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Zweiter Teil

 

I

Narzissa Evans verabschiedete sich von den Mädchen, die mit ihr den Kurs besucht hatten und bog in die Santa Clarastraße ein, die zu ihrem Elternhaus führte. Sie überquerte die Bahngeleise; sie konnte sich noch gut an die Zeit erinnern, als es noch keine Bahn gegeben hatte. Vater und Mutter waren im Postwagen hierher gekommen. Es war lange her – 1888. Jetzt war alles anders, jetzt schrieb man ja auch 1907. Sie blickte dem Nachmittagszug nach; lange konnte sie ihn verfolgen, wie er in die Berge hinaufkeuchte.

Heute hatte sie der Wagen nicht abgeholt, aber sie war nie böse darüber, die drei Meilen bis nach Hause zu Fuß gehen zu müssen. Und keinesfalls jetzt im Mai, wenn das ganze Tal voller Blüten stand. Dahinter sah man die Berge, durch die der Weg nach Denver und dem Osten führte. In der Tiefe war der Schnee schon geschmolzen, immer weiter rückte die Schneegrenze hinauf, nur der ›Big Chief‹ behielt seine weiße Krone den ganzen Sommer hindurch. Narzissa pflückte gern die blauen und gelben Blumen und liebte es, ihre Blicke zu dem ewigen Schnee zu erheben.

Als sie die Stadt hinter sich hatte, nahm sie aus einem ihrer Bücher einen Brief:

Liebe Narzissa. Würden Sie nächsten Freitag mit mir das Tanzfest im Santa Clara-Club besuchen? Bitte, sagen Sie nicht nein. Ich erwarte ungeduldig Ihre Antwort.

Ihr treuer, Sie verehrender Freund
Tony

›Liebe Narzissa‹ war noch klein und zart geschrieben, aber die letzten Worte waren schon sehr kräftig hingemalt, als wäre er im Schreiben kühner geworden. Narzissa las das Brieflein immer wieder.

Würde sie gehen können? Bisher hatte sie noch nie öffentlich getanzt, es war gegen die Grundsätze ihrer Kirche. Doch bei mancher Freundin war zu Hause getanzt worden, und ihre Mutter hatte davon gewußt. Mutter würde es auch diesmal erlauben, aber der Vater war nicht so duldsam. Und Tony war katholisch! Auch dies würde die Mutter hinnehmen, nicht aber der Vater. Eigentlich war es ganz in Ordnung, daß der Vater so streng war und es war ein wenig sonderbar, daß ihre Mutter in diesen Dingen so gleichgültig blieb. Aber vielleicht würde die Mutter ihn diesmal ›herumkriegen‹.

Sie holte jetzt aus ihrer Tasche das Päckchen, das sie für Frau Allen in der Apotheke besorgt hatte. Frau Allen bewohnte das letzte Haus in diesem Stadtteil. Früher hatte dieses Haus in freiem Land gelegen, jetzt gehörte es schon zur Vorstadt. Die alte Frau Allen war immer gut zu ihr. »Ich habe mitgeholfen, als Narzissa zur Welt kam,« pflegte sie zu sagen, »oh, war das eine stürmische Märznacht!« Gewiß hatte sie ein geröstetes Brötchen oder ein Stück Kuchen vom Mittagessen für Narzissa beiseite gelegt. Und jetzt, seit Frau Allens Tochter, Frau Waite, zu Besuch hier war, machte Narzissa besonders gern einen kleinen Sprung zu Frau Allen. Die Tochter lebte als Missionärin irgendwo weit östlich von Konstantinopel. Narzissa klang dies ganz sagenhaft schön. Sylvia Waite war nach Hause gekommen, um Geld für hilfsbedürftige Armenier zu sammeln. Sie hatte eine große Versammlung in der Stadt abgehalten, zu der alle Sekten geladen waren. Manchmal fuhr es Narzissa durch den Sinn, daß es schön sein müßte, Frau Waite zur Mutter zu haben; freilich, fügte sie in ihren Gedanken ehrlich hinzu, nur für ein Mädchen, das keine eigene Mutter hatte. Frau Waite war so wundervoll, wenn sie von ihren verwaisten Kindern sprach und von Jesus, der uns die Pflicht auferlegt hat, für alle seine Kinder zu sorgen. Sie hatte ein so überzeugendes, gütiges Lächeln. Sie blickte einem fest ins Auge, wenn sie die Hand drückte, die man ihr reichte. Mit einer so warmen zuversichtlichen Stimme konnte nur sie von dem christlichen Amerika sprechen, das sicher nicht zulassen würde, daß auch nur eines von Gottes Kindlein vor Hunger stürbe. Wieviele hatten in der Versammlung bei diesen Worten geweint, auch Narzissa, und ihr Vater schien nicht weit davon entfernt. Ihre Mutter aber hatte nicht geweint.

»Na, wie geht's denn unserm kleinen Mädelchen heut'?«, so herzlich wurde sie von Frau Waite begrüßt. Es war so gemütlich in ihrem Wohnzimmer. Nur Frau Allen war trauriger als sonst, denn ihre Tochter sollte jetzt bald wieder nach jenem fernen Land zurückkehren, wo ihre Schützlinge nach ihr verlangten. »Sie werden doch oft vorbeikommen, um nach Mutter zu sehen«, sagte Sylvia Waite zu Narzissa. »Der Abschied fällt mir nicht leicht,« Tränen standen in ihren Augen, aber tapfer lächelnd fuhr sie fort: »doch ich muß dem Ruf Gottes folgen.« Ihre Mutter stimmte mit ergebenem Kopfnicken zu, und es war, als ob Gott mitten unter ihnen weilte in diesem anheimelnden Zimmer, von dem man das weite Tal bis zu den schneebedeckten Bergen überblicken konnte. Narzissa fühlte sich ganz wie zu Hause bei ihnen, und als sie fortging, war sie über Gottes allumfassende Güte und seine barmherzigen Werke, die er durch Sylvia vollbringen ließ, so beglückt, daß sie hätte singen und springen mögen. Begeisterung beflügelte ihre Schritte, fast meinte sie, mit Tony dahinzutanzen.

Ein neues Haus war im Bau. Früher hatte es zwischen den Allens und ihnen nur Wiesen gegeben. Ganz einsam war ihre Mutter auf der weiten Steppe gewesen – Mutter nannte immer ›die Steppe‹, was die andern als Tal bezeichneten. »Es ist doch kein Tal!« hatte ihre Mutter einmal gerufen und sich dabei seltsam erregt. Weil sie gar so lange ohne Nachbarn gewesen war, legte sie vielleicht jetzt keinen Wert mehr auf sie.

Schon konnte Narzissa ihr Vaterhaus sehen. Es war sehr klein gewesen, die einfachste Art von Blockhäusern, die es gab, doch im vergangenen Jahr war ein Flügel angebaut worden, der ein reizendes Zimmer für Narzissa bildete. Die Mutter hatte auf diesem Zubau bestanden, denn Narzissas kleines Mansardenzimmer, das nur durch eine einfache Bretterwand abgeschlossen war, hatte gar zu traurig ausgesehen. Jetzt war sie auch viel ungestörter. Und über das Tal hinüber sah sie den ›Big Chief‹. Mutter arbeitete in dem Blumenbeet, das sie unter Narzissas Fenster gepflanzt hatte. Es gab nicht viel Blumen bei ihnen, es sah kahl aus um das Haus. Der Vater hatte wohl manches anzupflanzen versucht, aber es war nicht geglückt; die Trockenheit war schuld. Narzissa sah, wie die Mutter die Gießkanne herbeischleppte, um die Blumen unter ihrem Fenster zu begießen.

»Hoho!« rief Narzissa schon von weitem. »Mutter!«

»Wie geht's, Liebling?« Es lag immer etwas wie Ängstlichkeit in ihrer Mutter Stimme, wenn sie Narzissa begrüßte, als wäre sie über das Wiedersehen glücklicher als sie ihre Töchter erraten lassen wollte. Sie hatte so einsam ausgesehen, die Mutter, als sie das Wasser zu den Blumen trug.

»Vater ist nicht zu Hause?«

»Nein, er arbeitet heute bei den Scotts.« Vater und die Scotts halfen einander gegenseitig aus.

»Ich habe mich einen Augenblick bei Frau Allen aufgehalten«, berichtete Narzissa.

»Ja?« gab Naomi Evans ein wenig kühl zurück, während sie das Wasser über die Blumen sprühen ließ.

»Mutter!« Narzissa kam einige Schritte näher. »Glaubst du, daß Vater mir erlauben wird, nächsten Freitag zu einem Kränzchen in die Stadt zu gehen?« Ihre Mutter richtete sich auf und blickte sie an. Narzissa wußte, daß sie rot geworden war und lachte verlegen. »Alle Mädels gehen. Es ist im Santa Clara-Klub.«

»Und … und mit wem willst du denn gehen, Narzissa?«

»Mit Tony. Tony Roß. Er hat mich eingeladen.« Wieder fühlte sie die Glut in ihren Wangen, als sie den Namen aussprach. Ihre Mutter sagte nichts. »Glaubst du, daß Vater es erlauben wird?«

»Was sollte er dagegen haben?« Die Worte überraschten Narzissa. Es schien fast, als hätte die Antwort ihre Mutter selbst überrascht, so unüberlegt und barsch war sie ihr entschlüpft. Sie bückte sich jetzt wieder zu ihren Blumen nieder.

»Ja, du weißt doch, wie er ist«, sagte Narzissa. »Tanzen! Das geht gegen seine Grundsätze.« Tief gebeugt, behutsam, ließ ihre Mutter das Wasser über die winzigen grünen Sprößlinge rinnen, die kaum aus der Erde hervorlugten. »Und dann ist Tony doch auch katholisch. Meinst du, Mutter, daß es dadurch erschwert wird? Was kann das eigentlich ausmachen, wenn man zusammen tanzen will? Er ist so nett. Er besucht die Ackerbauschule. Agnes Roß ist seine Schwester, durch sie wurden wir bekannt. Drüben, an der Monte Vistastraße, haben sie einen großen Besitz.«

In der Küche forschte Narzissa immer wieder in den Zügen der Mutter, denn die hatte wegen des Tanzens weder ja noch nein gesagt. War sie müde? Was war denn mit ihr? Sie fing eine Arbeit an, ließ sie dann plötzlich wieder stehen und wendete sich einer andern zu, die sie schon getan hatte.

»Ich will dir helfen«, bot Narzissa sich an.

»Ruhe dich erst ein wenig aus, Liebling, du hast einen weiten Weg hinter dir.«

Narzissa liebte ihr Zimmer um diese Nachmittagsstunden. Sie und ihre Mutter hatten es mit freundlichen Farben ausgemalt. Das meiste hatte natürlich die Mutter getan, und auch der schöne helle Teppich war ihre Arbeit.

