Otto Gildemeister
Essays - Erster Band
Otto Gildemeister

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Politische Tugenden

(1890)

Beim Vater Gleim in Halberstadt – ich weiß nicht mehr, wo ich es gelesen habe, vermutlich in irgend einem Briefwechsel oder Memoirenwerke – beim Vater Gleim saßen einmal poetische Kollegen und verehrungsvolle Freunde in der Sommerlaube zusammen, bei einem Glase Wein und einem verständigen Diskurs sich ehrbar erlabend. Man sprach, wie es im vorigen Jahrhundert gebräuchlich war, von der Tugend im allgemeinen und von der Dankbarkeit im besonderen, nicht ohne Gründlichkeit und nicht ohne Rührung, wie man sich denken kann. Wie lieblich die Wallungen eines gefühlvollen Herzens bei empfangenen Wohltaten, wie abstoßend die Proben undankbarer Gesinnung für jeden Menschenfreund seien, das ward bald von dem einen, bald von dem anderen der wackeren Männer des weiteren erörtert und mit Beispielen aus der heiligen und der Profangeschichte illustriert. Nur einer unter den Anwesenden schien sich für das interessante Thema wenig zu interessieren; er schwieg, und ab und an gähnte er verstohlen ein bißchen. Es war ein junger, schöner Mann mit strahlenden Augen, ein Gast aus Weimar, Dr. juris Goethe mit Namen. Da er im Rufe stand, ein schöner Geist zu sein, so wünschten die Halberstädter auch von ihm ein kräftig Wörtlein zum Preise ihrer Lieblingstugend zu hören. Aufmerksam spitzten sie die Ohren, als die Lippen des Fremdlings sich öffneten; aber wie weit rissen sie die Augen auf, als sie die Rede vernahmen! Dankbarkeit, so begann der junge Doktor, sei das Merkmal niedriger Naturen; der wahrhaft gute und edle Mensch müsse undankbar sein. Und als hiegegen Widerspruch und Kopfschütteln entstand, verteidigte er, so erzählt der Berichterstatter, seine These mit so viel hinreißender Beredsamkeit und so glänzendem Witze, daß, als er endete, die Tafelrunde in lauten Beifall ausbrach.

Welche Argumente Goethe vorgebracht hat, weiß ich nicht; der Erzähler hat es nicht nötig gefunden, sie mitzuteilen. Aber so viel darf man als gewiß annehmen, daß Goethe weder mit dem Ernste eines Dogmatikers, noch mit dem seichten Witze eines Spaßmachers geredet hat. In der Form eines Paradoxons wird er seinen Zuhörern veranschaulicht haben, daß menschliche Lehrsätze, menschliche Moralregeln immer nur einen bedingten Wert haben und die Dinge manchmal höchst sonderbare Schatten werfen, wenn man die übliche Beleuchtung ein wenig ändert. Vielleicht hat er darauf hingewiesen, daß Dankbarkeit, im gewöhnlichen Sinne des Wortes, auf Wohltaten sich bezieht, die uns persönlich zu teil geworden sind, uns allein oder uns in Gemeinschaft mit anderen, die zu uns gehören, Familienmitgliedern, Nachbarn, Mitbürgern; daß also diese Regung dem Egoismus entspringt und sich sehr unterscheidet von jener Freude am Guten, die unabhängig ist von der Berechnung, ob das Gute uns oder Fremden erzeigt wird. Mit Recht konnte er behaupten, daß es das Merkmal einer niedrigeren Natur sei, sich nur von selbstempfangenen Wohltaten rühren zu lassen, dagegen kalt zu bleiben bei dem Anblick der schönsten Handlungen, die nur einem dritten zu gute kommen. Schwerlich hat er sagen wollen, daß derjenige, der nicht einmal die selbstempfangene Wohltat, geschweige die anderen erwiesene, in seinem Herzen anerkennt, besser sei als der dankbare Egoist. Und noch ferner hat es ihm gelegen, den zu preisen, der Gutes mit Bösem vergilt, also dasjenige zu verherrlichen, was man gewöhnlich meint, wenn man von schwarzem Undank, schnödem Undank spricht.

