicht beizukommen.

Da! Da ging sie aus dem Haus. Morsach beugte sich weit aus dem Fenster: es war Annemarie, sie ging die Straße hinab, um die nächste Ecke. Morsach rannte nach seinen Stiefeletten. In demselben Augenblick rannte Wendelin auch schon die Treppe hinab, den Hut in der Hand.

Auch er hatte Annemarie gesehen und wollte sie einholen.

Als er die Ecke gewann, war sie verschwunden, aber da lief ihm am Kreuzpunkt der Barerstraße der dicke Fritz als Helfer ins Garn.

»Aha! Sie sind natürlich auch zum Stelldichein zu Schack befohlen.«

»Sie also?« fragte Wendelin, und das Blut schoß ihm in die Stirn. »Wer noch?«

»Was weiß ich – die und der und das. Die Genußmenschen, die Zeit haben. Jedenfalls unsere Schönheiten. Die eine ist vorauf, die andere kommt dort mit ihrem Studenten.«

»Auf Wiedersehen bei Schack,« sagte Wendelin und machte seine längsten Schritte. Ließe Annemarie ihn deshalb vergeblich warten? Ihn und Hermann Rinkhart? – – Weder seine Liebe, noch seine Vernunft vermochten das zu begreifen.

Hastig stieß er die Gittertür auf, bezahlte mehr als nötig und eilte den schmalen Flur entlang, überlegend, wo er sie suchen sollte. Da sah er sie schon bei den Böcklins stehen.

Sie war allein und ganz bei der Sache. Ihre Stirn krauste sich leicht, die Nasenflügel bebten, die Oberlippe hob sich ein wenig, so daß die Zähne hervorschimmerten, die man sonst nicht sah.

Wendelin ging vorsichtig näher, er wollte wissen, welches Bild sie mit diesem Ausdruck betrachtete. – Es war Böcklins Panischer Schrecken.

Glut und Sonne und Felseinsamkeit. Ein Hirt floh in besinnungsloser Eile steilab, in den Augen stand Angst, das Kinn schob er vor, die Kürbisflasche flog ihm gegen die Lende. Zwei Ziegen rasten in tollen Sprüngen dem Führer nach, und hinter ihnen drein zwischen zackigem Felsgestein lachte spöttisch der große Pan des törichten Menschleins.

›Macht dir das Pein?‹ dachte Wendelin und wußte mit einem Schlag alles, was sie hier und dort miteinander von diesem Schrecken geredet hatten. Gute Gedanken strömten ihm zu, die sie erquicken sollten, aber ehe er sie begrüßen konnte, kam drüben Dederich um die Ecke und von der Gasse brachen lachend und schwatzend Kathinka, Fritz und Ferry herein. Morsach folgte als letzter.

Da übermannte Wendelin ein eifersüchtiger Zorn; leise und hastig sprach er zu ihr: »Deshalb konnten Sie nicht kommen? Weil Sie mit Morsach den panischen Schrecken genießen wollten?«

Sowie er's gesagt hatte, kam die Reue, und er wußte, daß Morsach ebenso zufällig da war wie er selber. Auch ohne ihren fassungslosen Blick und den Zornblitz in ihren Augen, als Morsach, die Arme gekreuzt wie ein Türke, auf sie zuschritt und sie, halb reuevoll, halb übermütig, begrüßte: »Salem aleikum, und die Gnaden aller sieben Himmel auf mein reuiges Haupt.«

Annemarie schwieg, aber sie wandte den Kopf zur Seite, als kenne sie weder den einen noch den andern.

Morsach stieg das Blut dunkel in die Stirn, aber niemand sah es, denn die schöne Kathinka rief laut und fröhlich durch die Galerie: »Das war ein einziger Einfall, heute unseren Waldkater zu den farbenfrohen Heiden zu tragen. Haben Sie ihn gehabt, Fräulein Rügemer?«

»Nein.«

Dabei fiel Ferdinand endlich der Bruder ein. Er sah sich nach ihm um und sah ihn nicht. »Ja, Zwilling, wo steckt er denn eigentlich?«

»Bei den Lenbach-Kopien.«

Ferdinand wußte den Weg, da aber Kathinka bleiben wollte, so blieb er auch, denn seit den Stunden im Waldwärterhaus regierte die Eifersucht seine Schritte.

