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Sie wußte nicht, wie lange sie bei Ernst Gast gewesen war. Eine Viertelstunde vielleicht? So war ihr diese Viertelstunde ein neunmal vernageltes Rätsel; eng und karg wie die zwischen die Dächer der armen Häuser geklebte Mansarde, war ihr Herz, war die Welt darüber für sie geworden: kalte Dämmernis und Unverstand.

Sie lief in die Straßen, in die aus weihnachtlich gerüsteten Schaufenstern Licht brach, Licht! Sie drängte sich zwischen die hastenden Menschen, zwischen die flirtende Jugend, damit diese gefrorene Einsamkeit von ihr wiche.

Ernst Gast aber lehnte in seiner Mansarde noch an der Kante des Tisches in der gleichen Stellung, in der sie ihn zuletzt gesehen hatte. Die Tür war offen geblieben. Er stand dort und hatte die abwesenden Augen.

Da flog einer in wildem Entsetzen die ächzenden Stiegen empor. Es war zu hören, daß der Eilige die halbfinstere Treppe kannte.

Gast rührte sich nicht.

Und Walter v. Harden sprang in die Stube –

»Lilofe Vanderey!« rief er. »Sie ist bei Dir gewesen! Wo hast Du sie hingetan?«

»Hast Du kommen wollen, und hat sie auf Dich gewartet?«

»Nein. Aber als die Nacht so schwer herniederfiel, brach der Gedanke in mich: Du hast eine fürchterliche Dummheit gemacht!« Er lachte jäh und bitter auf –: »Ernst Gast, nehmt mich unter die Dichter auf, die hinter den Zäunen hocken ... ich habe die Prüfung bestanden!«

Gast legte ihm die Hände auf die Achseln und sah ihm in die Augen: »Ich weiß nicht, was Du redest. Aber wenn Du den Verstand verloren hast, so komm, wir wollen wandern und uns einen sehr hohen Turm suchen, oder einen Berg, um den die Stürme gehen und die Falken ihre Flügel schlagen; denn diese Dachstube ist zu nah an der Erde, und was auf der Erde ist, verstehen wir Armen nicht mehr ... Warum sagst Du denn, daß Du bei denen weit hinter den Menschen wohnen willst?«

»Weil ich in das schöne junge Kind ein Vermögen der Seele gedichtet habe, das sie nicht besitzen kann! Weil ich Dir darin so ähnlich geworden bin, Hugo Gans! Soll ich Dir sagen, wie Ihr Euch gegenübergetreten seid? Wie Ihr Euch angestarrt habt, bis sie sich fürchtete, und vor Dir geflohen ist?«

»Es war doch nicht so,« sagte Gast, »sondern ich habe sie innig und heiß eingestrickt in diese Arme, wie ich sie all die Tage eingewoben habe in das Leuchten meiner Seele. Aber sie hat nicht gewollt.«

»Und das hättest Du fertiggebracht in drei Minuten, fertig gebracht zwischen Tag und Abend?«

»Alles,« sagte er, »aber sie hat doch nicht gewollt.«

»Und nun?«

»Nun wart' ich vielleicht auf den Frühling – dann bettele ich mich fort von hier und von ihr, von Dir und wohl auch von mir selber und singe mich hinüber auf eine andere Erde.«

Da dehnte Walter v. Harden seine Arme weit aus und rief lachend: »So laß es Frühling werden, Himmel! Mache die Tage golden, oh Sonne! – Du siehst, mein edler, närrischer Ernst Gast: es ist weit mit mir gekommen, fast so weit wie mit Dir. Am Ende wandern wir doch noch miteinander. Aber erst muß ich sehen, wie Du die schöne kleine Vanderey zugerichtet hast, täppischer Bär. Leb wohl!«

Da ging er hin und suchte Lilofen in den Straßen und fand sie nicht. Er fand sie auch am anderen Tage nicht und sah sie und seinen Freund Ernst Gast bis zu dem Feste nicht mehr.

Am Christtage, als die Nacht sank und große weiße Flocken in dichtem Falle herniederrieselten, hatte er Lilofen getroffen und ging mit ihr und besinnlichen Reden die Carl Alexander-Allee entlang. Dicht verschneite Bäume und Zäune ringsum. Die ganze Welt hing voll Weihnacht. Von jener Stelle der Allee aus, die vor den Feldern ist und an der sie damals mitternächtig auf den Laternenmann gewartet hatten, sahen sie Menschen eilig über die Elisabethstraße gegen das Haus Vanderey laufen. Sie kamen an den Gartenzaun, zu sehen, was da wäre. Laternen pendelten durch das Schneien; Menschen mit Lichtern und Rufen drängten sich durch das Gartentor –

An der Stelle, von der Ernst Gast in der Novembernacht das Lied zu Lilofens Fenster gesandt, hatte er sich erschossen.

 

In der gleichen Stunde öffneten sich für Walter v. Harden die Türen zum Hause Vanderey. Bellis Inden lud ihn ein, bei ihnen zur Nacht zu essen. Es war graulich und verlockend, dem Leide nachzuspüren, dessen Flamme am Christabend durch eine Revolverkugel von dem Dochte geschnitten worden – just an dem Abend, an dem die Lichtfreude der Menschen aus allen Winkeln brach.

Nur im Hause Vanderey sollte es still bleiben in dieser Nacht. Achilles Vanderey hatte seine Ankunft für den letzten Tag des Jahres in sichere Aussicht gestellt; es war, als hätten die Ereignisse, vorgeahnt, seinen Entschluß bestimmt.

Nun hatte man den langen Abend für diese unerhört aufregende Geschichte und konnte sie durchleuchten nach allen Gespenstern, die darin spukten.

Aber der Tod war atemberaubend nahe an Walter v. Harden, war zu nahe an Lilofen vorübergestrichen – alle hellen Fenster an dieser Jugend waren von seiner erkältenden Wanderung beschlagen, und die Neugier der Inden kam nicht recht auf ihre Kosten.

