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Als Wendelin am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe Hermann Rinkharts Wohnung betrat, empfing ihn die unzeitgemäße Schönheit.
Sie stand in dem großen hellen Vorraume, der den Eingang des Arbeitzimmers hütete. Die Morgensonne durchleuchtete ihn, und wie sie, in lichter Schönheit, leuchtete das Haar des Mädchens, ihre Augen, ihr ganzes Wesen. – Licht – alles Licht, dachte Wendelin. Ist das nun Reflex vom Senior, oder gehört sie unter die Selbstleuchter?
Sie gab ihm die Hand ohne Ahnung seiner ketzerischen Gedanken und öffnete die Flügeltür.
Hermann Rinkhart saß in einem altväterischen Banksofa, das er aus seinem Großvaterhaus mitgebracht hatte, wieder ganz und gar Jupiter. Oder Sophokles – oder Aristoteles – oder Humboldt – oder Goethe.
Wendelins Vergleiche schweiften unruhig durch den Bildersaal der Unsterblichen, bis er seinem alten Meister gegenüber saß; dann vergingen ihm alle Neben- und Quergedanken. In Hermann Rinkharts Bannkreis mußte man dem lebendigen Augenblick leben.
Sie redeten zuerst von Hartmuts Arbeit. Fördernde Worte; und dann von der des Alten, wobei der Junge belebend empfand, daß auch er zu geben hatte.
Es redeten nicht mehr Schüler und Meister miteinander, Mann sprach zu Mann. Die beiden Augenpaare leuchteten und die beiden Stimmen klangen voller und tiefer, wie die Stimmen der Liebenden.
Einmal kam Annemarie und sah nach dem Frühstück; lautlos und doch nicht zaghaft – wie das Licht, dachte Wendelin wieder.
Rinkhart verlangte Merkblätter von ihr, die er vorzeigen wollte – die rechte Hand fand das Gewünschte schnell und sicher. Sie redete nicht und es war doch, als habe sie etwas sehr Liebes und Notwendiges gesprochen. Sie eilte nicht und war doch nicht langsam. Als die Blätter dem alten Herrn zur Hand lagen, hatte sie noch einen fragenden Blick für ihn, dann ging sie davon, wie sie gekommen war.
Da sagte der Geheimrat und ließ den Blick hinter ihr drein gehen: » Diese Arbeit ist mir am besten gelungen.«
Hartmut hatte sich eben an Annemarie Rügemer erfreut, nun aber lächelte er, so daß der Senior lebhaft hinzufügte: »Sie gehören doch hoffentlich nicht zu denen, die das im Menschen, was für Zangen und Mikroskope unerreichbar bleibt, geringachten. Ich meine, all unser Tun steht nur im Dienste jenes Unfaßbaren. Gewiß, Wendelin, wir haben das Unsre geschafft, wir haben geforscht und geklärt, geprüft und erkannt, wir haben Bücher gefüllt mit unseren Beobachtungen, und unsere Stimme wird gehört, soweit Menschen an diesen Dingen Anteil nehmen. Das ist viel, mehr aber ist den mit uns Lebenden, den neben uns Stehenden in seiner Besonderheit und Vielfältigkeit zu erkennen. Zu sehen, was er braucht und was ihn schädigt, ihm dies aus dem Weg zu räumen und jenes zu gewähren: das macht unser Leben reich, das gibt ihm Folge und Freude.«
»Die Arbeit am Menschen – ja. Und doch, wie unsicher tasten wir da, wie selten gelingt sie, wie selten wird uns gegönnt dabei, einen Erfolg zu sehen.«
»Hier ward mir die Freude. Den Frauen unserer Tage ist es nicht leicht gemacht. Das alte wahre Wort: ›in jedem liegt ein Bild des, das er werden soll,‹ wird an ihnen zuschanden. Gerade die besten sind am meisten in Gefahr, das feste Idealbild zu verlieren, das jeder braucht, wenn er der Vollendung entgegen wachsen soll. Sie wollen wissen und können wie wir, und sie vergessen das Beste dabei. Mein Mädchen soll ein Weib werden, das weiß und kann und sich dennoch vom Herzen regieren läßt.«
Wendelin hatte an Schüler und Gefährten gedacht, die er zu formen und zu beeinflussen wünschte, mit leiser Ungeduld zwang er seine Gedanken zu Hermann Rinkharts rechter Hand zurück und sagte: »Ob Sie nicht dennoch ein Menschenkind wie andere auch mit verklärender Neigung betrachten?«