Um diese Zeit war der Blick auf das Tal am schönsten. Die Sonne stand schon tief und eine wundervolle Stimmung lag über dem Tal und den Bergen – Gott lächelt hernieder, so pflegte Narzissa in Gedanken ihren Eindruck zu kennzeichnen. Sie wollte ihr Hauskleid anziehen und gleich wieder hinübergehen, um ihrer Mutter zu helfen. Aber während des Umkleidens konnte sie sich nicht von dem Spiegel trennen und versuchte allerlei Arten, ihr Haar aufzustecken. Es war schön gewellt; solange sie noch ein Kind gewesen war, pflegte ihre Mutter es über den Finger zu bürsten und Locken daraus zu drehen, denn es war sehr weich und ließ sich leicht meistern. Dabei war es dicht und so schön braun mit einem goldigen Schimmer. Auch ihre Augen hatten diese braune Farbe mit goldenen Lichtern darin. »Woher hast du nur diese braunen Augen?« pflegte Frau Allen sie zu necken. »Deine Mutter hat doch blaue und dein Vater – na, sagen wir helle Augen.« – Die Hände im Nacken verschränkt, blickte sie in den Spiegel. Ihr Hemd war von der einen Schulter geglitten. Zum Tanzen trägt man ja tief ausgeschnittene Kleider … Sie legte ihr Hemd, als wäre es ein Ballkleid. Sie wußte, daß ihr Hals und ihre Schultern schön waren; nicht weniger schön, als sie es auf Bildern gesehen hatte, die vornehme Damen darstellten.

»Mutter,« rief sie zu Frau Evans hinaus, die sie im kleinen Vorraum vor ihrem Zimmer hörte. »Was werde ich wohl anziehen – wenn ich zu dem Tanzabend gehe?«

Ihre Mutter stand in der Tür und blickte nach ihr hin. Ja, was hatte sie denn? Es sah aus, als wollte sie zu weinen beginnen!

»Das wollen wir noch überlegen, Liebling,« war alles, was sie erwiderte, während sie sich abwendete.

 

II

Narzissa war unentschlossen: sollte sie ihren Vater gleich heute abend fragen oder zuerst nochmals mit der Mutter sprechen, um sich ihre Unterstützung zu sichern? Ihr Gefühl riet ihr, ihn selbst zu bitten. Wegen ihres Zimmers hatte damals ihre Mutter begonnen und es hatte harte Kämpfe darum gegeben; wenn aber Narzissa ihren Vater um etwas bat und es nicht gerade gegen seine Grundsätze verstieß, erfüllte er meist ihre Wünsche. So hatte er ihr letzten Winter einen neuen Mantel bewilligt, obwohl es ihm wirklich schwer gefallen war; Vater schien weniger Glück zu haben, als die andern Farmer ringsum, obwohl keiner schwerer arbeitete als er. Mutter war ganz böse geworden, als er sagte, der alte Mantel müsse noch ausreichen; Narzissa war dann abends zu ihm in die Küche gegangen, wo er, wie so oft, allein saß, in tiefes Nachdenken versunken, das Haupt gesenkt, die Füße gegen den Kamin gestützt. Sie hatte sich neben ihn gesetzt und gesagt: »Weißt du, Vater, es ist nur deshalb peinlich, weil alle Mädchen jetzt moderne Mäntel tragen. Meiner ist altmodisch. Ich kann ihn nicht mehr leiden, weil er mich von den andern so – ausschließt. Ich weiß doch, du tust für mich, was dir möglich ist. Und Mutter hat ja auch nicht alles so wörtlich gemeint, wie sie es gesagt hat. Ich möchte nur gar so gern einen neuen Mäntel für diesen Winter haben, damit ich ebenso aussehe, wie die andern Mädchen.« Ihr Vater hatte nachdenklich dagesessen und schließlich zu ihr aufgesehen. »Nun schön, Narzissa«, hatte er gesagt.

Ihr Vater hatte ihr sogar einen kleinen Hund mitgebracht, obwohl er Jahre hindurch, seitdem ihr Bruder John umgekommen war, von einem Hund im Hause nichts mehr hatte hören wollen. Narzissa war acht Jahre alt gewesen, als das Unglück geschah, John knapp fünf. Er war im Spiel seinem Hund nachgelaufen, als eine scheugewordene Viehherde über die Felder gestampft kam. Ihre Mutter war die erste, die sie bemerkte, sie näherkommen sah. »Caleb! Caleb!« hatte sie aufgeschrien und beide begannen zu rennen – oh, wie schnell ihr Vater gerannt war! Vergeblich – vor ihren Augen wurde er niedergestampft. Der kleine Junge starb in den Armen seines Vaters, während er ihn nach Hause trug.

Ein stiller Winter war das gewesen. Vater war zur Arbeit unfähig. Schweigend saß er da und starrte vor sich hin, Entsetzen in seinen Augen, als erlebte er immer wieder den einen Augenblick, den einen … Mutter hatte einen guten Teil von Vaters Arbeit neben ihrer eigenen tun und obendrein ihn selbst noch pflegen müssen, denn er war wie ein Kranker. –

 

Narzissa sah ihren Vater von den Scotts heimkehren, als sie für ihre Mutter Kienspäne holte. Er bewegte sich langsam, schwerfällig, wie seit Jahren, wie immer seit jenem Tag vor zehn Jahren, als er so schnell gerannt war – und vergeblich.

»Hallo, Vater«, rief sie. Wie geht's?«

»Muß schon gut sein. Und dir?« Ihr Vater hatte eine Fistelstimme und manchmal wurde Narzissa ganz verlegen, wenn er in der Kirche sprach, obgleich sie selbst sich dieser Verlegenheit schämte. Seine Stimme hatte mit seinen Bewegungen nicht Schritt gehalten, als diese so schwer geworden waren. Und deswegen schien sie jetzt noch weniger zu ihm zu passen als früher.

»Sieh den ›Big Chief‹, wie schön …« sagte Narzissa, denn die rote Glut, die sich nach Sonnenuntergang über die Berge legte, machte ihnen beiden stets die gleiche Freude. Die Mutter blickte kaum hin, sie haßte die Berge. Narzissa konnte das nicht begreifen. »Sie halten mich hier gefangen«, hatte ihre Mutter einmal von den Bergen gesagt. »Aber man kann doch hinauf und hinüber«, hatte Narzissa geantwortet. »Ich werde nie über sie hinauskommen«, und damit hatte die Mutter recht behalten. In all den achtzehn Jahren war sie nie aus dem Tal herausgekommen.

Der Widerschein, der nach Sonnenuntergang über dem Himmel lag, traf die Fenster ihres Hauses. Wie ein Segen, dachte Narzissa, denn sie drückte sich in ihren Gedanken gern in Bibelworten aus. Sie saßen beim Abendbrot in der Küche, nachdem Vater Gesicht und Hände gewaschen und Mutter den Tisch gedeckt hatte.

»Ich hatte ein gemütliches Viertelstündchen bei Frau Waite«, erzählte Narzissa, die heute abends besonders darauf bedacht war, ihren Vater bei guter Laune zu halten; die Missionarin war ein zweiter Gegenstand ihres gemeinsamen Interesses.

»Ja, die ist eine wahrhaft christliche Frau«, meinte ihr Vater, nachdem sie berichtet hatte, wie bald Frau Waite nun wieder nach jenen fernen Ländern zurückkehren müsse.

»Es müßte herrlich sein, Missionärin zu werden«, stimmte Narzissa zu.

»Unsinn«, kam es scharf von den Lippen ihrer Mutter.

»Gottes Werk zu tun«, die Stimme ihres Vaters klang ganz hoch und schrill, »das nennst du Unsinn?«

Narzissa sah zum Fenster hinaus, unbewußt blickte sie immer fort, wenn dieses gewisse Schweigen zwischen ihren Eltern entstand. Von ihrem Platz aus hatte sie nicht den Ausblick gegen die Stadt, sondern nach der andern Richtung, wo die Weiden an dem Bewässerungsgraben wuchsen. Ein Reiter tauchte in der Ferne auf, aus der Gegend der Monte Vistastraße; er bog in den Pfad ein, der zu ihnen herführte.

»Oh, mein Gott,« rief Narzissa, »wer kommt denn da? Und warum kommt er zu uns?«

»Wieso weißt du, daß er zu uns kommt?« fragte ihr Vater, nachdem er einen Blick durchs Fenster getan hatte. Doch Narzissa – und mit ihr die Mutter – beobachtete schweigend den Jüngling, der durch die Abenddämmerung auf sie zugeritten kam.

»Na, ich muß sagen …!« rief Narzissa ganz verwirrt und stürmte in ihr Zimmer, um ihr Haar ein wenig in Ordnung zu bringen und rasch einen Mantel über ihr Hauskleid zu ziehen. Dann ging sie vor das Haus und machte sich an den Blumen unter ihrem Fenster zu schaffen. Mit gutgespielter Überraschung wandte sie sich um, als das Pferd neben ihr hielt. »Ja, Tony Roß! Was bringt denn Sie hierher?«

»Oh – vielleicht nur eine Laune meines Pferdes«, gab Tony in seiner neckenden Art zurück, mit seiner weichen klangvollen Stimme, die immer noch etwas mehr auszudrücken schien als die Worte, die er sprach. Er beugte sich lächelnd zu ihr hinab und das Lächeln lag auch in seinen Augen.

»Aber ich wußte ja gar nicht, daß Sie diese Woche aus der Schule nach Hause gekommen waren.«

»Ich habe mir eigens Urlaub genommen.« Er sprang vom Pferd und kam zu ihr ans Blumenbeet. »Ich hatte einen besondern Grund.«

»So?« sagte Narzissa, als hätte dies gar nichts mit ihr zu tun.

Tony war schlank, groß. Man sagte ihm indianische Abstammung nach, was übrigens kein Tadel war, wenn sie weit genug zurücklag. Er hatte geschmeidige, anmutige Bewegungen. Er war kräftig. Seine Augen lachten und wurden zärtlich, wenn Narzissa ihn ansah.

»Die Nacht ist schön für einen Spazierritt«, lenkte sie hastig das Gespräch ab.

»Noch schöner aber wär's spazieren zu gehen«, sagte Tony und beide lachten in glücklicher Verwirrung.

»Ich gehe noch ein wenig fort, nur bis zu den Weiden«, Narzissa war rasch in die Küche getreten, um es den Eltern zu sagen.

»Wer ist denn mit dir da draußen?« fragte ihr Vater.

»Der Bruder einer ihrer Schulfreundinnen. Ich kenne ihn«, erwiderte ihre Mutter schnell.

Tonys Pferd trottete hinter ihnen her. Als sie sich mit ein paar Worten nach ihm umdrehte, sah Narzissa ihre Mutter auf der Treppe sitzen und ihnen nachblicken. Sie winkte ihr zu und die Mutter winkte zurück. Auch Tony hob grüßend seine Hand.

Als sie zurückkam, saß ihr Vater, wie so oft, ehe er zu Bett ging, allein, tiefsinnend mit gebeugtem Kopf in der Küche.

»Wer ist dieser Junge?« fragte er.

»Ach, der Bruder von Agnes Roß«, antwortete Narzissa, als wäre es ganz unwichtig. »Der schöne Besitz an der Monte Vistastraße gehört ihnen.«

»Du hättest dich mit ihm hier im Haus unterhalten können, statt da draußen bei den Weiden.«

»Junge Leute ziehen in Sommernächten das Freie vor«, sagte ihre Mutter, die eben eintrat.