Noch sind zwei Gesichtspunkte zu erwähnen, die möglicherweise von Goethe betont worden sind. Einmal ist Dankbarkeit auch für schlechte Handlungen möglich. Ein Verbrechen kann einem dritten nützlich sein, und der dritte kann sich dafür erkenntlich erweisen. König Agramant schenkt dem Brunello eine Krone, weil Brunello mit Erfolg für ihn stiehlt. Dergleichen kommt nicht bloß in Märchen vor. Zweitens aber – und das führt uns in den Mittelpunkt unserer Betrachtung – kann Dankbarkeit geübt werden mit Hintansetzung anderer Pflichten, und diese anderen Pflichten können höhere sein als die Pflicht der Dankbarkeit. In dem Falle wird die Dankbarkeit in der Tat unsittlich oder, wie Goethe in Halberstadt gesagt hat, ein Laster. Es kann nie und nimmer recht und gut geheißen werden, wenn jemand, um sich einem Wohltäter, seinem Vater, seinem Lebensretter dankbar zu erweisen, einen Meineid schwört, einen Vaterlandsverrat begeht, eine Tochter verkuppelt. Dies leuchtet ohne weiteres ein, und wer in solchem Sinne, mit solcher Einschränkung die Unterdrückung der dankbaren Regung eine Tugend nennte, würde kaum einem Widerspruch begegnen.

Wie geht es nun zu, daß, als vor einigen Wochen ein Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses beiläufig hinwarf, daß Undankbarkeit eine der größten politischen Tugenden sei, gegen ihn ein Hallo biedermännischer Entrüstung sich erhob? So viel lag doch wohl auf der Hand, daß der Redner nicht die Anerkennung oder die Belohnung geleisteter außerordentlicher Verdienste verdammen oder gar die Mißhandlung verdienter Männer empfehlen wollte. Augenscheinlich – weil jede andere Deutung Unsinn gewesen wäre – sollte der Ausspruch nur besagen, daß man im politischen Leben seine Handlungen und Vota immer nur nach dem Maßstabe des gemeinen Besten einrichten und davon niemand, auch nicht dem größesten Wohltäter, auch nicht dem verehrtesten Manne zuliebe abweichen solle. Und das ist doch völlig unanfechtbar; im politischen Leben ist eine solche Einschränkung des Einflusses der Dankbarkeit noch gerechtfertigter als im Privatleben, weil der politische Mensch, der Regent, der Minister, der Volksvertreter durch übel angewandte Dankbarkeit die Interessen der Allgemeinheit, die seiner Fürsorge ausdrücklich anvertraut sind, preisgibt oder in Gefahr bringt. Einem Hausvater mag man es nachsehen, wenn er in dankbarer Erinnerung an langjährige treue Dienste den alterschwachen Arzt nicht verabschieden mag; ein König, der aus solchen Motiven die Zügel des Regiments in den lahmen Händen eines greisen Ministers ließe, würde pflichtwidrig handeln.

Die Sache liegt in der Tat so einfach, daß man fragen könnte, weshalb sie denn überhaupt und noch dazu mit einem so scharfen epigrammatischen Akzent zur Sprache gebracht werden mußte. Alle Welt ist ja einverstanden, daß die Dankbarkeit zurückstehen muß, wo sie mit dem Staatswohl in Konflikt gerät. Niemand wird – in der Theorie wenigstens – es für richtig erklären, wenn der Monarch oder der Reichstag eine verderbliche Maßregel genehmigt, weil der Antragsteller, der sich anderweit hohe Verdienste erworben hat, auf diese Maßregel erheblichen Wert legt und durch Ablehnung sich gekränkt fühlen könnte. Freilich, in der Theorie wohnen die Gedanken leicht beieinander. Aber in der Praxis hat sich die Sache in Deutschland doch etwas anders entwickelt. Der Appell an die Dankbarkeit ist während der Ära des Fürsten Bismarck zu einem stehenden Artikel in der Polemik der Parteien geworden: der Reichskanzler wünscht es, und ihm verdanken wir doch so viel! Die Opposition gegen Regierungsmaßregeln wurde in erster Linie immer deshalb gebrandmarkt, weil sie von Pietätlosigkeit und Undank gegen den Begründer der deutschen Einheit zeuge. Ihre Überzeugungen mochten die Freisinnigen gern behalten, aber sie sollten nicht danach reden oder stimmen. Sie sollten gutheißen, was sie für schlecht hielten, wenigstens schweigen – aus Dankbarkeit. Wenn ein Mann zu verstehen gab, daß er im Grunde seiner Seele die Getreidezölle für äußerst schädlich und ungerecht halte, daß er aber gleichwohl dafür stimmen wolle, weil er nicht vergessen könne, was Fürst Bismarck für Deutschland getan habe, – so war er schallenden Beifalls sicher und er wurde anderen als nachahmenswertes Beispiel hingestellt. Einer solchen Anschauung gegenüber, die wie die Wasserpest allmählich alles zu überwuchern drohte, war es nicht überflüssig, daran zu erinnern, daß im Staatsleben das Gegenteil solcher Dankbarkeit eine Tugend ist.