Wendelin wandte sich gereizt zu Dederich. »Mensch,« sagte er leise und heftig, »wie kommen Sie hierher? Reut Sie der Sonnentag nicht?«

»O ja,« antwortete Dederich wehmütig. »Aber was soll einer tun, wenn ihn ein liebes, angstvolles, ganz heißes Händchen plötzlich festhält und die schönsten, blauen Augen auf Gottes Erdenrund ihn dazu bittend ansehen.«

»Und?«

»Und der lieblichste Frauenmund sagt: Kommen Sie mit mir zu Schack – bitte, bitte! – kommen Sie mit!«

»Einbildung,« raunte Wendelin, »wenn ihr bange war, konnte sie ja davon bleiben.«

»Hm. Ich denk' mir, sie sollte mit jemand hierher, mit dem sie nicht allein sein mochte, und der gute Dederich wurde als Elefant mitgeschleppt.«

»Aber es sind doch übergenug da.«

»Von den anderen hat sie halt nichts gewußt.«

»So hätte sie mich mitnehmen können, der ich auf sie wartete.«

Dederich sah mit schalkhafter Gutmütigkeit an seinem untersetzten Gestältchen hinunter und sagte: »Tja, aber die Naturgaben sind verschieden und manche Menschen eignen sich besser zum Mitgeh-Onkel als andere.«

Die Bienen hatten inzwischen von dem Bilde geredet, vor dem sie standen.

Von der Hitze, die über dem Gestein brütet, von der mittagstillen Einsamkeit, wo ein geheimnisvoller Ton plötzlich den schläfrigen Hirten weckt und schreckt, zum Zeichen, daß der alte Pan noch lebendig ist.

»Warum reißt der Kerl eigentlich aus,« sagte Morsach mit spöttisch herabgezogenen Mundwinkeln, und als Ferdinand Rinkhart das feurig und gelehrt zu erklären begann, fiel Kathinka abwehrend ein: »Ach, das ist schon so lange her.«

»Bitt' schön,« rief Dederich ärgerlich. »Lange her! – Von heute und gestern ist's, und von übermorgen. Die große Stille, die uns zum großen Schrecken wird, uns kleinen Kerlchen, die wir Lärm und Gefährten brauchen. Das hat der Böcklein fein erfaßt, das von der Einsamkeit! Von allen Ecken und Enden sucht er ihr beizukommen.«

»Pah –« Morsach sah Annemarie an – »es ist alles ein Spiel, nehmt's nicht zu pathetisch, und vor allen Dingen nehmt's nicht moralisch.«

»Himmel Donnerwetter!« rief der dicke Fritz. Dann lachte er und fuhr mit anzüglichem Blick auf Morsach fort: »Meinetwegen. Gewisse Leut' soll man schon nicht pathetisch nehmen. Und, Dederich, dazu gehört auch der alte Pan. Seht euch mal den guten, dummen Kerl von Ausreißer da an. Eigentlich erschrickt er doch nur vor seiner eigenen Dummheit. Möchte man ihm nicht zurufen: Besinnung, Junge, Besinnung! Lachen! Nur Furcht und Widerwillen geben dem Halbtier Gewalt über uns. Am sichersten flieht es den Lachenden.«

Dederich zuckte die Achseln. Sie verstanden ihn wieder einmal nicht, die Ohrenmenschen. Und wie viele von ihnen hatten denn Augen?

Annemarie senkte das schöne Haupt. ›Lachen können,‹ dachte sie, ›aber dazu muß man stark sein. Bin ich's nicht mehr? Ich war's doch einmal.‹

Kathinka langweilte sich. Wie schwerfällig die alle waren, auch im Künstlerischen. Da hingen sie nun an dem einen plumpen Bild fest, die einen gingen dem Stoff in alle Winkel nach, und die anderen regten sich auf über Pinselführung und Töne. Gründlich, gründlich, als ob sie allesamt Maulwürfe wären.

Sie sah Morsach an. Den langweilten sie auch. Oder was sonst verdarb ihm die Laune so nachdrücklich? Gestern so hinreißend und heute so griesgrämlich wie ein alter Bullenbeißer.

Aber da fühlte er ihren Blick, erwiderte ihn und lächelte. – Kathinkas Langeweile verflog, mit einer weichen Bewegung trat sie von den anderen weg, und Morsach folgte ihr. Da hatte auch Ferdinand Rinkhart genug vom alten Pan.

Ein ungeduldiges Achselzucken Kathinkas, ein schneller Blick zu Morsach: ›wie schade!‹ – Dann ließ sie ihre Augen die Wand entlang gehen.

»Ach,« sagte sie plötzlich, »da ist ja der Drachen! Der ist mir hundertmal lieber als euer Schrecken. Dies fahle feuchte Gestein, und dies grüne grauenhaft-schöne Untier! In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut – unentrinnbar. – Ich hätte nicht zu fliehen vermocht, wenn mir's begegnet wäre, rückschauend hätt' ich Flucht und Todesnot vergessen.«

Und dann sprach sie Mignons Lied.

