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3. Kapitel. Sturm!

Es war fast finster, als Lotte Bach an der Ecke Friedrichstraße ausstieg und in die unfreundliche Karlstraße einbog. Sie kannte die Gegend von ihren Besuchen des »Deutschen Theaters«, hatte sich aber nie für die öde Straße erwärmen können, welche durch die riesige Kaserne mit ihrem langgestreckten Hofe noch ungemütlicher wurde. – Und doch hatte sie seit einiger Zeit das wärmste Interesse, wenn sie von diesem Viertel reden hörte. Ringsumher lagen nämlich die großen Kliniken der bekanntesten Ärzte. Bei einem dieser Großen war Willi Feller als Assistent angekommen und mußte naturgemäß mehrere Male die Straße passieren. Er ahnte nicht, wie Lotte seitdem eine rührende Anteilnahme für diese hegte, sondern schritt meist sehr schnell seiner Wege. Auch jetzt sah Fräulein Bach mit innigem Behagen geradeaus.

»Wie gut, daß mich Eltern und Geschwister hier nicht sehen, sonst würden sie mich entsetzlich necken! Oder meine Schülerinnen! Die würden den Respekt verlieren, wenn sie ahnten, daß ihre würdige Lehrerin hier auf verbotenen Wegen geht,« simulierte sie. Dann zählte sie die Laternen bis zur Querstraße und war sehr vergnügt, als diese mit einer »geraden Zahl« ausgingen. Denn das bedeutete ein Wiedersehen mit ihm! Wenn er nun gerade heute nicht in die Klinik gegangen war? Oder wenn er länger oben blieb, weil irgend eine Operation stattfand? – Lotte erwog alle Möglichkeiten, ihn nicht zu sehen. Aber in ihrem Urinnersten strahlte doch die Hoffnung einen goldenen Schein aus. Sie wußte ziemlich sicher, daß er dennoch da wäre, daß sie ihn sehen konnte! Und die hohen, grauen Häuser, die lange Kasernenmauer vergoldete diese geheime Wonne derart, daß sie dem jungen Mädchen interessant und schön erschienen! – Sie legte sich eine Menge Ausreden zurecht, um dem jungen Arzt ihr Hiersein begreiflich zu machen und wählte von diesen die glaubhaftesten aus! – Endlich war sie so weit!

Nun strich sie langsam immer in der Nähe des Hauses auf und ab. Es war noch mehr als eine Viertelstunde Zeit, ehe er überhaupt auf der Bildfläche erscheinen konnte! Lotte war ziemlich froh, daß Alice nicht dabei war und ihre ganz maßlose Aufregung beobachten konnte! Zwar hatte sie seit einigen Jahren sich mit all ihren Liebesgefühlen viel mehr an Fräulein Hutten angeschlossen und bei dieser ein weit feineres Verständnis gefunden als bei Gretchen Thronick. Diese war ihrer Grundnatur nach phlegmatisch und nicht auf all die Skala feiner Gefühle abgestimmt, welche bei Lotte und Alice sich immer mehr herausgebildet hatten. – Alice wußte, wie tief und heiß die übermütige Lotte empfand. Trotzdem hütete sich die letztere in ihrer herben Keuschheit, den letzten Schleier von ihrem Innersten zu ziehen und die ganze, gewaltige Größe ihrer Liebesfähigkeit zu offenbaren! – Sie blieb für die Welt lieber die lustige Range, der man alles, bloß keine wahren Leidenschaften zutrauen konnte!

Auch jetzt war Lotte Bach kaum zum wiedererkennen. Ihre blauen Augen glühten in dem blassen Gesicht, der Mund und die Nasenflügel bebten nervös. Ihre Füße und Hände schienen vor Kälte abgestorben, während doch eine innere Hitze ihre Lippen austrocknete.

Ein ganz junger Jüngling beobachtete, daß das junge Mädchen beständig zwischen fünf Laternen auf- und abpendelte. Ihre Blicke waren mehrmals über ihn hingestreift, ohne daß sie seiner in der That gewahr wurde. Trotzdem hielt er sie nach Art junger Laffen für auf sich gemünzt, war darüber hoch erfreut und ging langsam hinter ihr drein. Als sie sich wieder umdrehte und ihn versunken ansah, hielt er den richtigen Zeitpunkt zu einer Ansprache für gekommen. Er näherte sich ihr von links, verneigte sich, zog den Hut und sagte geistreich: »So allein, mein Fräulein?« – – Lotte musterte ihn und schritt weiter. Er blieb neben ihr: »Es ist nicht gut, daß eine so reizende junge Dame hier abends allein geht. Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen zur Seite bleibe?« – –

Zu einer andern Zeit hätte Lotte die Sache von der komischen Seite aufgefaßt und ihm wahrscheinlich derb und lustig geantwortet. Heute war sie nicht bei Stimmung und eilte stumm weiter. Das Bengelchen hielt sich dennoch neben ihr und überschüttete sie mit Komplimenten. Ein Weilchen hielt sie dem stand. Dann wurde es ihr zu viel, darum wandte sie den Kopf und sagte entrüstet. »Was fällt Ihnen denn eigentlich ein, Sie junger Penäler! Machen Sie, daß Sie nach Hause kommen, und arbeiten Sie hübsch Ihre Aufgaben, sonst bleiben Sie in Sekunda sitzen. In Ihrem Alter belästigt man noch keine Damen, sondern hält sich an die Schulkinder! Verstanden?« – –

Betroffen prallte er zur Seite, sammelte sich, murmelte etwas von »Frechheit« und schlug sich seitwärts in die Büsche. Augenscheinlich hatte sie das Rechte getroffen. – – Kaum war Lotte vom ihm befreit, so zuckte sie zusammen und ergriff die Flucht. Aus dem Hause, in dem sich die Klinik befand, kam Doktor Feller mit einem anderen Herren. Sie blieben stehen und zündeten sich Cigarren an. Willis schlanke, schöne Gestalt überragte den andern um Haupteslänge. Beide plauderten. Lotte, die entsetzt über den Damm gestürzt war, hörte sie lachen. – Sie war drauf und dran, fortzurennen. Aber ihr Herz klopfte so, daß sie kaum einen Schritt mehr machen konnte. So schlich sie mühsam etwas vorwärts. »'n Abend, Kollege!« hörte sie Willi drüben sagen. Dann erklangen seine Schritte auf dem Trottoir.

