Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

11

Mein nächster bewußter Eindruck war ein Gefühl des Erstickens. Mein Hals war wie verbrannt, meine Zunge trocken wie ein Garnknäuel. Ich konnte nicht durch die Nase atmen. Ich schlug eine steifes, geschwollenes Augenlid auf und sah in die traurigen Augen einer bleichen Frau, auf deren schwarzem Haar eine Pflegerinnenhaube saß. Sie lächelte – ein düsteres Lächeln.

»Wasser«, krächzte ich, und sie hielt mir ein Glasgefäß an die zerrissenen Lippen. Ich schluckte mühsam und suchte ihre Augen.

»Es geht Ihnen schon besser. Alles wird wieder gut werden«, sagte sie.

Ich wollte schon fragen: »Wo bin ich?« aber das kam mir doch zu albern vor.

»Erzählen Sie mir, Schwester, was nachher noch passiert ist«, sagte ich. »Ich weiß nur, daß das Flugzeug stürzte und die Erde sehr rasch herauf kam.«

»Sie wurden hinter den roten Linien abgeschossen«, antwortete die Pflegerin ruhig. »Sie sind verwundet und liegen als Gefangener in einem Bostoner Lazarett.«

»Seit wann?«

»Passiert ist es am Weihnachtstag, und am Tag darauf wurden Sie hier eingeliefert. Das war gestern.«

»Wo ist Speed?«

»Wer?«

»Mein Pilot, der Junge, der bei mir war. Lebt er noch?«

»Er liegt hier neben Ihnen«, antwortete sie, mit dem Kopf auf das nächste Bett weisend. »Er ist noch bewußtlos – Schädelbruch.«

»Wird er am Leben bleiben?«

»Das wissen wir noch nicht. Aber Sie dürfen jetzt nicht mehr sprechen. Ruhen Sie noch ein bißchen, dann werden Sie sich wohler fühlen.«

Ich schlief erschöpft ein, und als ich zehn Stunden später mit klarerem Kopf erwachte, hörte ich wüstes amerikanisches Geschimpfe.

»Du gelber, dreckgesichtiger Tschink, ich werd' dir – wie hat dir das geschmeckt – Und jetzt das – Weiße Frauen möchtest du, ja? Du gelbhäutiges Senfpflaster –«

Speed Binney tobte im nächsten Bett im Delirium und mußte von zwei Schwarzen, die die Uniform der roten Senegalesentruppen trugen, festgehalten werden. Ein chinesischer Arzt gab ihm eine beruhigende Einspritzung und sagte dann in ausgezeichnetem Englisch zu mir:

»Abgesehen von seinem Schädelbruch leidet Ihr kriegerischer Freund an dieser verbreiteten amerikanischen Psychose – dem Farbenkomplex. Er wird ihn los werden, aber dazu wird es noch einiger Züchtigungen und einer jahrelangen Erziehung bedürfen, die Ihre Landsleute von ihren Vorurteilen befreit.«

Ich war nicht in der Stimmung zu widersprechen. Ich schloß die Augen und dachte über meine Lage nach. Ich war ein Gefangener Karakhans.

In dem Jahr, das ich mit diesem Mann während seiner Eroberungszüge in Europa verbracht hatte, war ich persönlicher Zeuge der Unbarmherzigkeit gewesen, mit der er Menschen, die ihm im Weg standen, behandelte.

In den beiden Jahren seines Vormarsches in Amerika hatte ich bittere Anklagen gegen die »Geißel der Welt« erhoben. Auf was für ein Schicksal mußte ich jetzt gefaßt sein, da ich sein Gefangener war?

Da ich keine Antwort auf meine Fragen fand, öffnete ich die Augen wieder und sah ein gelbes Gesicht vor mir, aber dieses strahlte mich freundlich an.

»Willkommen daheim, Towarischtsch Gibbons«, sagte Boyar lächelnd, während er mir warm die Hand drückte. »Siehe! Der verlorene Sohn ist heimgekehrt. Nahezu zwei Jahre sind vergangen, seitdem wir uns über der Front in Mexiko getrennt haben. Viel Blut ist seitdem über das Schwert gelaufen, und viele Gräber sind geschaufelt worden. Aber die Fahne unseres Onkelchens rückt noch immer vor. Willkommen wieder in unserer Mitte.

Viele von Ihren Berichten habe ich mit Freude gelesen. Viele von Ihren Radioansagen aus der Luft haben mir die schönen Erinnerungen an unsere Kameradschaft im Europäischen Feldzug wiedergebracht. Feind – verwundeter Feind und Gefangener – ich nehme Ihre weißen Hände in meine gelben und nenne Sie Freund.«

»Ich freue mich wirklich sehr, Sie wieder zu sehen, Oberst. Die beiden letzten Jahre waren wohl ziemlich schlimm, aber so leicht wie bei seinem ersten Feldzug ist es Karakhan hier nicht geworden. Europa hat er in einem Jahr erledigt, aber in Amerika ist er schon seit zwei Jahren, und die amerikanischen Linien halten noch stand.«

»Nicht alle«, erwiderte Boyar.

