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Die schöne Lilofe, von der in diesem Roman erzählt wird, hat den Ton auf der mittleren Silbe. Daraus ist zu ersehen, daß sie nicht etwa eine Fee ist – oh nein, sie war ein frohgemutes junges Menschenkind, das in der Frühlingszeit seines Lebens dem köstlichen Glauben anhing: ihr Herz wäre die Sonne, und sie hätte nichts zu tun, als sie scheinen zu lassen, auf daß Himmel und Erde zu jauchzen begännen, wohin sie käme.

Ihren Namen, der so wenig alltäglich war wie ihre Schönheit, verdankte sie dem Eigensinn ihres Vaters, des Herrn Achilles Vanderey.

In jener Stunde nämlich, in der dem Herrn Achilles Vanderey in dem alten Handelshause der Kerkstraat in Amsterdam sein zweites Töchterlein geboren wurde, schritt er voll Unrast durch das reiche Zimmer. Das gebrochene Licht des späten Sommernachmittags spann um das Braun und Altgold der Möbel und Dinge, die da waren. Seine Schritte über den Teppich waren leiser als der Pendelschlag der sehr großen Standuhr mit den vlämischen Säulen – waren leiser als die Schläge seines Herzens.

Als die Uhr die sechste Stunde rief und immer noch keine Kunde zu ihm gedrungen war, nahm er einen alten Band aus einem Gefache des Wandschranks, sank in den Ledersessel am Fenster und begann zu blättern. Seine Gedanken liefen aus dem Zimmer, und er horchte nach der großen eichenen Tür, ob sich von dort her nicht die klingende Botschaft zu ihm drängen wollte: »Herr Vanderey, ein Sohn, ein Sohn!«

Er hatte mit seiner Gattin Maria all die Zeit her die Möglichkeit gar nicht erwogen, daß es ein Mädchen werden könnte. Jetzt, da die sechste Stunde so träg und doch so randvoll an ihm vorüberkroch, hing sich der Gedanke an ihn wie ein flugmüder Sommerfaden: es wird ein Mädchen, natürlich wird es ein Mädchen!

Darüber begann er zu lesen ...

Es hatte ein König ein Töchterlein.
Wie hieß es denn mit Namen sein?
Die schöne Lilofe ...

Nun konnte der ärgste Feind dem Amsterdamer Handelsherrn Achilles Vanderey nicht nachsagen, daß er über seiner Vorliebe für die Dichtkunst auch nur eine einzige wichtige Minute seines Lebens versäumt habe. Aber die Geschichte von dem Königstöchterlein fiel über ihn wie ein Netz von Fäden aus altem Golde ... Da las er weiter:

Ein Nickelmann freite so lang um sie
und hätte so gerne, er wußte nicht wie,
die schöne Lilofe ...

Vanderey las, daß der verliebte Meermann eine Brücke aus gelbem Golde spannte, und als die junge Königstochter einstmals auf dem klingenden Stege spazieren ging, zerbrach der unter ihr, und der Seekönig trug die Prinzessin in sein Schloß und feierte Hochzeit mit ihr. Danach lebten sie lange Jahre im Glück. Sie gebar ihm sieben Söhne.

Einmal, sie stand an der Wiege des Jüngsten, da hörte sie die Sonntagsglocken von den Hügeln ihrer Heimat herniederklingen. Ihre Seele ward voll Sehnsucht, und sie bat ihren Mann, ob er sie nicht ein einziges Mal im Land ihrer Jugend zur Kirche gehen lassen möchte. Er gewährte es ihr ...

Und als sie auf den Kirchhof kam,
da neigte sich Kraut und grünes Gras
vor der schönen Lilofe.

Und als sie in die Kirche ging,
da neigte sich Graf und Edeling
vor der schönen Lilofe.

Der Vater machte die Bank ihr auf,
die Mutter legte das Kissen darauf
für die schöne Lilofe ...

Herrn Achilles Vanderey gefiel diese Darstellung des Dichters über die Maßen. Voll sinnender Hingabe ließ er das Bild in sich lebendig werden. Auf einmal steckte der Diener Daniel den Kopf zur Türe herein: »Herr Vanderey ...« Aber schon ward Daniel sich der Wichtigkeit seiner Sendung bewußt. Er trat in würdevoller Haltung über die Schwelle und sprach: »Ich habe den Auftrag, Herrn Vanderey gehorsamst zu melden, daß uns vor wenigen Augenblicken eine Tochter geboren wurde.«

»Hm! Na ja!« sagte Achilles Vanderey, warf das Buch auf den Schreibtisch und erfaßte den leis ergrauenden Spitzbart mit der Hand. So schritt er über den Teppich.

