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Ihre Mutter kam in die Küche, betrachtete die wenigen glänzenden grünen Erbsen, die kaum noch den Boden des Napfes bedeckten, blickte dann auf den Haufen geschlossener Schoten im Korb und rief mit nachsichtigem Lächeln: »Naomi!« Wenn sie einen so schonungsvollen Tadel aussprach, wurde das ›O‹ in dem Namen ihrer Tochter ganz besonders klingend und gedehnt. »Ja, Mädel, woran denkst du bloß?«
Während Naomi eine neue Schote aufdrückte und fünf Erbsen in den Napf rollen ließ, lachte sie halblaut vor sich hin. Wenn sie nun ihrer Mutter wirklich sagen würde, woran sie dachte? Ihr Lächeln wurde sehnsüchtig, ihr Blick folgte dem Lauf des Baches, dessen Windungen durch die Bäume schimmerten, und in ihren Gedanken erstand jene einsame Uferstelle, über der ein so betäubender Duft von Narzissen lag … Die Mutter betrachtete sie, wie sie träumerisch über die grünen Schoten gebeugt dasaß, und sagte bloß hilflos und schwach: »Ach Gott …« Sie hatte eine ganz eigene Art, ihren Kummer in diese zwei Worte zu legen, wenn ihr ein Kuchen nicht gelingen wollte, oder wenn sie sich anderen wichtigen Lebensfragen gegenüber sah, die sie nicht zu meistern vermochte. Nachdem sie sich aber durch einen Blick nach dem Herd überzeugt hatte, daß ihr Kuchen diesmal nichts zu wünschen übrig ließ, fuhr sie heiterer fort: »Nun, Rosie wäre mit den Erbsen schon längst fertig.«
Naomi lachte. Natürlich wäre ihre kleine Schwester Rosie schon längst fertig. Wovon hätte auch Rosie mit ihren zwölf Jahren träumen sollen! Aber jetzt begannen Naomis Finger fieberhaft zu arbeiten: die Erbsen trommelten geradezu in den Napf, und Schote fiel auf Schote. Sie wollte ja vor dem Abendbrot noch ein Bad nehmen und ihr neues blaues Kleid herrichten, das sie heute noch anziehen mußte – ohne daß jemand darum wissen sollte.
Als wollte sie ihre Mutter dafür entschädigen, daß sie ein Geheimnis vor ihr verbarg, begann sie ein lebhaftes Gespräch mit ihr. Wo nur ihr siebenjähriger Bruder Willi so lange blieb, der mit dem kleinen Seares fortgegangen war, um ›Landstreicher‹ zu spielen. Dieses Spiel bestand darin, daß sie von Haus zu Haus zogen und sich als Bettler ausgaben.
»Mein Gott!« rief Mutter Kellogg. »Sie werden doch hoffentlich nicht auch bei Frau Copeland betteln!«
»Oh,« entfuhr es Naomi und es klang ganz entsetzt, »so etwas werden sie doch nicht tun!«
»Ich hoffe,« setzte Annie Kellogg verdrießlich hinzu, »daß ihnen das nicht einfallen wird.«
Naomi blickte zur Mutter auf. Nein, kein Mensch ging je mit einer Bitte zu Maria Copeland, nicht einmal im Spiel. Und bestimmt niemand, der den Namen Kellogg trug. Sie wollte Frau Copeland gewiß nie um etwas bitten, sie würde das auch nicht notwendig haben.
»Was ist denn eigentlich mit dieser Frau Copeland los?« fragte sie tastend.
»Na, sie ist eben eigentümlich«, antwortete ihre Mutter. »Sie hat keine Freunde, keinen Verkehr, sie will mit niemandem etwas zu tun haben. Sie war schon immer so. Sie dünkt sich besser als alle anderen Menschen.«
»So«, sagte Naomi vor sich hin, als wäre ihr dies alles neu. »Aber warum ist sie so?«
»Warum? Ja, woher soll ich das wissen?«
Da fiel plötzlich der Schatten einer menschlichen Gestalt über den Küchenboden. Ein Mann trat vom Feld herein, Caleb Evans stand in der Türe. – Um Gottes Willen, jetzt wird ihn Mutter zum Abendessen einladen! –
»Ja, Caleb,« begrüßte ihn die Mutter, während sie seine Hand schüttelte, »so sind Sie also zurückgekommen!«
»Ja, ich bin zurückgekommen«, bestätigte er mit jener Fistelstimme, die es den Andächtigen in der Kirche oft so schwer machte, ernst zu bleiben, wenn er vorbetete. Er reichte Naomi seine schlaffe Hand. »Nun, Naomi« – die letzte Silbe ihres Namens verlor sich im Falsett – »Ihre Mutter versteht es aber, Sie einzuspannen!«
»Ja, ja«, gab sie zurück und sah geflissentlich auf ihre Erbsen nieder, denn sie wollte dem liebevollen Blick ausweichen, der ihr aus seinen kleinen Augen, zu denen er so wenig zu passen schien, immer entgegenstrahlte.
»Also machen Sie sich's nur gemütlich, Caleb. Mein Mann wird gleich vom Feld nach Hause kommen. Ich will schnell noch einen Pfannkuchen fürs Abendessen bereiten; vielleicht haben Sie derlei in Colorado nicht bekommen. Auch von der Torte ist noch etwas da, die Naomi gestern gebacken hat.«
»Da kann ich mich ja geradezu einen Glückspilz nennen!« sagte Caleb, und die arme Naomi mußte tun, als hätte er eine überaus witzige Bemerkung gemacht.
Frau Kellogg erzählte ihm, während sie am Herd hantierte, wie sehr ihn alle in der Kirche vermißt hätten. Bruder Baldwin hätte erst letzten Sonntag, nach dem Gottesdienst gesagt, er hoffe Bruder Caleb Evans bald wieder in der Gemeinde begrüßen zu können.
»Ja …«, begann Caleb zögernd.
»Sie tragen sich doch nicht mit der Absicht, ganz von uns zu gehen?« rief Naomis Mutter.
»Frau Kellogg,« sprach er, während er die Beine kreuzte und vor lauter Feierlichkeit noch unsicherer wurde, »ich bin allerdings nur zurückgekommen, um meine Angelegenheiten hier zu ordnen.« Dabei blickte er bedeutungsvoll nach Naomi.
Die wurde nun freundlicher zu ihm. Sie erkundigte sich, was er dort drüben beginnen wolle. Er erzählte von dem Land, das er erworben hatte und das in einem Gebirgstal lag. »Was man dortzulande eben Tal nennt«, meinte er lachend. Meilen und Meilen sei es lang, so ungefähr hundert, und ebenso breit. Eigentlich hätte es die Form einer ganz großen Speiseplatte. Und erst die Berge! Die wären so hoch, wie die Kelloggs sie nicht einmal noch auf Bildern gesehen hätten, und das ganze Jahr läge Schnee auf ihnen.
»Mein Gott,« rief Frau Kellogg, »wie kann man in einer solchen Gegend leben?«
»Oh, es ist ein herrlicher Flecken Erde«, entgegnete Caleb, und er erzählte des langen und breiten von den neuen Berieselungsanlagen, die es dort gäbe, und von den Kartoffeln, die dort so groß wie Rüben würden. Naomis Vater kam vom Felde, und Caleb begann mit ihm ein ausführliches Gespräch über die Landwirtschaft in Colorado. »Auch schön ist's dort,« sagte er mit einem Blick auf Naomi, »Blumen wachsen dort wild wie das Gras. Und der Sonnenuntergang! Wenn die Sonne im Westen versinkt, glühen die Berge im Osten rot, als wären sie in Blut getaucht.«
»Ist das möglich!« hänselte ihn Frau Kellogg in freundschaftlichem Ton.
Caleb schwärmte von seinem neuen Besitz. Während er sich so in Eifer redete, konnte man fast seine sonstige Unbeholfenheit und Schüchternheit vergessen. Sogar Naomi richtete während des Abendessens manche Frage an ihn.
»Noch nie habe ich Caleb so viel sprechen gehört«, meinte Frau Kellogg, nachdem Caleb den Hausherrn in die Scheune begleitet hatte, während sie mit Naomi den Tisch abräumte.
»Ja,« gab Naomi zu, »er war ganz unterhaltend.« Aber jetzt hätte sie gern gesehen, wenn er schon gegangen wäre! Sie hatte ja noch ihr blaues Kleid mit dem weißen Unterkleid anzuziehen! Würde es ihr überhaupt gelingen, um halb neun fortzukommen? Sie konnte Joe nicht warten lassen, und ihn heute nicht mehr zu sehen – das würde sie nicht überleben! Sehnsüchtig sah sie zum Bache hin, während sie hinter dem Hause das Tischtuch ausschüttelte. Ihr Vater und Caleb prüften die neue Mähmaschine; Caleb betrieb in der Stadt eine Eisenwarenhandlung und deshalb setzte man voraus, daß er auch von Maschinen etwas verstehen müsse. Aber wann endlich würde er nach Hause gehen?
»Ich habe heute abend noch zu arbeiten«, kündigte sie ihrer Mutter in entschiedenem Tone an. Naomi besuchte das Seminar.
»Vorher mußt du dich aber ein wenig Caleb widmen.«
»Vater widmet sich ihm ja.« Und es war wirklich eine ungelöste Frage, ob Calebs Besuche Naomi oder den Eltern galten. Wenn man nur sein Alter in Betracht zog, paßte er allerdings besser zu Naomi, aber als einer der führenden Männer der Kirchengemeinde stand er wieder der älteren Generation näher.
»Vater wird bald zu Bett gehen wollen. Sei nett zu Caleb, Naomi! Er ist doch den ersten Abend in der Heimat und ist ein so guter Mensch.« Die letzten Worte sprach die Mutter mit ihrer ›frommen Stimme‹, und wenn sie diesen Ton anschlug, so schien es Naomi immer, als wäre ein wenig Unaufrichtigkeit dabei, obwohl sie sich nie ganz klar darüber war. »Mein Gott, wie wird er in der Kirche fehlen!«
›Nett‹ zu sein war natürlich alles, was man in diesem Falle Naomi zumuten konnte. Und selbst ihre Mutter dachte nicht daran, etwas anderes von ihr zu verlangen – gegenüber einem Mann, der so aussah wie Caleb. Dabei war sein Aussehen noch weniger befreundlich wie sein Wesen. Er kam Naomi immer wie eine Figur aus einem dummen Theaterstück vor, die es im wirklichen Leben gar nicht geben könnte, und die dieses Bewußtsein selbst niemals loszuwerden vermochte. Sogar Leute, die weniger vom Leben wußten als ihre Mutter, hätten zugegeben, daß ein Mädchen, das mit einem Joe Copeland innig befreundet sei, nie etwas anderes als ›nett‹ gegen einen Caleb Evans sein könnte.