Jetzt lachte Hermann Rinkhart herzlich. »Was hat Ihnen denn mein Mädel getan, mein harmonisches Mädel, daß Sie so mißtrauisch sind? Wittern Sie einen Ruhestörer in ihr?«
Die alten Augen blitzten schalkhaft, da mußte auch Wendelin lachen, aber er sagte doch: »Vielleicht eben weil sie so schön ist, spricht der Zweifel in mir um so lauter: daß selbst der Sonne die Flecken nicht erspart worden seien.«
Rinkhart wurde ernst. »Wohin verlaufen Sie sich, Hartmut! Lassen Sie sich nicht einstmals von Ihrem Schoßkind um das bischen Erdenglück betrügen, das unsere Seele braucht, wie der Leib den Sonnenschein. Zweifel ist gut, solange wir ihn als Diener in Zucht nehmen, zum Herren können wir ihn nicht brauchen, wenn unser Acker Frucht bringen soll.«
Er hat recht und unrecht, dachte Wendelin, aber da es sich um seinen Liebling handelt, ist das kein Kampf von Erkenntnis zu Erkenntnis mehr, sondern verläuft sich ins Persönliche. – Ehe Wendelin seine Gründe für solchen schonenden Kampf gewappnet hatte, wurde draußen Chorgesang laut.
Er konnte nur noch versprechen, daß er während der großen Ferien für eine Woche auf den Professorenberg kommen werde. Man hatte gespürt, wie viel man sich geben konnte, und da man es konnte, war's Pflicht es zu tun.
Dann faßte sie der Eitelkeitsmarkt der Eintagsleute, dem, neben den Minuten feierlichen Aufschwungs, ein breiter Raum blieb, durch vierzehn festliche Stunden.
Diesem Getriebe mit Gelassenheit zu begegnen zog Wendelin »den alten Herrn« an.
Das hieß: er schob sein Ich in den Winkel und lebte vom Beobachten.
Und wenn ihm bei dem bunten Gemisch von Neigung, Freundschaft, Familienstolz, Gelehrsamkeitsschrullen, Selbstbewußtsein und wohlfrisierter Narretei dennoch ironische Gedanken den Humor totschlagen wollten, dann suchten seine Blicke den Jubilar und das Mädchen, dessen Schönheit so groß war, daß sie selbst einen alten Philosophen und Naturwissenschaftler zum Phantasieren brachte.
Annemarie aber genoß mit vollem Entzücken, was der Tag an Ehren und Freuden brachte; auch bei Tisch, wo sie zwischen Hartmut und Joachim saß, war das Tiefste ihres Herzens allzeit beim Jubilar, so heiter bereit sie sich zu jedem Scherz und jedem Ernst zeigte.
Nöhring, ihr Gegenüber, hatte keine Ursache zu neidvollen Gefühlen. Er tröstete sich überhaupt: übermorgen bin ich die Störenfriede wieder los, der Lebende aber hat recht und lebendig ist doch immer nur der Gegenwärtige.
Und dann kamen die Geschwister Rinkhart und störten nachbarliche Gespräche durch Anstoßen und Zwischenreden; die Jugend der Universitätsrepublik kam, die alten Herren rückten heran, als man im Verlauf der Tafel beweglicher wurde – es schienen alle ein Wort und einen Blick der jungen Schönheit zum Wohlbehagen nötig zu haben.
Wendelin fing an, den Geheimrat begreiflich zu finden: verglich sie mit den anderen, die er der Mühe wert gefunden, und mit denen, die ihm gleich ihr eine Augenlust gewesen waren. Er dachte an die blasse schlanke Frau, die er beim ersten Anblick häßlich genannt hatte, und deren feine Seele ihm nach und nach dies häßliche Gesicht so verklärte, daß er am Tage des Abschieds gemeint hatte, er werde nie im Leben wieder ein Frauenbild von ähnlichem Reiz finden. Er dachte an die zierliche Brünette, die vom Lachen zum Weinen kam und vom Küssen zum Schmollen, jäh wie der Blitz von Wolke zu Wolke. Allerlei Bilder seiner Studentenjahre tauchten auf, an die er lange nicht mehr gedacht, frische fröhliche Münchnerinnen lachten ihn an, und die Blonde unterm Fliederbusch sagte: Komm!