»Mut! Mut!« sagte sich Lotte. »Verpasst Du diese Gelegenheit, so wäre es eine Schande. Alice lacht Dich aus, und Du selbst verzeihst es Dir nie!« – Sie raffte ihre ganze Willenskraft zusammen, biß die Zähne fest aufeinander und eilte an der heranjagenden Pferdebahn vorbei wieder auf die andere Straßenseite. Hier eilte sie gerade im Scheine einer Laterne vorwärts. – Der Arzt mußte sie gleich erreicht haben. Energisch hielt sie sich aufrecht, jetzt war er hinter ihr – – jetzt mußte – – sie wandte sich etwas ins Profil – –.

»Lo – –, Fräulein Bach, ist es denkbar?« sagte seine Stimme freudig überrascht. Lotte sah und hörte im ersten Augenblicke nichts weiter. Alles brauste und wallte um sie herum. – Erst als sie ihre Hand ergriffen und gedrückt fühlte, wich der Bann. Er stand vor ihr. Sie sah in seine dunklen Augen, die zärtlich auf sie niederschauten. Die Farbe trat in ihr Gesicht zurück, die qualvolle Aufregung entschwand: »Guten Abend, Herr Doktor!« meinte sie ruhig. – – »Wie kommen Sie in diese Gegend, Fräulein Bach, und welchem glücklichen Zufall verdanke ich diese Begegnung?«

»Danken Sie meiner Mutter, die mich auf Suche nach einer Schneiderin just in diese scheußliche Gegend schickte. Ich fand die Person nicht einmal oder können Sie mir helfen und sagen, wo hier Fräulein Marie Schmidt haust?« – – »Nein, bedaure!« erwiderte er lächelnd. »Ich bin in Adressen von Damenschneiderinnen nicht ganz bewandert. Wir hatten darüber keine Vorlesung an der Universität. Dennoch freut mich der liebenswürdige Einfall Ihrer Frau Mutter, denn er verhalf mir zu dieser reizenden Überraschung!« – – »Wo kommen Sie eigentlich her?« fragte die Heuchlerin unschuldig. – – »Ich bin dort – – in der Klinik gewesen. Sie wissen doch, daß ich bei – – Assistent bin?« – – »Ja, ich hörte davon, hatte es aber ganz vergessen!« – – »Soo?« – Der leise Unglauben freute sie: »Ja, sehen Sie, man sieht sich ja so selten!« – – »Leider viel, viel zu selten, Fräulein Lotte Bach!« – – »Hm, wie feierlich!« – – »Nein, ich liebe es, Ihren ganzen lieben Namen auszusprechen!« sagte er leise. »Das ganze Jugendparadies vom Mulus ab – – die sonnige Tanzstundenzeit steigt dann wieder empor. Mein Himmel, wie war es schön!« – – Lotte sah in sein Gesicht. Er blickte ernst. – »War schön! Natürlich! Aber das ist ja alles lange vorbei!« antwortete sie gereizt. »Sie sprechen, als ob es zwanzig Jahre her wäre!« – – »Wie alt sind Sie jetzt, Fräulein Lotte?« – – »Ich? achtzehneinhalb. Schon seit einem halben Jahre Lehrerin von Gottes Ungnaden, äx!« – – Er wiegte den Kopf und strich den starken Schnurrbart. – »Sehen Sie, mit achtzehn und später selbst bis zwei- dreiundzwanzig, da hing mir der Himmel voller Geigen. Hast Du erst das Staatsexamen hinter Dir, dann hast Du den Pfandschein auf das Glück in der Tasche. Du gehst in eine kleine Stadt, läßt Dich da nieder und – – so entstand ein zauberhaftes Glück von angestrengtem Beruf und sonnigem Familienfrieden in mir Thoren. – Jetzt habe ich diesen Pfandschein« und – er lachte bitter« – bin mit sechzig Mark monatlich angestellt. Man ist sogar erstaunt über diesen Erfolg. Mutter und Großmutter, von denen man abhängt, erklären, in einen Umzug in die kleine Stadt nie willigen zu wollen. So sitzt man da und sieht noch Jahre vor sich, ehe man sein Ziel erreichen kann! Das ist schwer!« – – »Sie sind ja noch jung, Herr Doktor, Sie haben Zeit und – –«

Er packte ihre Hand fest. »Lotte, ja, ich habe ...«

Sie standen an einem Straßenübergang im hellen Lichte. Zwei Herren, die vorüberkamen, grüßten ihn und sahen sich lächelnd nach ihnen um. Eine Krankenschwester passierte mit einem lauten: »Guten Abend, Herr Doktor!« – – »Guten Abend, Schwester Else!« – – Er hatte Lottes Hand fallen lassen, um zu grüßen. – »Jetzt ist alles vorbei, der Anschluß verpaßt!« sagte sich diese innerlich, und Ärger kämpfte in ihr mit Enttäuschung. – Feller blickte nach der Uhr: »Es ist noch früh, Fräulein Bach! Wo wollen Sie hin? Gestatten Sie mir, daß ich Sie begleite?« – »Ich muß nach Haus!« entgegnete sie schnippisch – »Nein, nein, dazu ist noch Zeit, so oft sehen wir uns nicht. Bitte kehren Sie noch einmal um, Fräulein Lotte, kommen Sie, wir wollen hier die stille, dunkle Schumannstraße entlang gehen. Ich möchte mich so gern mit Ihnen aussprechen!«

Sie ging mit ihm langsam den erbetenen Weg; aber sie fühlte eine ihr selbst rätselhafte Wut in sich aufsteigen. »Was hätten wir uns auszusprechen?« fragte sie bissig und hätte sich im nächsten Augenblick prügeln mögen. – – »Nein!« sagte auch er heftiger. »Sie hätten mir sicher nichts zu sagen, Fräulein Lotte! Und was Sie mir sagen, würden nur Spitzen und Unfreundlichkeiten sein. Weiß Gott, Sie haben mich nie verwöhnt!« – »Ich kann nicht heucheln!« – »Fräulein Lotte, warum peinigen Sie mich?« – »Herr Doktor, warum fragen Sie danach? Sie sehen mich ja kaum, was wollen ›Sie‹, was wissen ›Sie‹ denn überhaupt von mir?« – »Oho, ich höre von Ihren gesellschaftlichen Erfolgen, von Ihrer steten übermütigen Lustigkeit, von der kühlen Art, mit der Sie von mir sprechen und jede Freundschaft mit mir ablehnen, wie neulich zu Doktor Starke! Ich zweifle –« – »Was giebt Ihnen das Recht zum Zweifel?« »Ihre Blicke, Ihr Benehmen in selbstvergessenen Momenten in der Tanzstunde, Lotte!« – »Sie sind sehr eitel, Herr Doktor!« – »Nein, ich bin Psycholog, ich kenne Ihren keuschen Trotz, ich liebte ihn von jeher an Ihnen! Ich fragte mich nur: Wann wird er sich legen? Wann werden Sie sich mir so zeigen, wie Sie wirklich sind?«