Naomi ging in ihr Zimmer, um ihr Haar zu bürsten, und während sie jene Locke an der Stirne betrachtete, die Joe so sehr an ihr liebte, lächelte sie bei dem Gedanken daran, wie nah sie ihm stand, ohne daß irgend jemand es vermutete, und wieviel sie einander bedeuteten. Doch ihr glückliches Lächeln wich rasch dem Ausdruck tiefen Kummers. Warum durften sie sich nicht offen wie andere Liebespaare blicken lassen? Joes Mutter hätte ihre unsinnigen altmodischen Ansichten endlich begraben können! Konnte sie erwarten, daß er sein ganzes Leben an ihrem Schürzenband hängen würde? War er denn nicht schon einundzwanzig Jahre alt? Warum zögerte Joe nur so lange, seiner Mutter die Wahrheit zu sagen! Doch er wollte es ja jetzt bald tun, sehr bald. Und das mußte er auch, denn was würden ihre Eltern sagen, wenn ihnen zu Ohren käme, daß der verbotene Verkehr heimlich weitergehe.
Naomis Vater glaubte, er hätte der Sache ein Ende gemacht. Die Copelands wären nicht besser als die Kelloggs, so hatte er gesagt, auch wenn sie ein größeres Haus und etwas mehr Land besaßen. Und wenn Maria Copeland nicht zugeben wolle, daß ihr Sohn sich öffentlich mit Naomi zeige, dann müsse Joe sich auch damit abfinden, das Haus der Kelloggs nicht mehr zu betreten. Dies wurde Joe bedeutet, als er einmal höchst verlegen nach Ausflüchten suchte, mit denen er vermeiden wollte, ein Fest mit Naomi gemeinsam zu besuchen, auf dem er seine Mutter treffen konnte. Seither sahen sie einander nicht mehr bei Naomi, sondern an einer verschwiegenen Stelle des Baches.
Sie hörte ihren Vater unten im Hofe von den Copelands sprechen und lief zum offenen Fenster. Da vernahm sie, wie ihr Vater Caleb von der neuen, wunderbaren Mähmaschine berichtete, die sich die Copelands angeschafft hatten. Er hätte sie heute von der Wiese aus zum ersten Male arbeiten gesehen; sie sei ein wahres Wunderwerk und in der ganzen Gegend wäre noch nichts Ähnliches gesehen worden.
»Naomi!« rief ihre Mutter mit gedämpfter Stimme aus der Küche. »Sie kommen jetzt herein.«
Frau Kellogg erzählte im Hausflur ihrem Gast allerlei Ereignisse aus der Kirchengemeinde, dann ging sie die Treppe hinauf, um sich zu überzeugen, daß Rosie ihr Versprechen gehalten hatte und zu Bett gegangen war. Vater Kellogg gähnte einige Male und meinte schließlich:
»Ich bin heute seit fünf Uhr früh auf den Beinen und muß morgen wieder so zeitig heraus. Ich denke, ich werde euch junge Leute nun allein lassen.« Er lachte, als hätte er einen Scherz gemacht, und es war ja wirklich fast ein Scherz, Caleb als jungen Mann zu bezeichnen. Naomi, die das Lachen ihres Vaters ein wenig verwischen wollte, begann Caleb eifrig von ihrem Studium zu erzählen.
Es wurde dunkel. Freundliche Nacht senkte sich lockend und schützend nieder. Durch die Baumkronen sah Naomi das Blinken der Sterne. Sie konnte das Bächlein hören, dessen Stimme das Raunen der Bäume begleitete, jenes Bächlein, das von den Copelands kam und dem Joe, wie er immer sagte, seine Grüße für sie mitgab. Ja, so sagte Joe, ihr Freund. Und sie horchte nach der Botschaft, die ihr das Bächlein von ihm zuflüsterte, während sie die schmalen reglosen Schultern Caleb Evans betrachtete, der vor ihr saß, und auf dessen dürren Hals das Licht aus der Diele fiel. Er wäre besser im Schatten geblieben.
Jetzt verließ Joe wohl sein Haus, um jene verschwiegene Windung des Baches aufzusuchen, wo sie beide, geschützt vor den Blicken aus den zwei Elternhäusern, einander zu treffen pflegten. Er wird sich ans Ufer setzen oder vielleicht auf die Wiese strecken, und seine Hände werden mit den Narzissen spielen, die dort so dicht wachsen. Und wenn sie kam, würde er aufspringen und seine Arme um sie schlingen. »Naomi!« würde er flüstern, »Naomi!« und glücklich mit ihr sein, und niemand würde sie stören. Sie schloß die Augen und meinte, den schweren Duft der Narzissen herüberwehen zu spüren …
»Es ist das Land der Zukunft«, tönte Calebs Fistelstimme in ihren Traum. »Wenn erst die Zuckerfabrik …«
Sobald sie zu Worte kommen konnte, sagte sie: »Nur eine üble Seite hat das Seminar, daß wir so viel lernen müssen. Sogar heute nacht habe ich noch zu arbeiten.«
»Wirklich«, warf Caleb hin, ohne ihren Wink zu verstehen. Und während er versonnen einen langen Grashalm zerzupfte, fuhr er in seinem eigenen Gedankengang fort: »Ich werde in ungefähr zwei Monaten wieder in Colorado sein. Würden Sie nicht gern mit mir gehen?« Er fragte dies in einem Tone, als wollte er glauben machen, es handle sich nur um einen Scherz.
»Oh, so weit von der Mutter fort – ich müßte mich ja fürchten!« antwortete sie lachend im gleichen Ton.
»Wir würden ein neues Heim gründen.« Das war kein Scherz mehr, das war ein Heiratsantrag.
»Ich danke Ihnen, Caleb,« sagte sie freundlich, »aber das kann nicht sein.« Und im stillen fügte sie eifrig hinzu: »Das ist ja unmöglich!«
»Es ist nicht ganz so einsam dort, wie Sie vielleicht denken«, fuhr er in seiner salbungsvollen Weise fort. »Es gibt auch junge Leute in der Stadt und es sind nur drei Meilen bis dahin. Sie sollen Pferd und Wagen haben …«
»Sie werden ein liebes junges Mädchen in dieser Stadt finden, Caleb«, sagte sie freundlich.
»Ich will aber keine andere!« Und als er jetzt zu ihr aufblickte, las sie ein Begehren in seinen Augen, das sie von ihm abrücken ließ, denn diese Glut wollte sie nur in Joes Augen aufleuchten sehen.
Sie sprang auf und sagte mit ruhiger Würde: »Es tut mir leid, Caleb, aber ich teile Ihre Gefühle nicht. Und Sie werden nicht böse sein, wenn ich jetzt an meine Aufgaben gehe.«
»Einen Heiratsantrag hat er dir gemacht? Einen ganz richtigen Heiratsantrag, Naomi?« Joes funkelnd klare Augen ruhten auf ihrem Antlitz, das ihm zugewendet war. Joes weiche, betörende Stimme – des Geliebten Stimme! – hüllte sie ein, sein warmes, glückseliges Lachen klang ihr ins Ohr; dort am Bach, weit entrückt der schlafenden, ahnungslosen Welt, allein mit ihm unter dem schirmenden Dach der Bäume, durch das die funkelnden Sterne blitzten, auf dem duftenden Teppich, den die Narzissen ringsum bildeten – oh, wie glücklich war Naomi in Joes starken Armen und wie fröhlich stimmte sie in sein Lachen ein!
Er hielt sie ein wenig von sich ab.
»Doch das Wichtigste hast du mir ja noch nicht gesagt! Hast du seinen Antrag angenommen, Naomi?« Er beugte sie zurück und neigte sich über sie. »Hast du ja gesagt, Naomi?« Immer wieder stellte er diese Frage, mit leiser, glühender Stimme – Joe, ihr Geliebter.
»Siehst du, wie sich die Narzissen im Bache spiegeln, und die Sterne mit ihnen?« fragte sie später, während sie ihre Haare wieder in Ordnung brachte.
»Nein,« erwiderte Joe, »ich sehe die Sterne nur in deinen Augen spiegeln.«
Ein leichter Wind brachte von den Wiesen den Duft des frisch gemähten Grases.
»Und sie ist wirklich wie ein menschliches Wesen«, erzählte ihr Joe von der neuen Mähmaschine. »Sie hat Kinnladen und Zähne und lange Arme, die eine ganze Ladung Heu in die Höhe heben und genau wissen, was sie damit zu tun haben. Ich würde mich gar nicht wundern, wenn sie plötzlich ›Hallo‹ riefe!«
Und wieder lachten sie beide von Herzen, ihr Lachen gehörte zu ihnen, wie der Duft zu den Narzissen. Jetzt werde die Heumahd bald vorüber sein, meinte Joe. Sie wendete ihm ihr Gesicht zu, auf dem noch verklärend der Rausch der letzten Stunde lag, und ihre Augen blickten sehnsüchtig zu ihm auf. Er verstand sie und ergriff ihre beiden Hände, um sein Gelöbnis zu bekräftigen.
»Ja, Naomi. Ich werde mein Wort halten.« Er hatte versprochen, seiner Mutter nach der Ernte zu sagen, daß er und Naomi heiraten würden.
»Warum …« begann sie zögernd, schmerzlich dem Gedanken nachsinnend, wieviel glücklicher sie sein könnte, wenn Joe und seine Mutter nicht so feindlich gegen Joe und Naomi ständen. »Warum ist das nur?«
» Was ist? – Was meinst du?« fragte er; doch sie wußte, daß er sie verstanden hatte, denn sie fühlte, wie er innerlich ein wenig von ihr abgerückt war und wie sich etwas von der frostigen Atmosphäre auch um ihn legte, die seine Mutter immer umgab.