»Ja«, meinte der Vater. »Ja«, wiederholte er und dann fuhr er fort und seine Stimme überschlug sich vor Erregung: »aber für ein anständiges Mädchen ist das Wohnzimmer ihrer Eltern der richtige Platz, um Besuch zu empfangen!«

»Mein Gott!« rief Narzissa. »Was wegen der paar Schritte bis zur Straße für Aufhebens gemacht wird!«

Sie konnte nicht gleich einschlafen. Von ihrem Bett sah sie zu den Sternen empor; das Plätschern im Wasserleitungsgraben, das Säuseln der Weiden lag ihr noch im Ohr. Sie hatten beobachtet, wie der letzte Schimmer vom ›Big Chief‹ gewichen war und gemeinsam das Aufgehen des Mondes bewundert. Tony meinte, dies bedeute Glück und legte seinen Arm um sie. Sie hatte sich ihm entzogen, denn sie glaubte, das nicht zulassen zu dürfen – jetzt noch nicht. In der Erinnerung aber erlebte sie nochmals jede Berührung, jeden Blick, jedes Wort. Langsam waren sie nach Hause geschlendert, ein Stück Arm in Arm; immer mehr Sterne hatten aufgeleuchtet, ein dichtes Netz von Sternen über dem weiten Tal. Als er ihre Hände beim Abschied hielt, lange und fest hielt, hatten Tonys Augen tief in die ihren geblickt.

Sie war schon im Einschlafen, da hörte sie einen Fensterladen, den der Wind bewegte. Träge lag sie da und hoffte, es würde aufhören. »Ach Gott«, rief sie schließlich, ärgerlich aus dem Bett springend, als sie einsah, es bliebe doch nichts anderes übrig, als ihn zu schließen. Sie nahm an, der Lärm käme von dem kleinen Mansardenzimmer, das sie früher bewohnt hatte. Vorsichtig schlich sie die Stiegen hinauf, um ihre Eltern nicht zu wecken, denn sie hörte das Schnarchen ihres Vaters aus dem Schlafzimmer, da erhob sich plötzlich die Gestalt ihrer Mutter, die vor dem Treppenfenster gesessen und nach den Sternen geblickt hatte.

»Ich bin's nur, Mutter«, flüsterte Narzissa. »Aber warum bist du noch nicht zu Bett?« fügte sie hinzu, als sie bemerkte, daß ihre Mutter noch ganz angekleidet war. »Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Nein. O nein«, antwortete ihre Mutter. »Es war nur … ich war noch nicht schläfrig.«

»Und du bist die ganze Zeit hier bei dem Fenster gesessen?«

»Ja«, gab ihre Mutter zu. »Die Nacht ist so wundervoll.«

»Ja, die Nacht ist wundervoll«, wiederholte Narzissa mit einem tiefen Seufzer, immer noch flüsternd, um ihren Vater nicht zu wecken. »Drüben bei den Weiden war es so schön.«

»War es schön, Narzissa?« fragte ihre Mutter und Narzissa war überrascht, denn diese Worte kamen so rasch und erregt, als wären sie von besonderer Bedeutung.

 

III

»Ich will Beß nehmen. Narzissa und ich haben vormittags in der Stadt zu tun.«

Narzissa lag noch im Bett, als sie draußen diese Worte ihrer Mutter hörte, denn an Sonnabenden durfte sie immer länger schlafen. Mutter hatte ihr gar nichts davon gesagt, daß sie mit in die Stadt fahren sollte und Mutter selbst ging so selten zur Stadt – sollte es vielleicht mit dem Tanzfest zusammenhängen? Hatte sie wohl schon mit dem Vater gesprochen?

Sie sprang aus dem Bett und kleidete sich an, während draußen jene Debatte begann, die auf jeder Farm geführt wird, wenn ein Pferd der Feldarbeit entzogen werden soll. Gerade jetzt wäre Bess nicht zu entbehren – wegen der Kartoffeln; vorgestern hätte sie es sagen sollen; nun, vielleicht ließe es sich Montag machen … Die Mutter blieb standhaft. Sie müßte das Pferd diesen Vormittag haben. »Ich benütze es doch wirklich selten genug«, sagte sie schließlich, als es nötig wurde, darauf hinzuweisen. Darin hatte sie so recht, daß der Vater brummend nachgab.

»Was hast du vor, Mutter?«

»Wirst schon sehen«, erwiderte die Mutter fast fröhlich. »Nein, hier«, damit hielt sie Narzissa zurück, die eben nach der Kanne langte, um Milch für ihre Hafergrütze zu nehmen, und holte aus dem Schrank eine versteckte Schale hervor, »hier ist etwas besseres für dich aufgehoben.«

Narzissa runzelte die Stirne, während sie die Sahne über ihren Teller leerte. Es war Mutters Gewohnheit, besondere Bissen für sie zu verstecken. Manchmal wehrte sich Narzissa dagegen. »Ich mag nichts essen, was Vater nicht auch bekommt.« Dann pflegte ihre Mutter zu erwidern: »Nun, ich esse ja auch nicht davon.« Und wenn Narzissa dann fragte, warum gerade sie eine Ausnahme machen solle, meinte Mutter wohl: »Ich bin so glücklich, wenn ich es für dich aufheben kann. Mutter hat so wenig, was sie dir geben kann.« Damit fand sich Narzissa dann stets ab, obgleich sie diese Gewohnheit ihrer Mutter nicht liebte.

»Hast du mit Vater schon gesprochen – wegen Freitag?«

»Nein, ich habe ihn noch nicht gefragt.«

»Ach. Ich habe gemeint, wir gehen vielleicht deswegen in die Stadt.«

»War es nicht bei Carson, wo du die neuen Kleiderstoffe gesehen hast?«

»Mutter! Soll ich ein neues Kleid bekommen?«

»Wär' schon möglich.«

Narzissa sprang auf. Sie hätte ihre Mutter am liebsten umarmt. Warum tat sie es nicht? So selten wurde sie zärtlich, obwohl ihre Mutter sich danach sehnte. Vielleicht war gerade das der Grund, daß sie sich nicht dazu überwinden konnte.

Woher hatte Mutter das Geld? Sie fragte nicht. Oft schon hatte sich ein geheimer Sparpfennig gefunden, wenn Narzissa einen besonders heißen Wunsch gehabt hatte. Oft gab es auch Streit des Geldes wegen. Das haßte Narzissa, denn es sah so aus, als wären sie keine feinen Leute. Mutter sagte manchmal, sie brauche ein neues Kleid oder irgendetwas im Haushalt, weil eben keine Frau ganz ohne Bedürfnisse sei. Dann aber tauchte gewöhnlich das alte Kleid bloß umgeändert wieder auf und es war erstaunlich gewesen, wieviel Ersparnisse zutage kamen, als Narzissas neues Zimmer einzurichten war. Eines Nachts hatte Narzissa zu ungewohnt später Stunde etwas aus der Küche geholt; da sah sie ihre Mutter in Vaters Brieftasche wühlen. Sie tat, als hätte sie nichts bemerkt. Aber es fiel ihr schwer, ihre Mutter deswegen nicht zu verurteilen, obgleich sie wußte, daß es nur für sie geschah.

Als sie Bess in einer Nebenstraße anpflockten, kamen eben zwei ihrer Freundinnen in einem eleganten Zweisitzer an. Ihr eigener Karren sah daneben recht lächerlich aus. Und ihre Mutter trug einen ganz altmodischen Mantel, den einzigen, den sie besaß und der tatsächlich aus Narzissas abgelegtem Mantel zurechtgeschneidert war. Weil sie sich im Geheimen ihrer Mutter schämte – auch ihr Hut war ganz unmodern – machte sie die Mädchen besonders herzlich mit ihr bekannt und hängte sich auch zärtlich in die Mutter ein, als sie zu dem Kaufhaus hinüberschritten.

»Oh, diese wundervollen Farben!« flüsterte die Mutter, während der Verkäufer die neuen Seidenstoffe – grün, rosa, blau und gelb – ausbreitete. Behutsam nahm sie den gelben Stoff in ihre von Küche und Landarbeit rauhe Hand.

»Vielleicht den blauen …?« schlug Narzissa vor.

»Welcher dir am besten gefällt«, doch wieder nahm sie den weichen zartgelben Stoff vor.

»Du bist für gelb, Mutter, nicht?«

»Es wäre aparter. Und,« sie sprach ganz leise, um von dem Verkäufer nicht gehört zu werden, »zu deinem Haar und deinen Augen würde es sich besonders gut machen. Mit einer kleinen Stickerei, ein wenig dunkler, etwa in einem Goldton …«

Nun sah sich auch Narzissa in einem goldschimmernden Gewand, und das Blau und Rosa verblaßten.

»Ich habe sehr viel blau und rosa getragen,« sagte ihre Mutter auf dem Heimweg, »doch ich hatte blaue Augen.«

»Aber du hast doch immer noch blaue Augen«, gab Narzissa lachend zurück.

»Wirklich?« fragte die Mutter.

»Bist du auch tanzen gegangen – du mit dem Vater?«

»Nicht oft«, antwortete die Mutter, wobei sie den Kopf nach der anderen Seite wandte, den Bergen zu, die den Weg gegen Osten versperrten.

»Damals wurde wahrscheinlich noch nicht so viel getanzt. Später hat Vater wohl gar nicht mehr getanzt, nicht wahr?«

»Soviel ich weiß, nicht«, erwiderte die Mutter einsilbig.

»Ich glaube, es muß immer gegen seine Grundsätze gewesen sein.«

Die Mutter sagte nichts mehr.

»Weißt du,« Narzissa lachte, »ich kann es mir bei Vater gar nicht vorstellen – daß er ein Mädchen bemerkt, sich verliebt, einen Heiratsantrag macht … aber es ist ja häßlich, so etwas zu sagen,« fügte sie hinzu, »ein Unsinn, so daherzureden.«

»Nun, vielleicht nicht ganz«, sprach ihre Mutter und es klang recht bitter.

 

IV

»Nein, ich will zu Hause bleiben, damit das Mittagessen schon fertig ist, wenn Ihr zurückkommt«, erklärte ihre Mutter, als man zum Kirchgang rüstete.

Vater liebte das nicht. Er hielt darauf, daß die Familie gemeinsam das Gotteshaus betrete. Doch Mutter schützte oft Müdigkeit oder Kopfschmerzen vor.

Dem Vater war der sonntägliche Kirchgang von tiefer Bedeutung. Narzissa konnte sich nicht daran erinnern, daß er ihn je versäumt hätte, außer wenn die Winterstürme es unmöglich machten, das Tal zu überqueren. Kein Regen, kein gewöhnliches schlechtes Wetter hielten ihn ab. Selbst in ›jenem Winter‹ – ›jenen Winter‹ nannten sie den nach dem Tod ihres Bruders – war Vater in die Kirche gegangen. Damals hatte ihn die Mutter begleitet; ja, sie hatte ihn sogar ankleiden müssen. Die Haarbürste mußte sie ihm in die Hand drücken. »Und jetzt die Schuhe«, so mußte sie ihn erinnern, denn er hätte vergessen, was noch zu tun war.

Selbst jetzt brauchte ihr Vater lange, um für die Kirche bereit zu sein. Schon abends vorher nahm er sein Bad, und Sonntags früh rasierte er sich und stutzte seinen Bart. Jetzt stand er im Hof draußen, um seinen Rock und seine Schuhe zu bürsten. Es wäre zwecklos gewesen, ihn zur Eile zu drängen, auch kam er nie zu spät, weil er schon zeitig früh begann. In seinen knarrenden Sonntagsschuhen merkte man erst recht, wie schwerfällig er durch das Haus schlich.