Daniel sagte: »Es ist keine Ursache zur Nervosität. Mutter und Kind befinden sich den Umständen nach ausgezeichnet.«

»Soo!« lachte Herr Vanderey. »Manchmal bist Du doch ein Esel, mein lieber Daniel! Woher willst Du denn das wissen?«

»Hm,« machte Daniel – »Herr Vanderey haben einmal zu sagen geruht, ich hätte hundert Augen und fünfzig Paar Ohren ...«

»Dazu ein glattrasiertes Gesicht und ein Doppelkinn!«

Vanderey warf die Worte hin wie ein Trumpfaß.

»Auch dieses! Haben Herr Vanderey sonst noch Befehle?«

»Hm, hm, eh – das Kind wird Lilofe heißen.«

Dabei faßte Vanderey den Diener fest ins Auge. Er wollte sehen, wie dies undurchdringliche Gesicht sich ausnähme, wenn es vom Staunen überfallen würde.

»Lilofe?« wiederholte Daniel als spräche er diesen Namen an jedem Tage hundertmal. Er tat dabei einen Blick in sich selbst.

»Nun, Daniel?«

»Herr Vanderey haben schon in Ihrer Jugend geruht, auf die Fingerzeige heimlich waltender Kräfte zu achten, und das Buch mit dem Gedicht von der schönen Lilofe ist uns von unseren Vorfahren überkommen.«

»Nun, und?«

Daniel antwortete: »Ich erkenne, daß unserer Tochter Lilofe dieser Name in der Stunde ihrer Geburt überreicht wird als eine Schale voll guter Wünsche: Laub und grünes Gras sollen sich vor der Schönheit unseres Kindes neigen.«

Es war nicht das mindeste Staunen in Daniels Gesicht. Und wie dieser Mensch das alles aus seinem Munde gehen ließ! Als hätte eine Statue für einen Augenblick die Himmelsgabe der Sprache bekommen.

Darüber war das Staunen an Herrn Vanderey. Aber er wollte diesem wunderhörigen Weisen die Genugtuung nicht gönnen. Er winkte, und Daniel trat ab.

 

Am anderen Tage kauerte schon das Sterben im Hause – noch heiß vom Lauf und mit jappendem Odem; wie einer, der dahergerannt ist, die schauerliche Arbeit nicht zu versäumen. Und mit tiefen glänzenden Augen voll fremden Lichts, die vortäuschen möchten, sie hätten einen Blick durch die Pforte des Himmels getan.

Am dritten Tage waren alle Stimmen und Füße im Hause leise geworden – am dritten Tage starb Maria Vanderey.

Das war um die gleiche Stunde, in der die zweijährige Luisabeth auf dem Rande des Teppichs in ihres Vaters Zimmer saß und die bunten Spielmarken aus Elfenbein durch ihre Hände klappern ließ. Dabei rollte ihr eine aus den Fingern und glitt über das Parkett. Aber mitten im Laufe kippte die um, ohne daß sie müde geworden und ohne daß sie an ein Hindernis geriet.

Achilles Vanderey im Ledersessel erwachte darüber aus seinem tiefen Nachdenken. Und als das Kind, in der Freude am Spiele, der roten Scheibe eine grüne und eine gelbe nachsandte, fanden auch diese ihre Bahn nicht bis zur Schwelle oder zur Wand oder zu dem Fuß eines Schrankes. Es war vielmehr, als lauere eine unsichtbare Hand, die sie mitten in ihrem fröhlichen Laufe hart gegen den Boden drückte.

Da er dies zum dritten Male wahrnahm, wehte es ihm kalt um die Stirn. Er stand eilends auf und durchschritt die Flucht der benachbarten Zimmer. Er hörte die Stimme nicht rufen, die ihm von allen die vertrauteste war; aber er dachte, es müsse die seltsame Offenbarung eines verlöschenden Willens gewesen sein, der sich ihm durch das Spiel des Kindes kundgetan hätte.

Er trat in die Krankenstube und fand Maria bleich und sterbensmüde. Das rote Feuer des Fiebers, das gestern durch ihre Adern geflogen war, schien darnieder. Er setzte sich zu ihr an das Bett und achtete der sorgenden Blicke der Wärterin nicht, die ihn baten, nicht mit der Kranken zu sprechen; denn er dachte, es würde ja doch das letztemal sein.