Sie saßen noch zu Tisch, da trat der Diener Daniel mit einem eingeschriebenen Pakete für Lilofen in das Zimmer. Die Hand zitterte ihr, wie sie den Namen auf die gelbe Adresse setzte; denn das Paket kam von Ernst Gast. »Eine Sendung aus dem Reiche der Toten?« sagte Bellis Inden. »Was hat dieser Ernst Gast denn mit Dir zu schaffen gehabt?«

»Herr v. Harden wird es Ihnen berichten,« antwortete Lilofe; »ich weiß nicht, warum ich es Ihnen verschwiegen habe. Aber ich bin jetzt nicht in der Stimmung, vor Ihnen zu beichten.«

Sie löste die Hüllen von dem Paket. Es enthielt die Gedichte Gasts, auf viele lose Blätter geschrieben. Zu oberst lag eins, das trug als Vermerk der Entstehung die Stunde vor Gasts Tode. Es hieß:

Die weißen Türen.

Mein Weg wird Licht. Sterne
blühen zu meinen Füßen
mit goldenen Augen und silbernen Ringen.
Ich rief nach Dir in lachende Ferne –
wie Blumen verwelkte mein Grüßen.
Nun hör' ich singen.
Hinter weißen Türen in blauen Wänden
gehen leise Lauten und schöne Lieder –
zu den weißen Türen will ich wieder.
Und fragt mich der Pförtner der leuchtenden Weiten –
ich schlag ihm Deinen Namen aus klingenden Saiten.

Herr v. Harden las die Verse laut und getragen. Nun war Ernst Gast längst hinter den weißen Türen in den blauen Wänden, zu denen ihn seine Sehnsucht gezogen, und Lilofe dachte: Wie mächtig ist die Rede eines Mundes, der aus dem anderen Reiche ruft!

Jedes Wort, das die Neugier der Inden ihr zuwarf, tat ihr weh. Und nun wartete sie ihr auch noch mit Vorwürfen auf und sagte: »Es wäre Deine Pflicht gewesen, mich von diesen Dingen zu unterrichten. Du hättest so viel Vertrauen zu mir haben müssen.«

Da nahm Walter v. Harden alle Schuld auf sich und sagte: »Wir haben jung und töricht gehandelt, aber wir hatten die beste Absicht. Vielleicht wäre es anders gekommen, wenn ich Herrn Achilles Vanderey ins Vertrauen hätte ziehen können – vielleicht! Was Ernst Gast brauchte, war eine wirtschaftliche Sicherstellung für zwei bis drei Jahre. Damit hätte man ihm vielleicht ins Leben geholfen. Aber ich habe davon zu Fräulein Lilofe kein Wort gesprochen, weil es ja doch unnütz gewesen wäre. Was in ihrer Kraft lag, hat sie versucht. Oder –« er wandte sich an Bellis Inden –: »Hätten Sie vielleicht einen Entschluß fassen dürfen? Wäre Ernst Gast nicht gerade für Sie der arme Narr gewesen, als welcher er sich an den Menschen vorbeidrückte? Nun, da er das trübe Licht in rascher Tat ausgeblasen hat und sein Schicksal bekannt wird – nun werden Sie nicht die einzige sein, Fräulein Inden, die das Wort von der Hilfe gedankenlos in den Mund nimmt. Wenns zu spät geworden ist, wissen die Menschen immer Rat. Ich will Ihnen aber noch sagen, daß ich die Absicht hatte, mit Herrn Vanderey darüber zu reden, wiewohl ich wußte, er kannte mich zu wenig, und die Bitte, zu helfen, war in diesem Falle zu wunderlich. Ich getraue mir nicht, zu denken, daß ich mit Erfolg an Herrn Vandereys Türe geklopft hätte für diesen armen Pilger zu den weißen Türen.«

Danach küßte Harden Lilofen die Hand zum Abschied und verneigte sich sehr förmlich vor Bellis Inden. Der Abend forderte ihn im Hause seiner Verwandten.

Lilofe erhob sich nicht aus dem Klubsessel, während er ihre Hand an die Lippen führte; sie legte den Arm wieder auf die Seitenlehne und nickte kaum merklich, als er sich in der Türe ihr noch einmal zuwandte.

Dies Verhalten war beredter als ihre Kargheit, beredter als der Teller, dem die Speisen aufgelegt waren, die, kaum berührt, nun abgetragen wurden.

Es war eine jener Stunden, in denen Türen des Lebens aufgehen. Und was nun vor ihren Blicken lag, war machtvolle Einsamkeit. Wer die wahrnimmt, ruft heimlich nach Hilfe, wenn er von den Sonntagsstraßen des Lebens kommt, auf denen die leichtgeputzten Menschen gehen und wo man sich alle Tage seine Gewohnheiten vordenken läßt.

Jawohl, Lilofe Vanderey hatte in dieser Stunde nach Hilfe gerufen. Sie hatte auch nach Hilfe gerufen in den verflossenen Tagen, in denen sie muttersternallein gestanden hatte. Sie fühlte, Bellis Indens Klugheit reichte nicht bis hierher. Und sie fragte so in die Stille ihrer Mädchenstube: warum läßt mich Walter v. Harden nun stehen?

Nun ja: er hatte gesagt, er werde bis zum Feste nicht mehr kommen, und zwischen ihnen war nichts beredet worden als das Wohl und Wehe jenes unglücklichen Menschen. Dem hatte sie einen einzigen Strahl Sonne in die Düsternis der Seele strahlen wollen – nicht einmal das hatte sie vermocht! Töricht wie ein Kind hatte sie vor ihm gestanden und ihn gefragt: Wie soll ich denn so etwas machen?

Die schöne Lilofe Vanderey, der Bellis Indens Weisheit hundertmal eingeredet hatte: Mädel, breite die Arme aus, alles Glück der Erde wartet auf Dich und stürzt sich Dir ans Herz – nicht einmal einen Strahl Sonne hatte sie für den armen Narren übrig gehabt von ihrer Helligkeit.

Und dann war Walter v. Harden gekommen und hatte ihr vertraut, daß ihrer beider Witz an dem armen Freunde bankerott geworden sei. Also auch der seine. Und sie hatte geglaubt, sie könne in dieser Kraft und männlichen Umsicht getrost untergehen.

Es zogen Wolken über die Sonne, die ihr über jener winterlichen Parkwanderung mit Harden so klar und königlich aufgegangen war. Nun hing diese Sonne bleich im Nebel. Sie konnte hineinschauen und wurde nicht mehr geblendet von goldenem Überfluß. Sie konnte hineinschauen und erschauerte nicht mehr vor ihrer Herrlichkeit.