Sein Ton erschreckte mich. »New York ist doch nicht gefallen? Sie wollen mir doch nicht sagen, daß Ihr den Harlem überschritten habt –«

»Nein, das nicht«, antwortete Boyar lächelnd. »Ihr haltet noch die Trümmerhaufen von Manhattan Island. Und Euere Truppen stehen noch am Hudson in Albany und vom Erie-Kanal bis zum Ontario-See, aber etwas anderes, sehr Wichtiges, ist an dem Tag geschehen, als Sie abgeschossen wurden.«

»San Francisco ist doch nicht gefallen?«

»Nein.«

»Unsere Flotte ist noch im Golf von Mexiko?«

»Ja – vorläufig wenigstens«, antwortete Boyar lächelnd, »aber vor zwei Tagen hat die rote Armee, die langsam durch Zentralamerika zum Kanal vorgerückt ist, endlich ihr Ziel erreicht. Die amerikanischen Truppen, die den Kanal verteidigten, waren schon fast ein ganzes Jahr ohne jede Verbindung mit den Vereinigten Staaten. Unser Vormarsch auf dem Land hat sie zum Aufgeben ihrer Stellung gezwungen. Sie haben sich durch die Dschungel nach Columbien zurückgezogen, aber vorher ist es ihnen noch gelungen, die Schleusen des Kanals zu sprengen.

Das Band zwischen dem Atlantischen und dem Stillen Ozean ist zerrissen. Die beiden Meere sind jetzt wieder voneinander getrennt. Aber Karakhans Regenbogenfahne flattert über den Trümmerfeldern von Balboa bis Colon.«

Das war ein neues Unheil an einer Front, von der ich nicht viel gewußt hatte. Im Lauf des vergangenen Jahres hatte ich viele Depeschen von der Kanalzone gelesen, in denen die Heldentaten der von Generalmajor Leonard W. Foster geführten Truppen geschildert wurden.

Aber da die amerikanische Flotte im Golf von Mexiko eingeschlossen war, war der Kanal für Amerika nutzlos; wäre er jedoch intakt erobert worden, so hätte er der roten Flotte von großem Vorteil werden können.

»Ich wüßte nicht, wieso das die Situation verändern sollte«, erwiderte ich Boyar. »Ihr habt damit nur noch ein Stückchen zentralamerikanisches Dschungel. Da der Kanal gesprengt ist, ist die Kanalzone nutzlos für die rote Flotte.«

»Ganz falsch«, erklärte Boyar. »Der Hafen von Colon ist jetzt von Minen gesäubert und dient der roten Flotte als Hauptstützpunkt im Karaibischen Meer. Er hat die besten Einrichtungen und liegt näher zur Yucatan-Straße als Trinidad. Unser Wachtposten ist also näher an der Tür des Gefängnisses, in dem wir Eure Marine eingesperrt haben. Ein zweiter Wachtposten steht auf Trinidad, und ein dritter auf Bermuda. Jetzt ist die Flotte der Vereinigten Staaten ganz eingeschlossen. Karakhan ist zufrieden. Die Verlangsamung, die der Winter an den Nordfronten verursacht hat, war sehr ärgerlich für unseren Oberbefehlshaber. Diese neue Entwicklung im Süden interessiert ihn sehr.

Er hat von Ihrer Gefangennahme gehört und den Wunsch ausgesprochen, Sie zu sehen. Aber jetzt ist er zu einer Inspizierung der roten Flotte im Karaibischen Meer abgeflogen. Er will Sie sprechen, wenn er zurückkommt.«

»Sagen Sie mir bitte die Wahrheit, Boyar. Wie denkt er über mich? Bin ich reif für ein Exekutionskommando mit zehn Gewehren?«

»Aber gar keine Rede, mein lieber Freund. Sie sollten unser Onkelchen wirklich besser kennen. Er hat Sie gern. So wie Napoleon seinen Bourrienne, Johnson seinen Boswell, wie Cäsar den bescheidenen Schreiber schätzte, der ihm seine Kommentare verfaßte, ja, wenn Sie wollen, wie der gute Samuel Pepys sein zweites, Tagebuch schreibendes Ich liebte – so schätzt Karakhan Sie als Kriegsberichterstatter.

Von jetzt an werden Sie bei uns bleiben, und Sie sind dazu ausersehen, die Geschichte unserer Eroberungen und unseres glorreichen Sieges über Ihr Vaterland zu schreiben.

Nein, mein lieber Gibbons, Sie werden nicht an die Wand gestellt. Weder Sie noch Binney. Aber jemand anderer ist bereits hingerichtet worden.«

»Mein Gott, wer denn?« fragte ich.

»Der Pilot, der Sie abgeschossen hat. Als Sie sich vor jetzt nahezu zwei Jahren zum erstenmal in Ihrem markierten Flugzeug zeigten, wurde der Befehl ausgegeben, keine Notiz von Ihnen zu nehmen und Sie unbelästigt zu lassen. Sie sollten nicht gestört werden. Unser Onkelchen wünscht, daß Sie für besondere Zwecke nach dem Krieg erhalten bleiben. Sie sollen die Lebensgeschichte des großen Karakhan von Kasan schreiben. Das wird Ihre Lebensaufgabe sein, und die großen Historiker werden Ihnen Dank dafür wissen.

Der polnische Idiot, der Sie abgeschossen hat, sagte, es sei ein Irrtum gewesen – er hätte die Abzeichen an Ihrem Apparat nicht erkennen können. Das konnte ihn nicht retten. Nachlässigkeit und Ungehorsam kommen auf eins heraus. Er hat mit seinem Leben dafür bezahlt. Voilà!«

»Es tut mir sehr leid, daß es ihm so gegangen ist«, antwortete ich. »Armer Teufel – wenn er auch Speed und mich fast umgebracht hat.