»Warum bloß kann mich deine Mutter so gar nicht leiden?«
»Oh, sie kann dich ja gar nicht so schlecht leiden, Naomi, sie will nur nicht, daß ich dich so gut leiden mag.«
»Ja, aber warum nicht?«
»Wie kann ich das wissen?« sagte er, im gleichen Ton, in dem ihre Mutter von Frau Copeland gesprochen hatte. »Vielleicht ist sie eifersüchtig?« Sie lachten, doch dieses Lachen brachte sie einander nicht näher. »Siehst du, Vater ist schon so lange tot, und ich bin das einzige Kind. Bei uns zu Hause ist es nicht so wie bei euch, Naomi. Mir gefällt es bei euch besser, ihr seid alle so fröhlich und freimütig; jeder sagt offen heraus, was er sich denkt, statt es – in sich zu verschließen«, schloß er unsicher den Satz. »Mutter ist gewohnt, Allzuvieles allein zu tragen. Was sie fühlt und denkt, behält sie für sich. Seit Jahren ist das so.«
›Und sie hält sich für besser als uns‹, setzte Naomi in Gedanken seine Rede fort. Bei den Copelands war alles, wie es sein soll – aber nicht mehr. Naomi war einige Male drüben gewesen, ehe die Sache zwischen ihr und Joe zum Zerwürfnis der Eltern geführt hatte. Alles dort im Haus war an seinem rechten Platz, aber es roch zu sehr nach Reinlichkeit. Frau Copelands Augen hinderten einen, sich in ihrem überreinen Hause gemütlich zu fühlen. Alle möglichen Dinge gab es, über die zu sprechen in ihrer Gegenwart unmöglich schien. Doch warum fürchtete auch Joe sich vor seiner Mutter?
Als hätte er gefühlt, wie sie mit ihren Gedanken ihm entglitten war, legte Joe seine Arme um sie und hielt sie ganz fest umschlungen. Er wußte, wie er ihre Verstimmungen bekämpfen konnte.
»Du liebst mich doch, Joe? Nicht wahr, du liebst mich?«
»Ja, ich liebe dich, Naomi«, flüsterte er. Sie wußte, daß er die Wahrheit sprach, und diese Liebe verklärte ihr die ganze Welt.
»Ich muß jetzt gehen«, sagte sie, doch es fehlte ihr die Kraft sich loszureißen. Mit dieser Liebe wollte sie sich ganz erfüllen, um sie mit sich zu nehmen. Mit geschlossenen Augen lag sie auf dem weichen Boden, Joe saß neben ihr, doch ohne sie zu berühren, als wollten sie jedes für sich dem Gefühl nachsinnen, das sie vereinte. Sie sog den Duft der Narzissen ein, die um ihr Lager standen, und ihre Hand liebkoste Blütenblätter, die weicher und zarter als Samt waren. Leises Rauschen und Knacken kam von den Bäumen, als schritte etwas Geheimnisvolles durch die Welt, klar und vertraut floß der Bach. Sie öffnete die Augen und blickte zu den Sternen auf.
»Wie nur die Menschen in solchen Nächten schlafen können!« rief sie lachend. Und doch lag auch in ihr schon die süße Schwere des Schlafes; ihre Glieder, ihr Leib sehnten sich danach, hier zu ruhen, wo der Duft der Narzissen und das Rauschen der Bäume das gleiche zu gebieten schienen: Schlafe!
»Nein,« rief sie aufspringend, »ich darf nicht.«
Sie schritten dem Bache entlang bis fast zum Haus der Kelloggs. Dann umarmte er sie innig und flüsterte: »Naomi!«
»Einmal werden wir nicht mehr Abschied nehmen müssen«, sagte sie.
»Bald werden wir vereint sein – für alle Tage und alle Nächte«, antwortete er, und voll Staunen über dieses nahe Glück hielten sie einander bei den Händen.
»Gute Nacht, mein Joe!«
»Gute Nacht, geliebte Naomi!«
Von Kelloggs Haus konnte man den Besitz der Copelands nicht sehen, wohl aber von der Hauptstraße aus, ehe man in den Seitenweg abbog, der zu den Kelloggs führte. Wie stets, wenn Naomi nachmittags mit ihren Freundinnen von der Schule heimfuhr, blickte sie auch heute hinüber. Das stattliche weiße Haus lag auf einer leichten Anhöhe, doch es machte durchaus keinen freundlichen Eindruck. Für eine Witwe und ihren Sohn schien es viel zu groß, und vielleicht wirkte es deshalb so frostig auf Naomi. Auch die gestutzten Bäume, die davor standen und die man in jener Gegend gar nicht gewohnt war, erhöhten den steifen Eindruck, den das Anwesen machte. Frau Copeland stand vor dem Hause im Gespräch mit einem Manne, der am Zaun arbeitete, doch schien sie ihm eher Anordnungen zu geben, als mit ihm zu sprechen. Sie hielt sich aufrechter als Naomis Mutter.
Der Wagen hielt, wie stets, an der Abzweigung, denn die andern Mädchen fuhren auf der Hauptstraße weiter, während Naomi in den Seitenweg einbog, um zu Fuß nach Hause zu gelangen. Sie war froh, sich von ihren Freundinnen zu trennen, um ungestört all dem nachzusinnen, was sie verwirrend und beklemmend erfüllte. Und sie liebte diese schmale unebene Straße, mit Bäumen zu beiden Seiten, hinter denen sich blumengeschmückte Wiesen dehnten. Zur Rechten lag der Besitz der Copelands, jetzt wieder hinter einem langgestreckten wellenförmigen Hügel verborgen; aber nach der andern Seite konnten die Blicke in unendliche Fernen schweifen. Man sah Wiesen an Wiesen und Felder an Felder in der langgestreckten Ebene, die sich bis zur Stadt hinzog, und dahinter ein sanftes Hügelland. Herrliches Illinois! Felder mit fruchtbarer, schwarzer Erde, und grünwogende Halme, weidende Kühe und Pferde, die schwere Lasten auf schmalen Wegen zogen. Da und dort arbeiteten landwirtschaftliche Maschinen wie phantastische Tiere. Das ganze Land war an der Arbeit, und langsam dahinziehende weiße Wolken gaben jenem Spätnachmittag ein so eigenartiges Licht, durch das alles so besonders erschien, so – so wie Liebe verklärt und verschönt.
Dann senkte sich der Hügel zur Rechten, und Naomi konnte die Felder der Copelands überblicken. Da sah sie etwas, das einem Ungeheuer mit vielen Armen und Beinen glich: die neue Mähmaschine. Die Männer, die ringsherum standen, sahen ganz klein aus. Joe lief mit erhobenen Armen hinzu, als grüßte er in freudiger Erregung dieses Wunderwerk. Er ging umher und beugte sich nieder und schien seinen Leuten den Mechanismus zu erklären. Wie stark er war, und mit welcher geschmeidigen Sicherheit er sich bewegte! Das Ungetüm machte eine weitausholende, schwerfällige Bewegung, mit der es das Heu zusammenraffte, dann kraftvoll in die Höhe warf, um es mit Riesenarmen wieder aufzufangen und hinter sich zu schlichten. Joe stand daneben und warf lachend den Kopf zurück … »Ich würde mich gar nicht wundern, wenn sie plötzlich ›Hallo‹ riefe!« …
Naomi schlenderte weiter und beobachtete ihn, wie er mit den ihr so vertrauten Bewegungen die Männer anwies und die Maschine beherrschte. Hinter ihm lagen die Schatten der Hügel, ihn selbst trafen voll die Strahlen der sinkenden Sonne: so arbeitete er auf eigenem Boden, voll Kraft, voll lachender jugendlicher Kraft. – »Gute Nacht, geliebte Naomi«, – hatte er gesagt.
Wilhelm Kellogg ließ die Heugabel ruhen und sah seiner Tochter entgegen, wie sie, ihren Pack Bücher schwingend, herankam. Ein Kranz von Blumen lag um ihren Strohhut und ihr rosa Kleid war zerdrückt. »Hallo Naomi,« rief er fröhlich und kam an die Hecke, um mit ihr zu sprechen, »nun, hast du heute irgend etwas gelernt?« Denn trotz jener Sache mit Joe Copeland stand Naomi mit ihrem Vater sehr gut. Der alte Kellogg war heiter und gütig, aber auch unbeugsam in seinen Grundsätzen. Was mit der Bibel und der Kirche zusammenhing, darin verstand er keinen Spaß.
»Ach, du willst wohl mit Naomi nach Hause gehen, Patsy«, sprach er zu dem braungefleckten Wachtelhund, der ihm schweifwedelnd nachgelaufen war. »Geh nur, geh nur!« redete er ihm zu, weil er genau wußte, daß Patsy sich nicht von ihm trennen würde.
Naomi lachte. Vater machte immer die gleichen Scherze mit dem Hund. Seit Jahren waren sie Kameraden; immer, wenn Patsy zu Hause gelassen wurde, saß er zitternd am Gittertor und lugte nach seinem Herrn aus. Kaum sah er ihn von fern, so machte er einen Satz und raste mit wildem Jaulen die Straße hinunter. »Vater kommt!« wußten alle im Haus. Das Tor wurde schnell geöffnet und nie versäumte Vater sein Pferd Lady anzuhalten, damit Patsy zu ihm auf den Wagensitz springen konnte, um fröhlich bellend und stolz mit seinem Herrn in den Hof einzuziehen.
Hohe Bäume standen vor dem Kelloggschen Besitz und ließen das Haus noch niedriger erscheinen als es war. Wie schön und schattig lag es da! Die Drossel sang in den Ulmen, der frische Bach erzählte von der vergangenen Nacht.
»Bist du's, Naomi?« rief Frau Kellogg aus der Küche. Dunkelrote Kirschen lagen vor der Mutter und ihr frischer Duft erinnerte Naomi an das kühle Moos, das ihre Hand in der Nacht gestreichelt hatte. Die Zweige vor dem Fenster warfen Schatten durch den Raum, doch wo die vollen Sonnenstrahlen die Kirschen trafen, glühten sie purpurrot.