In den folgenden Tagen traf sie Harden, ganz von ungefähr, in den Straßen, in denen heimlich Wünsche und neue Kleider aneinander vorübergetragen wurden. Es rief nichts in ihr, daß sie zu bestimmten Stunden bestimmte Wege ginge. Sie streifte auch nicht mit lauten Augen und funkelnder Selbstgefälligkeit an diesem Straßenleben dahin, das nach dem Feste ein wenig koketter war als sonst, wegen seiner neuen Politur.

Zuvor hatte ihr die geschäftige Eitelkeit eingeredet: »Lilofe Vanderey, Du mußt auf die Eisbahn, Du mußt des Sonntags zur Promenadenmusik – fünfhundert Augen laufen da herum und suchen nach Dir!«

Das war nun alles fort, heruntergeblasen von dem strahlenden Lichterbaum ihres Herzens.

Wenn sie neben dem jungen schlanken Juristen Harden ging – oh ja, das war noch immer erwartungsvoll und gabenfroh. Aber sie fühlte, wie er nach Hilfe suchte, wenn die weißen Türen in ihre Augen traten. Und sie merkte auch, daß die Blicke vieler neugierig um sie herumstanden und der Klatsch hinter ihr zischte.

Sie war feinhöriger geworden.

Zuvor hatten die Leute zwar auch über die kleinen Abenteuer ihres Herzens geklatscht – pah, sie achtete dessen so wenig wie des Doktor Fuhr, der auf der Straße mit Grüßen voll vergnügter Erinnerungen an ihr vorübertänzelte. Was sie damals gepflückt hatte, war ein Strauß vom Wegrande, ein Ding für den Gürtel, das kaum die Stunde überdauerte. Aber nun –: »Du, das ist die schöne Lilofe Vanderey, wegen der sich jener Ernst Gast erschossen hat ...«

»St, st,« machte der Klatsch hinter ihr drein.

Sie konnte den funkelnden Gedanken nicht ausdrücken, der sie brannte: Walter v. Harden trüge an der ganzen Mühsal ihrer Stimmung die Schuld. Von ihm hatte sie erfahren, daß jener Mensch sie lieb hätte bis zum Untergang. Walter v. Harden hatte sie überredet zu dem kopflosen Beginnen, in die gefrorene Dachkammer zu klettern. Und Walter v. Harden wußte nun kein Wort dafür als: es war dumm von uns beiden.

War es nicht ganz allein dumm von ihm?

So stand das Ereignis vom Weihnachtsabend in ihrem Leben, ein Gespenst, das auf allen Wegen hinter ihr dreinschlich. Des Nachts hielt es ihr die Augen offen, und des Tags blies es ihr ins Herz, daß es zitterte wie ein Licht im Winde – die Ausgeburt einer einzigen Stunde. Und war so stark, daß das ganze Frühlingshaus ins Wanken geriet, welches die Erziehungskunst Bellis Indens buntbewimpelt in fünfzehn Jahren gebaut hatte. Es wankte, aber es zerbrach nicht; denn für das, was in den Menschen von Kind an hineingesündigt ist durch seine Erzieher, gibt es nur mühsam Erlösung.

 

Lilofe hatte Freundinnen, kleine lachende Mädel mit Augen und Herzen voller Geheimnisse, mit denen sie auf einen fixen Plausch zusammentraf. Aber es ist ein wunderlicher Instinkt für Licht und Schatten in dieser liebes- und lebenssehnsüchtigen Weibesjugend: wo Lilofe Vanderey aufging, leuchtete sie ganz allein, und alles drängte sich in ihr Licht. Sie wurde von tausend Menschen geliebt und bewundert; sie machte tausend Menschen froh nur dadurch, daß sie sich anschauen ließ. Aber die gleichalterigen Mädchen fürchteten sie, wenn sie auf Entdeckungsreisen ins Leben waren. Im Grunde neideten sie ihr das große Erlebnis, aber sie dichteten die Rolle, die Lilofe Vanderey dabei gespielt hatte, geschäftig um zu einer Ungeheuerlichkeit.

So kam es auch, daß Lilofe an den Tagen der Tanzstunde stets an einer Erkältung oder an Kopfweh litt und absagen mußte. Zuletzt geriet die ganze Sache bei ihr in wohlige Vergessenheit.

Sie wurde immer einsamer in dem Bedürfnisse, sich das Herz einmal ganz freizureden. Bellis Inden litt an dem Vertrauensbruch und war erfüllt von den Tagen der Liebe und neuen Pflichten, die auf sie warteten. Sie war Einsamkeiten des Herzens von jeher nicht zugängig gewesen.

Und dann kam Herr Vanderey – er war länger als drei Monate unterwegs gewesen. Das Christfest wurde nachgeholt. Er war unerschöpflich an Liebe und Geschenken. Er sah auch, daß Lilofe gewachsen war in allen Kräften des Gemüts und daß der funkelnde Frühlingshimmel ihrer Augen um die großen Gottheiten des Lebens geleuchtet hatte. Aber als sie sich ihm ganz aufschließen wollte, standen da doch die gläsernen Wände des anderen Geschlechts, der väterlichen Würde und der Zurückhaltung, deren Achilles Vanderey seinen Kindern gegenüber stets beflissen gewesen war. Er hatte das Gefühl nie loswerden können, daß er in allen Dingen, die die Nachkommenschaft angingen, ein Dilettant sei.

 

Bellis Inden verließ das Haus, wie eine Königin beschenkt von dem Geberfrohsinn und der Dankbarkeit des Mannes, dessen Kinder sie um die Säume des Lebens geführt hatte, auf die er von fernen Höhen verständnislos herniederlächelte.

Vera Kruse kam und fand sich in ihre Pflichten mit allem Willen zur Treue und Regentschaft in den Grenzen des ihr zugemessenen Reiches.

Daniel erhielt den Titel und Ruheposten eines Hausmeisters und war um Jean, den jungen Diener und Kutscher, als um einen, dessen Würde in seine Hand gegeben war.

Und Herr Vanderey sann auf Zerstreuung für sich und für Lilofen.

Er schaffte Pferd und Wagen an, hob Lilofen über alle Einsamkeiten hinweg und ließ in Blüte schießen, was seiner Frohmütigkeit nach zu einem richtigen Mädchenfrühling gehörte.