Sie hätte ihm um den Hals fliegen mögen und ihn in Lust und Schmerz küssen; aber sie lachte höhnisch und sagte: »Sie haben der kleinen Koketterie viel Bedeutung beigelegt, mein lieber Herr Doktor!« – »Lotte, Lotte, in Ihnen steckt ein Teufel!« – »Bah, und in Ihnen ein sanftes süßes Engelchen! Keine Schneid, kein Draufzu! Wie ist dagegen Leutnant Haffner! Das ist ein anderer Mensch als Sie!« –

Er ging stumm neben ihr. Sein Kopf war leicht vornüber gesenkt. Lotte verbiß ihre Thränen. Sie hatte ihm weh gethan. ›Bitt ihn um Verzeihung, sage ihm alles, schnell, schnell!‹ schrie es in ihr; aber ihr Trotz ließ sie nicht sprechen. Und doch zitterte sie vor dem Kommenden. – – »Ja!« sagte er endlich. »Sie haben recht, Lotte, ich bin ein Waschlappen! Ich grüble und denke zuviel. Ich habe soviel Ernstes gesehen, daß ich nicht leichtsinnig sein kann! Ein anderer – – Ihr Haffner vielleicht, würde Sie in die Arme nehmen und Ihr süßes Gesicht mit Küssen bedecken. Er würde Sie leichtsinnig an sich binden, ohne zu bedenken, daß drei, auch fünf Jahre vergehen können. Jahre, in denen sich Menschen und Verhältnisse ändern! Eine Zeit, über die man nicht das Recht hat zu verfügen, wenn man nicht ein Elend heraufbeschwören will, wie es meine Eltern durchkosteten! Acht Jahre hatten sie aufeinander gewartet. Die Liebe war hin, als sie endlich die Ehe schlossen, die ein schneller Tod meines Vaters beiden zum Heile trennte. – Sehen Sie, Lotte, daß ich nicht leichtsinnig sein darf? Sie sind jung, leichtsinnig – –.« Lotte hörte mit vergehender Wonne: ›Sprich, sag' ihm, daß Du ihn liebst, daß Du warten willst, und wenn es Jahre dauert! Verlob' Dich ihm heimlich, ein Wort von Dir und Dein Glück ist besiegelt!‹ – Schon wollte sie sprechen, schon hob sie ihre Hand, um die seine zu ergreifen. Da kamen seine Schlußworte und kränkten sie maßlos: »Warum bin ich leichtsinnig, wie kommen Sie darauf? – – Trauen Sie mir keine Standhaftigkeit zu? Sie scheinen ja nett von mir zu denken!« – »Lotte!« – – Sie gingen jetzt in dem dunkelsten Teil der Straße. Aus der Kaserne ertönte Gesang und Gelächter. – Sonst war kein menschliches Wesen ringsum zu erblicken.

Der junge Arzt beugte sich plötzlich zu ihr hinab und hob ihr Gesicht beim Kinn in die Höhe: »Lotte, warum quälst du mich? Ich weiß ja doch« – – – seine Stimme klang heiser und undeutlich. – »War es Zufall, daß Du heute in der Karlstraße warst oder hast Du dort auf mich gewartet?« – – »Ich, nein, nie! Es ist nicht wahr! Zufall!« stammelte sie verwirrt. »Du lügst!« – – »Nein, ich hasse Sie, ich kann Sie nicht ausstehen – – –«

Er hatte sie an sich gerissen und küßte sie zweimal auf den heißen Mund. Sie riß sich empört los: »Sind Sie wahnsinnig?« – – »Ja, das heißt, nein! Ich bin es nicht! Aber Sie sind ein Trotzkopf ... Doch ich bin's auch, denn ich habe nicht das Recht, in meiner Abhängigkeit noch eine andere an mich zu fesseln! Gehen Sie heim, Fräulein Bach!« – –

Lotte stampfte mit dem Fuße auf: »Sie schicken mich fort ... Sie? Oh, ich gehe allein! Ich gehe, und ich sage Ihnen hiermit zum letztenmale: Sie sind – – Sie sind – – ein sanfter Heinrich – – ein Waschlappen, den ich noch mehr bedaure als hasse! Sie können mir leid thun!« – – Sie wandte sich ab und stürzte wie ein gehetztes Wild die Straße entlang. Hinter ihr aber klang ein zorniges: »Lotte! – – Lotte!« – – Aber sie wollte es nicht hören! Weiter und weiter jagte sie, bis ihr der Atem ausging. Sie mußte stehen bleiben und rang nach Luft. All der Schmerz und die Empörung in ihr wühlten. Lotte konnte nicht anders. Sie brach in wildes Schluchzen aus. Ihr Stolz und ihr Trotz rangen nach Thränen. Er hatte sie geküßt und dann wie eine Magd fortgesandt! Geküßt, ohne sich mit ihr verlobt zu haben! Es war ihr eine Wohlthat, zu denken, daß sie ihn gekränkt und aufs tiefste beleidigt hatte! – Sie weinte und schluchzte mitten auf der Straße. Die Leute wurden aufmerksam. Man sah sie an, man befragte sie! – Nur fort in die Dunkelheit, nur allein sein! –

Lotte schaute sich um. Sie stand am Karlsplatz. Da vor ihr in der Luisenstraße erspähte sie ein offenes Hausthor. Um den Leuten zu entgehen, eilte sie hinein. Rechts führte die Treppe empor. Links tiefer im Schatten lag ein kleiner Separataufgang in eine Parterre-Wohnung. Dort war es kühl und dunkel. Sie ließ sich auf die Stufen sinken und weinte herzbrechend. Und mit den fortströmenden Thränen kam ihre klare Besinnung wieder. Sie überlegte alles, und plötzlich fühlte sie, daß nicht Willi sie, sondern sie ihn aus das Teuflischste gekränkt und gequält hatte. All seine freundlichen Reden hatte sie absichtlich mißverstanden und boshaft, ja niederträchtig beantwortet. Zuletzt aber hatte sie ihn derart beleidigt, daß er ihr nicht wieder verzeihen konnte, wenn er ein Ehrenmann war. Darum hatte er so zornig ihren Namen gerufen! ... Armer, armer Willi, das war der Lohn für seine Liebe! Dabei hatte er doch ganz recht! Und hätte sie anders gesprochen, so wäre sie jetzt doch seine überglückliche Braut! Jetzt war es vorbei; aus für immer! – – Oder sollte sie schreiben! Ihn um Vergebung bitten, betteln? Nie, nie! Eher sterben!