Die Mutter sah müde aus. »Ich will dir helfen«, sagte Naomi.
»Ruh erst ein wenig aus, Liebling. War es heiß in der Stadt?«
Naomi ging in ihr Zimmer, in den ebenerdigen Raum an der Ecke des Hauses, dem Eßzimmer gegenüber. Die Lage des Zimmers erlaubte es ihr, davonzuschleichen, um Joe zu treffen, wenn die andern schon im oberen Stock schliefen. Sie liebte dieses ebenerdige Zimmer, von dem sie abends die Frische des Grases aufsteigen fühlte, wenn sie im Fenster lehnte. Gern ging sie spät nachts, wenn alle andern schon schliefen, noch vor das Haus, um sich dem Bach ganz nahe zu fühlen, den auch Joe in seinem Zimmer hören konnte.
Ja, sie wollte Mutter helfen. Vorhin in der Küche war es ihr aufgefallen, wieviel gebückter ihre Mutter einherging als Frau Copeland. Und die hatte doch auch viel gearbeitet, allerdings immer nur für sich selbst, und niemals hatte der Gedanke an andere ihr Leben getrübt. »Ach Gott!« hörte sie eben ihre Mutter klagen. Rosie hatte ihr erzählt, daß Willi den großen rosa Geraniumstock zerbrochen hatte, als er aus dem Fenster gesprungen war, um dem kleinen Seares nachzujagen.
Naomi sah in den Spiegel, um ihren Hut abzunehmen und die Haare glattzustreichen. Sie runzelte die Brauen, denn sie war müde und in solchen Augenblicken fand sie sich gar nicht hübsch. Manchmal sah sie vorteilhaft aus, andere Male wieder gar nicht. Doch als sie dann, im Begriff ihr Kleid abzustreifen, ihre Arme in die Höhe streckte, Hals und Kopf zurücklehnte und aus halbgeschlossenen Augen nochmals in den Spiegel sah, da war sie wieder mit sich zufrieden. Es verflüchtigte sich, aber es kam ebenso rasch wieder zurück – das, was sie schön erscheinen ließ. Sie nahm Joes Bild aus der Lade; sie hatte es versperrt, als Vater sagte, er dürfe nicht mehr ins Haus kommen. Mußte alles geheim bleiben, dann sollte auch das Bild ein Geheimnis sein. Sie betrachtete Joes Züge, sein Lächeln auf dem Bilde – eigentlich kein Lächeln, nur der Beginn eines Lächelns – seine tiefen Augen; dann sah sie im Spiegel wieder sich selbst an und errötete über das halb abgestreifte Kleid.
Mutter hatte gesagt, sie sollte erst ein wenig ausruhen, und sie fühlte sich auch wirklich müde, denn letzte Nacht war es spät geworden. Sie legte sich auf das große Nußholzbett. Ihr Zimmer war zu diesen Spätnachmittagsstunden besonders schön. Sie liebte die Rosenknospen der Tapete. Und so viel kühler und angenehmer war der Raum, seit der Teppich fortgegeben und der Fußboden grau gestrichen war, wie sie es bei ihren Schulkolleginnen in der Stadt gesehen hatte.
Sie blätterte in einem Magazin. Italien! Ein Land voll Romantik. Terrassen an Hügellehnen, Orangenhaine, Weingärten und Olivenbäume. Um Liebe wußten diese Italiener, Liebe glühte aus ihren Augen, klang aus ihren Stimmen. Seit Jahrhunderten sangen sie Liebeslieder, kämpften und starben sie für Liebe. Nachtigallen! Venedig! Murmeln von Wasser und glühendes Geflüster …
Das Heft entfiel ihrer Hand, im Halbschlaf dachte sie an dieses Land der Liebe. Der Duft der Narzissen kam durch das Fenster, hell klang der Schlag der Drossel. Der Bach murmelte … das plätschernde Wasser von Venedig … Glühendes Geflüster durch Jahrhunderte … sie fühlte sich Joe ganz nahe, seine Augen liebten sie, seine Stimme flüsterte …
Sie riß sich empor. Durch ihren Halbtraum waren hastige Schritte geklungen. Die Stimme ihres Vaters, erregt, halblaut: »Annie! Annie!« Er berichtete etwas in der Küche. Ein entsetzter Laut aus dem Mund ihrer Mutter machte ihr Angst.
Sie eilte in das Eßzimmer hinüber, stand in der offenen Küchentür. Vater und Mutter wandten ihr den Rücken. Ihr Vater begleitete seine Worte mit weiten Bewegungen seiner Arme: »Er erklärte ihnen eben, wie sie arbeitet. Er muß irgend einen unrichtigen Hebel gestellt haben, denn mit einem Mal kamen sie hervor, diese eisernen Zähne, wie das Maul eines Löwen – sie gruben sich in seinen Körper …«
»Oh!« wimmerte Frau Kellogg, die Hände gegen ihren Mund gepreßt. »Oh! Oh! Oh!«
»Und der schwere Balken schlug auf ihn nieder …«
»Auf wen?« kreischte Naomi.
»Oh – oh, mein Liebling!« Ihre Mutter lief zu ihr hin, doch Naomi hielt sie von sich ab und blickte starr auf ihren Vater.
»Auf wen?«
»Ja, Naomi – auf ihn.«
»Nein … nein …«
»Ja – Joe.«
»Verletzt?« hauchte sie. »Du meinst … er ist verletzt?«
»Ich meine – er ist tot, Tochter.«
Die Blätter waren rot geworden, doch Naomi hatte sie in diesem Jahre nicht angesehen. Die Drosseln waren fortgezogen, der Bach war angeschwollen. Wenn sie ihr Schlagen auch vermißte, wenn sie sein Rauschen auch hörte, sie wußte nichts von dem, was sie hörte oder vermißte.
»Bei den Copelands haben sie das letzte Getreide eingeführt«, sagte ihr Vater eines Tages beim Mittagessen. Da erhob sie sich vom Tisch und ging in ihr Zimmer. »Wilhelm!« mahnte ihre Mutter. »Sie muß sich doch endlich wieder zusammennehmen«, gab der Vater zurück.
Die Felder der Nachbarn waren abgeerntet. Und wenn das Korn eingebracht war, hätte sie Joe heiraten sollen … Sie saß da und blickte auf sein Bild.
Später kam ihre Mutter zu ihr herein. »Caleb Evans ist gekommen, Liebling. Willst du nicht mit ihm sprechen?«
»Ach Mutter – bitte, verlang' das nicht von mir.«
Es klang so verzweifelt, daß Annie Kellogg sich niedersetzte, ihre Tochter betrachtete und ihre Sorge mehr und mehr wachsen fühlte. Anfangs war es ihnen verständlich gewesen, daß Joes Tod Naomi so erschüttert hatte. Sie und Joe waren doch bis vor kurzem so innig befreundet gewesen, und es schien, als wäre sie ihm auch weiter gut geblieben. Vielleicht hatte sie sogar gehofft – arme Naomi! – es würde eines Tages wieder anders werden. Doch als der Sommer dem Ende zuging und Naomi bleich und verändert blieb, nichts sprach und kaum aß und schlief, hatte ihre Mutter versucht, ihr Vernunft zu predigen. »Du mußt dich jetzt endlich aufraffen, Naomi, dich zwingen, nicht immer daran zu denken! Es war ein schwerer Schlag, ja, aber schließlich,« sie hatte sich Mühe gegeben, es so zart wie möglich auszudrücken, »wart ihr doch nicht richtig verlobt und es wäre auch nie dazu gekommen, das weißt du ja. Und – und es ist nicht recht, daß du dich so in deinen Kummer verrennst. Du mußt wieder anfangen, wie die andern Mädchen zu leben, sonst gibt's leicht ein Gerede.«
Naomi hatte keine Antwort gegeben. Sie hatte bloß ihre Hände ineinander gepreßt und zur Seite geschaut.
Nur ihrem Vater gegenüber hatte sie einmal die Wahrheit gestreift. Er hatte sie weinen gehört, als er eines Tages an ihrem Zimmer vorbeiging, und war bei ihr eingetreten. »Du läßt dich zu sehr gehen! Und – nicht wahr? – Joe hat doch schließlich auf dich verzichtet. Ist es nicht so, Naomi?«
»Niemals hat Joe auf mich verzichtet!« flammte sie damals auf. »Wir liebten einander. Im Herbst wollten wir heiraten.«
Ihr Vater wußte nichts darauf zu sagen.
An all dies dachte die Mutter, als sie jetzt zu sprechen begann:
»Ich glaube, es würde dir gut tun, mit Caleb zu sprechen, auch wenn du keine Lust dazu hast. Manchmal soll man sich dazu zwingen, etwas zu tun. Selbst Leute, die miteinander verheiratet waren, müssen solche Trennungen ertragen. Denke doch, wieviel schlimmer es gewesen wäre …«
Naomi hob ihren Blick und schaute ihre Mutter an. Und die war nicht imstande weiterzureden, obwohl sie nicht wußte, warum.
Aus Furcht, man würde sie zwingen hinüberzukommen, um mit Caleb Evans über den Verkauf seines Ladens zu sprechen, schlüpfte Naomi durch die Hintertüre aus dem Haus, an der Scheune vorbei und lief zwischen den Bäumen ihrem Bache zu.
Sie schritt den Weg, den sie oft so gegangen war, um Joe zu treffen.
Es war nicht das erste Mal seitdem, daß sie hier ging. In Hochsommernächten, wenn alle im Haus schon schliefen, war sie aufgewacht und fortgegangen, als wollte sie ihren Geliebten treffen, als würde das Leben, das in ihr unterbrochen worden war, in diesen Sommernächten nach Erfüllung drängen. Oft wußte sie kaum, was sie tat; dann wieder überließ sie sich dem Traum, ihn an dem vertrauten Platz zu finden, und ihre Füße folgten dem Pfad, den sie kannten, und sie wartete am Bach bei den Narzissen. Eines Nachts, als ihr die Stille unerträglich geworden war, lief sie umher und rief laut seinen Namen; in jener Nacht warf sie sich auf den Boden, riß mit verzweifelten Händen die Blumen aus und noch auf dem Heimweg schluchzte sie: »Joe … Joe!«
Nun aber saß sie ganz still an jenem Plätzchen, wo sie mit Joe geruht hatte; ihre Hände lagen im Moos, Blätter fielen in den Bach. Joe. Wo war Joe? Wie war es möglich, daß sie einander so viel gewesen waren und daß er fortgehen durfte und sie zurückbleiben mußte, um allein all das zu fühlen, was sie einst gemeinsam empfunden hatten? Was sollte sie tun? Wie konnte sie in einer Welt leben, in der Joe nicht mehr war?