Unter den Fenstern Lilofes wuchs Gras über die Stelle, auf der Ernst Gast das irre Licht seines Lebens ausgeblasen hatte. Das dichterische Vermächtnis brachte Lilofe eines Abends zu ihrem Vater. Es spann eine nachdenkliche Stunde darum. Sie ließen die Blätter durch ihre Hände gehen; dann barg sie Herr Vanderey wohlverhüllt zu unterst in seinem Schranke. Er gestand dabei, daß derartige Bekenntnisse einer armen Seele weder nach seinem Geschmack seien, noch vermöge er sie auf ihren dichterischen Wert einzuschätzen.

Er fürchtete für das Gemütsleben seines Kindes. Just auf den Brücken, die Lilofen hinüberführten ins Leben, war ihm dies Vermächtnis peinlich; denn es hingen daran Erinnerungen, die leicht durch ein ganzes Leben hielten. Und dem Studenten Walter v. Harden sagte er gerade heraus: »Ich wünsche nicht, daß mein Kind fürder mit dieser Sache bestürmt werde. Wissen Sie, wenn Ihr Freund noch am Leben wäre, dann müßte man darüber reden – natürlich müßte man das – und beide Hände wollte ich offen halten für ihn. Aber nun? Ich halte es für fürchterlich unnütz, ein Wort darüber zu verlieren. Dennoch danke ich Ihnen, daß Sie gekommen sind, lieber Herr v. Harden. Daß meine Tochter, von dem Mitleide der Jugend und von Ihren Freundeswünschen überrannt, in die Dachkammer geriet, ist mir ohnedies klar. Da, stoßen Sie mit mir an: es lebe das Leben!«

So läuteten sie späte Sterbeglocken zu seinem letzten Gedächtnis dem toten Dichter in die Welt hinter den weißen Türen.

Lilofe trat ins Zimmer, funkelnd wie eine Morgenwiese. Draußen rüttelte der Frühling an der Erde – es lebe das Leben!

Er rüttelte auch mit aller Kraft an Lilofes Herzen.

Es war ein gewaltiger Aufschwung des Willens, in den die kleine Vanderey nun hineingewachsen war. Schon äußerlich war es anders mit ihr geworden. Das kosende ›klein‹, das bis dahin jedermann neben ihrem Namen im Munde geführt hatte, als eroberte er sich damit das Recht, das liebliche goldhaarige Geschöpf ein bißchen zu streicheln – das kosende ›klein‹ wurde darüber vergessen ... Um so leichter, als es ja gar nicht als Unterscheidungsmerkmal zwischen den beiden Schwestern zu gelten hatte.

Lilofe war nun sechzehn Jahre, sie war siebzehnjährig im Jubilieren ihrer Sinne, achtzehnjährig fertig in ihren damenhaften Eigenschaften, neunzehnjährig im Bewußtsein ihrer Einzigart und zwanzigjährig in dem Wunsche, in feste Hände zu gelangen.

Dieses Wünschen betrachtete sie aber als ihr brunnentiefes Geheimnis.

Namentlich von Vera Kruse durfte sie sich in keinem verräterischen Wort über dem Frühlingsspiel ihrer Liebe ertappen lassen; denn die Kruse war die rachsüchtige Wahl Bellis Indens und liebte dies junge Blühen der Sinne nicht. Im übrigen war sie die Treue, Lauterkeit und Pflichterfüllung selber.

Lilofe war ihr gegenüber ahnungsvoll und vorsichtig. Sie fand keinen Weg zu ihr. Eine heimliche Erkenntnis beriet sie sogar, daß das kecke Halbgalliertum Bellis Indens nicht im ganzen Umfange für ihre naschende Jugend bestimmt gewesen wäre. Sie dachte mit Schrecken an die Vereinsamung in den Tagen der Wintersonnenwende. Es war ihr bange vor einem neuen Erleben, das sie nun ganz allein mit sich selbst auszutragen hätte. Es war kein Mensch mehr da, dem sie sich angelweit aufschließen konnte. Andere Mädchen hatten ihre Mütter, die in diesen Jahren ihre erfahrenen und verläßlichen Freundinnen werden ...

Da verfiel sie auf den drolligen Gedanken, zu heiraten.

Achilles Vanderey war in dieser wichtigen Sache so ahnungslos wie sie zielbewußt. Sie fühlte, daß er mit ihr jung wurde, und die Heiterkeit seiner Lebensauffassung liebte es, sich von dem schönen frohen Mädchen leiten zu lassen.

»Papa,« schmeichelte sie, »ich glaube, wir müssen das Leben in unserem einsamen Haus ein bißchen in Gang bringen, ehe Luisabeth heimkehrt. Weißt Du, wenn dann solch ein gemäßigter Strom von Licht und Frohsinn durch alle Zimmer und über alle Treppen klingt, so wird sie sich dankbar ihrem Glücke hingeben – schon weil sie der Inden sich nicht mehr zu widersetzen braucht. Und das war ihr doch zu einem der Grundsätze ihres Daseins geworden. Zwar – Vera Kruse wird uns dabei nicht viel helfen können. Aber meinst Du nicht, daß der kluge frohherzige Herr Achilles Vanderey Manns genug wäre, so etwas mit Hilfe seiner Tochter Lilofe auf die Beine zu stellen? Und dann – fürchtest Du nicht, daß Luisabeth in der Stille des Hauses wieder sinniererisch wird? Dann gerät sie über ihre Bücher ... Neulich hat sie sogar geschrieben, daß sie Schopenhauer entdeckt habe, und er wäre ein prächtiger gefährlicher Philosoph. Für die nächsten Jahre sei sie mit Liebe, Weisheit und Arbeit durch ihn hinreichend versorgt. Hast Du eine Ahnung von dem Manne?«

»Offen gesagt, sehr wenig, mein Kind! Du darfst das Deinem alten Papa aber nicht für übel halten; denn Philosophie und Auslandabteilung eines holländischen Handelshauses lassen sich nun mal nicht so leicht zusammenbringen. Doch hab ich eine dunkle Erinnerung, als ob sich mit diesem Namen so etwas wie menschenfresserische Gelüste verbinden, was Du aber nicht gerade wörtlich zu nehmen brauchst. Übrigens, wenn ich nicht irre, stehen ein paar Bände von ihm auf dem Bücherregal in dem kleinen Eckzimmer oben, und ich entsinne mich, daß Daniel früher einmal an einer heimlichen Liebe zu diesem Manne gelitten hat; die Bücher haben jahrelang auf seiner Stube gelegen.«