Seine Übereinstimmung mit diesem Satze hat kein geringerer als unser Kaiser durch ein eklatantes Exempel zu erkennen gegeben. Als er den Fürsten Bismarck aus seinen Ämtern entließ, mußte er notwendig eine Wahl treffen zwischen der Rücksicht auf die Verdienste seines Kanzlers und der Rücksicht auf das öffentliche Wohl, das öffentliche Wohl oder das, was es nach des Kaisers Überzeugung erheischte. Nun kann niemand bezweifeln, daß der Kaiser von den Leistungen des Fürsten Bismarck eine sehr hohe Meinung hat, daß er lebhaft anerkennt, wieviel Deutschland, Preußen und die Dynastie dem Fürsten schulden. Er hat davon bei verschiedenen Gelegenheiten mit einer bei Prinzen ungewöhnlichen Wärme und Deutlichkeit Zeugnis abgelegt. Trotzdem hat er, als die Entlassung des Kanzlers ihm durch ein politisches Interesse geboten erschien, die Staatsräson entscheiden lassen und dem Gefühle persönlicher Dankbarkeit keinen anderen Ausdruck als den persönlicher Ehrenbezeigungen gestattet. Und darin hat er richtig und pflichtmäßig gehandelt. Es kann Leute geben, die den Entschluß des Kaisers für unrichtig halten, weil sie das öffentliche Interesse anders beurteilen: das ist eine Sache für sich. Auch diese Leute müssen einräumen, daß, wenn der Kaiser einmal so urteilte, wie er urteilte, er auch so handeln mußte, wie er gehandelt hat, und sich nicht von dankbaren Anwandlungen in seiner Herrscherpflicht beirren lassen durfte. Was aber vom Herrscher gilt, das gilt von jedem, der eine politische Pflicht zu erfüllen hat, namentlich also von Volksvertretern.

Wer im Sinne der vorstehenden Ausführungen Undankbarkeit eine Tugend nennt, läßt durchblicken, daß er es nicht für leicht und angenehm hält, da, wo es sein muß, die entgegengesetzte Regung zu unterdrücken. Je zarter und feiner das Herz empfindet, desto peinlicher ist es ihm, den Wohltäter als Gegner behandeln zu müssen. Stumpfsinn und Roheit finden sich ohne Mühe mit dem Konflikte ab: Lob und Bewunderung zollt die Menschheit nur da, wo sie erkennt, daß ein schmerzliches Opfer um der Sache willen dargebracht worden ist. Was wäre in Shakespeares Drama Brutus, wenn er den Cäsar, den er tötet, nicht liebte und verehrte? Nur deshalb preist ihn Antonius, der in diesem Falle des Dichters Urteil resümiert, als »den edelsten von allen diesen Römern«.

Dankbarkeit gleicht einem liebenswürdigen Gaste, dem die Türe zu weisen schwer fällt; umsomehr muß man sich erinnern, daß es Türen gibt, die ihr verschlossen bleiben sollen. Mit dem Vertrauen steht es nicht viel anders. Es ist oft ein Begleiter der Unschuld, der Herzensreinheit, des Seelenadels und nicht selten ein Zeichen von Selbstbewußtsein einer großen Kraft. Das hindert nicht, daß es Fälle und ganze Lebensgebiete gibt, wo das Vertrauen, eben wie die Dankbarkeit, übel angebracht ist, wo es zum Fehler und selbst zum Laster wird. Zu diesen Lebensgebieten gehört vor allem die Politik, und um diese Wahrheit gegen die Lobredner einer blinden Vertrauensseligkeit nachdrücklich zu betonen, hat derselbe Abgeordnete, der die Undankbarkeit pries, auch das Mißtrauen zu den größesten politischen Tugenden gerechnet.