Es machte ihr Mühe, sich zu erheben. Sie war jetzt oft so unbeholfen. Obwohl sie so wenig aß, schien sie in letzter Zeit schwerer geworden. Plötzlich griff ihre Hand nach der Stütze des Baumes. Was bedeutete dieses seltsame Schwindelgefühl?
Sie hatte sich keine Gedanken gemacht, keine Befürchtungen gekannt. Was denken und fürchten hätte können, war in ihr erstorben. Jetzt aber, zum ersten Mal, begann sie zu überlegen. Monate waren vergangen. Konnte es – sollte es möglich sein? Nein, natürlich nicht, so etwas gab es ja nicht wirklich; nie für einen selbst. Doch wieder und stärker noch fühlte sie dieses Schwindelgefühl, das sie nie vorher gekannt hatte.
Dort, bei den Narzissen am Bache, wo sie einander geliebt hatten, fühlte sie zum ersten Mal Joes Kind, das sich in ihr regte.
Rascher kam man zu den Copelands, wenn man die Felder überquerte und dem Bach folgte. Doch diesen Weg wollte sie heute nicht gehen. Sorgfältig und schlicht gekleidet schritt sie in tiefem Ernst, fast feierlich, die Straße entlang, von ihrem Haus zu jenem, in dem Joe gelebt hatte. »Ich will einen kleinen Spaziergang machen«, hatte sie ihrer Mutter gesagt. »Oh, wie mich das freut!« hatte Frau Kellogg ausgerufen, denn sie hatte Naomi schon oft vergeblich zugeredet, eine ihrer Freundinnen aufzusuchen. »Soll Rosie mit dir kommen?« – »Nein, Mutter.« – »Willst du nicht Patsy mitnehmen?« – »Nein, Mutter.«
Wie ruhig sie war und wie weit fort mit ihren Gedanken. Frau Kellogg begleitete sie in den Hof. Der Novemberwind ging ihnen durch Mark und Bein. »Keine schöne Zeit zum spazieren gehen! Es sieht nach Regen aus.«
»Leb' wohl, Mutter,« gab Naomi zurück. Sie hatte ihre Handschuhe angezogen und trug ihr Taschentuch in der Hand, wie zum Kirchgang. Langsam schritt sie aus.
Bei Copelands waren einige Fensterladen geschlossen. Düster sahen die kleinen gestutzten Bäume aus. Sie hatte den Glockenzug bewegt und wartete lange auf der Freitreppe. Was sollte sie tun, wenn Frau Copeland nicht öffnen kam? Durfte sie zu dem hinteren Eingang gehen? Nein, ihr schien, das durfte sie heute nicht.
Schließlich öffnete eine Verwandte Frau Copelands, die bei ihr wohnte, ein wenig die Türe. »Ich möchte Frau Copeland sprechen«, sagte Naomi.
»Sie nimmt fast keine Besuche mehr an«, erwiderte die Frau unsicher.
»Ich weiß. Aber es handelt sich um Wichtiges.«
»Ihr Name …«
»Ich bin Naomi Kellogg.«
»Ach so – eine der Töchter unseres Nachbarn.«
»Ja. Und ich komme wegen einer sehr wichtigen Sache.«
Die Türe wurde weiter geöffnet, Naomi trat ein. »Nun, ich will sehen«, meinte die große, hagere Frau, die ›altjüngferliche Tante‹, wie Joe sie immer genannt hatte. Wieder schien sie unsicher zu zögern, doch dann sagte sie: »Sie können ja immerhin im Wohnzimmer warten.«
In dem kalten Raum saß Naomi auf der äußersten Kante eines mit Roßhaar gepolsterten Stuhles. Auf dem Mitteltisch stand ein Bild von Joe, das gleiche, das auch sie hatte. Während sie es noch betrachtete, trat jemand ins Zimmer; es war die Frau von vorhin. »Frau Copeland kann Sie nicht empfangen.«
Naomi stand auf. »Sagen Sie ihr, es handelt sich um Joe. Sagen Sie ihr, es betrifft etwas, das sie erfahren muß.« Sie saß wieder dort und betrachtete das Bild. Dann stand Joes Mutter in der Tür.
Sie war sehr gealtert und hatte sich doch nicht verändert. Sie tat Naomi leid. Dadurch wurde es ihr leichter, das zu sagen, was zu sagen sie gekommen war, denn sie war ja da, um ihr etwas zu bringen. Furcht fühlte sie nicht. Seit jenem Augenblick in später Nacht, als ihr klar geworden war, was sie tun mußte, kannte sie keine Furcht.
Frau Copeland sprach nicht, sie setzte sich nicht, so blieb auch Naomi stehen.
»Es handelt sich um Joe«, begann sie. Joes Mutter, obgleich sie fahler zu werden schien, stand unbeweglich wie vorher. Sie wußte, daß niemand ihr nahezutreten wagte.
»Sie wollten nicht, daß wir – Freunde wären«, fuhr Naomi fort. Frau Copeland richtete sich ein wenig steifer auf, obwohl ihr das nicht so leicht wie früher fiel. »Aber wir waren es doch«, sprach Naomi weiter. »Wir trafen einander, am Bach, wenn alle schliefen.«
Was würde nun geschehen? Frau Copeland sah aus, als könnte allerlei geschehen. Doch selbst sie wußte nicht, was geschehen sollte, was sie tun sollte. Vielleicht wußte sie es nicht, weil in ihrem ganzen Leben noch niemand in ähnlicher Weise zu ihr gesprochen hatte, weil bis zu jenem Augenblick alle jenem unausgesprochenen Befehl gehorcht hatten, den ihr ganzes Wesen ausdrückte und der ihr nahezukommen verbot. Und jetzt war Naomi da.
»Wir trafen einander, weil wir einander liebten.« Sie mußte sich unterbrechen, sie konnte nicht fortfahren, ehe sie nicht dies eine hinzugefügt hatte; »Wie konnten Sie glauben, Sie könnten Liebe verbieten?« Die alte Frau, die immer noch versuchte, Frau Copeland zu bleiben, wich einen Schritt zurück. »Nein,« sprach Naomi, »der Frage können Sie nicht entrinnen.« Doch weil sie, Joes Mutter, die Mutter, die er geliebt, wenn auch gefürchtet hatte, so mühsam ihre Haltung bewahrte, ging Naomi auf sie zu und zog einen Stuhl herbei. »Oh, bitte, setzen Sie sich«, sprach sie schlicht.
Frau Copeland sank in den Lehnstuhl. Sie konnte nicht mehr anders. Auch Naomi setzte sich.
»Ich bin nicht hier, um es noch schwerer für Sie zu machen. Ich kam, um Ihnen etwas zu bringen.« Doch nun, als sie dies gesagt hatte, schien es ihr, sie könnte nicht weiter sprechen. »Joe … ist nicht tot«, sprach sie schließlich. »Nicht … alles von ihm. Nicht … ganz tot. – Oh, begreifen Sie denn nicht,« schrie sie auf, da Joes Mutter immer noch unbeweglich dort saß, »wir liebten einander doch so sehr … am Bach … in den Sommernächten …« Schweigen. Naomi beendete leise: »Joe hat ein Kind hinterlassen.« Es schien lange Zeit zu vergehen, ehe eine von den beiden sich bewegte; so gewaltig standen diese Worte zwischen ihnen. Plötzlich begann es in Frau Copelands Gesicht zu arbeiten.
»Dirne!« Als hätte sie dieses Wort ausgespien.
Naomi konnte es nicht glauben. »Ich dachte, Sie würden glücklich sein«, war alles, was sie hervorbrachte.
»Glücklich!« Ihre geballten Hände fuhren umher, als hätte sie jede Gewalt über sie verloren. »Glücklich! Weil mein Sohn mich betrogen und einen Bankert hinterlassen hat, um unsern Namen zu besudeln!«
»Aber es ist doch Joes Kind«, flüsterte Naomi.
Die alte Frau wurde jetzt bissig: »Weiß ich's denn? Weil leichtfertige Weiber, wie Sie eines sind, etwas behaupten …?«
»Was sagen Sie?« fragte Naomi entsetzt.
Frau Copeland richtete sich erregt auf. »Sie wollen offenbar Geld. Sie sind gekommen, um an mir zu erpressen; nicht wahr?« Sie ballte ihre Hände und hob sie drohend. »Ich werde Sie der Polizei übergeben! In meinem eigenen Haus, mir …« Sie hatte so laut geschrien, daß ihre Verwandte hereingestürzt kam.
»Aber Maria, was geht denn vor? Nein, du darfst dich doch nicht aufregen … Was haben Sie ihr getan?« wendete sie sich fragend an Naomi.
Doch während sie sich noch bemühte, Frau Copeland zu beruhigen, fand diese wieder ihren gewohnten Befehlston. Nach der Tür weisend sagte sie: »Schaff' das Weibsbild aus meinem Hause!«
So verließ Naomi das Haus, das Joes Heimat gewesen war. »Ich glaubte, sie würde glücklich sein«, sagte sie zu sich selbst, während sie ein Schluchzen unterdrückte.
Nun war doch die Furcht über sie gekommen, und sie ertrug es nicht, in ihrem Zimmer allein zu sein; sie mußte ihre Mutter neben sich haben und Vater, oder Rosie und Willi, oder wenigstens Patsy. Sie folgte ihnen aus dem Eßzimmer in die Küche. Sie nahm eine Näharbeit und saß beim Küchenherd ihrem Vater gegenüber, der Zahlen in sein Wirtschaftsbuch schrieb. Dann nahm er die Bibel vor, in der er immer vor dem Schlafengehen zu lesen pflegte. Er grübelte darüber nach, wie es sein konnte, daß Gott sich um jeden einzelnen von uns bekümmert. Alles, was in der Bibel stand, nahm ihr Vater wörtlich. Und oft saß er, den Dingen nachsinnend, beim Küchenherd. Jesus mußte sich auf Erden einsam gefühlt haben, dachte er.