Ihr Gerechtigkeitsgefühl hatte gesiegt. Sie sah klar und darum weinte sie in tiefster Reue noch bitterlicher! – In ihr Taschentuch vergraben, ganz in sich zusammengebeugt, hatte sie garnicht gehört, daß in dem Korridor hinter ihr gegangen und gesprochen wurde. Erst als die Thür aufgerissen wurde, und zwei Offiziere sporenklirrend herunterkamen, fuhr sie auf. Es war zu spät. Sie standen bereits neben ihr. Hastig verbarg sie das Gesicht im Taschentuch,

»Nanu, Logierbesuch und so traurig? Na, Kleine, warum weinst du denn? Kann ich dir helfen?« fragte der eine gutmütig und versuchte das Tuch fortzuziehen. Lotte hielt noch fester. Er redete ihr freundlich zu und bat und versprach alles Mögliche; aber sie floh scheu treppab und versuchte zu entkommen.

»Na, so laß die kleine Fabrikkatze laufen, der ist sicher ihr Schatz untreu geworden. Komm, es ist spät!« drängte der zweite Offizier, der mehr den Zuschauer abgegeben hatte. – »Du, Hugo, die kleine Person dauert mich aber. Sie weint so herzbrechend!«

Bei dem Namen ›Hugo‹ hatte Lotte einen scheuen Blick zurückgeworfen. Sie fuhr entsetzt zusammen. Der Hugo war jener kleine Leutnant von Telschow! – Aber was scherte sie das heute in ihrem tiefen Kummer? Lotte eilte fort und blickte nicht einmal zurück. Ihre Thränen hatten aufgehört, zu fließen. In einem Schaufenster sah sie, daß sie entsetzlich rot und verschwollen aussah. Dabei war es schon gleich sieben Uhr. Sie konnte nicht mehr zu Alice! Mochte diese denken, was sie wollte? Ihr was alles gleichgültig! Das Glück hatte ihr die Hand geboten, und sie hatte es von sich gestoßen!

An einem Brunnen feuchtete sie ihr Taschentuch, kühlte die brennenden Augen und schlich langsam am Tiergartenrande entlang nach Hause. Zum Glück waren die Eltern zu einer Skatpartie ausgebeten. So war sie allein und konnte ihren trüben Gedanken nachhängen. Erst spät setzte sie sich hin und schrieb folgende Zeilen an Alice Hutten, die sie gleich selbst in den Kasten beförderte: »Liebste Alice! Ich habe Dich heute im Stich gelassen. Glaube mir, daß ich nicht anders konnte. Ich habe mein Glück frevelnd zerstört. Ich bin sehr unglücklich! Lotte.«

Am andern Vormittage, bald nach Empfang des Briefes kam die treue Freundin angestürzt. Sie fand Lotte sehr bleich und überwacht aussehend. Diese erzählte ihr alles Vorgefallene. Alice war ebenso außer sich über Lottes kindisches Betragen. Sie schalt diese heftig aus. Aber was war zu machen? »Warten wir Millers Ball ab. Vielleicht versöhnst Du ihn da!« – – »Ich werde absagen!« – »Du bist wohl wahnsinnig. Die einzige Gelegenheit, die sich Dir bietet, um Dein Unrecht wieder gut zu machen, willst Du vorübergehen lassen? Ob nein, Du wirst kommen! Wie wolltest Du Dich auch vor Deinen Eltern entschuldigen? – – Überhaupt, Lotte, wenn Du den Leuten nicht ein Schauspiel geben willst, mußt Du überall hingehen und ganz so sein wie immer! Sonst errät es jeder!« – – »Das fehlte noch! Nein, verlaß Dich drauf, ich werde äußerlich unverändert sein!« entgegnete Lotte trübe. »Doch nun, Alice, wie war es bei Dir?« – – »Auch ein Reinfall. Er kam mit seinem Bruder aus dem Hause, setzte sich mit diesem in eine Droschke, die davor zufällig hielt und beide fuhren davon, ohne mich auch nur zu sehen. Du siehst, der gestrige Tag war für uns beide schlecht!« – – »Für mich hätte er aber gut sein können!« wandte Lotte ein und seufzte.

Wer Lotte Bach in den nächsten Wochen aufmerksam beobachtete, der bemerkte, daß ein geheimer Kummer auf ihr lastete. Sie war blaß und ernster. Geduldig ließ sie sich von der guten Geheimrätin mit Eisenwasser auf Bleichsucht hin behandeln. Sie besuchte alle Feste. Sie lachte und war übermütig; aber dieser Übermut hatte etwas Gewolltes und Rauhes. Er war gemacht! Lotte war zum erstenmale in ihrem Leben aufrichtig reuig und tief unglücklich. Und diese Gefühle verloren zwar an Heftigkeit; aber nicht an Stärke. Abends vor dem Einschlafen und morgens lernte Lotte die Qualen von Gewissensbissen und Enttäuschung kennen.

Auch Gretchen Thronick wurde in das Vorgefallene eingeweiht. Sie erschien an dem Abend, wo der Ball bei Oberstleutnant von Millers stattfand, um Lotte anziehen zu helfen. Die beiden jungen Mädchen waren in Lottes Zimmer allein, als die Friseurin ihr Werk vollendet hatte. – Grete warf der Freundin das hellblaue Crepedechine -Kleid über, schloß die diversen Haken zu und befestigte die Vergißmeinnichtsträußchen am Ausschnitt und die breite Schärpe. Die andere ließ sich, in Gedanken versunken, putzen. Sie starrte vor sich hin, ohne einen Blick auf den Spiegel zu werfen. – Endlich war Grete fertig. Sie trat zurück und musterte die Geschmückte, die zum erstenmale ein wirkliches Ballkleid mit allem Zubehör trug.