Alle ein Gemisch von Fehlern und Tugenden, wie es Erdenkindern natürlich ist. Und Hermann Rinkharts rechte Hand wäre mehr? – Wenn sie seine beste Arbeit war, freilich, – und was er zu beobachten bekam, sprach nicht dagegen. Wenn sie mit Joachim sprach, schien ihre Stimme wärmer zu klingen als vorher und Joachims fester – also gab sie dem Bedürftigen, was er brauchte. Karlmann, der Psychiater, lehnte sich über ihren Stuhl und sprach ihr von einer Kranken. Er gab, wie man jemand gibt, der zu nehmen versteht, und aus Annemaries Augen sprach ein tiefes Mitgefühl, das doch frei war von weichlicher Sentimentalität. – Professor Quistorp, der berühmteste Sonderling, Menschenfeind und Frauenverächter der Universität, trat herzu und stieß mit ihr an. Ganz selbstverständlich ohne Spott oder Hinterlist, und sie antwortete ihm, wie man einem guten Freund antwortet.
Und dies alles nur, weil sie schön war? Weil ihr die Flechten blonder und dichter die Stirn krönten als den anderen? Es gab doch auch sonst noch Schönheiten, selbst hier leuchteten bestrickende Augen genug. Also mußte diesem goldenen Krönlein noch ein anderer Zauber helfen, ein Zauber, den sie Hermann Rinkhart verdankte.
Wendelin hob das Glas und trank dem Jubilar zu, gerade als der Rector magnificus aufstand, um die Naturwissenschaft als den modernen Vermittler zwischen Kultur und Natur zu feiern.
Sein philologisches Herz benutzte dazu die Antäussage, deutete sie vielseitig auf die Kulturmenschheit, die sich jedesmal in Zeiten der Ermattung neue Kräfte bei der ewig jungen Mutter Natur hole, und kam so mit einer geschickten Wendung auf die Naturwissenschaft, die mit tausend Augen spüre und ergründe, die mit tausend Helfern forsche und finde und der schwierigen Dame Natur allgemach durch all ihre Kniffe und Pfiffe schaue; ja die sie gewissermaßen untergekriegt habe und, dank ihrer großen Führer, fähig sei, der dürstenden Menschheit den Becher der Erkenntnis voller und erfrischender denn je vorher an die Lippen zu setzen.
»Dürstende Menschheit,« sagte Joachim mit schwerer Stimme, »ja, es geht jetzt eine große Sehnsucht durch die Welt.«
»Jetzt?« fragte Wendelin. »Diese Sehnsucht ist immer da. Sehnsucht ist das Leben überhaupt. Sie wechselt nur das Ziel, und selbst das wechselt bloß scheinbar.«
»Bitte,« fiel Nöhring ein, »Sehnsucht macht bekanntlich Unruhe, und ich dächte, sowohl Einzelwesen wie Völker hätten recht schöne Epochen der Befriedigung und Ruhe.«
Hartmut lachte. »Meinst Du den Winterschlaf, Nörkelchen? Wobei man sich das Fett aus den Pfoten saugt, sowohl als Volk wie als Einzelwesen?«
Und Joachim wurde nervös. »Ja, Sehnsucht macht Unruhe, Nöhring hat recht, und Hartmut hat auch recht: nur der Schlafende hat Ruhe. Wer wacht, sehnt sich: die Jugend, die Arbeit, die Manneskraft, der Frühling –«
»Nach Blüte und Frucht,« fügte Annemarie eifrig hinzu, als Joachim innehielt, und sah doch aus, als ob sie nichts von Sehnsucht wisse.
Da sprang Wendelin auf und schlug ans Glas. Er antwortete dem philologischen Rektor in philologischen Bildern, scherzhaft und verbindlich: Daß er in liebenswürdiger Kollegialität die Naturwissenschaftler doch etwas überschätze. So recht unter hätten sie den großen Pan, der ja auch eine Art Sinnbild des kapriziösen Rackers Natur sei, leider noch lange nicht, der mache immer aufs neue verblüffende Bocksprünge, und den müsse auch heutigen Tags noch jeder ganz allein und persönlich unterkriegen, ohne jede wissenschaftliche Beihilfe.
Der Jubilar lachte am herzlichsten; Annemarie sah Wendelin vorwurfsvoll an.