Wenn er zu Bett gegangen war, blieb ihre Mutter noch unten. Sie hatte noch allerlei zu tun, und jedesmal, wenn sie sich anschickte, die Küche zu verlassen, suchte Naomi nach einem neuen Gesprächsstoff, um sie zurückzuhalten; die Missionsgesellschaft – alles war ihr recht. Nur die Stimme ihrer Mutter wollte sie hören, wollte die Bestätigung, daß alles um sie in gewohnter Ordnung weiterging.
Sobald es oben still geworden war, befiel sie unten die Angst. Am liebsten hätte sie Rosie geweckt und in ihr eigenes Zimmer geholt, um nicht allein schlafen zu müssen, doch sie fürchtete, daß dies auffallen könnte. Sie lag im Finstern und fragte sich, was sie tun solle.
Vater und Mutter mußte sie es jetzt bald gestehen – das, was man als Schmach zu bezeichnen pflegte. Vielleicht sollte sie fortgehen, doch nein – sie hüllte sich fester in ihre Decken – sie konnte nicht fortgehen, nicht jetzt, nicht aus freien Stücken an einen fremden Ort.
Die Worte, die sie von Frau Copeland gehört hatte, begannen aus dem Dunkel heranzuschleichen. Seltsam, daß sie dies nie bedacht hatte – die Schande. Doch es hätte mit ihr und Joe nicht anders sein können; und daß nun ein Kind kommen sollte, nachdem Joe gegangen war, daß es geboren werden würde, wenn er schon tot war, das war wie ein Wunder, und sie hatte es der Frau sagen müssen, die um Joe trauerte.
Jetzt aber begriff sie, wie die andern es beurteilen würden. Nun, sie würde von den Leuten nicht verlangen, mit ihr in Berührung zu kommen. Sie wollte gerade nur hier im Hause bleiben und helfen, wo man sie brauchen konnte. Ja, jedem einzelnen wollte sie an die Hand gehen. Und ihrer Familie würde man es nicht entgelten lassen – nicht sehr, nicht auf lange. Hier im Hause wird man gut zu ihr sein, man wird sie lieb behalten.
Regenwasser hatte den Bach anschwellen lassen. Der Bach, der sie und Joe gekannt hatte, war zum reißenden Strom geworden. Und doch war es der gleiche Bach – Gewesenes blieb auch jetzt noch. Gewesenes wirkte weiter. Gewesenes wirkte weiter, trotzdem Joe verlöscht war; würde weiterwirken, wenn sie selbst nicht mehr war. Als sich endlich der Schlaf über sie senkte, war der Bach zu dem Kind in ihr geworden – fortwirkend, immerfort, in Sommernächten, in strömendem Regen und im Winter. Dann wieder Frühling, duftende Narzissen im Sommer …
Am nächsten Nachmittag, als sie ihren Vater in den Hof kommen sah, wußte sie, daß sie nichts mehr zu gestehen brauchte. Einmal schon hatte sie ihn so hereinstürmen gesehen. Sein Pferd hatte sich losgerissen und war nach Hause gerannt; er, die Peitsche schwingend, hinterher. Oh, sie hatte es gar nicht glauben können – auch nach Jahren würde sie diesen Anblick nicht vergessen –, daß es ihr Vater war, der so zornig hin und her lief und wutschäumend auf sein Pferd einschlug.
Er polterte durch die Küche in ihr Zimmer.
»Mit Joe Copeland herumgetrieben, ha? Und sitzt jetzt da, mit seinem Bastard! Das kommt davon! Schöne Bescherung! Sehr schön …« Drohend ging er auf sie zu.
»Mutter!« schrie Naomi.
Ihre Mutter stellte sich schützend zwischen sie und den Vater.
»Wilhelm!« rief sie und hob den Arm, um den Mann zurückzuhalten, der im Begriffe schien, sich auf das Mädchen zu stürzen. »Bist du wahnsinnig geworden? Was fällt dir ein? Was ist denn los?«
»Frag' die dort – was los ist! Nein, brauchst sie gar nicht fragen, sieh sie bloß an! Ja, da schau hin!«
Naomi stand gekrümmt, mit abgewendetem Gesicht – ihr Zustand war nicht zu verkennen.
»Was … meinst du …?« flüsterte die Mutter, atemlos, blaß.
»Joe Copeland! Hat sich nachts zu ihm geschlichen. Eine Kellogg wälzt sich im Gras – für einen Copeland!«
»Das ist nicht wahr! Naomi! Das kann nicht …«
»Frag' Maria Copeland, ob es wahr ist!«
»Maria Copeland? Sie weiß …?« keuchte Frau Kellogg.
»Um Hilfe gebettelt, bei der Mutter von diesem Kerl, der ihr das angetan hat!«
Da straffte sich Naomis Gestalt.
»Hilfe habe ich dort nicht gesucht!« Sie zwang sich, ihr Schluchzen zu unterdrücken, um sprechen zu können. »Ich glaubte, sie würde darüber glücklich sein.«
»Glücklich?« entfuhr es Frau Kellogg. »Mein Gott – glücklich!« wiederholte sie und brach auf Naomis Bett nieder, verbarg ihr Gesicht, stammelte: »Niemand werden wir mehr ins Gesicht schauen können!«
Der Vater wies auf die Frau, die dort zusammengesunken schluchzte:
»Da siehst du, was du deiner Mutter angetan hast, die dich geliebt und für dich geschuftet hat!« Dann erblickte er Joes Bild auf dem Tisch neben Naomis Bett. Er fuhr darauf los. »Nicht in meinem Haus!« schrie er und bevor Naomi ihn noch erreicht hatte, riß er es in Stücke, wieder und wieder. Die ganze Wut, die er gegen Joe fühlte, ließ er an den Fetzen seines Bildes aus; er warf sie auf den Boden, bespie sie und brüllte dazu: »Das gebührt dir! So hast du's verdient!«
Naomi schlug mit ihren Fäusten nach ihm.
»Wenn du nicht aufhörst, bring' ich dich um! Laß Joe aus dem Spiel!«
Und als er nochmals ausspuckte, stieß sie mit den Füßen nach ihrem Vater. Die Mutter sprang vom Bett auf, befahl: »Schluß jetzt! Hört jetzt auf damit!« Der Vater fiel kraftlos in einen Stuhl und Naomi sank schluchzend auf den Boden nieder, las die verstreuten Reste des Bildes zusammen, weinte: »Oh, Joe – hilf mir doch! Komm zu mir zurück! Hilf mir!«
Sie wurde erst still, als ihr Vater, von tiefen Seufzern unterbrochen, aufschrie:
»Hab Mitleid mit uns, o Gott, sei barmherzig!«
Das war also aus all dem Schönen geworden. Sie konnte es nicht fassen. Wenn sie an jene Sommernächte zurückdachte, in denen sie nicht bloß glücklich gewesen war, sondern gefühlt hatte, als sei ihr alles Erhabene und Schöne geschenkt, an die Augenblicke besinnungsloser Liebe und mehr noch an jene Stunden voll zartester Empfindungen, so klar und rein wie das Wasser des Baches; wenn sie sich der Sterne erinnerte, die sich darin gespiegelt hatten, an das Rauschen der Bäume, an den Duft der Narzissen in stillen kühlen Nächten; wenn sie daran dachte, was beim Ruf der Drossel in ihrem Herzen vorgegangen war – unfaßbar, daß all diese Schönheit, die der Sommer geschenkt hatte, zu dem führen konnte, was gestern in ihrem Zimmer geschehen war … »Ich muß wahnsinnig sein,« sprach sie zu sich selbst, »etwas in mir ist aus dem Gleichgewicht gekommen, ich bin nicht mehr imstande, wie andere Menschen zu urteilen.«
»N'omi!« rief ihr kleiner Bruder. »Komm doch und sieh, was Patsy kann! Schau, er sitzt auf seinen Hinterbeinen und hält den Stock im Mund!«
Ihre Augen wurden plötzlich heiß und naß – daß ihr kleiner Bruder sie rief, um mit dem Hund zu spielen, als wäre nichts geschehen, als wäre sie ein Mädchen, das einfach hinausgehen konnte, sich an einem Hund zu erfreuen. Doch schon erklang ihres Vaters rauher Befehl an Willi, den Hund in Ruhe zu lassen.
Der Vater saß in der Küche, sein Kopf hing vornüber, er grübelte. Ihre Mutter schlich mit geröteten Augen umher, leise, als wäre jemand gestorben.
Sie kam mit frisch geplätteten Kleidern in Naomis Zimmer. »Hier sind deine Sachen, Liebste.« Sie legte sie auf das Bett und kehrte sich weinend ab.
Naomi ging zu ihr hin und berührte mit scheuer Hand die gebeugte Schulter.
»Es tut mir so leid, Mutter.«
»Ach, Naomi. Haben wir dich nicht lieb gehabt? Sind wir nicht immer gut zu dir gewesen?«
»Aber Mutter – ja, natürlich. Doch was hat … was hat das damit zu tun?«
»Was es damit zu tun hat?« wiederholte ihre Mutter trotz ihrer Tränen nicht ohne Schärfe. »Oh, daß du, du Naomi, uns diesen Schimpf antun konntest!«
Gab es darauf eine Erwiderung? Kaum, denn sie und ihre Mutter waren einander in diesem Augenblick so fern, als lägen Welten zwischen ihnen. Gab es keinen Weg, der sie zusammenbringen konnte?
»Mutter,« Naomi tastete nach diesem Weg, »Joe und ich, wir liebten einander. Und du, Mutter – erinnerst du dich gar nicht mehr, weißt du gar nicht mehr, was das bedeutet? So wie Vater gestern davon sprach, so war es nicht; es war ganz, ganz anders.« Mehr wußte sie nicht zu sagen.
Ein Schweigen, doch kein feindseliges, blieb nach ihren Worten. Dann seufzte ihre Mutter hilflos:
»Ja, ich weiß nicht, was wir beginnen sollen. Dein Vater findet keinen Ausweg.«
»Ich werde fortgehen«, sprach Naomi bekümmert.