»Du hast heute Deinen beaujour, Lotte! Donner Wachsstock, so habe ich Dich noch nie gesehen! Kleider machen Leute. Der Frisierkopp und das blaue Kränzchen – – ich sage Dir, famos! Hätte ich doch auch einen Onkel mit so noblen Spendierhosen, der mir ein seidenes Kleid schenken würde! Ich werde wohl mein Lebenlang bei Kaschmir oder Cheviot kleben bleiben! – – Wie ist Dir eigentlich zumute?«

»Belämmert!« erwiderte Lotte kurz. – – »Undankbare Person! Warum?« – – »Na, ich danke, ich hätte, denke ich, Grund genug!« – – »Paß auf, Du nimmst die Sache zu tragisch! Feller ist ein viel zu guter Mensch. Er wird Dir längst vergeben haben. Sieh ihn recht nett an, begrüße ihn liebenswürdig, und paß auf, er, nicht Du, kriecht zu Kreuze! Und dann sei vernünftig und recht lieb und gut zu ihm! Dann hast Du ihn wieder. Ich würde sogar Deine Kratzbürstigkeit von neulich garnicht erwähnen – –«

Lottes Augen hatten sehnsüchtig bei dieser freundlichen Vorstellung gestrahlt. Sie preßte die Hände gegen die Brust und unterbrach die Sprecherin: »Nein, Grete, nein! Ich habe in diesen Wochen zuviel durchgemacht! Qual und Reue! Mir ist's, als sei mein ganzes Innere um- und umgekrempelt. Wenn man sich so niederträchtig benommen hat, wie ich, dann muß man büßen. Ich will es thun! Bei dem ersten freundlichen Blick von Willi trete ich zu ihm und bitte ihn um Verzeihung. Alice ist ganz meiner Ansicht. Ich habe es ihr und auch mir zugeschworen, und ich werde es auch thun!« – – »Schaden kann es auch nicht!« gab Grete zu. »Er ist ein Süßmaier, da imponiert es ihm sogar wahrscheinlich! Bist Du sehr aufgeregt?« – – Lotte zeigte stumm ihre bebenden Hände. – – »Wenn es die andern nur nicht merken, Du!« – – »Ha! Da kennst Du Lotte Bach schlecht!« – – »Ich habe auch Hoffnung, daß es sich einrenkt. Aber Du, wenn der heutige Abend vielleicht Dein Verlobungsabend wird, dann kriege ich ein feines Geschenk.«

Grete war sehr für Geschenke eingenommen. »Ja,« meinte Lotte. »Du sollst etwas Feines bekommen, zur Mitfreude. Wenn ich es nur erst kaufen gehen könnte. Du ahnst nicht, wie mir ist. Es dreht sich alles rund 'rum mit mir, wenn ich an das Eintreten denke. Gut, daß Alice mich abholt. Sie ist famos zu mir, wa – haftig wa – –! Gott, all der Glanz und der Luxus bei Millers! Der blendet förmlich! Mein seidenes Kleid – – und dabei ist mir so weh, so eigen – – Wie spät ist es eigentlich?« – – »Gleich halb neun! Alice wird bald kommen. Geh jetzt lieber vor und zeig' dich deinen Eltern. Die warten schon ungeduldig!« – – »Hast recht!« –

Sie eilten in das Speisezimmer. Herr Geheimrat Bach erhob sich und zog die Tochter ans Licht. »Alle Wetter!« sagte er beseligt, »Range, Range, aus Kindern werden Leute, und was für welche! Heute sieht man Dir nicht an, daß Du hinten auf einem Müllwagen spazieren gefahren bist und mit Vorliebe Zielspucken und Keilen spieltest. – – – Hör' mal, Mädel, in der letzten Zeit war da alles in Ordnung? – – – Na, Schwamm drüber! Glück auf! Mit so 'was werdet Ihr Kruppzeug am besten selber fertig! Aber, Lotte, eine Berliner Range beißt die Zähne aufeinander, hält die Ohren steif und sagt: Gerade mitten durch! Nur der Welt kein Schauspiel geben! Verstanden?« – – Lotte hing an seinem Hals und preßte sich fest an den geliebten Vater. Er hielt sie eng umschlungen und tätschelte ihre kalte Wange. – »Verstanden!« entgegnete sie energisch. Dann machte sie sich los. »Lotte, thu mir den Gefallen, halt' Dich gerade, zerknautsch die Spitzen und die Schärpe nicht. Das Kleid muß zu allen eleganten Bällen halten!« warnte die Mutter. »Dann iß nicht zuviel, beklecker Dich nicht! Mach' nicht solch schnippisches Gesicht, sondern sei liebenswürdig zu den Herren. Lach' nicht so laut! Du weißt, Millers sind sehr kritisch!« – –

»Na, höre mal, Mutter, zu den Verhaltungsmaßregeln bin ich denn doch schon zu alt! Ich bin kein Kind mehr!« rief die Balldame empört. Die Mutter lachte: »Baubaubau, nicht beißen! Ich wußte, daß die Beleidigung kommen würde! Aber ich kenne meine Pappenheimer! – – – Übrigens, Liebling, wenn Doktor Feller da ist, dann grüße ihn bestens. Ich lasse ihn bitten, am nächsten Mittwoch zu uns zu kommen!« – – »Nein, da bin ich bei Huttens!« sagte Lotte hastig. – – »Na, denn Sonnabend! Dann bitten wir Alfred und Else, und Ernst – – – ich kann ihm ja schreiben! Das sieht besser aus; aber sage es ihm immer, damit er sich den Abend freihält!« – – –

Alice Hutten kam dicht verhüllt in das Zimmer gestürzt, um Lotte abzuholen. Sie hatte die letzten Worte gehört, und das Erblassen der Freundin gesehen. Sie tauschte mit dieser und Grete Blicke aus. Dann sagte sie »Guten Abend«, und ehe man recht zur Besinnung kam, war Lotte in den Abendmantel gewickelt, in die Boots gestiegen und zum Fortgehen bereit.

Während der kurzen Fahrt war sie sehr still. Sie malte sich ihr Eintreten und alles Darauffolgende aus. Alice plauderte, um sie von ihren Gedanken abzubringen, ohne daß es ihr gelang. – Die Droschke hielt vor dem Hause, und die jungen Mädchen eilten stumm zum ersten Stockwerk empor. Auf dem Absatz blieb Lotte stehen und hielt der Freundin die Hand hin: »Du, kneif' mir mal bitte den Daumen, und dann, ich flehe Dich an, bleibe in meiner Nähe! – – – Wenn ›er‹ schon da ist, so stubs mich oder sage es mir leise!« – – »Selbstverständlich, Lotte! Aber Du denke auch an Deinen Schwur und werde nicht vor Dir selbst meineidig! Schmiede dein Glück!« – – »Ich wollte, ich stände erst vor ihm und dürfte ihn um seine Vergebung anflehen. Mir ist so wehmütig und demütig zu Mute!« – – »So? Das ist die Stimmung, in der ich Dich Bock wollte! Endlich kirre! Wie windelweich mußt Du sein!« – – »Na ob, es hat mächtig an mir gerüttelt!« – – »Los! Der Diener sieht schon immer zu uns her! Von ganzem Herzen Glück auf, Du!« – – »Danke!«