Sie sprach es sehr schön. Mangolds Prophezeihung fiel Wendelin ein, und er sagte Ja dazu; aber sie sprach nur für Guido Morsach.

Kennst Du das Land, wo die Zitronen blühn?
– – – Dahin, dahin,
Möcht ich mit Dir, o mein Geliebter, ziehn.«

»Fräulein Annemarie,« sagte Wendelin leise.

Sie wandte sich langsam zu ihm und sah ihn traurig an.

»Jetzt seien Sie einmal recht gut und verzeihen Sie mir die dumme Rede von vorhin. Und was das Bild hier betrifft, – unser dramatisches Fritzchen hat recht: Lachen ist den Kapriolen gewisser Halb- – – götter gegenüber wirklich das Beste.«

Sein Blick traf Morsach, als die zögernde Zunge aus dem Halbtier einen Halbgott machte. Dieser Blick verriet Annemarie, daß Wendelin wußte, was gestern geschehen war.

Entsetzt sah sie ihn an und sah blutübergossen wieder zur Seite. Vorgestern noch, meinte sie, wäre ihr das gleichgültig gewesen, aber nun sie sich unter Blitz und Donner nach Wendelins Kuß gesehnt hatte, nun sie in dem zitternden Aufruhr in sich und um sich begriffen hatte, daß sie ihn liebte, war ihr sein Wissen bittere Schmach.

»Jetzt sind Sie schon wieder unvernünftig,« sagte Wendelin mutlos. »Ja doch, ich hab' es gesehen, ich hätte ihm den Kopf eingeschlagen, wenn Sie nicht davon gelaufen wären, ich hab' Ihnen deshalb nach Hause geholfen. Aber nun nehmen Sie es auch nicht pathetisch. – Oder soll ich den kecken Jungen aus Bienenstock und Ameisenhügel hinauswerfen, damit nur ja alle Bescheid wissen?«

»Kennst Du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach,« deklamierte die schöne Kathinka, und ihre Stimme leuchtete und glänzte wie italischer Sonnenschein.

Annemarie blieb jedes gute und jedes böse Wort in der Kehle stecken. Die ganze Pein des gestrigen Tages kam wieder über sie; und er wußte es – er, den sie lieb hatte.

›Wenn du ihr diese Last abnehmen kannst, soll dir's ein Zeichen sein, daß du ihr mehr bist als die anderen,‹ dachte Wendelin und sprach leise und eindringlich weiter, wie vorher: »Ist das nun recht, so alle Fassung zu verlieren, weil Sie Dame Natur einmal hinter die Kulissen geguckt haben und statt der gütigen Mutter einen hitzigen Tollkopf entdeckt? – Sie ist eins und das andere, und Sie kennen doch unser Ziel, Sie haben Hermann Rinkhart gesehen, der ihrer Herr geworden war, ehe Sie wußten, daß die armen Geschöpfe, die sich zwischen Wiege und Grab abmühen, allermeist ihre Knechte sind. Aber weil Sie ihn gesehen haben, sollten Sie auch wissen, daß wir auf der Erde sind, um die Natur zu überwinden ohne Haß, daß man uns kein Menschenalter Zeit dazu gegeben hätte, wenn das eine leichte Aufgabe wäre, und daß nur siegen kann, wer zum Kampfe kam. Ein etwas sprunghafter Philosoph sagt einmal, die ganze Natur dränge sich zum Menschen, von ihm Erlösung erwartend, von ihm, der selber unter dem Fluch des Hungers und der Begierde lebt und über dies Leben zu keiner Besonnenheit kommt. Und dann setzt er hinzu, es gäbe doch einige, die sich von dem Fluche befreit hätten und den anderen dadurch helfen könnten: wahrhafte Menschen, Nichtmehrtiere – oder Halbtiere. Er meint damit Philosophen, Künstler und Heilige. Ich aber meine, dazu sind wir alle berufen; es hat alles nur Sinn durch einen frischen fröhlichen Kampf gegen die Tücken und Nücken der ungebändigten Natur – einen Kampf, der nicht zur Feindschaft ausartet. Und wer nur diese verdammte Pflicht und Schuldigkeit erkannt hat, dem wird genug zu tun, dem bleibt keine Zeit mehr für Klage, Schrecken und Trauer.«

Annemaries Wangen brannten noch von dem Gedanken: ›dies weiß er – Gott behüte mich, daß er nicht auch das andere errate!‹ Aber der Gedanke selbst war verflogen vor seinen Worten. Das waren Heimatklänge gewesen.