»Nein, nein, Naomi,« fiel ihr die Mutter rasch ins Wort, »du wirst gar nichts unternehmen. Versprich mir das! Nichts – ehe wir einen Entschluß gefaßt haben.«
Aber es würde ihr ja doch nichts anderes übrig bleiben.
Sobald ihr Vater das Haus verließ, ging sie zur Mutter, um ihr zu helfen. Vater und sie wichen einander aus. In seiner Gegenwart fühlte sie Scham, als wäre sie ein verworfenes Geschöpf.
Am nächsten Tage ging er nach Tisch in die Stadt und rief zurückgekehrt seine Frau nach oben. Naomi hörte sie leise sprechen.
Beim Abendessen war ihr Vater verändert – sehr ruhig, doch von jener Ruhe, die sie in der Kirche an ihm kannte, wenn der Geistliche eine Predigt hielt, die ihn innerlich stark erregte. Die Mutter brachte die Kinder vorzeitig zu Bett und blieb selbst im oberen Stockwerk. Da rief der Vater Naomi in die Küche.
»Setz dich, Naomi«, sagte er. Nach einer Pause: »Tochter, eine Wendung ist eingetreten, für die du deinem Schöpfer alle deine Tage danken sollst. Du mußt ihn lieben und ihm dienen, denn er, der Allmächtige, hat dich gerettet, Naomi. Er hat uns alle gerettet.« Naomi wartete. Ihr Vater sprach: »Caleb will dich heiraten.«
Caleb Evans saß mit ihnen bei Tisch und Naomis Platz war neben ihm. Feierlich war es, wie die Mahlzeit an einem Festtag, obwohl es nur ein Werktag war. »Noch Butter, Naomi?« fragte Caleb voll Aufmerksamkeit. Die andern gingen mit ihm um, als hätte er in der Kirche ein frommes Werk getan, und er selbst benahm sich auch so.
Frau Copeland hatte erklärt, Naomi müßte fort. Die Kelloggs hatten nicht aus, noch ein gewußt. Vielleicht könnte Bruder Baldwin Rat schaffen?
Caleb Evans war gerade in das Pfarramt gekommen, um die Rechnungen der Gemeinde abzuschließen, da seine Abreise kurz bevorstand, und Kellogg, für den der Geistliche keinen andern Rat gewußt hatte, als Gebet und Buße, erzählte ihm, ganz zusammengebrochen, alles von Joe und Naomi. Schweigend hatten dann die drei Männer dagesessen, bis schließlich Caleb sprach: »Ich werde Naomi heiraten und sie mit mir nach Santa Clara nehmen.« Sie konnten kaum glauben, daß sie richtig gehört hätten. Noch nie war ihnen so echtes Christentum begegnet! »Gott wird Sie segnen und es Ihnen vergelten!« sprach der Geistliche, während er Calebs Hand schüttelte.
So standen sie alle unter dem Eindruck eines edlen Werkes und zeigten Naomi eine gewisse übertriebene Zärtlichkeit, denn sie war ja der Anlaß, der solchen Edelmut offenbar werden ließ. Nur Naomi selbst konnte diese gläubige Ehrfurcht nicht teilen. Wenn Caleb zu ihr sprach, dachte sie nur daran, daß sie nie mehr Joes Stimme hören würde, und wenn die Blicke seiner kleinen Augen auf sie fielen, hätte sie fortlaufen mögen, denn es war nicht bloß christliche Nächstenliebe, was sie darin las. –
Dies war an einem Dienstag und Donnerstag sollte sie Caleb angetraut werden, um gleich danach mit ihm nach Colorado zu reisen. In drängender Hast mußte Frau Kellogg alles für Naomis Fahrt herrichten; an Naomi, die wie betäubt war, fand sie wenig Hilfe.
Rosie wurde gestraft. »Naomi wird auch dick!« hatte sie bei Tisch gerufen, als von der zunehmenden Schwerfälligkeit der alten Frau Sloane die Rede gewesen war. Der Vater hatte sie sofort in ihr Zimmer verwiesen. Als Naomi ihrer Schwester ein Stück Kuchen hinaufbrachte, fragte Rosie:
»Wirst du Caleb Evans denn wirklich heiraten, N'omi?«
»Freilich«, erwiderte Naomi.
»Mir ist er immer ein wenig komisch vorgekommen.«
»Mag sein«, gab Naomi zu.
»Warum heiratest du ihn dann? Warum bleibst du nicht einfach hier bei uns?«
Das war so sehr Naomis eigenster Wunsch, daß sie hastig Rosies Zimmer verlassen mußte.
Beim Abschied faßte Caleb nach ihrer Hand. Die Berührung war ihr unerträglich. »Donnerstag kommen wir, Bruder Baldwin und ich«, sagte er mit einem Funkeln seiner kleinen blassen Augen, als gäbe er ein feierliches Versprechen.
»Also auf Wiedersehen, Caleb,« rief ihr Vater, ihm lange die Hände schüttelnd, »auf Donnerstag!« und seine Stimme klang gezwungen vor innerer Bewegung.
»Und jetzt wollen wir schnell noch deine Laden durchsehen«, meinte ihre Mutter lebhaft. – »In dem neuen Land wird es viel für dich zu sehen geben«, begann sie entschlossen eine Unterhaltung, nachdem sie eine Zeitlang schweigend gearbeitet hatten. »Es ist traurig für uns, dich so weit fortzulassen, aber Liebste, wie gut von ihm! Denke doch, was das für uns alle bedeutet! Ich wage kaum zu glauben, daß es wahr ist.« Naomi räumte den Tisch ab, auf dem Joes Bild gestanden hatte. Selbst sein Bild war nicht mehr da. Sie schloß ihre Augen und versuchte, sich daran zu erinnern. Doch sie sah nur Caleb Evans Züge vor sich. »O Gott!« schrie sie auf. »Nein!«
Die Mutter richtete sich von der Wäschelade auf, die sie eben durchsah, und trat zu ihr hin.
»Mein liebes Kind, nun mußt du aber endlich diese Torheiten lassen. Bald ist das alles vorbei, dein Kummer vergessen. Caleb wird deinem Kind eine Heimat geben, er wird alle Welt bei dem Glauben lassen, es sei sein eigenes Kind – oh, wie gut von ihm! Nie, niemals habe ich von Ähnlichem gehört! Ich hätte es auch nicht geglaubt. Und dort, in dem neuen Land, wirst du neue Freunde gewinnen, auch eine Kirche …«
»Werde ich bei ihm schlafen müssen?« unterbrach Naomi.
»Naomi!« wies ihre Mutter sie tief entrüstet zurecht.
»Schlafen,« wiederholte Naomi, »und … und alles übrige?«
Frau Kellogg, rot geworden, verwirrt, erwiderte in beleidigtem Ton, daß man einem Mann, den man heiratet, auch ein Weib zu sein pflegt. »Und für dich, Naomi, muß es der Inhalt deines ganzen Lebens bleiben, ihm ein gutes Weib zu sein.«
›… Hast du seinen Antrag angenommen, Naomi? Hast du Ja gesagt, Naomi?‹ – Joes Stimme, am Bach. Wenn sie zurücklauschte in jene Nacht, die jenseits dieses Sommers war, hörte sie ihn ganz deutlich wieder, den Bach und trotz den Novembernebeln fühlte sie den Duft der Narzissen aus jenen Frühsommernächten. Doch Joes Stimme, die weiche betörende Stimme des Geliebten, kam nicht wieder. Statt dessen Calebs kreischende Fisteltöne. Joe war nicht mehr, selbst sein Bild war nicht mehr und sie hatte Ja gesagt! War das ein Traum, der Albdrücken wurde?
»Mutter!« schrie sie gequält, wie sie aus einem Angsttraum aufgeschrien hätte. »Ich glaube, es ist nicht recht von mir, ihn zu heiraten; mit den Gefühlen, die ich für ihn habe; mit den Gefühlen, die ich für Joe habe.«
»Bruder Baldwin sagt, es sei recht. Darüber ist kein Wort mehr zu verlieren, Naomi«, erwiderte Frau Kellogg scharf. »Wir haben es beschlossen. Und es bleibt auch nichts anderes übrig,« fuhr sie etwas milder fort. »Denke doch an Rosie! Denke daran, was die Leute sagen würden. Bedenke, welch ein Leben dein Kind hätte! Ja, daran denke, Naomi. Und jetzt gib mir deine Strümpfe heraus, Liebste, ich will nachsehen, ob sie gestopft werden müssen. Alles wird schon gut werden,« schloß sie nachdenklich, »sobald es nur einmal vorbei ist.«
Zwecklos, aus diesem bösen Traum nach der Mutter zu rufen. Deren Liebe war wohl ungebrochen, doch der Mut verließ sie, wenn die Frage laut wurde, ›was die Leute sagen würden‹. Sie wußte gut, was Naomi bevorstand, wie das Erwachen nach diesem bösen Traum sein würde, und doch fuhr sie fröhlich fort, von den Strümpfen zu sprechen, als ob sie es nicht wüßte.
Draußen hörte Naomi Patsys aufgeregtes Kläffen. Ihr Vater hackte Holz und unterbrach sich manchmal, um dem Hund ein Scheit zuzuschleudern, der es stets eifrig zurückbrachte und nach weiterem Spiel verlangte. Während sie ihren Vater betrachtete, fielen ihr Dinge ein, die sie erst jetzt zu begreifen begann. Eine Magd, die sie einst hatten, ein bildschönes Mädchen; manche der hübschen Frauen in der Kirche – und die Blicke, mit denen er sie ansah. Sie nahm ihren Mantel um und ging zu ihm hinaus.