»Möchtest Du Luisabeth sehen, Maria?« fragte er. Die Wärterin erschrak. »Lassen Sie es nur geschehen,« sagte er ohne Hoffnung.

»Nein,« sagte Maria Vanderey. »Aber sage ihr, sie soll die Spielmarken nicht immer so über den Fußboden laufen lassen. Sie schneiden wie Messer durch mein Gehirn und schneiden es in viele Stücke.«

Das Zimmer, in dem das Kind Luisabeth spielte, war aber weit weg; man mußte durch fünf Räume gehen, ehe man dahin gelangte. Da schickte Achilles Vanderey die Wärterin, daß sie Luisabeth die bunten Dinger nähme.

»Wünschest Du sonst etwas, Maria?« fragte er.

»Schlummer und Heimat,« sagte sie. »Ich habe nach beiden eine große Sehnsucht.«

Sie hatte all die Zeit her die Augen geschlossen gehabt und redete mit ihm wie aus dem Traume. Nun öffnete sie die Lider – ein einziges Mal, für die Frist des Schwingenschlags einer streichenden Eule – und bat: »Laß mich schlafen!«

Da küßte er sie auf die Stirn und sagte: »Du wirst beides finden, Maria, Schlummer und Heimat.«

Dann ging er leise hinaus und wußte: er hatte in dieser Stunde ein Gelöbnis getan – die nächsten Tage würden die Erfüllung von ihm fordern.

Zwischen Tag und Dunkel kam die Wärterin und rief Herrn Vanderey: »Die gnädige Frau schläft; aber ich sehe nicht, daß sie atmet.«

So war sie in tiefem Traume von ihrem Gatten und ihren Kindern gegangen. Im Totenschreine machte sie einige Tage danach die Reise in die bergwaldduftige thüringische Heimat, und auf dem alten Friedhofe zu Weimar ward sie begraben.

Diese Ehe war kurz gewesen, und sie war Friede gewesen. Aber den Sohn, den Achilles Vanderey erhoffte, hatte sie ihm versagt.

Dann hieß Herr Vanderey mitreisen, die in seinem Hause bedienstet waren. Der alte kraftvolle Hausrat, der das Erblühen und Wachstum des ruhmreichen Handelsgeschlechts gesehen hatte, wurde aus den ehrwürdigen Räumen getragen. Die Bilder der starken niederländischen Meister wurden von den Wänden getan und auf die Reise ins Herz des Thüringer Landes gesandt.

In jenen Tagen ging die Firma Achilles Vanderey in andere Hände über. Länger als zwei Jahrhunderte hatte immer ein Vanderey in diesem Handelshause regiert – nun wars zu Ende. Der letzte wollte nicht durch eine Reihe von Jahren vor die wehmütige Pflicht gestellt sein, einem Fremden die Stätte zu bereiten. Er wollte dem Tode nicht Zeit lassen, ihm seine Krone zu nehmen, eh er mit eigener Hand und nach eigenem Willen in dem vielverzweigten Reiche der Handelsbeziehungen alles gefügt hatte, wie es die Sorge für seine beiden Töchter forderte.

In Weimar erwarb er das schöne und stattliche Haus Elisabethstraße Nr. 6, zu dem die hohen Kastanien der Belvedererallee herüberrauschen.

In dem weiten Garten standen viele dunkle Nadelhölzer, einzeln und in Gruppen und in wohlgepflegten ernsten Hecken. Dazwischen waren ruhevolle, aber heitere Rasenflächen gelegt, liefen Wege aus gelbem Sande. Dies alles hatte Geschmack und bedachtsamer Sinn geschaffen.

Im ersten Jahre war Herr Achilles Vanderey bis in den Fall der späten Novemberflocken hinein immer nur für wenige Tage in seinem neuen Besitztum; und er sah kaum etwas von den rauschenden und bunten Fahnen, die der Sommer in Siegerherrlichkeit ringsum wehen ließ; denn die Stätte, an der sein Geschlecht das betriebsame Handelshaus errichtet, forderte auch jetzt noch seine Gegenwart. Tausende von Fäden waren in seinen Händen zusammengelaufen, die sich selbst aus den Ländern jenseits des Ozeans in die Stadt Amsterdam herüberspannen. Die litten nicht, daß man sie leichtherzig und bündelweise in eine andere Hand warf, oder sie wären schlaff geworden, oder wären zerrissen.