Sie kamen ziemlich zeitig. Die prunkvollen, in hellem Glanze strahlenden Salons waren noch nicht sehr voll. Noch scharten sich alle Gäste in dem Boudoir der Hausfrau um sie und ihren Gatten. Ein hastiger Rundblick! Lotte atmete auf. Er war noch nicht da! – Sie begrüßte die Wirte mit tiefer Verbeugung und ließ sich von Julia zärtlich umarmen: »Du, Baby, eine Überraschung für Dich!« sagte die Haustochter. »Für mich?« fragte Lotte gespannt. Ihr Herz klopfte. – – »Ja, wir haben beute einen entfernten Verwandten hier. Er hat viel von Dir gehört und geriet über Deine Streiche in Ekstase. Heinz nannte Dich unter den geladenen Damen. Kaum hörte er Deinen Namen, so wurde er lebendig und fragte uns nach Dir aus. Er behauptet, Dich zu kennen!« – – »So,« meinte die Angeredete halb im Traum, »wer ist es denn?« Sie blickte nach der Thür. Ein ganzer Strom flutete hinein. Neue Gäste. –

»Leutnant von Hase, genannt Häschen, sehr schneidig! Du!« entgegnete die schöne Julia lachend. Sie wandte sich den sie Begrüßenden zu. Lotte hatte den Namen nicht verstanden. Vor ihr drehte sich das ganze Gemach. Alice war zu ihr getreten und faßte sie leicht unter. »Na, Lotte!« sagte sie laut und fügte leise hinzu: »Achtung! Er kommt!« Lotte preßte ihre Hand. Sie stand aufrecht und unverändert unter der Portiere, die den Erker von dem Zimmer trennte. Ihre Augen brannten fiebrig. Ihre Wangen waren sehr blaß. –

Herr Doktor Feller in tadellosem Anzug war eingetreten. Er küßte Frau und Fräulein von Miller die Hände, begrüßte die Herren und all die anderen Bekannten. Dann wurde auch sein schönes Antlitz um einen Schatten blasser. Bei einer Wendung nach rechts, stand er nämlich plötzlich vor den erregten Mädchen. – Feller reckte sich stolz empor, schaute Alice an und verneigte sich tief. Ohne Lotte anzusehen, wiederholte er die Verbeugung knapper nach ihrer Richtung hin. Dann eilte er in die entgegengesetzte Ecke und verwickelte Fräulein von Hallisch in eine Unterhaltung. –

Lotte sagte leise vor sich hin: »Vorbei!« – Sie ergriff die schmale Silberkette, an der ihr Fächer hing, mit wildem Ruck und spielte damit. – Auch Alice war bei Fellers augenfälliger Drehung erblaßt und hatte sich auf die Lippen gebissen. »Ich könnte heulen!« flüsterte sie. – »Heulen? Pah! Weshalb?« erwiderte Lotte kurz. Sie zog die Freundin zu einigen Bekannten in den Musiksaal und eröffnete eine Wortplänkelei. »Wie hältst Du das den Abend über aus! Das ist zum Wahnsinnigwerden!« dachte sie innerlich. Inzwischen war Heinz von Miller zu Feller getreten: »Hören Sie 'mal, Doktor, eine fatale Sache. Wir haben uns bei Ihnen sehr zu entschuldigen. Jedoch Sie sind ein alter Freund des Hauses und werden uns vergeben, wenn wir diesmal – –« – – »Bitte, zur Sache, Miller!« unterbrach ihn der Arzt. – »Also, hm, sehr fatal! von Hase, ein weitläufiger Verwandter ist nach Berlin kommandiert und zum erstenmale bei uns. Nun hat er sich Fräulein Bach auf das Dringendste zur Tischdame ausgebeten. Und – Sie verstehen – wir konnten nicht umhin! – So haben wir ihm den Gefallen gethan und bitten Sie, für heute mit Fräulein Hutten zur Tafel zu gehen!« – Er reichte ihm das gedruckte Doppelkärtchen mit ihren Namen. – »Aber, keine unnützen Worte, lieber Miller, machen Sie sich keine Sorgen! Ich bin sehr zufrieden!« entgegnete Willi erleichtert. – »Na, na, kleiner Schäker, nicht heucheln! Kenne Sie doch besser!« rief Miller lachend. »Aha, da ist Ihr Rivale ja. Guten Abend, Kamerad! Begrüße Sie bei uns! Ihr Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Aber bitte entschuldigen Sie sich bei Herrn Doktor Feller, dem Sie die Tischdame entführen. – Leutnant von Hase!« – Als Sohn vom Hause sehr beansprucht, eilte er fort. Der kleine Offizier reichte Willi die Hand und lachte ein wenig verlegen. »Ja, ja, mein verehrter Herr Doktor, da habe ich wirklich um Pardon zu bitten; aber nach alledem, was ich von der jungen Dame gehört und gesehen, hatte ich – – – Sie werden mich verstehen, vermute ich, ein entzückendes Mädelchen!« – »Ich verstehe Sie, Herr Leutnant!« antwortete Willi steif und gequält. – »Doch wo ist sie? Ich möchte die junge Dame begrüßen?« – »Bedaure, Ihnen keine Auskunft geben zu können! – – Oh doch, da hinten in dem Musiksaal, die Dame in hellblau ist –«

Ehe er noch aussprechen konnte, war der junge Offizier fortgeeilt, nachdem er sich flüchtig verbeugt hatte. Willi schaute dumpf hinter ihm drein. Ohne es zu wollen, beobachtete er die Scene, die ihn doch nur peinigte. – Herr von Hase war in das anstoßende Zimmer geschlüpft und bis zu Lotte vorgedrungen. Mit dem Worte: »Mein allergnädigstes Fräulein, gestatten Sie einem Verehrer von Telschow die Tête zu nehmen!« – – Das Mädchen hatte sich ihm zugewandt. Sie blickte ihn an und ihr bleiches Gesicht färbte sich dunkelrot. Halb befangen legte sie ihre Hand in seine ausgestreckte, die er heftig, drückte: »Ich habe die Ehre und das Vergnügen, Sie zu Tisch zu führen, meine Gnädige!« sagte er laut und fügte leise hinzu: »Um Gotteswillen, verraten Sie mich nicht! Ich habe gesagt, daß wir uns schon lange kennen. Mein Name ist Hase ... »Und ich weiß von nichts!« vollendete Lotte, unwillkürlich lachend. – – »Nein, in der That, wahr und wahrhaftig Hugo von Hase, der nach Ihnen schrie wie der Hirsch nach Wasser!« – – »Also so wässrig bin ich?« – – »Oh nein, das saftigste Kohlblatt kann meinen vierbeinigen Namensvettern nicht so verlockend – –.« – »Hören Sie auf, sonst giebt es wirklich zuviel Kohl!« rief Lotte. »Aber woher wußten Sie? – – –« – – »Ja, aber gnädiges Fräulein, Frau Stadtrat Krause aus Graudenz sprach doch laut genug! Im übrigen haben wir noch ein Hühnchen zu rupfen. Erst eine Extradroschke im entsetzlichen Wetter spendiert und dann drei Stunden das Studium der Nationalgalerie ...« – – »Ich freue mich, zur kulturellen Hebung des preußischen Offizierstandes beigetragen zu haben! Hoffentlich waren es lehrreiche Stunden für Sie!« sagte Lotte lachend. Sie stellte den Leutnant Alice vor, die sie erstaunt beobachtet hatte. – Sie fuhren in ihren Scherzen und Anspielungen fort. Lotte glänzte in Wortwitzen und fand einen würdigen, schlagfertigen Partner. – Plötzlich fühlte sie einen Blick auf sich ruhen.