Lilofe schmetterte dieser Rede ein Lachen hinterdrein, das war voll Sonne und Sieg –

»Na, dann kann man sich ja denken, daß von menschenfresserischen Gelüsten darin gehandelt wird! Ich habe gleich so etwas geahnt, und wollte wetten, daß es der Luisabeth höllisch in den Mundwinkeln gezuckt hat, während sie die Worte von dem prächtigen und gefährlichen Philosophen aufs Papier setzte. Erinnerst Du Dich, die Inden hat Luisabeth mal den Ableger Daniels genannt – ah, es geht mir jetzt ein gewaltiges Licht auf: die ganze Entdeckung Schopenhauers durch Luisabeth wird am Ende auf ihren Freund Daniel zurückzuführen sein!« Lilofe ward über diesem Spüren nach den erziehlichen Einflüssen des Dieners ganz ausgelassen: »Ah,« lachte sie, »mag sie also mit dem steinernen Bilde Menschen fressen – ich meine: so nebenher, so mal, wenn sie ihre grausamen Tage hat! Du, dann ist sie zu komisch und macht Augen, als wäre sie dem geheimnisvollen Walten des Weltgeistes dicht auf der Spur! Aber in erster Linie ist sie doch ein junges Mädchen. Und ein junges Mädchen will doch mal heiraten, nicht wahr, Papa? Ich glaube, du mußt ihr in dieser Sache mal ein Privatissimum halten.«

»Sooo?« machte Herr Vanderey. »Ich bin nicht der Ansicht, daß ich damit viel Glück bei ihr haben werde. Zudem möchte ich doch meine lieben, kleinen Mädel erst selbst einmal richtig genießen.«

»Hm – das ist die Belichtung von der anderen Seite!« sagte Lilofe in lustigem Ernste. »Naja, weißt du, das ist ja auch ein Standpunkt. Aber sieh mal an: Luisabeth ist jetzt schon achtzehn. Sie ist reich, sie ist gescheit und sie sieht doch auch gar nicht übel aus, na – ich weiß nicht, ob du darüber schon mal nachgedacht hast – ich meine: wenn es nun käme, daß zum Beispiel ich heiraten wollte ...«

»Na, na, na,« beschwichtigte Herr Vanderey.

»Gott, ich setze ja nur den Fall! Etwa in ein paar Jahren. Und Luisabeth hätte noch gar nicht daran gedacht – so wäre das doch für mich und sie eigentlich peinlich, nicht?«

»Wenn es so weit ist, kann man ja wieder mal davon reden,« sagte Herr Vanderey. »Ich dachte, wir wären heute zusammengekommen – nicht um über Schopenhauer, über Daniels Pädagogik und über die Heiratsabsichten der Vandereyschen Mädchen zu verhandeln, sondern über Pläne, wie man das Leben im Hause ein wenig kurzweiliger gestaltet. Dies Haus hat wirklich ein bißchen an Verwaistheit gelitten. Kurzweiliger – Du meinst doch damit: so – so hügelhell und so mit Ausblicken in die Gegend, nicht wahr?«

Herr Vanderey lächelte sich über dies deutsame Bild, das ihm nicht ganz leicht geworden war, in eine vergnügte Befriedigung.

Auch Lilofe fand es verständnisvoll und umsichtig. Sie guckte Papa schelmisch an und wußte nicht gleich, wie sie sich zu der überrumpelnden Durchleuchtung stellen sollte. Da sah sie die listigen Fältchen wie Fächer aus den Winkeln seiner Augen springen – es war alles so sonnig, daseinsfroh und voll beglückter Erinnerungen in diesem Gesicht ...

»Warte, ich küsse dich mal ordentlich ab,« lachte sie, »Strafe muß sein!« und kam über ihn wie Mohn über ein Kornfeld im Juni.

Herr Vanderey ließ es blühen.

Und weil er dabei nicht ohne sinnende Betrachtung blieb, merkte er, daß sein kleines Mädel schon in vollem Gange war.

»Wissen möcht' ich aber doch, wer diesen jungen Mund so treffsicher gemacht hat!« scherzte er.

Da schwebte sie mit wiegenden Armen durchs Zimmer und trällerte: »Herr Walther von der Vogelweid', der ist mein Meister gewesen! ... Bist Du zufrieden, Papa?«

»Vollkommen!« bestätigte Vanderey im Brusttone lachender Überzeugung.

Aber sie hatte doch das Bedürfnis, ein wenig abzulenken –

»Weißt Du überhaupt, daß ich für ältere Herren schwärme?« fragte sie und geriet darüber erst recht in Bedrängnis; denn Herr Vanderey war in diesen Dingen von geradezu verwirrender Logik. Er ließ sich in den Klubsessel fallen und befahl: »So, nun stell Dich mal da hin, mach die Augen weit und sieh mir unverwandt ins Gesicht! Der Sache müssen wir doch auf den Grund kommen.«

Sie stellte sich also da hin, machte die Augen weit und deckte ihr zitterndes Gewissen mit dem Schleier einer jungen Belustigung notdürftig zu. Herr Vanderey flocht die Finger über den Knien ineinander: »Ältere Herren! Hm. Du wirst mir zugeben, daß solche Schwärmerei für ein Fräulein Lütütü nicht ganz die Regel ist. Entweder hast Du an jungen den Geschmack verloren – was wiederum voraussetzt, daß Du schon mal heimlich genascht hast – oder: es hat ein sachte mellierter sattelsicherer Mynheer meinem kleinen Mädel nicht ohne Erfolg schön getan.«

»Stimmt – man könnte fast sagen: aufs Haar! Sacht angejahrt ist er, ob er sattelsicher ist, entzieht sich meiner Beurteilung; Mynheer ist er auch und heißen tut er – Achilles Vanderey!«

Es war die höchste Zeit, daß sie ihm diesen Namen hinschmetterte und auf seinen Schoß flog, denn der Tag begann in ihren Augen zu schwanken wie ein Licht im Winde, und das dürftige Decklein über dem Gewissen flappte schon an allen Enden und arbeitete meuchlings auf einen Verrat hin. Papa hatte gerade den Finger gewichtig erheben wollen und die Fächer an seinen Augen zusammengeschlagen. Aber nun waren sie wieder in Tätigkeit und Lilofe Vanderey war von keiner Wahrheit der Erde sicherer überzeugt, als daß sie für ältere Herren schwärme.