Aber sagen Sie, Boyar, wenn ich gefangen gehalten werden soll, um die Biographie des Roten Napoleons zu schreiben, dann müssen Sie mir etwas von ihm erzählen. Ist er noch derselbe Mann, mit dem ich in Moskau ausritt? Sie müssen bedenken, daß ich ihn zwei Jahre lang nicht gesehen habe. Hat er sich verändert?«

»Natürlich«, antwortete Boyar. »Wer seine Eroberungen über Europa, Asien und Afrika ausbreiten, wer alle Meere der Welt unter seine Herrschaft bringen, Südamerika in der Hand halten und fast ganz Zentralamerika und große Teile Kanadas und der Vereinigten Staaten besetzen konnte – ein solcher Mann verändert sich natürlich. Sein Charakter entwickelt sich. Bedenken Sie, daß Karakhan noch ein junger Mann ist. Er ist erst fünfunddreißig Jahre alt.«

»Inwiefern hat er sich verändert?«

»Zunächst also, die Welt – das soll heißen, unsere Welt – begreift jetzt, daß Karakhan kein Zufall ist. Er ist etwas mehr als der Sohn einer mongolisch-tartarischen Frau und eines aufschneiderischen Donkosaken. Feng Hai, der große Orientalist, hat jetzt die Abstammung unseres Führers zurückverfolgt und die Quelle seiner Größe entdeckt. In den Adern Karakhans fließt das Blut Dschingiskhans. Er ist ein direkter Abkömmling des alten mongolischen Eroberers. Ein Abkömmling, der seines Vorfahren würdig ist.«

»Aber ich dachte, daß Karakhan nichts auf Geburt und Stellung gibt. Ich dachte, er wäre für Gleichheit – was immer dieses Wort auch bedeuten mag.«

Boyar lächelte. »Das war gestern – ein lange zurückliegendes Gestern. Jetzt hat Karakhan Ahnenstolz, und zwar mit Recht. Dschingiskhan war der größte Soldat der Weltgeschichte. Als Karakhan noch ein kleiner Knabe war und an den Hängen des Urals Pferde hütete, hörte er die Erzählungen von dem großen Krieger.

Er war der Abgott seiner Kindheit. Es ist nur natürlich, daß Karakhan dann später einen Teil seines Erfolges seiner Abkunft von diesem Mann zuschreibt. Schließlich ist Führertum – in dem Maße, wie Karakhan es gezeigt hat – kein Zufall.«

»Das ist eine neue Entwicklung an dem Mann. Sie wissen natürlich, daß unsere Hauptinformationen über Karakhan seine Rassenmischungspolitik betreffen. Seine zahlreichen Affären mit weißen Frauen, und seinen Wunsch, möglichst viele Kinder von ihnen zu bekommen. Daß es in Europa so war, wußte ich, aber ich war nicht sicher, ob es auch in Amerika so weiter geht.«

»Ich wüßte nicht, warum ich Ihnen nicht die Wahrheit sagen soll. Und wenn es Ihre nationalen und Rassenvorurteile verletzt, kann ich nichts dagegen tun. Es ist ganz richtig. Er hat viele Geliebte gehabt.

Er hat zwei Kinder von Mrs. Randolph Ramsey aus Bar Harbour. Sie lebt auch jetzt dort. Ihr Mann kam mit den amerikanischen Truppen in Neubraunschweig ums Leben. Dann ist da die Mrs. Bunsen – Sie wissen ja, die geschiedene Frau Ihres Papiermillionärs. Sie hat ihren Sohn Kenneth Karakhan genannt. Die beiden leben in Bangor. Außerdem hat er eine Tochter von Lillian Elkhart aus Newport. Es sind natürlich noch viele andere da, aber das sind die Wichtigsten.«

»Haben diese amerikanischen Frauen sich ihm freiwillig gefügt?« fragte ich. »Oder hat er sie als Kriegsbeute genommen? Sie können ihn doch nicht lieben, nicht wahr? Die ganze Tradition ihres Lebens müßte sich dagegen empören. Die amerikanischen Frauen sind stolz auf ihre Rasse und wissen ganz genau, was für ein Schicksal Halbblutkinder zu erwarten haben. Welche weiße Frau würde einen farbigen Sohn in die Welt setzen wollen?«

»Ich dachte mir ja, daß es Sie überraschen wird. Vergessen Sie aber nicht, daß Karakhan nicht der Mann ist, sich nach leichten Eroberungen zu sehnen, vergessen Sie nicht, daß er bedeutend mehr ist als ein gewöhnlicher Soldat. Vergessen Sie nicht, daß er nicht ganz einfach ein Lüstling ist. Diese amerikanischen Frauen sind bei ihm – wenn er es ihnen erlaubt – weil sie ihn lieben.

Und vergessen Sie auch nicht, daß die erste Frau in Karakhans Leben eine Weiße, eine Amerikanerin, war. Sie wissen, wie Lin ihn liebt.«

Ich hatte nur auf die Erwähnung dieses Namens gewartet, um die Frage zu stellen, die mir seit dem Beginn unserer Unterhaltung auf der Zunge lag. »Wo ist sie – noch in London?« fragte ich ruhig. »Und ist Margot noch bei ihr?«

»Nein, die beiden sind jetzt seit mehr als einem Jahr hier in Amerika. Sie wohnen in einem Haus namens Graystones an der Küste in der Nähe von Salem.«

»Hat Karakhan Lin mittlerweile gesehen?«

»Ja. Es kam im letzten Herbst zu einer Zusammenkunft, und seitdem hat er schon einige Wochenenden in Graystones verbracht.«

»Das freut mich für Lin«, sagte ich. »Daß er sich weigerte, mit ihr zu sprechen, war eine bittere Qual für sie. Es freut mich, daß die beiden miteinander ausgesöhnt sind.«

»Oh, es hat keine Aussöhnung gegeben«, beeilte sich Boyar zu erklären. »Sie leben ebenso getrennt wie früher in Europa, und das wird auch so bleiben. Die Tochter eines irischen Auswanderers ist nicht die richtige Gefährtin für einen Mann von Karakhans Bedeutung und Wichtigkeit. Das hat er auch eingesehen.