Erblassend und erzitternd drehte sie den Kopf zur Seite. – Feller hatte sie angeschaut; aber kalt und gleichgültig, dann wandte er sich ruhig fort. »Alice!« raunte Lotte der Freundin zu, »schaff mir auf fünf Minuten Alleinsein oder ich schreie hier wie eine Verrückte auf. Mein Herz dreht sich um und um!« – – »Oho, hier wird nicht getuschelt, meine Damen! Ich bitte, daß man mich ins Vertrauen zieht!« scherzte der schneidige, kleine Leutnant. – – »Fräulein von Miller hat uns soeben gewinkt. Wir sollen ihr wohl bei irgend einem Arrangement helfen. Entschuldigen Sie einen Augenblick, Herr von Hase, wir kommen sogleich zurück!« sagte Alice geistesgegenwärtig. – – »Ja, darum muß ich entschieden bitten oder ich folge Ihnen bis an das Ende der Welt!« rief er feurig.

Lotte war in Julias Zimmer geflohen. Sie warf sich in dem stillen Raum auf das Sofa nieder und schluchzte wild: »Siehst Du, es ist aus! Er schneidet mich, er wollte mich nicht einmal zur Tischdame. Alles vorbei! – – – Und ich kann den Hase heute nicht ertragen. Ich kann nicht!« – – Alice ließ sie sich austoben. Dann wusch sie ihr das Gesicht und reichte ihr einen feuchten Schwamm, um die heißen roten Augen zu kühlen. »Du giebst es ihm wenigstens deutlich zu verstehen, daß Du Dich um ihn grämst! Denkst Du denn, er ist blind?« fragte sie. Lotte gedachte der Worte ihres Vaters. »Nein, er soll es nicht merken, von jetzt ab nicht wahr!« sagte sie entschlossen: »Komm zurück! Es ist vielleicht gut, daß der Leutnant da ist, der lenkt mich ab!«

Sie kehrten in die vorderen Gemächer zurück. Es wurde gerade zum Souper engagiert. – Hase empfing sie ungeduldig. Er sah sie an: »Sie haben geweint, gnädiges Fräulein, was ist Ihnen? Sind Sie krank?« fragte er ängstlich und erregt. – – »Ich, ja, über die verstorbene Katze der Königin von England. Sie leiden wohl an Hallucinationen?« – – »Nein, aber ich kann Frauen nicht weinen sehen«, meinte er kläglich. »Entweder ich werde saugrob oder ich heule mit. Da schluchzte neulich so ein armes, kleines Fabrikmädel auf meiner Treppe. Und – Ehrenwort – sie hat mir die ganze Wohnung verdorben. Ewig sehe ich sie da hocken und heulen!« – – »Was mag sie gehabt haben?« fragte Lotte. – Sie fühlte sich getroffen. – »Was so'ne kleinen Dinger immer haben. – – Liebesgram! Die armen Mädel bleiben mit ihrem Herzchen an uns hängen und werden todunglücklich. Und wir Männer verdienen es garnicht. Wir wenden uns einer andern zu und haben bald vergessen! Es müßte denn eine Lotte Bach sein, der man einmal in die Schelmenaugen sieht, und die man denn nie wieder vergißt!« – – »Pah, überschätzen Sie uns nur nicht! Auch uns brechen die Herzen nicht so leicht! Ist es nicht Max, so ist es Moritz!« entgegnete sie herbe. Feller war in ihrer Nähe.

»Darf ich bitten, Fräulein Hutten? Man hat uns für einander bestimmt!« sagte Willi ernst zu Alice. – »Sie sagen das in einem Tone, der für mich nicht sehr schmeichelhaft ist!« meinte diese. Ihr Herz klopfte ebenso heftig, wie das von Lotte. Sie legte ihren Arm auf den seinen und schritt mit ihm in den Speisesaal. Aus Rücksicht für Feller hatte man Lotte an seine andere Seite placiert. – Die Qual für sie beide war entsetzlich. Jedoch war es gut, daß Hase seine Partnerin ausschließlich mit Beschlag belegte und ihr kaum Zeit ließ, sich zur Rechten zu wenden.

Und doch hörte Lotte Brocken der Unterhaltung, die ihr Herz erstarren machten. Um zu vergessen und sich zu betäuben, sprach sie dem schweren Wein sehr zu. Bald glühten ihre Wangen. Sie lachte lauter und plauderte mit einer Hast und Leidenschaft, die unnatürlich war.

Willi Feller erzählte Alice, daß er sich zwei Jahre bei dem Norddeutschen Lloyd als Schiffsarzt verpflichtet habe und bereits im Januar seine neue Stellung antreten wolle. Seine Zeit wäre so besetzt, daß er wohl kaum Muße finden würde, sich persönlich zu verabschieden, sondern dies schriftlich thun wolle! – Sehr ernst unterhielten sich die beiden bis zum Schlusse des Soupers und zogen sich dann in den Erker des Boudoirs zurück, wohin ihnen der Diener den Mocca brachte. – Alice hatte lange innerlich mit sich gekämpft, ehe sie für Lottes Interesse das Wort ergriff. Schließlich konnte sie nicht länger an sich halten und sagte: »Sie gehen fort, Herr Doktor, sehr weit fort. Wer weiß, ob wir Sie wiedersehen! Und nun wollen Sie nicht einmal Abschied von allen – – von manchen – – von denen nehmen, die sich besonders dafür interessieren? Ist das nicht schroff gehandelt nach all dem Früheren?« – – Er wurde wieder sehr bleich: »Nein, Fräulein Hutten, das ist so gehandelt, wie es die Ehre vorschreibt!« – – »Gehen Sie mit Ihrer harten Ehre! Vor einer so langen Reise – – und so unversöhnlich! – – Wenn Ihnen etwas zustößt, macht man sich die ärgsten Vorwürfe!« – – »Nein!« rief er. »Niemals! – – Man soll für die Lebenden fühlen und denken! Das Beklagen eines Toten ist nachher leicht genug!« – – »Sie sind zu streng – – plötzlich!« – – »Nein, ich habe zuviel ertragen! Mehr duldet meine Ehre nicht!« – – »Und wenn ich Sie versichere, wenn ich – –«