Narzissa wartete angekleidet in ihrem Zimmer. Sie trug ihren dunkelblauen Rock und die weiße Bluse mit dem gestärkten Kragen, den ihre Mutter tags zuvor geplättet hatte. Es war ihre schönste Bluse, die ihre Mutter immer wieder sorgfältig für sie herrichtete. An ihrem Hut waren Rosenknospen und sie hatte ihre frisch gereinigten grauen Handschuhe an. In einem kleinen roten Geldbeutel verwahrte sie den selbstgesparten Beitrag zur Kirchenspende.

Mutter kam mit einem Meßband herein.

»Oh, wie hübsch du aussiehst, Liebling«, sagte sie. »Ich will noch rasch dein Maß nehmen.«

Narzissa wußte, daß Mutter an ihrem neuen Kleid arbeiten würde, sobald sie gegangen wären, obwohl Vater es nicht billigte, wenn man Sonntags nähte.

»Meinst du, ich sollte auf dem Weg zur Kirche davon beginnen?«

»Nein, keinesfalls am Sonntag. Und überhaupt,« fügte ihre Mutter ärgerlich hinzu, »habe ich dir gesagt, daß du es getrost mir überlassen kannst.«

Narzissa schien dies unsicher und gefährlich, besonders nach dem, was sich am Abend zuvor ereignet hatte. Tony war wieder dagewesen, um die Antwort auf seine Einladung zu holen. Diesmal hatte Narzissa ihn ins Haus geführt, obzwar sie in dem steifen Wohnzimmer nicht so gut mit einander sprechen konnten. Dann hatte sie ihre Mutter geholt, denn das schien ihr geboten, weil sie es in Romanen so gelesen hatte. Und Mutter hatte sich auch ganz so fein benommen, wie die Damen in Romanen, obzwar sie nur in ihrem Hauskleid war. Sie hatte nicht viel gesprochen, doch über ihren Zügen lag ein Schimmer, der niemand darüber im Zweifel lassen konnte, wie schön sie als Mädchen einmal gewesen sein mußte. Ihre Stimme war angenehm, sie mußte einst wundervoll gewesen sein. Zu schade, daß Mutter so hart zu arbeiten hatte und so viel mit sich allein war! Sie war eine Weile bei den jungen Leuten geblieben, nicht zu lang und doch auch nicht so kurz, daß es aussehen konnte, als eilte sie weg. Nachdem sie gegangen war, fiel ihnen das Sprechen leichter als anfangs ehe die Mutter da gewesen war.

Als Tony Abschied nahm, begleitete ihn Narzissa in den Hof. Sie standen noch bei seinem Pferd, vielleicht länger als sie selbst wußten, als sich oben ein Fenster öffnete und der Vater herabrief: »Es wäre schon Zeit, hereinzukommen, Narzissa!« Sie und Tony hatten darüber gelacht, während er sich aufs Pferd schwang; sie hatten sich weiter gar nicht stören lassen, aber Mutter war sehr böse. »Es tut mir wirklich leid, Liebling«, meinte sie zu Narzissa, die dann hörte, wie sie oben dem Vater harte Worte sagte.

Narzissas Gedanken waren nicht ganz beim Gottesdienst, während sie und der Vater das gemeinsame Gesangbuch hielten und stehend sangen: »Ich bin beglückt durch Jesu Liebe.« Narzissas Glück lag auch in Tonys Liebe. Sie war gern in der Kirche, sie fühlte sich dort so erhoben, und selbst wenn eine Predigt sie langweilte, blieb ihr doch das Bewußtsein, Glied einer Gemeinschaft zu sein, die von Grundsätzen und Glauben erfüllt war.

Frau Allen und Frau Waite hatten ihre Plätze ein wenig weiter vorn im andern Kirchenschiff. Frau Waite zu beobachten, wie sie hoch aufgerichtet dastand, war wirklich erhebend: vertrauensvoll schien sie die Liebe Jesu zu fühlen und ihr tatsächlich alles Glück zu danken. Sie war gut gekleidet. Missionsschwestern mußten doch nicht so unvorteilhaft aussehen, wie man sie meist auf Bildern darstellte. Ergreifend schien Narzissa der Gedanke, daß diese Frau, die so stark, sicher und glücklich dastand, nun bald in jene weite Ferne zurückkehren würde, wo sie ihr ganzes Leben all den Kleinen opferte, die ihrer bedurften. Frau Waite war tatsächlich älter als ihre Mutter, aber sie sah um Jahre jünger aus, als hätte Gott sie für ihre heiligen Werke gesegnet. In ihrer Nähe stehen und mit ihr den gleichen Vers singen zu dürfen, empfand auch Narzissa schon als Segen.

Anfangs lauschte sie der Predigt über Johannes, den Lieblingsjünger, doch bald entglitten ihr die Worte der Predigt und sie fand sich wieder mit Tony draußen in der Nacht. Jetzt fühlte sie mehr als damals das Erregende der gedämpft gesprochenen Worte, wenn es auch meist recht alltägliche Dinge gewesen waren, die sie betrafen. Während das eintönige Murmeln des Geistlichen, von dem sie bald nichts mehr verstand, sie immer tiefer in ein wollüstiges Dahindämmern versetzte, träumte Narzissa, mit Tony neben seinem Pferde zu stehen, sich näher und näher an ihn zu schmiegen.

Nur einen Monat war es her, daß sie zum ersten Mal mit ihm gesprochen hatte. Gesehen hatte sie ihn zwar schon früher in der Stadt, und er war ihr immer aufgefallen – vielleicht lag es an seinem indianischen Blut, daß er gegen die andern jungen Leute von Santa Clara so abstach. Seine Haut war sehr dunkel und seine schwarzen lebhaften Augen blickten stets fröhlich. Narzissa hatte gefühlt, daß er sie bemerkte, und wenn sie einander begegneten sah er sie an, als hätte er ihr etwas zu sagen. Doch mit jungen Leuten, die ihr nicht vorgestellt waren, sprach sie nicht.

Dann kam er eines Nachmittags zu der Geburtstagsfeier von Madge Atkins, um seine Schwester abzuholen. Agnes machte sie bekannt, und als Tony ihre Hand drückte, lachten seine Augen sie an, als wären sie schon alte Freunde. Agnes hatte ihn mehrmals zum Fortgehen mahnen müssen, er wollte mit Narzissa immer noch weiter plaudern. Gestern nacht hatte seine weiche und betörende Stimme gefragt: »Narzissa … Narzissa … warum heißen Sie Narzissa?« – »Weil Mutter den Duft der Narzissen so liebte, als sie ein Mädchen war.« – »Und zur Erinnerung daran gab Ihre Mutter Ihnen diesen Namen?« Sie sah, wie sehr dieser Gedanke ihm gefiel. »Ihre Mutter liebte Narzissen und ich – ich liebe Narzissa.« Wie unzählige Male, nachdem sie zu Bett gegangen war, hatte sie sich diese Worte wiederholt und jetzt tat sie es wieder, mit allen Schattierungen seiner Stimme, mit der Erinnerung an seine Augen, deren Blicke sich in die ihren versenkt hatten, als er sich vom Pferd herabbeugte, um ihr Gute Nacht zu sagen.

»Preiset Gott, den Herrn, von dem aller Segen kommt!« sang Narzissa und blickte inbrünstig zu Frau Waite hinüber, die inbrünstig mitsang.

Viele umdrängten die heimgekehrte Missionärin, doch die hatte Narzissa erblickt und kam auf sie zu. »Wie geht es denn heute unserm kleinen Mädelchen?« – ›Unser‹ sagte sie immer, als wollte sie damit Mutterrechte geltend machen. Auch den Vater begrüßte sie liebenswürdig: »Und wie geht es Ihnen heute morgen, Bruder Evans?« fragte sie mit ihrer fröhlichen Stimme, als wäre ihr die Antwort tatsächlich wichtig. Vater liebte dies und bemühte sich sogar witzig und galant zu sein: »In diesem Augenblick durchaus nicht schlecht«, sagte er, ihre Hand schüttelnd. Frau Waites anerkennendes Lachen tat ihm wohl, und er begrüßte die anderen lebhafter als es sonst seine Art war.

»Und die Mutter ist nicht ganz wohl?« fragte Frau Allen liebenswürdig, wie sie immer zu Mutter war, obgleich Narzissa zu fühlen meinte, daß sie mit Mutter nicht ganz einverstanden sei. »Mutter war so müde«, erwiderte Narzissa.

Während der Heimfahrt sprach sie wenig mit dem Vater. Sie waren daran gewöhnt, zusammen zu sein, und es störte sie nicht, wenn Pausen in ihrem Gespräch entstanden. Er sagte etwa, daß das Getreide in gutem Stand oder daß Regen nötig wäre, und dann blieb er wieder stumm, ohne daß es sie verlegen machte. Narzissa lehnte in ihrer Wagenecke, sah über das Tal hinweg und dachte an Tony, und es schien ihr ganz natürlich, mit ihrem Vater von der Kirche heimzufahren und an Dinge zu denken, von denen sie nicht sprechen mochte. Sie war es seit jeher gewohnt.

Narzissa sagte, Frau Waite sei »so entzückend«. – »Ja, die ist eine wahrhaft christliche Frau«, erwiderte der Vater darauf, wie immer, wenn von ihr die Rede war. Und nach einer Weile fügte er hinzu: »Es ist immer besser, seine Freunde in seiner eigenen Gemeinde zu suchen. Dann weiß man, wer sie sind, und daß sie die gleiche Einstellung zu den Dingen haben, wie man selbst.« Dies zielte natürlich auf Tony. Narzissa mußte lächeln, als sie die jungen Leute ihrer Gemeinde mit Tony verglich.

Mutter war voll hastiger Tätigkeit, als hätte sie vieles nachzuholen; das Mittagessen war noch nicht fertig. Aber als Narzissa in ihr Zimmer trat, erblickte sie auf dem Bett ein gelbschimmerndes Häuflein, das von einem darübergebreiteten Tuch nicht ganz verdeckt wurde. Natürlich hatte Mutter hier gesessen und an ihrem Kleid gearbeitet! Und wie entzückend sie es gemacht hatte! Als sie ihre Sonntagskleidung abgestreift hatte, hielt Narzissa das neue gelbe Kleid an ihre Schultern. So hatte sie noch nie ausgesehen, sie war schön! Jubelnd sang sie: »Heilig, heilig, heilig ist der Herr, unser Gott!« und ging, der Mutter beim Anrichten zu helfen.