Ich weiß, daß Sie schon lange mit ihr befreundet sind und deshalb anderer Ansicht sein müssen als ich. Aber ich denke über Karakhans Ehe ebenso wie er selbst. Seine Heirat hat in den radikalen Tagen der alten russischen Revolution ihre Zwecke erfüllt. Aber diese Tage sind jetzt vorbei. Die Heirat war ein Fehler.«

»Und was ist mit Margot?« fragte ich. »Ist sie die ganze Zeit mit Lin zusammen? Wie verbringen die beiden ihre Tage? Hat Karakhan sie schon gesehen?«

»Sehr oft. Sie reiten zu dritt aus. Ihre frühere englische Sekretärin ist sehr schön und macht zu Pferd sehr gute Figur. Was ist übrigens aus Whit Dodge geworden? Ich glaube, er war in Margot verliebt. Das konnte man ihm an den Augen ansehen.«

»Es sollte mich gar nicht wundern, wenn er in sie verliebt ist. Sie ist eines der wunderbarsten Mädchen, die ich in meinem Leben kennengelernt habe.«

»Na, Sie werden sie in einer Stunde sehen. Sie kommt mit Lin im Automobil von Graystones her. Ich habe die beiden nämlich telephonisch davon verständigt, daß Sie und Speed hier sind. Ich werde Sie allein lassen, damit Sie ein großartiges, weißes, arisches Wiedersehen feiern können, und sie später wieder aufsuchen.«

Von dem Bett nebenan, in dem der noch immer bewußtlose Speed mit den Spukgestalten seines Deliriums kämpfte, hörte ich ab und zu unzusammenhängende Worte. Nach dem langen Gespräch mit Boyar schlief ich wieder ein, aber eine Stunde später weckte mich die Pflegerin.

»Zwei Damen wollen Sie sprechen«, sagte sie. »Die Frau des Generals und eine andere Dame. Sie kommen herauf.« Sie zog die Bettdecken zurecht, richtete mein Kissen her und machte Ordnung auf dem Tisch zwischen meinem und Speeds Bett. Lin und Margot kamen herein, jede mit einem Arm voll Chrysanthemen.

Ich lächelte, so gut das mit den Bandagen um meine zerschlagene Nase ging, und winkte mit einer verbundenen Hand. Die beiden lächelten, sahen aber gleich wieder sehr erschrocken und bekümmert aus, als sie die reglose Gestalt in dem Bett neben mir sahen.

»Gott sei Dank, Sie leben«, sagte Lin.

»Wird er davonkommen?« fragte Margot, während sie mir ihre schlaffe Hand reichte und Speeds bandagierten Schädel angstvoll betrachtete.

»Ich bin fest davon überzeugt«, sagte ich, während ich ihr die Hand drückte. Ihre Augen waren feucht, aber sie begann nicht zu weinen. Einen Augenblick lang sah ich ihre Lippen zittern – das war aber auch alles.

Bald saßen die beiden Frauen an meinem Bett – Margot zu meiner Linken zwischen Speed und mir.

»Als ich hörte, was geschehen ist«, sagte Lin, »betete ich, daß Sie beide am Leben bleiben mögen. Ja, ich habe gebetet. Die radikale, atheistische, kommunistische Lin Larkin hat gebetet; nach zwei Jahren der einschneidendsten Änderungen habe ich den unvermeidlichen Kreislauf der Radikalen vollendet. Ich bin wieder dort angelangt, von wo ich ausgegangen bin – bei der Religion.«

Margot hatte eine von Speeds Händen in die ihren genommen, ihre Blicke streichelten das Gesicht des Jungen, und ihre Lippen murmelten: »Speed, Speed, Lieber.«

Eine Bewegung im Bett, und Speed schlug die bleichen Augenlider auf. Ein Blick der Erschöpfung, gefolgt von Überraschung, dann wieder von Nichtglaubenwollen, und schließlich strahlten die Augen in Wiedererkennen und Freude. Ein Lächeln umspielte seine zerschundenen Lippen, und während seine Hand in der ihren sich spannte, kam das Wort – »Maggy«.

Speeds Bewußtsein war nur für eine flüchtige Minute wiedergekehrt, dann schlossen sich die müden Augen wieder, aber sein ruhiges Atmen verriet, daß er jetzt gesund schlief.

Ich hatte keine Gelegenheit, allein mit Margot zu sprechen, aber es beruhigte mich, zu wissen, daß ich sie wiedersehen sollte. Bevor Lin das Lazarett verließ, wurde verabredet, daß Binney und ich unsere Rekonvaleszenz in Graystones verbringen sollten, und zwei Tage später war Speed so weit zu Kräften gekommen, daß wir in einem Krankenwagen zu dem großen Landhaus geschafft werden konnten, das am Rande des Städtchens Salem an der grauen atlantischen Küste stand.