Jene Zeit spannte Vandereys Nerven, daß sie oft klangen wie feine hohe Saiten vor dem Zerspringen, wenn er sich des Abends in dem Hotelzimmer zur Ruhe begab. Ziffern und Pläne, glückreiches Erinnern und wehmutsvolles Bescheiden drängten sich bis über den Rand seines Schlummers. Und zu allem war seine Ehe mit der schönen blonden deutschen Frau nun doch ein Irrtum gewesen.

Diese Ehe war zu spät geschlossen worden ... »Hochzeiten sind Frühlingsblumen und gehören in den Mai des Lebens!« sann er und dachte daran, wie er sich einst vorgeredet hatte, es wäre für ihn in jungen Jahren keine Zeit gewesen zu Heirat und ernster Frauenliebe. Nun schaute er schon von weither in dies Land seiner Jungmannsherrlichkeit und erkannte, daß er sich und seine Kinder um ein Glück gebracht hatte. Einst war er der wunderlichen Meinung gewesen, fünfzig Jahre mäßen tausend Meilen. Nun hatte er sein Weib begraben, nun hatte ihm das Leben zwei Töchter in die Arme gelegt, als es schon grau wie die Reifnebel von den Borden des Meeres durch seinen Bart und um seine Schläfen wehte. Da wußte er: fünfzig Jahre messen drei Spannen. Über die ersten zwei hatte er sich hinweggelebt in stolzer Arbeit und Mühe. Aber nun, da er seinen jungen Kindern gehören und seine Freude um diese blühen lassen wollte als um die beiden hohen Festtage seines Daseins, nun erkannte er: sein Leben war andere Wege gewachsen zwischen Rechnungen und Gold und den ewig wechselnden Gezeiten des Weltmarktes. Sein Herz war voller Liebe zu den Kleinen und voll Sehnsucht, diese Liebe hinauszujubeln. Aber es wußte nicht, wie das anzustellen wäre: mit dem kletternden Sonnenfluge der Lerche aufzuwirbeln in solch ein junges Frühlingshimmelglück – wie das ein Frauenherz vermag bis in die kümmerlichen alten Tage, weil es über der Lenzmusik von Kind und Kindeskindern immer schön in der Übung bleibt.

So kam es, daß Herr Achilles Vanderey sich auf seine Brauchbarkeit für derlei Dinge in dieser Zeit einmal bei Lichte betrachtete. Da merkte er, daß er just dort holzig geworden war, wo er sich ein paar vergnügte kleine Flügel wünschte.

 

Herr Vanderey, als er zu Beginn des ersten Winters in Weimar seßhafter wurde, bemerkte zu seiner Freude, daß das Fräulein Bellis Inden in der Stellung als Hausdame und Erzieherin der kleinen Mädchen vortrefflich am Platze wäre.

Mit der Aufnahme dieser Überzeugung ließ er eine von den vielen Sorgen des Jahres frohherzig davonfliegen; denn Maria Vanderey hatte gesagt, sie könne sich nicht denken, daß Bellis Inden die sei, die sie zu ihren Kindern brauche – oder sie müsse ihre ganze Art wandeln.

Sechs Wochen vor dem Tode Marias war sie in das Haus getreten. Sie war eine brünette schlanke blankäugige Rheinländerin, die eine welsche Mutter hatte. Sie liebte einen lauten, temperamentvollen Verkehr mit dem Kinde Luisabeth, der auf das stille Wesen Maria Vandereys oft genug schmerzhaft einschlug. Aber – vielleicht war sie selbst zu sacht mit dieser hell aufblühenden Jugend verfahren; oder es waren jene Wochen, die sie krankhaft empfindlich machten. Darüber ließ sie alles geschehen und pflegte die neue junge Menschenblüte, die an dem Stamme Vanderey erstehen sollte, in Einsamkeit ans Licht.

So lernten sich Maria und ihr Fräulein kaum kennen, und Bellis Inden wurde weder in ihrer Art noch in ihren Meinungen zu einem Wandel gezwungen.