Seltsam, daß gerade dieser Ausspruch in einer politischen Versammlung Entrüstung erregen konnte. Seit Aristoteles ist die Theorie und seit den Tagen der ersten ägyptischen Dynastie ist die Praxis über diesen Punkt, daß im Staate das Vertrauen nur einen begrenzten Spielraum haben dürfe, einig gewesen. Alle klugen Regenten und alle weisen Gesetzgeber, so verschieden ihre Absichten sein mochten, die Despoten nicht minder als die Volksfreunde, waren einander von jeher darin gleich, daß sie nichts dem Vertrauen auf Tugend und Intelligenz der Menschen überlassen mochten, was durch Bürgschaften, feste Ordnungen und Kontrollen sichergestellt werden konnte. Auf diesem Mißtrauen gegen die Regierenden und die Regierten beruhen neun Zehntel aller Einrichtungen des modernen Staates, von dem Erfordernisse der ministeriellen Gegenzeichnung bei königlichen Erlassen bis herab zu der Schnarre des Nachtwächters. Ohne dies Mißtrauen – wozu Volksvertretungen, Polizeibehörden, Steuerkontrollen, Revisionen aller Art, Rechnungshöfe, Prüfungsvorschriften u. s. w.? Und dies Mißtrauen liegt begründet in der Natur der Sache, welche identisch ist mit der Natur des Menschen. Staat ist ein abstrakter Begriff; was wir der Kürze wegen so nennen, ist ein Komplex lebendiger Menschen mit allen Tugenden und Lastern, allen Kräften und Schwächen, aller Intelligenz und allem Irrtum, die unseres Fleisches Erbteil sind. Mit dieser bunten lebendigen Welt, mit ihren guten und mit ihren schlimmen Eigenschaften sich abzufinden, ist Sache des Politikers, sei er Regent, Verwalter, Gesetzgeber oder Aufsichtsrat. Da Tugend und Intelligenz, wenn sie Hand in Hand miteinander gehen, keinen Schaden anrichten werden, so hat der Politiker um diese glückliche Kombination sich nicht zu kümmern. Aber die Tugend, die mit Unverstand, die Intelligenz, die mit Selbstsucht sich verbindet, und vor allem jene breite Mittelschicht, wo edle Metalle und Schlacken vermischt lagern, diese fordern seine stete Aufmerksamkeit und Tätigkeit heraus, damit nicht blinde Gutherzigkeit Unheil anrichte, Schwäche zur Ungerechtigkeit führe, Trägheit das Haus verfallen lasse, Eigennutz die öffentlichen Mittel ihrem Zweck entfremde, Macht zur Befriedigung persönlicher Launen mißbraucht werde.

Die Aufgabe ist, zumal in großen Staaten, so ungeheuer groß, daß sie auch im günstigsten Falle immer nur unvollkommen gelöst werden kann. Die verfügbare Arbeitskraft und Leistungsfähigkeit ist viel zu gering, um eine allumfassende Kontrolle durchzuführen. Ganz unmöglich ist es, die wünschenswerte Vorsicht und Überwachung der unendlichen Mannigfaltigkeit, der individuellen und der sachlichen, in der das Staatsleben sich vollzieht, anzupassen. Hier ist nur grobe Arbeit möglich, und ohne eine gewisse Pedanterie wird es nicht abgehen. Auch soll nicht geleugnet werden, daß manchmal das richtige Prinzip verkehrt angewandt wird, daß aus Mißtrauen bisweilen mehr Gutes gehemmt als Schlimmes abgehalten wird. Und man versteht es sehr wohl, daß tatkräftige, von der Reinheit und Weisheit ihres Strebens durchdrungene Männer in Harnisch geraten, wenn parlamentarisches Mißtrauen oder Pedanterie der Oberrechnungskammer ihren Flug stört. Aber töricht und entschieden abzuweisen ist der nicht selten gemachte Versuch, die Betätigung politischen Mißtrauens, das Verlangen nach genauer Auskunft, nach Bürgschaften für richtige Verwendung bewilligter Mittel, nach Einschränkung weitgehender Vollmachten und dergleichen auf das Gebiet der persönlichen Kränkung hinüberzuspielen. Wenn Frauenzimmer so räsonieren, mag es hingehen. Männer, die dem Gemeinwesen dienen, müssen wissen, daß das Mißtrauen, welches in politischen Einrichtungen, Maßregeln und Vorbehalten sich ausspricht, gegen die menschliche Natur im allgemeinen, nicht gegen bestimmte Personen gerichtet ist. Dadurch fällt der kränkende Charakter hinweg. Kein Richter faßt es als Beleidigung auf, wenn die Visitatoren kommen, um nachzuschauen, ob bei ihm alles in Ordnung ist; kein Kassenbeamter fühlt sich verletzt, wenn der Vorgesetzte ihn auffordert, Bücher und Barschaften und Belege nachsehen zu lassen. Wir selbst, wenn wir an der Grenze den Reisekoffer öffnen müssen, empfinden, so langweilig die Sache uns sein mag, keinen Angriff auf unsere Ehre. Wir unterwerfen uns der Regel, die dem Mißtrauen entstammt, wohl wissend, daß die Regel im öffentlichen Interesse »um der Schwachen willen« notwendig ist, und daß der Staat nicht a priori zwischen Verdächtigen und Unverdächtigen unterscheiden kann. Der Minister, den ein mißtrauisches Parlament mit lästigen Kautelen quält, kann sich immer mit dem Gedanken trösten, daß das Parlament, indem es ihm gegenüber sich vorsichtig zeigt, ebensosehr an die Nachfolger und die Kollegen wie an ihn zu denken hat.