Binney war durch seine Wunden an sein Bett im dritten Stockwerk des Hauses gefesselt, aber ich konnte schon nach wenigen Tagen an einem Stock herumhumpeln.

Einige Dienstboten, darunter ein Amerikaner, waren im Haus geblieben, aber zum größten Teil wurde alles von stillen chinesischen Soldaten unter der Leitung eines gelben Hausmeisters besorgt. Obgleich eine Schildwache bei der Einfahrt stand und vor der hohen Mauer, die das ausgedehnte Grundstück umgab, angeblich Wachtposten patrouillierten, mußten wir uns nicht als Gefangene fühlen. Es gab keinen Apell, keinen vorgeschriebenen Stundenplan und keine Inspizierungen. Man verließ sich auf die Festigkeit unseres Gefängnisses.

Millionen kämpfender Männer an der Neuenglischen Front machten jede Hoffnung auf ein Entrinnen zu Lande hinfällig. Die Anwesenheit der Roten Flotte im Atlantik ließ eine Flucht über das Meer unmöglich erscheinen. Und doch wälzte ich die ganze Zeit Fluchtpläne, wenn ich mich auch davor hütete, mit Binney darüber zu sprechen, der vor allem seine Kräfte wiedergewinnen mußte.

Boyar besuchte uns häufig in Graystones. In der dritten Woche unserer Gefangenschaft – es muß wohl der 18. Januar dieses bedeutungsvollen Jahres 1936 gewesen sein – erzählte er mir, daß Karakhan nach dem Osten zurückkehre.

»Das ist mal ein Mann der Tat«, sagte er. »Er ist von Boston nach Bermuda, von Bermuda nach Trinidad, von Trinidad nach Panama und wieder zurück geflogen. Er hat alle drei Stützpunkte und die ganze Rote Flotte inspiziert. Die Folgen werden Sie bald sehen. Karakhan begeistert die Männer, für ihn zu sterben. In einer Woche werden Sie mit ihm in Graystones sprechen.«

Ich erzählte Lin von dem geplanten Besuch Karakhans, während wir abends in der Bibliothek vor dem Kamin saßen.

»Ich will ihn sehen, und doch habe ich Angst vor seinem Kommen«, antwortete sie mir. »Ich werde ihm immer gehören, aber er gehört nicht mehr mir. In den letzten wenigen Monaten, in denen er mit mir gesprochen hat, habe ich die Änderung bemerkt, und ich habe genug Freud gelesen, um die Ursache dafür zu ahnen. Sein stets tätiger Geist und sein verzehrender Ehrgeiz greifen immer nach neuen Grenzen, nach neuen Zielen, nach neuen Gipfeln, die zu erklimmen sind.

Ich bin für ihn eine gewonnene Schlacht, eine Schlacht, deren Denkmal meine Kinder sind. Ich glaube, ich war die erste Frau in seinem Leben, und ich war die einzige Frau, die er geheiratet hat. Und jetzt will er sich von mir scheiden lassen – mich zur Seite schieben. Ich habe mit seinem Ehrgeiz nicht Schritt halten können.«

»Woher wissen Sie das, Lin?« fragte ich.

»Er hat es mir nicht mit vielen Worten erzählt, obwohl er auch ganz offen und geradeheraus sprechen würde, wenn es in seine Pläne paßte. Aber ich weiß, was er plant.

Es hat sich etwas geändert. Seine grenzenlose Macht hat ihm etwas von der Schönheit genommen, die ich immer in seinem Charakter gesehen habe. Er erkennt keinen Willen neben dem seinen an – keine Macht über der seinen. Illusionen wie Erhabenheit, Dynastie, Blut, Kaste – und alle anderen pompösen Symbole und Kindereien von Spielkarten-Königen beschäftigen jetzt seine Gedanken.

Um diese Sucht zu befriedigen, hat er seine Abkunft auf Dschingiskhan zurückgeführt. Wenn das so weiter geht, wird das Resultat eine rote und gelbe Aristokratie sein. Wir werden wieder zum Kastensystem mit seinem Hoch und Niedrig kommen. Sein Komplex wird immer ausgesprochener Napoleonisch, und ich spiele in diesem Komplex die Rolle der Josephine.

Jetzt wissen Sie, wie es in mir aussieht, Sie wissen, in welcher Angst ich Tag und Nacht lebe. Wer meine Nachfolgerin sein wird, weiß ich nicht. Ich denke nicht an seine leichten Affären mit Frauen – ich weiß nur zu gut, wie oft es solche gegeben hat – ich meine die Frau, die ein neues Ziel für ihn bedeuten wird.

Ich weiß nicht, wo er sie finden wird, aber ich bin sicher, daß er in der Aristokratie der ganzen Welt suchen wird, um eine der ältesten Linien zu finden, die ihm würdig des Geschlechts von Dschingiskhan erscheint.

Das alles ist so kleinlich, so erbärmlich – daß dieser Mann, der heute vier Fünftel der Welt beherrscht, den Fehler aller absoluten Herrscher zu zeigen beginnt: das Versagen der Selbstbeherrschung! Er hat die Throne und Flitterkronen, die Könige und den Adel Europas über den Haufen geworfen, und der Rest dieser Spielkartenherrlichkeit, die er bekämpft hat, hat jetzt im Land der Demokratie Zuflucht gefunden. Und doch will er sein Schicksal an eine solche Puppe knüpfen. Ich kenne Karakhan. Ich weiß, wohin er geht.«

Wir schwiegen einen Augenblick und starrten in die Flammen. »Aber für wen interessiert er sich jetzt?« fragte ich.