 

V

Später, viel später, schienen Narzissa diese Tage, in denen sie mit der Mutter an dem Kleid für den Ball arbeitete, die schönsten, die sie überhaupt zusammen verlebt hatten. Es war keine leichte Arbeit, sie mußten ja alles mit der Hand nähen und auch sticken, denn es bekam wirklich einen Aufputz in einem dunkleren, goldfarbenen Gelb. Gewöhnlich arbeiteten sie in Narzissas Zimmer, sobald Vater schlafen gegangen war. Narzissa sprach dann sogar von Tony. Fand ihre Mutter ihn nicht auch bezaubernd, hatte er nicht eine schöne Stimme? Er war – oh, irgendwie etwas Besonderes. In einigen Wochen sollte er mit der Schule fertig sein. Die Mutter fragte, was er dann beginnen wolle, und Narzissa berichtete von Tonys Onkel in Kalifornien, der einen Weingarten und Olivenbäume besaß und wünschte, daß Tony zu ihm komme und bei ihm arbeite. Tony hatte auch die Absicht, es zu tun, denn er sah darin eine gute Zukunft. »Und neulich fragte er mich … er fragte mich …«, Narzissa konnte sich nicht zurückhalten, es zu erzählen, obwohl sie fühlte, wie glühend rot sie dabei wurde und sich bemühte, es nur als Scherz hinzustellen, »… meinen Sie, daß es Ihnen in Kalifornien gefallen würde, Narzissa? – Warum mag er nur gedacht haben …«

Sie sprach den Satz nicht zu Ende, denn sie sah, wie die Hände ihrer Mutter sich krampfhaft zusammenpreßten. »Oh, Mutter,« rief Narzissa, erschreckt von dem Ausdruck in den Augen ihrer Mutter, »gräme dich nicht, ich bin ja noch nicht fort!«

»Und meinst du, daß es dir in Kalifornien gefallen würde?« fragte die Mutter, nachdem sie durch einige Zeit wortlos noch mehr Goldfaden in den blaßgelben Stoff gezogen hatten, wieder ganz ruhig. Aber ihre Augen hob sie nicht von der Arbeit, als sie dies fragte.

»Ja,« meinte Narzissa, »ich … ich weiß es noch nicht.«

Wind stürmte gegen das Haus. In jener Nacht sprachen sie nicht mehr viel miteinander.

Am nächsten Abend erzählte die Mutter so viel von ihrer Jugendzeit, wie nie vorher.

»Große alte Bäume beschatteten den Bach. Bis in mein Zimmer konnte ich sein Plätschern hören. Gras und Blumen strömten wundervollen Duft aus. Ja, Illinois ist ein reiches Land. Jeder Spatenstich legt schwarze fruchtbare Erde bloß, anders als hier. Und nachts braust der Wind durch die Bäume – dort war der Wind nicht so feindlich wie hier, er klang schön, wie eine große Orgel.«

»So glücklich bist du zu Hause gewesen, Mutter?«

»Ja.«

»Mutter … wenn du darüber sprechen magst … warst du … hast du andere Verehrer gehabt vor deiner Heirat?«

Zuerst schien es, als wollte die Mutter nicht darüber sprechen. Dann erwiderte sie: »Ja, Narzissa.«

Es war zu traurig, daß Mutter ihre Heimat nie wiedergesehen hatte. Bei der Liebe, mit der sie an ihr hing, mußte sie schwer darunter gelitten haben. An alles erinnerte sie sich noch, sogar an den Hund. Patsy wurde er gerufen. Vater war zweimal in der alten Heimat gewesen, das erstemal als Narzissa noch ganz klein war; von Geld ausleihen war damals die Rede; und dann nochmals vor drei Jahren, als sein Vater starb und seine Sachen verkauft werden mußten. Damals sollten Narzissa und die Mutter mitfahren. Im letzten Augenblick erst hatte die Mutter gesagt, sie könnte nicht. Narzissa war enttäuscht und böse darüber. Während ihres Alleinseins bekam es die Mutter zu fühlen.

»Werden wir wohl einmal dahin zurückkehren?« fragte Narzissa jetzt. »Um den Bach zu hören und die Narzissen zu sehen?«

»Ich hoffe, daß ich eines Tages mit dir zu meinem Bach und meinen Narzissen zurückkehren werde.«

Mutters Stimme – leise, doch fest und zuversichtlich – klang, als ob sie nicht alles sagte. Die Worte, der Ton ließen Narzissa zur Mutter aufblicken. Sie hatte ihr einfaches Hauskleid aus Kattun an, das sie immer trug: ihr Haar war glatt zurückgestrichen. Sie war zart und gebeugt. Ihr Gesicht war schmal, doch wenn sie sich nur ein wenig gepflegt hätte … es lag etwas in ihren Augen … da war ein Zug um den Mund … Sie sah nicht aus wie die Leute hier in der Gegend. Oft wünschte Narzissa, daß ihre Mutter mehr so aussehen sollte, wie die Mütter der anderen Mädchen. Aber manchmal und jetzt wieder, lag es wie ein Schimmer über ihr – war es Schönheit, war es Entrücktsein? Narzissa wußte es nicht zu deuten.

Mutters Eltern waren beide gestorben. Ihr Vater erst im vergangenen Jahr. »Möchtest du nicht hinreisen?« hatte Narzissas Vater gefragt, als die Nachricht kam, daß Großvater Kellogg nur noch wenige Tage zu leben hätte. Mutter hatte lange überlegt und dann Nein gesagt. Doch in jenen Tagen sprach sie kaum ein Wort.

Onkel Willi, Mutters Bruder, wohnte jetzt mit Frau und Kindern im Elternhaus. Mutters Schwester Rosie lebte in der Stadt. Manchmal schrieb sie, nicht oft. Nachts, wenn sie zusammen nähten, erzählte die Mutter gerne von ihrer jüngeren Schwester und ihrem ›kleinen‹ Bruder.

Mittwoch abend begann dann der Verdruß. Das Kleid war fertig und Narzissa hatte es anprobiert. Oh, es war himmlisch! Sie war ganz aufgeregt und auch Mutter war aufgeregt. In Narzissas Zimmer war es zu kalt geworden, darum gingen sie in die Küche. Sie vergaßen ganz, sich ruhig zu verhalten, um den Vater nicht zu wecken. Da hörten sie ihn auch schon die Treppe herunterkommen! Mutter hatte die Lampe auf den Fußboden gestellt, um die Länge des Kleides zu messen. »Geh' schnell in dein Zimmer!« flüsterte sie Narzissa zu, doch ehe sie noch Zeit fand, die Lampe aus dem Weg zu räumen, öffnete der Vater schon die Tür. Er kam mit seiner Nachtlampe in seinem langen Nachthemd.

»Was geht denn hier unten vor …?« begann er böse. Dann sah er Narzissa und starrte sie wortlos an.

»Wie gefällt dir mein neues Kleid, Vater?« fragte sie.

»Wozu soll das?«

»Für ein Schulfest«, antwortete die Mutter. »Jungen und Mädels der Schule geben ein Fest«, fügte sie hinzu, während Narzissa sie verwundert ansah.

Das Kleid war nahezu ärmellos, mit tiefem Halsausschnitt, wie Narzissa es sich gewünscht hatte.

»So wie es ist, wirst du es doch nicht tragen?« fragte er.

»Es ist ja ein Abendkleid«, erklärte Narzissa.

»Entweder,« damit wendete sich der Vater zur Mutter, »dieses Kleid wird geändert, daß es nicht so schamlos aussieht oder Narzissa verläßt damit nicht das Haus.«

»Aber natürlich,« Narzissa war außer sich, als sie ihre Mutter dies sagen hörte, »wenn du darauf bestehst, wird das Kleid Ärmel bekommen und am Halse geschlossen werden.«

»Ja!« schrie er. »Ich bestehe darauf!« Narzissa fürchtete für die Lampe, so heftig zitterte seine Hand. »Ich bestehe darauf!« wiederholte er, während er sich zur Treppe zurückwandte.

»Jetzt ist alles verdorben!« jammerte Narzissa. »Ärmel und bis oben geschlossen – wie wird das aussehen!«

»Kränk' dich nicht, Liebling! Es liegt ja nichts daran. Begreifst du denn nicht?« sagte ihre Mutter sanft. »Das alles wird ja bloß angeheftet, damit du dich dem Vater damit zeigen kannst und dann trennen wir's wieder ab.«

Narzissa wollte kaum ihren Ohren trauen. Allerlei stürmte auf sie ein: Erleichterung; Bewunderung, denn sie selbst wäre nicht auf diesen Gedanken gekommen, zumindest nicht so schnell; Mißbehagen – ja, wenn sie diesen Einfall gehabt hätte, aber daß eine Mutter einen solchen Ausweg ihrer Tochter wies, war doch recht ungewöhnlich …

Sie hörten ihn nochmals die Treppe herunterkommen.

»Pst«, warnte die Mutter. »Sprich nicht viel, laß mich …«

»Um was für ein Fest handelt es sich?« fragte er.

»Es ist ein Tanzfest«, erwiderte Narzissa.

»Ein – Tanzfest? Ich meinte, du wärest gottesfürchtig?«

»Alle Mädchen tanzen heutzutage«, sagte ihre Mutter.

»Weil andere unrecht tun – ist das eine Rechtfertigung?«

»Aber Vater, tanzen ist doch kein Unrecht«, warf Narzissa ein. »Die Zeiten haben sich eben geändert.« Was sie sagte, klang vernünftig und er wurde ruhiger. Doch plötzlich fragte er weiter:

»Und wer geht mit dir?«

»Tony«, antwortete Narzissa.

»Der Bursche, der hier herumschleicht? Wir wissen ja nichts von ihm.«

»Aber ich weiß genug von ihm«, erwiderte Narzissa. »Seine Schwester ist meine Freundin. Ich weiß, daß sie aus einer angesehenen Familie sind, und daß er selbst ein anständiger Mensch ist.«

»Ich werde mich danach erkundigen«, sagte ihr Vater.

»Was kümmert das dich?«

Narzissa schnellte zu ihrer Mutter herum. War es möglich, daß sie diese Worte wirklich gesagt hatte? Eine peinliche Stille lag zwischen Vater und Mutter. Seine Hand, die die Lampe hielt, bebte. Keines von beiden sprach ein Wort, bis ihre Mutter endlich sagte:

»Geh' zu Bett, Narzissa.«

 

VI

Ihr Vater war schon auf dem Feld, als Narzissa am nächsten Morgen erwachte. Sie war sehr ärgerlich, denn nun hatte die Mutter alles verdorben. Heute war Donnerstag. Morgen abend sollte das Fest sein und nach dem, was sich gestern zugetragen hatte – wie der Vater nur dagestanden und auf die Mutter geblickt hatte, als die fragte: »Was kümmert das dich?«! – gab es keine Hoffnung mehr, ihn ›herumzukriegen‹. Alles war jetzt verloren! Das Kleid hatte sie wohl, aber was nützte es ihr! Verdrießlich schob sie die Sahne, die die Mutter für sie beiseite gestellt hatte, von sich. Daß Mutter auch noch so töricht zu trösten versuchte: »Mach' dir nichts d'raus, Liebling. Mach' dir nichts d'raus!« Wütend brummte Narzissa diese Worte vor sich hin, während sie sich auf den Schulweg machte.

Ihr Vater war in der Stadt. Mittags sah sie ihn aus der Bank kommen. Sie gab sich alle Mühe, von ihm nicht bemerkt zu werden, denn sie war ›böse mit ihm‹. Die größere Schuld gab sie aber doch ihrer Mutter, die die Sache so verfahren hatte.

Die Mädchen hatten von nichts anderem als von dem Fest gesprochen und Narzissa hatte mitgesprochen, ob es ganz fraglos wäre, daß auch sie es besuchen würde. Dies gab ihr schließlich das Gefühl, als ob sie wirklich noch daran teilnehmen sollte, und den ganzen Nachmittag grübelte sie darüber nach, was sie ihrem Vater noch sagen könnte.