»Jetzt bin ich Ihnen böse! So sollten Sie nicht von der Natur reden, auch nicht im Scherz. Kapriziöser Racker! – Ist sie nicht vielmehr eine sorgliche Hausfrau, eine gütige Mutter? Denken Sie an ihre unermüdliche Tätigkeit durch Sommer und Winter, an ihr Geben und Nichtmüdewerden –«
»Sie vergessen Krankheit und Tod, Sie vergessen Hunger und Durst, Sie vergessen den Mord, den Neid und den Haß.«
»Sie schafft auch Heilsäfte und Heilkräfte, sie lehrt uns Mitleid und Liebe!«
Annemarie hatte schnell und eifrig gesprochen, jetzt, als sie langsamer fortfuhr, kam ein weiches, zärtliches Lächeln in ihr Gesicht. »Wo es Tod und Krankheit gibt, mußte es so kommen, um vergangener oder künftiger Dinge willen – es ist allemal Sühne oder Hoffnung. Ich habe an Vaters Hand ihre Gesetzmäßigkeit, ihre Sicherheit belauschen dürfen, er hat sie mir in ihrer Beständigkeit gezeigt, wie sie so ganz genau weiß was sie will, wie sie die kurzen Wege liebt und dabei doch noch Zeit hat, schön und anmutig und gewaltig zu sein.«
»Und nun kennen Sie die Natur, weil Ihnen ein Großer etwas vom Abfall seiner Weisheit gezeigt hat, wie er es bekömmlich für Sie hielt?«
»Ich habe doch auch zwei Augen im Kopf,« sagte sie eifrig, »mit denen sehe ich soviel Schönheit und Glückseligkeit, daß ich's oft nicht fassen kann in all seiner Fülle.«
Wendelin sah Annemarie in diese beiden glückschauenden Augen, deren tiefblauer Glanz an den Sommerhimmel mahnte, der über stillen, reifenden Tagen steht.
›Sie ist wahrhaftig ein unzeitgemäßes Menschenkind,‹ dachte er, aber er sagte doch: »Und was Ihre blauen Augen sehen, das ist dann die Welt? – Ihre Welt! Ein Winkel voll Glück und Schönheit, und um dieses Winkels willen preisen Sie Mutter Natur, als schüfe sie nur Frühlingsluft und Nachtigallensang. Das ist ihr aber höchst nebensächlich und unwichtig.«
»So darf ich sie dafür preisen, daß sie mich in einen Glückswinkel hineingesetzt hat,« rief Annemarie in Festtagslaune.
»Allenfalls, aber auch die Glückswinkel unserer ewig rollenden Erde sind dem Wechsel unterworfen.«
Ein schneller Blick Annemariens flog hinüber zu Hermann Rinkhart, die strahlenden Augen wurden dunkel, als zöge eine Wolke darüber, und wurden wieder licht, als sie tief und warm antwortete: »Ich glaube an das Glück! Und so will ich Mutter Natur dafür preisen, daß sie mich so glücksgläubig gemacht hat.«
›Das kann sie wirklich,‹ dachte Wendelin, und fuhr doch unbarmherzig fort:
»Sie wissen ja noch gar nicht, ob Sie so bleiben werden, wenn das harte Leben an Ihre Tür klopft. Hermann Rinkhart erstieg erst nach stürmischer mühevoller Bergfahrt die reine Höhe, auf der er es sich und Ihnen heimisch gemacht hat – über dem gemeinen Menschenlos. Sie sind nicht aus eigener Kraft, nicht auf eigenen blutenden Füßen emporgestiegen, er hat Sie hinaufgehoben und hält Sie dort im Arm seiner Milde und Kraft. Es ist noch sehr die Frage, ob Ihnen das zu Lieb oder zu Leid geschehen ist. Ob Sie nicht ohne seine Stütze der Schwindel erfaßt, ohne seinen Schutz die neidischen Hände der Tiefe hinabziehen werden.«
»Nein,« sagte sie fröhlich und ihre Augen glänzten, »nein, ich lasse mich nicht hinunterziehen!«
Wendelin war verstimmt, die Unterhaltung verlor ihren Reiz – er hatte sich eben jetzt von dieser jungen Schönheit verblenden lassen, wie die anderen auch; nichts weiter war sie als ein prahlendes Kind, und daß Hermann Rinkhart sie überschätzte, machte ihm das unerträglich.