»Ich weiß nicht«, antwortete Lin. »Und ich will es auch nicht wissen. Es wird wohl eine Frau in Boston sein. Gesehen habe ich sie nie. In den letzten Monaten hatte ich wenigstens die Freude, daß er ab und zu für ein Wochenende herkam. Er kommt immer mit einigen seiner Stabsoffiziere, die ihn bei seinen Ausritten begleiten.

Auch ich und Margot sind mit ihm geritten. Er ist sehr gern in ihrer Gesellschaft. Ich habe gesehen, wie teuflisch seine Augen beim Anblick des Mädchens aufleuchten, das jetzt meine beste Freundin geworden ist. Seine Aufmerksamkeit für sie nimmt stets zu.«

»Weiß Margot das?« fragte ich.

»Ich glaube, ja, und es ist ihr unangenehm genug, aber sie ist sehr mutig und beherrscht. Ich habe zu ihr mehr Vertrauen als zu irgendeinem anderen Menschen auf der Welt und habe fest beschlossen, daß Karakhan nie Hand an sie legen darf.

Ich setze mein Leben dafür ein. Nicht wegen meiner Gefühle für ihn – so groß diese auch sind – sondern wegen meiner Liebe für sie. Wenn sie meine eigene Tochter wäre, könnte ich nicht anders für sie empfinden. Und ich glaube, sie hegt dieselben Gefühle für mich.«

Karakhan kam nach Graystones. Ein Dutzend großer Stabslimousinen fuhr durch die Bronze- und Steinportale, und am Hauseingang stiegen große, schlanke Offiziere in langen, zweireihigen dunkelgrauen Mänteln mit Gürteln und Pelzkragen aus.

Abends beim Essen saßen wir zu zehnt an dem langen Tisch. An der Spitze Karakhan, zu seiner Rechten Margot, und am anderen Ende des Tisches Lin. Ich saß links von dem roten Oberbefehlshaber, und auf meiner anderen Seite hatte ich Boyar.

Karakhan hatte mich ganz kurz begrüßt – wortlos, nur mit einem Kopfnicken. Keine Silbe von unserer letzten Begegnung in London. Keine Silbe von meiner Verwundung, keine Anspielung darauf, daß ich als Gefangener im Haus seiner Frau lebte.

Aber am nächsten Morgen, als er mich um acht Uhr allein in der Bibliothek empfing, in der er sein Arbeitszimmer eingerichtet hatte, war er nicht mehr so kühl und verschlossen. Auf dem langen Bibliothekstisch, hinter dem der Rote Napoleon stand, waren Kriegskarten ausgebreitet.

In seiner Haltung und seinen Gesten war er der Karakhan, von dem ich mich vor zwei Jahren in London verabschiedet hatte, aber ein kleiner Unterschied war doch zu fühlen; alle seine persönlichen Eigenheiten waren verstärkt und überbetont. Aus seiner Selbstsicherheit war Arroganz geworden.

Im Verlauf des Gespräches, das nahezu ein Monolog war, ging er einige Male im Zimmer auf und ab, und hin und wieder konnte ich bemerken, daß er sich in einem großen Wandspiegel heimlich betrachtete. In seiner ganzen Haltung lag ein wenig Eitelkeit, und sein Gang war stolzierend geworden.

»Kriegskorrespondent sind Sie gewesen«, sagte er zu mir. »Ich bedauere sehr, daß Sie abgeschossen wurden. Das war ein Irrtum. Es freut mich, daß Sie am Leben geblieben sind. Ich habe viel Arbeit für Sie. Ich habe beschlossen, daß Sie meine Lebensgeschichte schreiben sollen.

Der Krieg wird in diesem Sommer zu Ende sein. Nichts wird meiner Frühjahrsoffensive widerstehen können. Ich habe das Metall, aus dem Ihre Soldaten gemacht sind, geprüft und gesehen, daß es sehr hart ist. Deshalb wird es nicht zu einem Verhandlungsfrieden kommen. Es wird ein Siegfrieden sein. Ich werde die Bedingungen diktieren.

Sie werden nicht hart sein, aber Amerika wird ein Glied der Roten Weltunion werden. Ihre Landsleute werden mich besser kennenlernen müssen. Und das soll durch Sie geschehen. Sie werden das Mittel zur Erziehung der Amerikaner sein.

Ich habe eine Anzahl der Artikel gelesen, die Sie bei Ihrem Heer über mich geschrieben haben. Viele davon stellen mich nicht gerade in ein gutes Licht, aber sie sind richtig. Ich wünsche, daß Sie ihre Notizen und die Artikel, die ich habe einheften lassen, sammeln und dieses Buch zu Ihrer Lebensarbeit machen.

Nach der Eroberung Amerikas werde ich der Herr der Welt sein. Es wird keine Spaltungen mehr geben, keine Konflikte, keine Streitigkeiten – keine Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten mehr. Meine Verwaltung wird so organisiert sein, daß alles derartige unmöglich wird. Und das wird der Welt endlich den Frieden bringen.

Die Erde wird keine getrennten Lager mehr haben – Rasse gegen Rasse, Farbe gegen Farbe, Kontinent gegen Kontinent. An Stelle dieser bitteren Bruderzwiste wird politische Einigkeit und wirtschaftliche Zusammenarbeit treten. Und das alles wird, zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit, den gesicherten Weltfrieden bedeuten.