Wenn man mir sagt: »Es gibt aber doch Fälle, wo Mißtrauen schädlich, Vertrauen heilsam, selbst unentbehrlich ist,« so antworte ich Ja. In Dingen, die sich nicht kontrollieren lassen und die doch geschehen müssen, bleibt keine Wahl: man muß sich bescheiden, die ausführenden Personen sorgfältig auszusuchen, und dann diesen das Vertrauen schenken, daß sie ihr Bestes tun werden. Der Wiener Hofkriegsrat, der die kommandierenden Generale auf Schritt und Tritt überwachte und korrigierte, die Kommissäre des französischen Konvents, die den Heerführern als Tugendwächter zur Seite gestellt wurden, sind bekannte Beispiele der Lehre vom zu weit getriebenen und schädlichen Mißtrauen. Aber selbst solche Beispiele beweisen im Grunde nicht so sehr die Schädlichkeit der Wachsamkeit als vielmehr die Beschränktheit der Mittel, die uns zu Gebote stehen, um Wachsamkeit zu üben. Wenn es ein Mittel gäbe, Feldherren von falschen Schritten abzuhalten, ohne sie gleichzeitig an richtigen Schritten zu hindern, wenn man den Mißbrauch verhüten könnte, ohne den Gebrauch zu lähmen, so wäre gegen die Anwendung derartiger Mittel nichts zu sagen, vielmehr, sie nicht anzuwenden, tadelnswert.

Man braucht nicht zu befürchten, daß, wenn im öffentlichen Leben die Regel der wachsamen Vorsicht bis an die Grenzen der praktischen Möglichkeit durchgeführt würde, das Element des Vertrauens aus der Politik gänzlich ausscheiden müßte. Ein oberflächlicher Blick auf unsere parlamentarischen Verhandlungen genügt, uns zu beweisen, daß es weite Gebiete gibt, wo der Volksvertreter durchschnittlicher Art sich auf das Urteil anderer und auf den guten Willen und die Befähigung der vollziehenden Organe verlassen muß und in der Tat sich darauf verläßt. Bei Bewilligung für Heer und Flotte, bei Abstimmungen über große Justizgesetze, über Maßregeln der Sozialreform, über Tarife und Steuereinrichtungen, kurzum in fast allen wichtigsten Angelegenheiten werden notgedrungen von zahlreichen Reichstagsmitgliedern, häufig von der Mehrheit, nicht selten vom ganzen Hause Vertrauensvota abgegeben, Vota, die lediglich auf der Annahme beruhen, daß die Regierungen und die Fachmänner die richtigen Anträge gestellt haben werden, und auf der Erkenntnis, daß der Volksvertretung die zur materiellen Prüfung nötige Sachkunde abgeht. Daran wird die Zukunft schwerlich viel ändern; sie wird, mit der fortschreitenden technischen Entwicklung aller Zweige der Verwaltung, das Gebiet der notgedrungenen Vertrauensvota eher noch erweitern. Das vermögen wir nicht zu ändern. Umsomehr sollen wir da, wo wir es können, die Tugend üben, die zwar einen unschönen Namen führt und eines liebenswürdigen Äußern entbehrt, die aber der Gesundheit des Staats dient wie die Hygiene der leiblichen – das Mißtrauen. Millionen Katastrophen, große und kleine, hat die Welt gesehen; wie wenige davon hat das Mißtrauen verschuldet? wie unzählige das Vertrauen?


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