»Auch Sie werden noch platte Ebenen und dumpfige Gassen kennen lernen,« sagte er ärgerlich, »und Affengärten, in denen häßlicher Geruch und Geschrei Ihnen die Nerven verletzt. Es gibt wenig Menschen und viel reißende Tiere; kluge Leute haben sie in den Käfig gesteckt, hinter die eisernen Stäbe Gesetz und Ordnung, aber das Tier dahinter ist Tier geblieben und wartet voll tückischer Blutgier auf den Augenblick, wo sich einer der Stäbe lockert.«
»Ja,« antwortete Annemarie, und ihre Stimme hatte einen schwingenden Ton, »dies alles haben wir. Aber haben wir nicht daneben so viel des Guten? Und wird des Guten nicht immer mehr? – Wenn wir am Ziele wären, was sollten wir hier? Haben wir nicht eine wundervolle Lebensarbeit? Wir dürfen schaffen und kämpfen, wir dürfen dem Bösen wehren und das Gute pflegen, wir können das Unkraut vernichten und edlen Samen säen.«
Das war der Idealismus des Seniors, der strahlend hervorbrach, der Idealismus, der ihn jung erhalten hatte und einflußreich und fortreißend. Der ihm Jünger gewonnen hatte und Freundschaft und Liebe, und ihm dies Mädchen geschenkt: eine Frühlingssonne in den Tagen des Herbstes.
Und gegen seinen Willen, fast als zeige er nur sich selber ein unholdes Zukunftsbild, sagte Wendelin leise: »Sie haben den panischen Schrecken noch nicht gespürt!«
Annemarie sah ihn verwirrt an; das Wort im Sinne von etwas, was einem begegnen könnte, war ihr fremd. Ein scharfes Nachdenken lief sichtbar über ihre klare Stirn. Aber ehe sich das Nachdenken zu Frage oder Antwort geformt hatte, erhob sich der Jubilar zu einer Schluß- und Dankrede, danach verstreuten sie sich im Garten.
Als spät in der Nacht endlich die letzten Lichter im Hause verlöscht waren, stand Annemarie noch lange am Fenster. Der Nachtwind strich mit duftiger Frische über ihr warmes Gesicht, die Sterne zitterten im schwärzlichen Blau des Himmels, und es wuchsen ihrer mehr und mehr aus den Tiefen hervor, ein Sinnbild unerschöpflichen Reichtums.
So reich fühlte sich auch Annemarie – reich an Liebe, reich an Kraft, reich an alledem, was die anderen von ihr wünschten und begehrten – ihr war, als brauche sie nur die Hand zu öffnen um alle glücklich zu machen.
Und reich an Besitz: Sie hatte den besten Mann zum täglichen Gefährten und alle seine Freunde und Bewunderer zum Mitgenuß. Auch war es schon ein Fest an sich, alle Kinder Rinkharts versammelt zu sehen. Joachim hatte ihr von den Bergen erzählt – gab es einen zweiten Menschen, der so zu schildern vermochte, was er empfand? Mußte nicht jede Seele gesund werden, die Karlmann mit seiner festen, milden Hand führte? Und Ferdinand, der gestern und heute auf sie eingestürmt war mit all seinen Plänen und Träumen, wie der Frühlingswind, vor dem die Welt bereit liegt für seinen Siegeslauf!
Den beiden jüngsten, die sie täglich sah, galt nur ein kurzer Gedanke: Lida hatte sich an Nöhrings Seite gehalten, das freute sie, und sie spann lächelnd einen feinen Faden in die Zukunft hinaus, einen der Fäden, aus denen man Brautschleier webt.
Auch Hartmut Wendelin lächelten ihre Gedanken an: Sie wußte zu viel Gutes von ihm aus des »Vaters« Munde, als daß ihn seine ketzerischen Worte ihr zu entfremden vermocht hätten.
Ein einziges Bedauern war in ihr: daß Joachims Frau gefehlt hatte, daß diese festliche Gelegenheit, einander näher zu kommen, versäumt war.
›Albertine ist mir fremd – die einzige von allen. Ihre Briefe sind Worte, hinter denen ich den Menschen nicht finden kann. Aber wenn wir sie heuer auf länger hier haben werden, dann will ich sie mir erobern; und dem Doktor Wendelin wollen wir die Nebel von der Seele blasen – wir zwei. Das wird lebendige Ferien geben – ich freue mich auf die Ferien.‹
In einem köstlichen Kraft- und Sicherheitsgefühl schloß sie das Fenster und legte sich schlafen.
Was konnte ihrer Liebe und ihrem guten Willen widerstehen?