»Endigen wir, Fräulein Hutten, wenn Sie« – er erhob sich – »jene Person dazu vermögen, mich um Verzeihung zu bitten, dann will ich versuchen, ihr zu vergeben! Mehr könnte ich vorläufig nicht!« – Damit verneigte er sich und ließ Alice betroffen sitzen. – – »Sieh einer an! Aus Willichen ist ein Mann geworden!« – dachte sie bei sich und ging gleichfalls in das Zimmer zu der Gesellschaft. Soeben intonierte die Musik. Der Ball begann.

Lotte flog im Tanze dahin. Sie war viel begehrt, besonders von ihrem neusten glühenden Verehrer, dem Leutnant von Hase. Was kümmerte es sie? Nur tanzen – tanzen und bei der rasenden Bewegung vergessen!! – Es wurde zum Contre angetreten. Ehe die Vis-à-vis sich fanden und aufstellten, trat Alice zu ihr. »Er geht fort!« – – »Ich habe es gehört!« – – »Wir haben von Dir gesprochen!« – Die Angeredete zuckte zusammen: »Und?« – – Ihr Atem flog. – »Er ist in seiner Ehre gekränkt. Und wenn Du ihn um Vergebung bittest – –«

In Lotte kämpften Liebe, Gewissensbisse und ihr starrer Eigensinn einige Sekunden qualvoll. Dann blickte sie energisch auf: »Ja, ich werde es thun. Wo ist er?« – Alice hielt sie am Arme fest: »Dann wird er versuchen, Dir zu verzeihen!« – Bei dem Worte ›versuchen‹ schnellte Lotte wie eine Feder empor. Ihre Augen strahlten trotzig: »Er ist wohl verrückt! Hahaha! – Sie lachte krampfhaft: »Ich soll mich auf einen Versuch hin erniedrigen. Nein, Herr Doktor Willi Feller, reisen Sie glücklich, und versuchen Sie gnädigst, mir unterwegs zu vergeben. Ich harre in Demut!« – Sie wendete sich zur Seite: »Herr Leutnant von Hase, antreten! Frauendienst geht über Herrendienst!« – Der kleine Offizier eilte hinzu, beglückt über dies Kommandowort. Er hatte mit einem Kameraden geplaudert. »Gestatten Sie mir, daß ich mich Ihnen tranchiert zu Füßen lege?« – »Nein danke, nach dem Souper habe ich keinen Appetit auf Kalbsfrikassee! Au Wetter, das war hart!« Lotte klopfte sich lachend auf den Mund. »Warum machen Sie auch so fade Bemerkungen?« – »Thut nichts! Immer weiter, gnädiges Fräulein Range! Aber warten Sie, drei Stunden Galerie und ›Kalb‹ kommen aufs Kerbholz. Rache ist süß!« –

Die Nacht rückte vor. Eine junge Dame hielt Willi Feller in ihren Banden fest. Ein paarmal hatte er vergeblich versucht, zu entkommen. Endlich gelang es ihm, in ein anderes Zimmer zu entfliehen. Nebenan wurde ein Rheinländer getanzt. Hier war es kühl, denn der Balkon stand offen. Quer vor diesem stand Herr von Hase: »Gnädiges, liebes, gutes Fräulein, um des Himmels willen, kommen Sie aus der kühlen Nachtluft. Sie sind so erhitzt, ich bitte, ich flehe Sie an! Sie erkälten sich auf den Tod!« – »Und wenn ich nun gerade das will?« antwortete eine Stimme, in der der junge Arzt erschauernd Lottes erkannte. »Was geht es Sie an, wenn ich sterbe? He? Dann kommen Sie höchstens mit auf den Kirchhof und spendieren mir einen Kranz!« – »Bitte, kommen Sie doch!« flehte Hase. Er wandte sich hilflos ins Zimmer und sah Feller. »Ach, bitte, Herr Doktor, Sie sind Arzt, kommen Sie und befehlen Sie, kraft Ihres Amtes, Ihrer Würde –«

Lotte trat in die Thür. Sie ballte die Faust: »Oho, Herr Leutnant, mir hat kein Mensch zu befehlen!« – – »Sie sehen, auch ich bin machtlos! Im übrigen weiche ich gern dem Militär, dessen Bestimmung ja Angriff und Verteidigung ist!« sagte Feller kühl und verneigte sich, das Zimmer verlassend. »Ein steifer Kerl!« schalt der Offizier hinter ihm her. »Gehen wir tanzen!« – – Gegen drei Uhr fuhren Lotte und Alice heim. – Am andern Tage erkrankte Bachs Jüngste. Der Arzt sprach von Influenza und Fieber. Die Mutter von Schnupfen und verdorbenem Magen. Trotzdem lag Lotte vierzehn Tage blaß und still im Bette. Sie erhob sich nach dieser Zeit und war plötzlich wieder die Alte. Die Eltern und Freunde freuten sich, wie rasch sie sich erholte und aufblühte, wie glänzend ihre Stimmung war, die wieder an den früheren ausgelassenen Übermut streifte. Lotte fühlte selbst am meisten, daß etwas Neues in ihr aufgetaucht war. – Sie war nicht wie sonst lustig und sprach ihre Urteile von der Leber frisch und frech herunter! Nein, eine gewisse ironische Schärfe, ein leichter Sarkasmus mischte sich ihren Urteilen. – Es stimmte sie traurig, wenn sie es bemerkte; aber es war nicht mehr zu ändern! – Alice sprach mit ihr über ihre neue, entdeckte Satire. – »Ja!« erwiderte Lotte achselzuckend auf eine diesbezügliche Frage. »Menschen ändern sich wie die Landschaften. Wenn mitten in das Sommerbild ein eisiger Winterwind fährt, dann richtet er eben Verheerungen an! Das hilft nun nichts. Und so arg ist es ja auch nicht. Im übrigen schadet es den Menschen wie dem Kuchenteig nicht, wenn man ein bißchen Hefe beimischt! Die Pastete geht besser auf – – ist bekömmlich und verdaut sich leichter!« – –

 


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