Nachdem sie fast wortlos ihr Abendbrot verzehrt hatten, begann er aber selbst davon:

»Ich will hoffen, daß dir an dem jungen Laffen nicht allzuviel liegt, Narzissa.«

»An was für einem jungen Laffen?« fragte Narzissa kühl.

»Oh, du weißt schon. An Tony Rossi.«

»Meinst du etwa Tony Ross?« Narzissa lachte.

»Sein wirklicher Name ist Rossi – italienisch.«

»Na, ich sollte doch meinen, daß ich am besten weiß, wie sein Name ist! Ich kenne seine Schwester nicht erst seit gestern!«

»Aber in der Bank nimmt man es ein bißchen genauer«, bemerkte ihr Vater. »Sie heißen Rossi, nennen sich aber Ross. Wollen als Amerikaner gelten.«

»Als Amerikaner gelten wollen – ist das etwas Schlechtes? Ich habe dich nicht darum ersucht, zur Bank zu laufen, um über meine Freunde Erkundigungen einzuholen! Schließlich bin ich doch achtzehn Jahre alt!«

»Und wärst nicht das erste Mädchen von achtzehn – selbst von neunzehn Jahren, das man vor … Irrtümern bewahren muß!«

Selbst in ihrer Erregung konnte Narzissa den leisen Ausruf nicht überhören, den ihre Mutter tat und der so sonderbar klang.

»Mich bewahren!« höhnte Narzissa. »Du sprichst, als ob … Und wenn er schon einen italienischen Namen hat, was ist dabei? Daß sein Vater ein Ausländer ist, habe ich gewußt. Was tut das?«

»Vor allem ist er katholisch.«

»Nun, ich bin nicht so engherzig, zu verlangen, daß alle meine Freunde in meine Kirche gehen müssen.«

»Einen Katholiken kannst du nicht heiraten.«

»Wer spricht denn vom Heiraten?«

»Es ist nicht in Ordnung, daß ein junges Mädchen mit einem Mann ausgeht, den sie nicht heiraten kann.«

Ihre Mutter, die hinter Narzissa saß, blickte den Vater starr an. Er sah aber nicht nach ihr hin, selbst jetzt nicht, als sie sich geräuschvoll von ihrem Stuhl erhob. »Und noch dazu ist er ein Mischling.«

»Du meinst seine Abstammung?« Narzissa lachte wieder. »Indianerblut – aber schon recht verdünnt.«

»Es liegt nicht so weit zurück. Ich habe mir Mühe gegeben, alles zu erfahren. Sein Großvater stammte aus dem Osten, kam mit den ersten Ansiedlern hierher und erwarb Land. Seine erste Frau starb und er nahm eine Squaw. Das war die Großmutter dieses jungen Mannes, eine Squaw – daher sein Indianerblut. Deren Kind, die Tochter jenes Einwanderers mit der Squaw, heiratete den Vater dieses jungen Mannes: Antonio Rossi. Und weißt du vielleicht, was der gewesen ist? Ein italienischer Arbeiter.«

»Ich glaube, wir alle sind doch Arbeiter, nicht?« wehrte sich Narzissa mit glühenden Wangen, denn der Ton ihres Vaters begann sie immer mehr zu reizen. »Ihr Haus ist viel schöner als unseres! Haben wir vielleicht ein Auto? Auch gekleidet sind sie besser als wir – das kann ich dir sagen!«

»Und woher haben sie das Geld, um sich besser zu kleiden? Das will ich dir sagen, wenn du es nicht weißt. Mit der Barschaft, die ihm sein Halbblutweib einbrachte, hat der italienische Abenteurer eine Schenke aufgemacht. Drüben, hinter den Bergen. Arme Narren gibt es immer genug, die sich bereit finden, für einen Schluck Branntwein ihre paar Münzen herzugeben, die sie besser für ihre Familie und die Kirche verwenden würden. Nachdem sie dort drüben genug verdient hatten, zogen sie in dieses Tal, erwarben hier Land, ließen ihre Kinder unterrichten …«

»Und wie!« rief Narzissa. »Sogar im College wurden sie erzogen!«

»Ganz richtig, im College. Vielleicht wird man auch mit der Zeit ihre Vergangenheit vergessen. Ich wünsche es ihnen. Aber wenn du darüber nachdenkst, wirst du es wohl selbst einsehen – vorläufig ist das keine Gesellschaft, in die du hineinpaßt.« Im Augenblick fand Narzissa keine Erwiderung. Ihr Vater fügte hinzu: »Was meinst du, würde Schwester Waite davon halten?«

Plötzlich stand die Mutter zwischen ihr und dem Vater, die Hände schwer auf den Tisch gestützt, vornübergelehnt. Nie vorher hatte sie ihre Mutter so gesehen. Dunkles Rot glühte auf ihren Wangen und ihre Augen schossen Blitze. Narzissa war ganz erschreckt.

»Schwester Waite! Schwester Waite! Du und die Missionärin – ihr zwei werdet bestimmen, was meine Tochter zu tun hat?«

Ihr Vater blickte auf die Mutter, dann sah er zu Boden und rückte ein wenig beiseite. Narzissa hatte das Gefühl, als müßte sie ihm beispringen, als sollte sie sagen, daß er natürlich über ihr Tun und Lassen zu bestimmen habe – doch das hätte wieder die Mutter verletzt, ohne deren Unterstützung das Tanzfest für sie verloren war. So schwieg sie.

»Hier ist keine Rede von heiraten«, fuhr ihre Mutter ruhiger fort, »hier handelt es sich um eine Unterhaltung. Diese jungen Leute – Tony und seine Schwester – stehen bei der ganzen Stadt in Ansehen. Sie gehören zu den besten Kreisen, die es hier gibt. Narzissa vergibt sich gar nichts, wenn sie mit ihnen ausgeht. – Du kannst das Tanzfest ruhig besuchen, das sage ich dir, Narzissa.«

Wie sie zitterte, die Mutter! Ihr Vater erhob sich und blickte die Mutter voll an. Sein Kopf zuckte vor und rückwärts, als hätte er einen Schlag ins Genick bekommen.

»Das habe ich zu bestimmen!« Seine Stimme überschlug sich mehr denn je. »Leugne das, wenn du kannst! Ich kenne meine christliche Pflicht und ich sage: Nein! Hast du es gehört? Nein! So wahr dies mein Haus und Gott mein Richter ist; ich sage nein!« Nicht zu ihr, zu ihrer Mutter sprach er.

Erschreckt sah Narzissa, wie die beiden einander drohend gegenüberstanden.

»Was für eine Szene wegen des bißchens Unterhaltung! Anderen Mädchen macht man es nicht so schwer, sich … sich …« Sie begann zu schluchzen, ihre Mutter ging auf sie zu, doch Narzissa wich vor ihr zurück. »Gut, ich werde eben zu Hause bleiben! Immer! Wäre ich nur schon alt! Wäre ich nur schon tot! Dann wäre alles … alles …« In einem wilden Schrei fügte sie hinzu: »Warum bin ich überhaupt auf die Welt gekommen!« und brach in lautes Weinen aus. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht und stürmte aus dem Zimmer, in dem ihre Eltern – ganz still jetzt – zurückblieben.

 

VII

Am nächsten Tag in der Schule entwarf Narzissa den Brief, den sie Agnes Ross für Tony mitgeben wollte. »Lieber Tony. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie leid es mir tut, aber es ist mir nicht möglich, das Fest zu besuchen. Mein Vater ist leider ein wenig altmodisch …« Nein, das war lächerlich. »Bitte verzeihen Sie, daß ich Sie nicht früher verständigt habe, doch ich selbst weiß erst seit gestern abend …« Auch nicht. »Lieber Tony. Ich kann nicht mit Ihnen tanzen gehen. Mein Vater erlaubt es nicht. Er verurteilt den Tanz. Mit gebrochenem Herzen …« Nein, das war ganz unmöglich! Und so fand sie jeden Entwurf entweder zu unpersönlich oder zu herzlich, nichtssagend oder übertrieben. Und schließlich gab sie Agnes gar keinen Brief mit und war darüber erst recht unglücklich, denn Tony ohne Nachricht zu lassen, schien ihr am schlimmsten.

Dann kamen wieder Augenblicke, in denen sie sich in dem gelben und goldenen Kleid mit Tony tanzen sah, Augenblicke, in denen sie ihren ganzen Jammer vergaß. Ganz unbegründete Hoffnung milderte ihre Verzweiflung. Es kam doch meistens besser, als man fürchtete! Mutter würde vielleicht doch noch etwas ausfindig machen. Ihre Art, zum Vater zu sprechen, hatte Narzissa zwar empört, doch sie setzte immer noch alle Hoffnungen auf sie, bereit, selbst aus dem, was sie verurteilen mußte, Vorteil zu ziehen.

Der peinliche Eindruck, den die Enthüllung auf sie gemacht hatte, daß Tonys Vater ein italienischer Schenkenwirt und seine Mutter ein Mischling gewesen war, verflüchtigte sich, als sie Agnes Ross in der Schule im Kreise der anderen Mädchen traf. Agnes war ein liebes Mädchen, eine Dame. Sie war besser gekleidet als alle andern. Sie sollte das Fest abends mit Ray Lewis besuchen, dessen Vater Präsident der Bank war, von der Narzissas Vater und alle Leute das Geld borgten. Ja, die Herren der Bank! Was fragten die danach, ob ein Name einmal ein ›i‹ am Ende gehabt hatte? Und war man denn überhaupt für die Vergangenheit seiner Familie verantwortlich? Nur das zählte, was man selbst getan hatte. Das war doch der Grundzug allen amerikanischen Wesens! So dachte Narzissa. Und doch erhob sich auch in ihr selbst immer wieder ihres Vaters Frage: »Was würde Schwester Waite davon halten?«. Aber in diesem Widerstreit ihrer Gefühle, in dem Bewußtsein, die öffentliche Meinung gegen sich zu haben, einen Teil ihres eigenen Gewissens gegen sich zu haben, siegte schließlich nur die Erinnerung an Tonys Arm, der sie umfaßt gehalten, an seinen Blick, der sich in den ihren gesenkt hatte … An diesem Tage hing sie Gedanken nach, wie sie ihr in der Schule noch nie gekommen waren. Über ihre Hefte geneigt, träumte sie, mit ihm zu tanzen und nach dem Tanz mit ihm allein den langen Weg nach Hause zu fahren …

Als Narzissa aus der Schule heimkam, war ihre Mutter im oberen Stockwerk. Liebevoll wie immer rief sie herunter: »Bist du's, Narzissa? Wie geht's, Liebling?« In der geöffneten Türe ihres Zimmers starrte Narzissa gebannt auf das Bett. Das neue Kleid lag dort, geplättet, ausgebreitet, fertig zum Anziehen. Daneben Wäsche, Strümpfe, Schuhe!