»Teuerster Papa,« jauchzte sie zwischen ihren blumenroten Siegerküssen hindurch, »denke doch bloß an die Tanzstunde! Wenn man da als hübsches kluges Mädel dringesteckt hat, dann verlegt sich das Interesse ganz von selbst auf die älteren Semester. Und wenn man zu allem noch solch einen wissenden Papa daheim hat, an den man sich anhalten kann und der im Meere der vielen Fragen des Lebens steht wie ein Fels – ja, wofür soll denn ein kleines Mädel dann schwärmen, wenn nicht für ältere Herren?«

Herr Vanderey war besiegt, aber recht überzeugt war er nicht.

»Na,« sagte er, »es liegt doch da noch etliches zwischen den Schwellen des Lebens, auf denen drüben die bartlose Jungmannschaft und hüben die mellierten Herren stehen!«

»Och so – och Papa – so was kommt doch erst viel später! Das ist doch hernach die Liebe! In meinem Alter schwärmt man bloß, weißt Du!«

»Hm. Wie macht man denn so etwas eigentlich?«

»Die Männer schwärmen wohl nie, was?«

Jetzt war die Bedrängnis an Herrn Vanderey. Und weil er dachte, daß sie nun an die gläserne Wand gekommen wären, an der man weder von hüben noch von drüben rütteln darf, wenn die Augen nicht kalt und die Herzen nicht geheimnisleer werden sollen, sprang er wieder mitten hinein in die Pläne von vorhin und sagte: »Wir schenken uns also die Antwort auf die letzten Fragen – ich möchte wissen, mit wem mein kleines Mädel eigentlich verkehrt. Nette junge Leute beiderlei Geschlechts, hm? Ich denke, es ist am besten, wir gruppieren sie mal hübsch paarweise und laden sie für einen Abend zu uns ein.«

»Hurra, wird das fein!«

»Fünf Paare – Du schreibst mir die Namen auf einen Zettel, hier die Herren und da die Damen, damit ich sie mir erst mal in dieser Aufmachung ansehe. Ich möchte doch vor allem auch wissen, für wen sich Lilofe Vanderey bestimmt.«

»Für den stud. jur. Walter v. Harden – den kennen wir doch am besten.«

»Einverstanden,« sagte Herr Vanderey.

 

In der nächsten Woche hatten Vandereys die erste Gesellschaft. Vera Kruse war nicht erfinderisch, aber sie war gelehrig bei den Vorbereitungen, und Achilles Vanderey war unerschöpflich an guter Laune und vortrefflichen Einfällen. Daniel schüttelte den vieljährigen Winterschlaf ab, blinzelte in das neue Licht und beschloß einen heimlichen Brief an Luisabeth.

Als der Abend endlich da war, blühten Säle und Stiegen von jungen Blumen und frohen Menschen.

Um die Mitternacht hatte sich Herr Vanderey am Klubtische des Herrenzimmers zu einem beschaulichen Trunke schon sicher verankert, weil im Salon der hingebungsvolle Walzer und kokette Tango die Jungen fesselte – auf einmal forderten die fünf Damen den herrlichsten aller Papas zum Tanze.

Herr Vanderey bemühte sich, mit einer humorvollen Rede den Angriff abzuschlagen. Er sprach vom Patriarchenalter, das um die Mitternächte besinnlicher Meditationen pflege, er sprach von vielen Rennen, die er nun vor fast einem Jahrhundert gelaufen habe, und verriet, daß er in jener sagenhaften Vorzeit nicht ohne Siege geblieben sei – es half ihm nichts. Die Jugend schäumte wie Sekt um ihn her, und die Damen schwuren ihm die lustigsten Eide, daß einzig die Herren im Patriarchenalter würdige Ziele für mädchenjunge Schwärmerei seien ...

Da wirbelte Herr Achilles Vanderey dahin und ließ sein Herz davonfliegen und seine Jahre.

Er hatte Mühe, beides wieder mit Würde einzufangen.

Als er danach wieder den Klubtisch anlief und abermals Anker geworfen hatte, fühlte er diesem neuen Leben des Hauses Vanderey an den Puls. Er ging ein bißchen jach – na ja, so jenseits der Mitternacht und vor Herzen, die alle hoch geflaggt hatten! Aber es war doch die richtige Lebenstemperatur, und ein jovialer alter Herr muß sich und sein Haus vor Verkalkung hüten.

Die Herren fanden aus Sang und Spiel heraus hin und wieder Gelegenheit, ihre Boote hinter dem Klubtisch im Herrenzimmer festzumachen.

Da war vor allem Richard Rauch, ein Deutschphilologe, der mit seinem »Doktor« schon zweimal Pech gehabt hatte. Darüber war er über die Mitte der zwanzig gerückt. Er hatte Lilofen im Laufe des Abends anvertraut, daß ihm sein bemoostes Haupt von Rechts wegen die Würde gesichert habe, die schöne Tochter des Hauses zu Tische zu führen.

Lilofe war nicht unempfänglich für die männliche Art dieses Herrn Rauch, dem die tiefe Quart über der Wange etwas stolz Draufgängerisches verlieh. Es war auch sonst alles laut und mächtig an ihm. Er war verwaist, hatte das ererbte Vermögen bis auf sechstausend Mark in einer festlichen studentischen Lebensführung angelegt und war nun nach Jena gekommen, um allen Ernstes zu promovieren und das Staatsexamen zu machen. Das letztere nur ›womöglich‹. Zu allem war ihm kurz nach Weihnachten die Erkenntnis aufgegangen, daß der Rest seines Vermögens eigentlich zu karg sei, um beides durchzuführen.

Deshalb fing er an, auf Rettung zu sinnen.