Das wird die Arbeit meines Lebens gewesen sein, auf die ich stolz bin; ja, man mag mich ruhig stolz nennen, denn ich bin stark und ehrlich genug, stolz auf meinen Stolz zu sein.

Sie kennen bereits viele persönliche Einzelheiten aus meinem Leben, und von jetzt an werden Sie alle genau kennenlernen müssen. Es wird neue interessante Angelegenheiten geben, die manche Leute vielleicht zuerst entsetzen werden. Aber es wird zu keiner Opposition kommen.

Ich stehe vor einer Änderung in meinen Familienangelegenheiten. Meine Stellung erfordert eine Gefährtin, von der mein Erbe ebenso wie von mir altes Führerblut bekommen kann. Zu diesem Zweck wird es nötig werden, daß ich mich von meiner Frau scheide.«

»Darf ich fragen, wann diese Hochzeit stattfinden wird?« fragte ich.

»Unmittelbar nach der Eroberung und Besetzung der Vereinigten Staaten. Sie soll im September dieses Jahres in der Hauptstadt St. Louis stattfinden. Ich habe die Absicht, St. Louis zur Welthauptstadt zu machen.

Ich teile Ihnen all dies mit, weil ich wünsche, daß die einführenden Kapitel des Buches nicht eine sentimentale Färbung erhalten, die zu späteren Entwicklungen im Widerspruch stehen könnte. Zunächst werden Sie hier bleiben und sich erholen.

Ich verlange nicht Ihr Ehrenwort, weil ich darauf baue, daß Sie nicht fliehen können, selbst wenn Sie wollen. Dafür habe ich gesorgt. Wenn Sie sich ganz erholt haben, werde ich einen Stab von Offizieren damit beauftragen, Ihnen bei der Aufsuchung und Kompilierung des Materials behilflich zu sein. Oberst Boyar wird Ihnen zur Seite stehen.«

»Wenn der General mir gestatten wollte, daß ich mir meine Privatsekretärin aussuche, so würde ich darum bitten, daß Miss Denison diese Stellung bekommt. Wir waren lange zusammen, und sie ist auf mich eingearbeitet.«

»Das ist unmöglich. Sie bleibt bei Mrs. Karakhan. Ich wünsche es so.

Das wird wohl alles sein. Wenn Sie sonst noch etwas brauchen oder etwas zu berichten haben, so wenden Sie sich an Oberst Boyar, und im übrigen werde ich Sie sehen, so oft es mir möglich ist. Guten Morgen.«

Ich verbeugte mich. Er nahm jedoch keine Notiz davon, und ich zog mich zurück.

Ich war zu tiefst erschrocken. Boyar hatte Recht, der Mann war ein anderer geworden. Lins Ängste waren wohl begründet, er wollte sie wirklich abschütteln. Seine eigenen Worte bestätigten ihre Vermutungen. Er dachte an eine neue Verbindung, eine Verbindung mit einer Aristokratin.

Am gleichen Abend fuhr Karakhan mit seinem Stab nach Boston zurück, und nach seiner Abreise plauderten Margot und ich eine Stunde mit Speed, der schon auf war, aber wegen seiner Schwäche noch in seinem Zimmer bleiben mußte.

Ich hatte den Eindruck, daß Margot eine ungewöhnliche Erregung beherrschen mußte, und da ich das Gefühl hatte, daß sie mir etwas mitzuteilen wünschte, sagte ich Speed, er müßte ins Bett gehen, wenn er bald wieder zu Kräften kommen wollte. Er brummte etwas darüber, daß er nie Gelegenheit hätte, mit Margot unter vier Augen zusammen zu sein. Ich grinste, und Margot wurde rot.

»Schön«, sagte ich schließlich, »ich gebe Ihnen fünf Minuten für eine Privatkonferenz.« Margot gab ich zu verstehen, daß ich sie in der Bibliothek erwarten würde.

Es dauerte eine gute Viertelstunde, bis sie zu mir kam. Ich tat so, als sähe ich ihre leuchtenden Augen und geröteten Wangen nicht, und fragte sofort:

»Sie haben mir etwas zu sagen?«

»Ich habe eine Information von allergrößter Wichtigkeit«, antwortete sie ganz ruhig. »Karakhan selbst hat sie mir heute nachmittag hier in diesem Zimmer gegeben. Ich war mit ihm allein, und ich glaube, seine Absicht war, mir damit zu imponieren, wie mächtig er ist und in welchem Maße er, wenn er es wünscht, Herrschaft über Menschen meiner Rasse ausüben kann.

Er bat mich mit einer Höflichkeit, die nicht seine Gewohnheit ist, und die mir widerlich war, ob ich nicht einen Brief für ihn schreiben wollte. Das habe ich getan. Ein Duplikat habe ich zurückbehalten. Hier ist es.« Sie gab mir das Papier und ich las Folgendes:

 

»Oberkommando

Admiral Joseph Brixton,
Befehlshaber der Roten Flotte,

Colon.

1. Wie ich schon in Colon in nicht mißzuverstehenden Worten sagte, bin ich mit den Ergebnissen meiner Inspizierung der Roten Flotte und unserer Stützpunkte im Karaibischen Meer sehr unzufrieden. Die Moral der Offiziere und Mannschaften, die ich unter Ihren Befehl gestellt habe, leidet noch immer unter der alten, falschen britischen Marinetaktik der Vorsicht. Und diese Taktik ist die Ursache für die Untätigkeit der unter Ihrem Befehl stehenden roten Marinestreitkräfte in den beiden letzten Jahren.