»Vater,« sprach sie, »wäre es nicht möglich, daß ich hier zu Hause bei euch bliebe, statt mit Caleb Evans fortzugehen?« Er hatte freundlich aufgeblickt, als er sie auf sich zukommen sah, seine Arbeit unterbrochen, um sie zu begrüßen, doch jetzt verhärteten sich seine Züge. »Ich fürchte mich so,« beeilte sich Naomi fortzufahren, »und gerade noch diese kurze Zeit, gerade jetzt, bis es vorbei ist, möchte ich hier bleiben, wo ich immer gewesen bin. Ich möchte unser Haus nicht verlassen. Ich möchte in meinem eigenen Bett liegen und aus dem Fenster auf unsere Bäume sehen können. Dort kann ich doch unsern Bach nicht hören.« Ihre Unterlippe zuckte, er legte seine Hand auf ihren Arm. Zu ihren Füßen kläffte schweifwedelnd der Hund. »Nie mehr in unserer Küche sein zu dürfen, alle unsere Pfannen und Schüsseln nicht mehr zu sehen …« Schluchzen lag hinter ihren Worten. »Nie war mir dies alles so lieb wie jetzt. Bleibt es denn nicht mein Heim – trotz alledem? Kann ich nicht ein wenig länger hier sein?« Ja, zu ihrem Vater hatte sie den Weg gefunden. »Niemals, Vater, hatte ich euch so nötig wie jetzt.«
Die ganze Zeit hatte Patsy heftig gebellt, jetzt bückte sich ihr Vater und warf einen Stein für ihn. Dann sahen sie zu, wie er ihn zurückholte – stolz, hocherhobenen Hauptes. Wie oft hatten sie beide ihm so zugesehen.
»Aber was könnten wir tun, Naomi?« fragte ihr Vater. »Nein, nein,« fügte er strenger hinzu, »das hieße Schimpf und Schande! Für dich, für jeden von uns.«
»Und wenn Ihr … um meinetwillen … ein wenig Schande auf euch nehmen würdet?« fragte sie scheu. »Das meiste hätte ja doch ich zu tragen. Wenn alles vorbei ist, will ich fortgehen und für mich und mein Kind ein neues Leben beginnen. O Vater, das wäre mir so viel lieber.«
»Für dein Kind, das ohne ehrlichen Namen bleibt?« Er begann sich zu ereifern. »Jetzt hast du die Möglichkeit, diesem Kind einen Vater zu geben, und dafür solltest du Gott auf den Knien danken!«
»Vater, erinnerst du dich noch, was – Lieben heißt?« Er sah sie verwundert an. »Mit Caleb Evans leben … und Joe lieben …«
»Das war mir eine schöne Liebe!« Joes Name hatte seinen alten Zorn geweckt.
»Ja,« sagte Naomi, »das war eine schöne Liebe. Schöner als die schönsten Dinge der Welt. Und alles andere wurde durch sie verschönt. Der Bach und die Vögel und die Bäume – alles war voll Musik. Ich roch die Narzissen und das Heu, ja Vater, selbst dein Heu nahm an meiner Liebe teil. Ich fühlte das Moos und betrachtete das Spiel von Licht und Farben. Eine tiefe Ruhe war in mir, und euch alle – Mutter und dich, Rosie und Willi, sogar Patsy – liebte ich mehr als jemals zuvor. Ich war besser geworden, Vater, milder, reicher und fromm. Und das alles erschien mir so schön, so unendlich schön, daß ich weinen konnte, wenn ich darüber nachdachte.« Schweigen lag zwischen Vater und Tochter, doch ein Schweigen, in dem ihre Gefühle sich trafen. So standen sie vor dem Holzblock neben der Scheune und blickten in den entschwindenden Novembertag. Ja, ihr Vater verstand sie jetzt. »Nein, es wäre unrecht,« sagte Naomi noch. Das hätte sie nicht sagen sollen – unrecht.
»Bruder Baldwin sagt, daß es recht ist.«
»Bruder Baldwin – was weiß denn er?«
»Aber Naomi, schau …« so begann er mit Argumenten, kam in Eifer, in Zorn … Und einen Augenblick früher waren sie einander doch ganz nahe gewesen, und auch jetzt wußte Naomi, daß ihr Vater sie trotz allen seinen Worten verstand. Weil er sie verstand, verbarg er sich hinter Worten. Was für ein guter Mensch Caleb wäre, ein edler Mensch, wie sichtbar Gott ihr seine Gnade bewiesen habe, daß ihr Kind vor niemandem würde die Augen niederschlagen müssen …
»Du kennst die Welt nicht, Naomi. Ein Mädchen, das seinen Ruf verloren hat, hat alles verloren«, belehrte er sie salbungsvoll. »Und so bald es angeht, kommst du nach Hause uns zu besuchen«, schloß er in einem Ton, der fast heiter klang.
Naomi war reisefertig. »Dreiviertel drei. Jetzt müssen sie gleich kommen«, sagte die Mutter mit unverhüllter Unruhe. Der Vater ging in den Schuhen umher, die er zum Kirchgang anzuziehen pflegte und sie knarrten. Die Eltern mühten sich, ein Gespräch in Gang zu halten, wie manche Leute meinen, selbst bei Leichenbegängnissen Gerede machen zu müssen. Ihr Vater sagte: »Ja, Naomi, die Berge zu sehen, wird ein Erlebnis für dich sein. Du bist die einzige von uns Kelloggs, der das vergönnt ist.« – »Caleb hat erzählt, daß es dort eine so reizende Kirche gibt«, meinte die Mutter. »Allerdings nicht allein für unsere Sekte, sondern für mehrere gemeinsam.« – »In einem neuen Land ist das eine sehr gute Einrichtung«, sagte der Vater dann wieder und beide begannen eifrig, über Kirchen und Sekten zu sprechen.
Naomi beugte sich nieder und legte ihre Hand auf Patsys Kopf. Sie streichelte seine langen seidenweichen Ohren, und er blickte schweifwedelnd zu ihr auf. »Patsy,« sagte sie leise, doch als sie ihre eigene Stimme den vertrauten Namen sprechen hörte, mußte sie sich schnell abwenden. Sie blickte aus dem Fenster. Die Scheune, die andern Schuppen im Hof – so vertraut in ihrer Baufälligkeit. Die Hühner scharrten, Kühe standen hinter dem Zaun, an den Fliedersträuchern und Rosenbüschen welkten jetzt die Blätter; sie betrachtete die Bäume und wußte, sie würde ihr Bild immer, immer behalten, die Stellung jedes einzelnen Baumes zwischen den übrigen.
»Ich hab' immer gedacht, bei einer Hochzeit muß Musik sein«, beklagte sich Rosie.
»Naomi heiratet ganz im stillen zu Hause und fährt dann gleich weg«, sagte die Mutter darauf in betont ungezwungener Weise.
»Und auch Torte wird es keine geben, mit Zuckerguß oder Kerzen oder ähnliches?«
»Torte gibt's nachher zum Kaffee.«
»Mit Zuckerguß?« erkundigte sich jetzt Willi.
»Sei still!« brummte der Vater.
Naomi ging in ihr Zimmer. Jetzt erst hatte sie das Gefühl, daß Joe ganz von ihr ginge, jetzt, da sie im Begriffe war, dieses Zimmer zu verlassen, in dem sie die große Liebe und den großen Schmerz erlebt hatte. Wie gern wäre sie ihm gefolgt. Wieviel lieber würde sie für immer still und ohne denken zu müssen unter der Erde ruhen, als mit Caleb Evans leben zu müssen. Warum nur hatte sie es nicht getan? Warum tat sie es nicht jetzt noch? Während sie dastand und darüber nachsann, fühlte sie die Schwere ihres Körpers. Nein, das, was von Joe lebte, durfte sie nicht töten!
»Dort kommen sie«, hörte sie die Stimme ihrer Mutter, die jenen feierlichen Klang hatte, der immer mit den Festtagskleidern zu kommen schien.
Naomi entfloh durch die Hintertüre, zu den Bäumen, zu ihrem Bach.
»Joe!« flüsterte sie, als sie das verschwiegene Plätzchen erreichte, wo die Narzissen gestanden hatten. Schluchzend sank sie auf den Novemberboden. Sie versuchte, sich Joes Bild zurückzurufen, als die Stimme ihres Vaters – herrisch und zornig – sie aufschreckte.
»Naomi, Naomi!«
»Hier bin ich, Vater«, antwortete sie müde.
»Das nennst du Dankbarkeit?« schrie er wuterstickt. »Du kommst jetzt sofort herein und läßt dich Caleb Evans antrauen oder dein Fuß betritt nie wieder die Schwelle meines Hauses! Dann magst du eine Ausgestoßene sein, ein Weib, dem kein anständiger Mensch die Türe öffnet! – Komm doch, Naomi« sagte er, plötzlich ganz ruhig und nahm ihren Arm. »Das sind ja Dummheiten. Komm jetzt mit mir nach Hause.«
»O Vater – ich kann nicht!« Verzweifelt, mit aller Inbrunst flehte sie ihn jetzt an. »Joe gehöre ich! Joe. Solang ich lebe wird es so sein!«
»Joe ist tot. Es wäre kein guter Dienst, den du ihm erweist.« Sie blickte zu ihm auf. »Hast du nie daran gedacht? Jetzt wird er betrauert, geachtet. Willst du Schande über sein Grab bringen? Willst du, daß sein Name zu einem Schimpfwort wird?«
Naomi blickte in den Bach und dachte nach.
»Vater,« sprach sie schließlich, »ich werde mit dir kommen und Caleb Evans heiraten, wenn du eines für mich tun willst.«
»Was soll es sein, Naomi?« fragte er nachsichtig.
»Geh dort hinüber,« sie wies nach dem Hügel in der Richtung der Copelands, »und sage Joes Mutter, daß ich mich verheiraten und fortgehen will, wenn sie mir eines von Joes Bildern mitgibt.« Ihr Vater starrte sie nur wortlos an. »Und wenn du das nicht tun willst, dann bringt mich keine Macht der Welt dazu, Caleb Evans zu heiraten.«
Als Wilhelm Kellogg seine Tochter ansah – ein Weib, das er nie zuvor gekannt hatte – wußte er, daß tatsächlich keine Macht der Welt ihren Entschluß erschüttern konnte. Und er ging den Weg zu den Copelands.
»Hier ist dein Bild, Naomi«, hörte sie ihren Vater sagen.
Sie wandte sich von ihm ab und trat ganz nahe zum Bach. Dort nahm sie das Bild aus der Umhüllung und betrachtete es.
»Ich danke dir, Vater«, sprach sie dann ruhig und ging mit ihm dem Hause zu.