Der erste Schritt dazu war, daß er Lilofe beim Tanze beteuerte, sie sei das Schönste, das er je gesehen habe. Er verzichtete stets auf umschreibende Worte, und selbst das ahnungsloseste kleine Mädchen hatte keine Mühe, ihn zu verstehen.

Er trank an diesem Abend verstohlen, aber er trank viel. Lilofe dachte, er sähe aus, als könne er ein ganzes Heer der Geister, die in Sektflaschen auf Erlösung harren, sieghaft bestehen.

Beim Essen hatte ihr Walter v. Harden erzählt, daß er in zwei Jahren Assessor sein werde. Das hatte eine merkwürdig beruhigende Wirkung auf Lilofen getan. Hätte er ihr das an jenem Winterabend des himmlischen Versinkens gesagt, so wäre es ihr vielleicht als eine kurze Spanne Zeit erschienen, oder sie hätte ihn gefragt, ob sich das denn nicht ein wenig beschleunigen ließe. Zudem hatte sie von Harden für sich in dieser festlich bunten Nacht mehr erwartet – er hatte doch einige Scharten auszuschlagen seit seiner Hilflosigkeit im Falle Gast! Und sie hatte ihm auch Gelegenheit dazu gegeben in der hellen Flucht von Zimmern mit überströmendem Licht und stimmungsvollem Alleinsein – Himmel, ein junger Mann, noch dazu wenn er Walter v. Harden heißt, muß doch einmal den Mut aufbringen, in angelweit offene Gärten zu treten!

Aber Harden begnügte sich mit verbindlichen Redensarten und war ahnungslos wie ein Sekundaner.

Lilofe Vanderey hatte seit dem Falle Gast ihren Maßstab: Harden war vor und nach dem Ereignisse der gleiche, Lilofe aber war an allen Kräften des Gemüts in ein fast wildes Wachstum geschossen. Ihre Augen waren an Bellis Inden sichtig geworden. Blühende Sommer lang war sie neben den leuchtenden Sinnen der Inden hergelaufen – nun brauste das Hohelied des Lebens in ihr weiter, betörend und sehnsüchtig. Es machte sie bange vor der Versäumnis, es jubelte alle Tiefen in ihr auf und alle Triebe in ihr wach, und sie hörte es singen: worauf willst Du noch warten? Du kannst nicht schöner werden, nicht gabenreicher, nicht schwellender an Verheißungen!

Worauf willst Du noch warten?

Und die Seele Richard Rauchs stürzte sich in sie wie eine Lerche ins Frühlingsfeld, mit hohem hellen Jubilieren.

Die roten Schirme der Lampen eines Nebenzimmers woben träumerisches Licht. Die Tanzweise von drüben ward darin zu spieldosenleiser Gelegenheit. Da riß er sie an seine Brust: »Frühling, mein Frühling!« jauchzte er. »Worauf wollen wir noch warten? Soll der erst ein Doktor, ein Schulmeister werden, den Du zum Gotte machst?«

So trug er sie hinüber an das andere Ufer, und jubelnd stieß er das Boot, das sie geführt hatte, weit hinaus in den Strom.

Er küßte sie wild. Er küßte ihr den Mund und die Augen, die entblößten Schultern, er küßte ihr, was als heimliche Verheißung aus den Spitzensäumen ihres Kleides drängte. Er küßte sie in zitterndes Erbeben und tiefschauernde Bewußtlosigkeit.

Da hing sie sich an ihn und sagte: »Was soll das werden?«

Und so wunderlich ist das Spiel der Gedanken: wie einst, da ihr kindhafter Mund die ersten Küsse ertrug, schlug es in ihr empor als eine brandrote Flamme: Sünde! Flucht! Rettung!

Aber sie sprach den töricht kindischen Gedanken diesmal nicht aus.

Da hörten sie, daß drüben die Musik schwieg und traten hinaus auf den Vorplatz. Sie vernahmen: es wurden auf den Schwellen schon Worte des Abschieds gewechselt ...

»Ich gehe nicht heim,« sagte Rauch, »ich irre bis zum grauenden Tag um Dein Haus. Aber morgen um zwölf Uhr warte auf mich, ich komme!«

Als sie dann vom Fenster ihres Zimmers hinabschaute in die Nacht und schon alle Lichter im Hause ausgegangen waren, hörte sie seine Schritte in der Finsternis. Die Straße war laterneneinsam und die Nacht lau und voller Lenzespläne.

Da schaltete sie das Licht an, daß es dem stolzen wilden Sieger sage: Siehst Du, daß ich um Dich bin mit all meiner Sehnsucht? Warum weiß ich nicht, was Du sinnst? Warum darf ich nicht bei Dir sein – diese Nacht und den anderen Tag und wieder die Nacht?

Er lehnte drüben gegen eine entlaubte Hecke und sah, wie sie einmal rasch den Vorhang auftat und nach ihm auslugte; denn sie hatte gefühlt, wie angstvoll seine Liebe war: es möchte einer kommen und dem jovialen glücklichen reichen Herrn Vanderey sein herrliches kleines Mädel abdringen. Und der praktische und lebenstüchtige Herr Vanderey würde den Bewerber gegen das Licht halten wie einen Schein Papiergeld, den er auf seine Echtheit prüfte ...

Lilofe ließ ihren Schatten an den Fenstervorhängen spielen. Sie dachte an die Küsse, die ihr der lange Doktor Fuhr abgetändelt hatte, und die sachte Art des Herrn v. Harden, und dachte an die Kraft dieses aufrechten starken Siegers.

So genommen zu werden, so im Sturme und mit aufjauchzendem Hurra des Herzens – jawohl, so genommen zu werden, war ihr Traum gewesen! So hatte sie sich das Leben gedacht: Liebhaben und Schönsein; denn so war es ihr von Bellis Inden vorgelebt worden. Alles, was jenseits lag, gehörte für sie ins Reich des Mannes. Sie hatte Furcht vor der Sünde gehabt in der grüngoldenen Liebesstunde mit dem phantastischen Theatermanne Fuhr und zitterte doch nach ihr vor Scham und Glück. Aber sie hatte auch Furcht vor der Flucht gehabt. Warum war ihr nun, als müsse sie in dieser Stunde das Fenster aufreißen und hinabrufen: »Mit Dir gehe ich – mit Dir bis ans Ende der Erde!«

Am anderen Tage gegen Mittag kam Richard Rauch.