Einen Atemzug lang grüßten sich ihre Augen mit einem Blick, der Wendelin alles hoffen ließ. Dann sagte Ferdinand Rinkhart irgend etwas sehr laut, und Annemarie schrak zusammen. Der Heimattraum verblich, sie wußte wieder wo sie war, um wessentwillen sie hier stand, und daß Joachim um Kampf und Sieg betrogen werden sollte.

Wendelin sah die Veränderung und fragte mit leidenschaftlicher Dringlichkeit, was ihr sei. »Ehrlich, Fräulein Annemarie.«

Da sagte sie, und es klang eigentlich wie eine Bitte, die ganz sicher auf Erfüllung hofft: »Aber der Tod? Wider den Tod kann uns der tapferste Kampf nicht helfen.«

»Wenn der Same reif ist, verdirbt die Hülle, die nur um seinetwillen da war, und gibt ihn frei. Das ist doch auch ein Sieg.«

»Nicht dieser Tod – was seine Zeit nicht erfüllen darf. – was vor der Reife verdirbt –«

›Wie kam ihr das? Lag das nicht weit ab von ihrem Weg? – Und war doch keine unpersönliche Frage.‹

Tastend antwortete Wendelin: »Wir können nicht alle Schleier heben. Vielleicht hatte die vorzeitig fallende Frucht ihr Ziel schon erreicht oder würde es überhaupt nicht zu erreichen vermögen. Die Natur ist nicht unfehlbar. Sie will, und sie scheut keine Mühe. Mißlingt es ihr: weg damit und von neuem begonnen. Warum grübeln Sie darüber? Einer, der Sie gut kannte, hat mir gesagt, Sie hätten Vertrauen zu den führenden Mächten.«

Annemarie wurde blaß, dann sagte sie mit gewaltsam beherrschter Erregung: » Sie haben mir einmal gesagt, ich kennte die Welt nicht, ich kennte nur einen Winkel voll Glück. Die Welt draußen sei dumpfig und glatt, voll Geschrei und Ekel – o wie recht haben Sie gehabt.«

Hastig fiel er ein: »Es gibt auch weite Gelände und fruchtbare Felder, es gibt erfrischenden Sturm und reine Lüfte, und es gibt das Hochgefühl des Sieges, das alle Wunden vergessen macht. Einerlei ob der Kampf dreißig Jahre gewährt hat oder siebenzig.«

»Ja, es gibt ihrer,« sagte sie schmerzlich, »nur daß uns das Leben auf Irrwege führt, uns nicht auf die reine Höhe zurückläßt, wenn wir sie einmal verlassen haben.«

›Dich doch nicht,‹ dachte Wendelin und sagte mit gesteigerter Leidenschaft, wie ein Kämpfer, dem um den Sieg bange wird: »Das Ideal, zu dem Hermann Rinkhart Sie führen wollte, war die Frau, die weiß und kann und sich doch von ihrem Herzen regieren läßt.« – Da sah er Joachim suchenden Blickes die Treppe herabkommen.

Joachim hier? – Joachim, der, um dessentwillen Dederich eine heiße, bittende Hand gefühlt hatte? – Mit blitzhafter Schnelle kam Wendelin ein Gedanke, der sehr nahe an die Wahrheit streifte. Das der Irrweg, von dem sie sich nicht wieder zurecht fand? Deshalb Scham und Reue? Deshalb ihre Entfremdung?

Aber sterben? Wollte sie – wollte er? – Das sollten sie verhandelt haben? So ungesund könnte sie sein? So weit ab von beidem: von lebensdurstiger Natur und von kampffroher Seelenkraft? So allzu zeitgemäß?

Ein leidenschaftlicher Zorn packte ihn, gegen den er seinen ganzen Willen brauchte. Langsam, mühsam trat er zurück; während Ferdinand den Bruder begrüßte und mit reichlich vielen Worten vorstellte, ging er hinterm Rücken der Gruppe vorbei und davon.

Nur Kathinka Birk sah ihn. Mochte er gehen, für den Spielverderber hatte sie keine bettelnden Blicke mehr, aber Morsach suchten ihre Augen: Komm, komm!

Sie stieg zwei, drei Stufen treppan, dann wandte sie sich wieder zurück. Ferdinand Rinkhart war vollauf beschäftigt. Morsach lächelte.

Kathinka ging weiter hinauf.

»Da oben sind die Schwindte,« sagte der Galeriediener.

Morsach zögerte noch, er sah sich um, aber die Bienen schwirrten in Kunsteifer, und Annemarie sah Wendelin nach mit einem Blick, der alle bösen Geister in ihm weckte.

Oben an der Treppenkehre bettelten ein paar schöne Augen: Komm, komm!

Morsach ging den bettelnden Augen nach.


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