2. Diese britische Taktik der Vorsicht führte dazu, daß die überlegene britische Flotte seinerzeit die schwächeren deutschen Streitkräfte in der Schlacht vor Jütland nicht besiegen konnte. Die Taktik aller mir unterstellten Soldaten muß eine Taktik des Angriffs sein. Sie müssen sich klarmachen, daß ich Flotten und Matrosen nicht für schwerer ersetzbar halte als Heere und Soldaten.

3. Im Norden von Ihren Streitkräften, im Golf von Mexiko, liegt die schwächere amerikanische Flotte ungefährdet vor Anker. Die Kräfte, die Ihnen im Karaibischen Meer und im Atlantik zur Verfügung stehen, sind mehr als doppelt so groß wie die feindlichen. Ich werde nicht dulden, daß Ihre Vorsichtstaktik uns der Möglichkeit einer ähnlichen Niederlage aussetzt, wie die britische Marine vor Jütland erlitten hat. Sollten Sie diese Taktik nicht ändern können, so kann ich den Oberbefehl über die Flotte ändern.

4. Meine Generaloffensive in Mexiko, im pazifischen Nordwesten und in Neuengland wird um die Mitte des April einsetzen. Im Lauf dieses Monats werden die roten Seestreitkräfte die amerikanische Flotte im Golf von Mexiko angreifen. Sie werden die Minensperren in der Youcatan- und in der Florida-Straße zerstören und die Einfahrt in den Golf erzwingen. Ich gebe Ihnen eine Frist von zwei Wochen nach Erhalt dieses Befehls zur Vorlegung Ihrer Pläne. Machen Sie sich sofort an die Arbeit und vergessen Sie, wenn Ihnen das überhaupt möglich ist, etwas von Ihren archaischen britischen Flottentraditionen. Halten Sie sich vor Augen, daß mir ein Marinesieg lieber ist als eine existierende Flotte. Siege erringt man durch Kühnheit, nicht durch Vorsicht.

(gezeichnet) K.«

 

Ich faltete das Papier zusammen und gab es ihr zurück.

»Das ist von größter Bedeutung für den Generalstab«, sagte ich ihr. »Es verrät einen völligen Wechsel in Karakhans Marinetaktik. Wie können wir das dem Kriegsministerium in die Hände spielen?«

»Es gibt nur eine Möglichkeit – Whit Dodge.«

»Aber wie sollen wir wissen, wann er kommt? Wir haben ja jetzt keine Verständigungsmöglichkeit.«

»Wir haben für einen derartigen Fall vorgesorgt«, erläuterte sie. »Quinn Ryan hat Whit versprochen, die notwendigen Mitteilungen durch das Radio zu machen, wenn Ihnen etwas zustößt. Unser Apparat wird jetzt immer auf seine Wellenlänge eingestellt sein.«

»Aber wenn Whit kommt, müssen Sie mit uns fliehen, Margot. Ich kann Sie nicht hier bei Karakhan zurücklassen.«

»Ich möchte auch gehen«, antwortete sie. »Es ist mir furchtbar, immer wieder seinem Blick zu begegnen. Er hat nichts gesagt und ich bin überzeugt davon, daß ich keine Gewalt von ihm zu fürchten habe, aber er enthüllt sich mir immer mehr. Daß er mir heute diesen Brief diktiert hat, war nur ein Versuch mehr, mir mit seiner Macht zu imponieren. Aber ich werde bei Lin bleiben. Es ist meine Pflicht – eine Pflicht gegen mein Land und gegen mein Volk. Wenn weiße Männer auf dem Schlachtfeld der Gefahr ins Auge blicken können, dann muß ich hier meine Gefahr auf mich nehmen können. Ich bleibe.«

Am nächsten Mittag schaltete Boyar den Lautsprecher im Speisezimmer ein und wir hörten Quinn Ryan sprechen, der das Artillerieduell an der Harlemfront und einen Luftangriff in der Nähe von Utica in New York schilderte; dann hörte ich den indianischen Namen Kenosha, dem die Verlesung eines Berichts aus dieser Ortschaft folgte.

Kenosha war das vereinbarte Schlüsselwort, und in dem folgenden Text war die Geheimnachricht enthalten, die Whit Dodge Margot zukommen ließ. Ich blickte über den Tisch und sah, daß sie mit einem Bleistift etwas auf das weiße Tuch kritzelte. Es waren stenographische Zeichen. Sie studierte sie eine Weile und machte dann ein karrikiertes Gesicht daraus. Boyar, der in aller Unschuld zusah, bewunderte laut ihre Zeichenkunst.

Nach dem Essen erzählte sie mir den Inhalt der Nachricht.

»Whits U-Boot wird in der dritten Nacht von heute vor dem Hummernfelsen liegen.«

In dieser Nacht suchte ich mit Speed Binney, der noch etwas schwach auf den Beinen war, Whit auf, der in einem Faltboot an die Küste kam. Bis zum letzten Augenblick hatte ich gefürchtet, Speed würde dagegen protestieren, daß Margot zurückblieb, und so unsere Pläne gefährden. Ich weiß nicht, was das Mädchen ihm in dem kurzen Augenblick des Abschieds sagte, aber jedenfalls muß sie ihn davon überzeugt haben, daß es nicht anders ging.

Mit schwerem Herzen gingen wir an Bord des V-4, das sofort tauchte und südlichen Kurs auf die New Jersey-Küste nahm.


 << zurück weiter >>