Achilles Vanderey saß mit zwei der Herren, die am Abend zuvor seine Gäste gewesen waren, schon bei einem Glase Wein.

Lilofe trat ihm auf der Treppe entgegen und schickte den Diener zurück, der ihn geleitete.

»Ich habe mit Deinem Papa reden wollen,« flüsterte er ihr zu – »aber es wird nicht gehen und es ist auch verrückt! Sei heute abend am Bahnhof, um neun Uhr. Alles ist klar in mir wie der Tag. Du kannst Dich ja gleich nach dem Nachtmahl empfehlen.«

»Was soll geschehen?«

»Wir müssen Deinen Vater im Sturme nehmen, das ganze Leben im Sturme, das ganze Glück!«

»Ich wußte, daß Du so reden würdest,« sagte sie. »Hast Du mich in der Nacht verstanden, wie all meine Gedanken im Licht über Dich strömten, Du wilder kühner abenteuerlicher Mann?«

Als sie danach zu den Herren ins Zimmer trat, war sie sehr gefaßt. Aber abends auf der Fahrt nach dem Bahnhof – es war nun doch eine ungeahnt wilde Geschichte! Das Gewissen tobte in ihr wie ein Brummer, der unter ein umgestürztes Weinglas geraten ist.

Endlich waren eilige Menschen ringsum, Nacht und bunte Lichter und das Pfauchen der Maschine, das Dröhnen der Eisenräder. Richard Rauch hatte ihr eine knappe Zeit gesetzt – zwei Minuten vor dem Abgang des Zuges! Mit dem Schlage der Glocken sollte sie aus dem Wagen hüpfen.

Sie hing sich ganz fest in seinen Arm. Wer sie sah, sollte merken: sie beide gehörten zusammen.

Sie hatte eine kleine rote Handtasche mit Nachtzeug und Toilettesachen mitgenommen, einen Hausschlüssel und den Hundertmarkschein, den sie sich in den Monaten der Abwesenheit ihres Vaters zusammengespart hatte.

Der Zug lief gerade in die Halle.

Noch wollte sie fragen, was das werden sollte, da sprang Rauch schon in das Abteil, streckte ihr die Hand entgegen und schnellte sie über das Trittbrett empor. Dann: trillernde Pfeifen, Schlagen von Türen, Fertigrufen – zuletzt das kraftgesammelte heiße Aufatmen der Maschine ...

»Lilofe! Liebe herrliche kleine Lilofe!«

Sie war vom Kopf bis zu den Füßen eingehüllt in Richard Rauch und hatte keine Zeit, sich zu gestehen, daß ein Mensch nur noch von den Puffern zweier gegeneinander laufender Waggons mit ähnlicher machtvoller Hingebung angefaßt werden konnte.

Danach begann Rauch, sie innerlich in Ordnung zu bringen. Er hatte mit einer Umsicht alles geleitet, die Lilofen mit Bewunderung erfüllte und mit Staunen, als sie merkte, daß der Gepäckschein Rauchs auf zwei umfangreiche Koffer lautete, die nach Genua liefen. Ein bißchen stockte ihr der Atem doch noch, und sie fragte: wie weit sie denn da mitfahren sollte?

Er sah sie abwesend an. »Engelsmädel!« rief er dann, »bis nach Genua!«

Im selben Augenblicke fing der Brummer im Glase an zu toben, daß der rasende Dreitakt des D-Zuges für sie nicht mehr vernehmbar war.

Natürlich hatte sie über Tag nachgedacht, was das werden könnte. Sie hatte auch herausgefunden, daß Herr Vanderey in ungetrübter Ahnungslosigkeit erhalten werden müßte, wenn sie erst im Morgengrauen zurückkehrte; darum der Hausschlüssel. Und obendrein hatte sie sich gelobt, ihrem lieben jovialen Papa – wenn die Sache dennoch ruchbar würde – auf Ehr und Seligkeit schwören zu können, daß es sich um nichts anderes gehandelt hätte, als um eine Beratung wichtiger Angelegenheiten, die in den D-Zug verlegt werden mußte, weil Richard Rauchs Reise unaufschiebbar gewesen wäre.

Das klang leichtsinnig, und es klang abenteuerlich. Aber schließlich: bei einigem guten Willen war doch alles zu verstehen, selbst für den Fall, daß Papa Vanderey dies ganze Vornehmen nicht durch die sechzehnjährigen Augen und die himmlische Versunkenheit seines kleinen Mädels betrachten konnte.

Allein – als hätte der Brummer nur auf das Zauberwort ›Genua‹ gewartet: auf einmal wuchs er zu einem großen nachtschwarzen Etwas. Aus seinen surrenden Flügeln wurden ein paar Arme, die waren fast so kraftgewaltig wie die Rauchs. Und damit rüttelte er an Lilofen, daß ihr Kopf, Herz und Eingeweide durcheinander schwankten. Sie hatte gerade noch Zeit, einen Schrei zu tun, und die beiden Flammen ›Sünde‹ und ›Flucht‹ schlugen in sie hinein als ein jähes grausam helles Licht.

Aber der alte Korpsstudent Richard Rauch saß ihr gegenüber mit gesammeltem Mute und sagte: es hätte noch kein Menschenpaar vor ihnen das Glück so herzhaft angepackt, und es wäre eine königliche Sache, sie aber – die Lilofe Vanderey – wäre von Stund an seine über die Maßen liebliche und über alles Erfassen tapfere kleine Braut und Königin, und er hinge ihr einen Purpurmantel aus roten Küssen um. Zuvor aber wollten sie in den Speisewagen gehen und bei einem Nachtmahl und einer Flasche Wein das große Beruhigungsfest feiern.

Nein, nein, es sind nicht die Werke, die das Glück machen – es ist allein der Glaube. Und einen Glauben hatte Lilofe Vanderey, der war abgrundtief.

So stand also alles in Blüte, was Bellis Indens verkehrte Erziehung einen frohen Daseinsfrühling lang in sie hineingelegt hatte: das berückende Vertrauen in ihr Glück und in ihre Schönheit; der jauchzende Wille, in dieser Schönheit selig zu werden auf Erden; die dunkelrote Sehnsucht, unterzugehen in der Weisheit und Stärke des Mannes, der sie ersiegte.

* * *


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