»Mutter!« rief sie, die Treppe hinaufstürmend, »warum sind alle meine Sachen vorbereitet?«

»Ja, ist denn nicht heute der Ball?«

»Aber Vater …«

»Vater ist nicht zu Hause. Er ist mit Scott nach South Ridge. Die Rinder sind dort erkrankt. Vor zehn Uhr nachts kann er nicht zurück sein.«

Sie ging also doch! Ging doch zu dem Fest! Dann kamen ihr wieder Bedenken:

»Aber Vater hat es doch verboten.«

»Und ich habe es erlaubt.«

Narzissa stand nachdenklich da, unentschlossen; eigentlich mißbilligend. Sie selbst – ja, sie konnte dem Vater trotzen, ihn hintergehen, das kam wohl vor bei Kindern, und nachher war es einem leid; aber daß ihre Mutter es tat und noch dazu mit einer solchen Selbstverständlichkeit, das ging über ihr Verständnis und sie wußte nicht, wie sie sich dazu stellen sollte.

»Ja, aber was wird er morgen dazu sagen?«

»Darüber mach' dir keine Sorgen. Ich übernehme die Verantwortung. Hör' zu, Liebling,« fügte sie hinzu, da Narzissa noch etwas sagen wollte, »von diesen Dingen versteh' ich mehr als dein Vater. Er ist in solchen Sachen ein wenig … eigen, doch ich werde nicht zulassen, daß er dir jede Freude verdirbt.«

Warum war Narzissa ihrer Mutter nicht dankbarer? Sie wunderte sich selbst darüber. Jetzt konnte sie also trotz allem mit Tony gehen und doch war sie mehr auf Vaters Seite. Es war nicht recht, ihn so zu hintergehen! Nun, sie wollte es nie wieder tun. Gleich heute abend wollte sie Tony sagen, daß ihr Vater gegen Tanzunterhaltungen war! Heute mußte sie ja noch gehen, weil sie ihm nicht abgesagt hatte. Und dies hatte sie nur deshalb nicht getan – so täuschte sie sich jetzt selbst – weil sie immer noch damit gerechnet hatte, ihr Vater würde anderen Sinnes werden. Nun war er nicht zu Hause, um anderen Sinnes zu werden, darum blieb ihr nichts übrig, als sich mit Mutters Erlaubnis zu begnügen.

Fünf Minuten später war sie schon voll Erregung inmitten aller Vorbereitungen zu dem Tanz. Sie sprang durch das ganze Haus, sie lachte und sang, während sie ihr Bad nahm. Mutter war auch ganz aufgeregt. Mit dem gleichen Eifer wie Narzissa selbst, war sie dabei, ihre Tochter schön zu machen.

»Und beim Nachhausekommen,« warnte die Mutter, »verhaltet euch nur so still als möglich. Am besten, ihr laßt den Wagen auf der Chaussee draußen und kommt zu Fuß herüber. Du kannst ja Tony sagen, daß Vater es nicht mag, wenn du zu lange aus bist, und daß du nicht gesagt hättest, wie spät es werden würde.«

»Aber Mutter …!« Narzissa war ganz verwirrt.

»Nun, was liegt denn daran, Liebling, laß dir dadurch nicht den Abend verderben. Viele Väter sind so streng und es sind immer die Mütter, die die Mädchen besser begreifen und ihnen helfen. – Du bist entzückend, Liebling!« Ihre Mutter trat ein paar Schritte zurück, um sie zu betrachten. Tränen standen in ihren Augen, während sie murmelte: »Narzissa! Unser liebes kleines Mädchen!«

»Sehe ich hübsch aus?« Narzissa machten die Tränen ihrer Mutter verlegen, doch in ihrer erwartungsvollen Erregung dachte sie nicht lange darüber nach. »Ja? Mutter, sehe ich wirklich hübsch aus?« Sie drehte sich nach allen Seiten. Dann sagte sie: »Ohne dich, Mutter, hätte ich dieses Kleid nie bekommen.« Und sie tat, was sie so selten über sich brachte, sie umschlang ihre Mutter mit beiden Armen. »Alles tust du für mich, Mutter, du bist so gut zu mir.«

Einen Augenblick lehnte die Stirn ihrer Mutter gegen Narzissas Wange. Naomi weinte, doch ganz stille Tränen. »Wenn ich dir nur alles, alles auf der Welt geben könnte!«

Für Automobile war der Weg nach ihrem Haus nicht fahrbar, darum kam Tony mit dem Wagen. Sie hörte den Hufschlag.

»Oh!« Der Ausruf entfuhr ihm, als er sie sah, er behielt ihre beiden Hände, die sie ihm glückstrahlend entgegengestreckt hatte, in den seinen, stand da, blickte sie staunend an und sagte immer wieder: »Oh!« bis sie zu lachen begann. Er schien wenig anderes sagen zu können. Keinen Blick konnte er von ihr wenden, und selbst als ihre Mutter zu ihm sprach, ließ er Narzissa nicht aus den Augen.

Mutter stand unter der Türe, als sie im Mondschein davonfuhren. »Leb' wohl, liebste Mutter!« rief Narzissa zurück. »Ich will schon gut auf sie acht geben, Frau Evans«, schrie Tony und sie lachten beide, denn sie waren erregt, sie waren glücklich.

 

VIII

»Oh, ich muß ganz still sein! Vater wütet, wenn ich spät heimkomme.« Sie hatte ganz vergessen, dies schon bei der Chaussee zu sagen. Sie fuhren so langsam, wie es dem Pferd gefiel, Tony hielt die Zügel nur in einer Hand, der andere Arm lag um Narzissa und ihr Kopf lehnte an seiner Schulter. Es war der glücklichste Abend ihres Lebens gewesen. Sie hatte gefühlt, wie stolz Tony auf sie gewesen war; selbst inmitten der vielen schönen Kleider hatte sie geglänzt. Jetzt wußte sie auch, daß sie eine gute Tänzerin sei; sie war dessen nicht sicher gewesen. Tony hatte um seine Tänze geradezu kämpfen müssen und er hatte es erbittert getan. Die meiste Zeit hatten sie miteinander getanzt. Berauscht von Triumphen, die ihr neu waren, von einer Verliebtheit, die ihr neu war, fand sie sich nach Schluß des Festes im Spiegel des Ankleideraumes einer Narzissa Evans gegenüber, die sie nie zuvor gesehen hatte. Diese neue Narzissa erregte sie nicht weniger, als das andere Neue sie erregt hatte; ihr war, als sollte jetzt erst das wahre Leben beginnen.

Die Heimfahrt zu zweit durch das duftende Tal … die traumhafte Stille der Nacht … das Funkeln der Sterne über ihnen … Tonys nahes Geflüster – ja, das war Liebe und schöner als alles, was sie erwartet hatte!

Mit gedämpften Stimmen lachten sie über Vaters ›Wüten‹. Tony begleitete sie an die Hintertür, von wo sie ihr Zimmer am raschesten erreichen konnte. »Gute Nacht«, flüsterte sie, doch es gab noch viele andere Gute-Nacht-Wünsche und ein geflüstertes: »Oh, Narzissa – Narzissa – du Liebste!« und ein gehauchtes: »Tony!« – Schließlich einen Kuß, der nicht mehr so schüchtern war, wie jene wenigen Küsse auf der langsamen Fahrt nach Hause, in der Sternennacht.

Das Pferd war des langen Wartens müde. Es wieherte, scharrte und stampfte, traf Anstalten umzukehren und Tony mußte es durch ein lautes »Hoa!« beruhigen. Narzissa erschrak und schlüpfte eilig ins Haus. »Jetzt aber schnell fort – und ganz still, nur ganz still!« flüsterte sie Tony von der Schwelle aus zu und floh in ihr Zimmer.

Doch der kleine Wagen mußte rückwärts geschoben werden, um wenden zu können. Das Pferd war nervös, Tony mußte ihm beruhigend zusprechen. Wie ein gewaltiges Lärmen drang seine Abfahrt in die Stille, und Narzissa hörte zu ihrem Schrecken auch schon das Öffnen eines Fensters und die Stimme ihres Vaters: »Was gibt's? Wer ist da?« Dann war ihre Mutter zu vernehmen, die ihn zu beruhigen, ihm einzureden suchte, es sei nichts. Aber er war mißtrauisch. Er kam die Treppe herab!

Narzissa hatte ihren Mantel abgelegt, hatte schnell aus dem Kleid schlüpfen wollen, um jedem Verdruß vorzubeugen. Es blieb ihr keine Zeit mehr, schon klangen seine Schritte vor dem Zimmer. »Narzissa!« rief er, während er statt zu klopfen gegen die Türe schlug und diese auch schon öffnete. Vom Tisch her leuchtete die Lampe, die ihre Mutter für sie hatte brennen lassen. Er war sprachlos, als er sie da stehen sah, und Narzissa hätte in ihrer Erregung fast aufgelacht, wie sie ihn, mit offenem Mund, in seinem Nachthemd auf sich starren sah, während sein Bart zu zittern begann. Sie wußte, daß sie noch erhitzt war, mit wirrem Haar vom Tanz, den er verboten, im Abendkleid, das er mißbilligt hatte.

»Es tut mir leid, wenn ich dich gestört habe, Vater.«

»Oh!« schrie er. »Leid, daß du mich gestört hast?«

»Du warst nicht zu Hause, um – es nochmals zu besprechen. Ich konnte nicht glauben, daß du wirklich meintest …«

»Konntest du nicht – wie?« Er faßte ihren Arm. »Vielleicht ist es nötig, du fühlst, was ich meine!« Er hielt ihre beiden Arme und schüttelte sie. »Prügel verdienst du. Bei Gott, die sollst du haben! Dieses Haus will ich mir rein halten.«

»Laß meine Tochter los!« Ihre Mutter hatte sich auf ihn gestürzt und schlug nach seinen Händen. Er ließ von Narzissa ab. »Verlass' dieses Zimmer!« Ihre sonst leise Stimme war heftig. Sie stand da, als wollte sie ihn schlagen; einen Augenblick schien es, als könnte Schreckliches geschehen.

»Willst du, daß sie den gleichen Weg geht, den du gegangen bist? Willst du das?«

»Ich will nicht, daß sie ein Leben führen muß, wie ich es hinter mir habe.«

Narzissa verstand sie nicht. Es schien sich um mehr zwischen den beiden zu handeln, als gerade nur um diesen Abend. Sie bekam Angst.

»Das können wir zwei allein besprechen«, sagte ihre Mutter jetzt ein wenig gefaßter. »Für Narzissa ist es Zeit, zu Bett zu gehen.«

»Das meine ich auch!« Er sah nach der Uhr auf Narzissas Ankleidetisch. »Halb drei! Allein mit diesem verkommenen Burschen …«

»Das ist er nicht!« schrie Narzissa.

»Spazierfahrten nach einem Tanz bis halb drei Uhr früh!« Er wandte sich an die Mutter: »Ist es dir ganz gleichgültig, ob deine Tochter anständig bleibt oder nicht?«

Narzissa, froh, ihn ins Unrecht zu setzen und dadurch ihre eigene Schuld zu mildern, rief:

»Niemand kann behaupten, daß ich nicht anständig bin! Das verbiete ich …«

»Nun höre, Narzissa. Ich bin dein Vater. Ist es nicht so?«

»Sicher«, erwiderte Narzissa mürrisch.

»Und dies ist mein Haus. Ist es nicht so?«

»Deines und Mutters Haus.«

»Und auch das deine«, fügte er in verändertem Ton hinzu. »Doch ich bin der Herr in diesem Hause. Und ich sage, daß du nicht tanzen zu gehen hast. Ich sage, daß dieser Bursche kein Verkehr für dich ist. Du hast es jetzt gehört, nicht wahr?«

»Ich habe es gehört.«

»Es ist doch ganz klar oder nicht?«

»Klar genug.«

»Und du weißt jetzt, daß ich es auch so meine. Weißt du das?«

»Laß mich doch schon!« Narzissa streckte unter Schluchzen abwehrend die Hände gegen ihn.

»Jetzt magst du zu Bett gehen«, sagte er fast freundlich. Er schritt die Treppe hinauf und oben schloß sich die Türe seines Zimmers.

Narzissa saß mit aufgestützten Ellbogen, ihr Gesicht in die Hände vergraben, vor ihrem Ankleidetisch und schluchzte vor Ermüdung und Ärger und wußte, daß die Mutter noch nicht gegangen war. Als sie nicht zu sprechen begann, blickte Narzissa erstaunt nach ihr hin. Der Ausdruck auf dem Antlitz ihrer Mutter ließ ihre Tränen versiegen. Als ihre Blicke sich trafen, ging die Mutter zur Türe und schloß sie. Sie blieb dort stehen, gegen die Türe gelehnt.

»Narzissa!«

»Ja?«

»Du brauchst ihm nicht zu gehorchen!«

»Warum nicht?« fragte Narzissa feindlich. »Er ist mein Vater!«

»Nein«, sagte ihr darauf die Mutter. »Er ist nicht dein Vater.«

 

IX

Zuerst meinte sie, ihre Mutter spreche irre. Oder war sie selbst nach all diesen Aufregungen – den Vorbereitungen zu dem schwer erkämpften Fest, der Freude an Tanz und Unterhaltung, der schönen Heimfahrt, der zerrüttenden Szene, die eben hinter ihr lag – war sie selbst nicht mehr bei Sinnen und glaubte, Worte zu hören, die niemand gesprochen hatte?

»Jetzt sollst du alles erfahren! Jetzt will ich dir die Wahrheit sagen!« Doch die Wahrheit schien von allem das Unwahrscheinlichste! Ihre Mutter ging aus dem Zimmer und als sie zurückkam, hielt sie etwas in ihrer Hand. Sie streckte es Narzissa entgegen.

»Das ist dein Vater!«

Narzissa sah ein vergilbtes Lichtbild vor sich. Ihr Vater? Der da war doch kaum älter als Tony, und ihr Vater hatte doch eben erst vor ihr gestanden, in seinem Nachthemd, und hatte gesagt, sie dürfe nicht tanzen gehen, und hatte ihr den Verkehr mit Tony verboten … Wie lächerlich war dieser Hemdkragen und wie komisch, auf solche Weise die Haare zu bürsten! Alles so offensichtlich für den Photographen hergerichtet – und diese unmögliche Krawatte! Dabei sah man ihm an, daß er sich für unwiderstehlich hielt. Herausgeputzt – das war er; so sah kein Vater aus!

»Siehst du ihn, Liebling fragte ihre Mutter. »Leider ein wenig vergilbt. Ja, vergilbt. Aber du siehst doch, wie schön er ist – mein Joe. Seine Augen, die sind nicht vergilbt. Und sein Lächeln! Liebling, siehst du das Lächeln deines Vaters?«

Narzissa wagte nicht, ihre Mutter anzusehen. Wenn man so abgehärmte Züge hatte wie Mutter und eine Zahnlücke – über einen fremden ›Joe‹ zu sprechen, als ob sie einfältig geworden wäre! So auszusehen und von Augen, von einem Lächeln zu reden!

Also, Mutter hatte sich ›vergessen‹. Ihre Mutter! Und erzählte jetzt davon, während sie ihr beim Tisch gegenüber saß und die vergilbte Photographie eines lächerlich gekleideten Burschen zwischen ihnen lag.

»Du siehst ihm ähnlich, Liebling. Findest du nicht auch?«

Nein, Narzissa fand es nicht. Nun, vielleicht wirklich. Es war ja schwer zu unterscheiden – braune Flecken auf einer vergilbten Photographie und diese gescheitelten Haare, die wie angeklebt am Kopf lagen! Es schien ihr nicht passend, über all das zu sprechen, hier, in Vaters Haus … Tony mußte jetzt auch schon zu Hause sein … Oh, wie war sie müde … Ob er wohl an sie dachte? Ob er wohl auch im Einschlafen noch an sie denken würde?

»Man hatte uns verboten, zusammen zu sein, doch unsere Liebe war so groß, daß uns nichts trennen konnte. Der Bach ging an seinem und an unserem Haus vorüber; am Bach trafen wir uns. Dort blühten die Narzissen für uns, ihr schwerer Duft hüllte uns ein, dort wurden wir … dort waren wir … ein Liebespaar. Und deswegen heißt du Narzissa! Ich wollte dir's immer schon sagen. Ich wollte nicht, daß du glauben solltest, dieser Mann wäre dein Vater. Dein wirklicher Vater war voll Leben, stark, schön und überschäumend von Lebensfreude. Er wußte, was Liebe heißt, dein Vater … In seiner Stimme … in seinen Augen … oh, wie schön war es zu Hause, wie schön waren die duftenden warmen Sommernächte!«

Narzissa fühlte sich immer unbehaglicher. Als hätte sich ihre Mutter zu bedenkenlos entblößt. Vater, der oben schlief – das war Sicherheit, gewohnter Zustand. In dem dünnen Kleid, das sie zum Tanz getragen hatte, begann sie zu frieren. Das erste Mal, daß ihre Mutter nicht daran dachte. Mutter hatte über ihr Nachtgewand aus Baumwollflanell einen grauen Bademantel angezogen; ihr graumeliertes Haar war glatt zurückgekämmt und für die Nacht zu einem Zopf geflochten. Es war wie ein grausiger Spuk, war verrückt, in diesem Aufzug, so spät nach Mitternacht, noch dazusitzen und über – Liebe zu sprechen. Tony schlief wohl längst. Narzissas Füße schmerzten; sie war nicht gewohnt, so viel zu tanzen. Wie gut müßte es sein, unter warmen Decken da drüben im Bett zu liegen. Später würde sie gern einmal zuhören, wenn die Mutter davon erzählte, wie die Maschine ihn getötet hatte. Es war doch schauerlich interessant, mit so viel Romantik und Tragik verknüpft zu sein! Natürlich hatte sie schon immer das Gefühl gehabt – so sagte sie jetzt zu sich selbst – daß irgend etwas … Besonderes in ihrem Leben verborgen sei. Sie war erschreckt, betäubt … Daß einem so etwas begegnen konnte! Ihr natürlich nicht. Doch Vater hatte recht, wenn er ängstlich war, ja, es war nur zu begreiflich, daß er strenge blieb.

»Gott, Mutter, wie entsetzlich für dich«, wiederholte sie immer wieder, während die Mutter davon erzählte, wie sie selbst entdeckt hatte was kein anderer wissen durfte, wie sie sich einem ungeliebten Mann antrauen ließ, um ihrem Kind ein Heim und einen Namen zu geben. Und während der ganzen Zeit hatte Narzissa das Gefühl, dies alles könnte nicht wahr sein, morgen würde sie es vergessen haben und es würde nie gewesen sein.

»Ich lag auf meinem Bett, ich hatte gerade ein Magazin gelesen und träumte von Italien, dem Land der Liebe, von Orangenhainen, Olivenbäumen und Weingärten. Von Venedig, dem Murmeln von Wasser und glühendem Geflüster, und der Bach vor meinem Fenster raunte mir die Worte zu, die Joe mir am Abend zuvor zum Abschied gesagt hatte: ›Gute Nacht, geliebte Naomi!‹ Da hörte ich hastige Schritte meines Vaters …« Steif aufgerichtet saß die Mutter da, aus blicklosen Augen starrte sie vor sich hin. »Entsetzte Worte sprach er mit erregter gedämpfter Stimme. Ich war ins Eßzimmer geeilt und sah sie in der Küche. ›Ich meine …‹« die Stimme der Mutter war nur noch ein Flüstern, »›ich meine, er ist tot, Tochter‹«. Als hätte sie erst in diesem Augenblick das Entsetzliche vernommen, so schwankte die Mutter und drohte umzusinken. Sie griff nach dem Bild. »Joe!« Tränen rannen über ihre eingefallenen Wangen. »Bei den Narzissen am Bach wußte ich zum erstenmal von dir, Narzissa.«

Narzissa verstand das nicht – wieso hatte sie gewußt …? Im übrigen war sie ganz davon erfüllt, darüber nachzudenken, was sie eigentlich bei dieser Erzählung fühlen müßte.

»Dann sagte mein Vater: ›Caleb wird dich heiraten‹.«

»Er … er wußte …?« fragte Narzissa.

»Selbstredend wußte er«, erwiderte ihre Mutter ein wenig ungeduldig. »Er hatte mir schon früher einen Antrag gemacht und ich hatte natürlich abgelehnt. Jetzt hatte er alles erfahren und jetzt – mußte ich ihn heiraten.«

»Und er wußte, daß du eines anderen Mannes Kind unter dem Herzen trugst?« Sie fühlte sich ganz unwirklich, ganz romanhaft, als sie solche gespreizte Worte gebrauchte. »Und hat dich trotzdem geheiratet und niemals ein Sterbenswörtlein davon verraten? Und kein einziges Mal …« Sie brach ab, denn jetzt, jetzt plötzlich war es greifbare Wirklichkeit geworden, die sie selbst betraf. Etwas Gewaltiges, Unfaßbares hatte sich ereignet! »Und es mich kein einziges Mal fühlen …« Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, die Tränen, die sich vorher nicht hatten einstellen wollen, trotzdem Narzissa gewußt hatte, sie sollte eigentlich weinen. Plötzlich mußte sie an einen längst vergangenen Abend denken. Es war kurz nachdem John, sein kleiner Junge, sein Sohn, sein einziges Kind vor seinen eigenen Augen zu Tode gestampft worden war. Die ersten Tage hatte er brütend dagesessen und kein einziges Wort gesprochen. Narzissa erinnerte sich, daß sie gemeint hatte, er würde nie wieder sprechen. Aber als sie an jenem Abend zu Bett ging, machte er plötzlich den Mund auf: »Nun, gute Nacht, Narzissa.« Sie war zu ihm hingegangen und verwundert und neugierig vor ihm stehen geblieben. Da hatte er seinen Blick, der so lange Zeit nur starr auf den Boden gerichtet gewesen war, zu ihr aufgehoben und sie lange angesehen. Sie war ein wenig ängstlich geworden, denn er kam ihr so sonderbar vor, und deshalb blieb ihr dieser Blick, den sie erst jetzt richtig verstand, im Gedächtnis. Er war froh gewesen, daß sie bei ihm war! Weder damals, noch irgend ein anderes Mal in ihrem ganzen Leben hatte er sie durch ein einziges Wort, einen einzigen Blick fühlen lassen: du bist nicht mein Kind.

Mit der tiefsten Inbrunst ihrer achtzehn Jahre flüsterte Narzissa Evans das Wort: »Vater!« und kehrte sich von der vergilbten Photographie ab, die ihre Mutter hielt.


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