Bis zu ihrem Eintritt in das Haus hatte Maria Vanderey die Sorge um Luisabeth mit keinem geteilt. Sie war bedachtsam und fast eigensinnig mit dem Kinde verfahren, so, daß es Achilles Vanderey wunder nahm, wenn er sah, wie sauer sie es sich werden ließ, das liebe kleine Glück zu entfalten. Auf einmal – da jauchzte Bellis Indens Hochsommerlachen in Luisabeth hinein, daß ihre Seele ganz verwundert die Augen aufschlug. So hatte Mama nie gelacht, so aufrührerisch, so festlich bunt, so, als würde roter Feldmohn aus dem Himmel geschüttet! Und dennoch erjubelte sich die Inden Luisabeths Herz niemals.

Zuerst war dies kleine Herz verwundert und verhielt sich abwartend. Und eines Tages – als hätte sie die Zeit her darüber nachgedacht – sagte Luisabeth: »Ach, Fräulein Bellis, Sie sind so furchtbar laut!« Dabei schlug sie die Lider über die Augen; denn sie hatte Sehnsucht nach der Ruhe, die um ihre Mutter gewesen war.

Bellis Inden lief in dies Haus wie ein reifender Kornapfel: herzenshell, sonnenfröhlich, frischgepflückt und – nachdem Maria Vanderey gestorben war – sehr aufrecht in dem Bewußtsein, daß in diesem Hause nächst dem Willen des Herrn ausschließlich der ihre zu gelten habe.

In die ehrwürdigen Räume der Amsterdamer Wohnung mit der feierlichen Holztäfelung und den noch feierlicheren alten Bildern hatte sich ihre Blumengartenart nie recht einleben können – ebensowenig wie die seit ihren Wiegentagen andersgestimmte Seele der kleinen Luisabeth in das Herz derer, die nun Mutterstelle an ihr versah. Die reinen und sanften Hände Maria Vandereys hatten eine gläserne Wand aufgerichtet zwischen beiden und eines blieb dem anderen fremd, so sehr sie sich Mühe gaben, einander ganz zu finden.

Als die Mutter noch lebte, verlangte die Kleine so oft nach ihr – manchmal mitten aus dem Spiel heraus – daß Bellis Inden vor diesem Verlangen erschrak. Und als sie ihr endlich von der weiten Reise erzählen mußte, die Mutti angetreten hätte, die das Sterben heiße und von der es nie eine Heimkehr gäbe, wunderte sich Luisabeth, daß sie so fortgegangen wäre, ohne sie mitzunehmen. Aber zwischen der Inden und dem Kinde änderte sich kaum etwas. Danach fragte sie freilich nie mehr nach der Mutter; denn für Kinder gibt es keine Vergangenheit.

Die gläserne Wand blieb stehen.

Wenn Luisabeth an der Hand des Fräuleins im Weimarer Hause die Stiegen über die weichen roten Läufer hinabging, mußte sie springen. Im Garten, wenn rings der blanke goldene Schein des Morgens lag, der so schön und stille war, daß der Wind den Atem davor anhielt – im Garten trällerte, hüpfte und händklatschte Bellis Inden die ganze Herrlichkeit in Scherben und tat, als wäre da ein Jahrmarkt aufgestellt. Wahrscheinlich hätte sie auch das ruhefrohe Kinderherz mit raschem Erfolge zu einem klirrenden Tamtam gewandelt und alles, was ahnungsreiche Mutterliebe an keimenden Wundern hineingepflanzt hatte, in Grund und Boden geklappert, wenn sie nicht nach einem geläufigen Hausmittel der Erziehung gegriffen hätte. Das richtete zwar ein großes Zerbrechen in Luisabeth an, war zuletzt aber doch die Ursache, daß das heilige Vermächtnis Marias in diesem Herzen nicht zerstört wurde. In der Zeit nämlich, in der die ganz kleine Lilofe die Fenster ihres Häusleins auftat, um nachzusehen, was da draußen in der Welt eigentlich los wäre, sprang ihr Bellis Inden natürlich hilfreich zur Seite, wie sich das für eine richtige Erzieherin schickt. Und sie hielt darauf, daß Lilofe alles mit hellem Jauchzen begrüßte. Das Hausmittel lag billig und handlich gleich daneben ...

»Sieh doch, Luisabeth, welch ein lustiges kleines Mädel Dein Schwesterlein Lilofe ist! Und wie es lachen kann! So lernst Du es Dein Lebtag nicht! Lilofe ist kaum erst ausgekrochen, da dehnt sie schon die Ärmchen und möchte die ganze Welt ans Herz drücken. Ei, was will ich aus der Kleinen ein schönes leuchtendes Mädchen machen! Dann wirst Du danebenstehen wie ein Tag, der verregnet ist ...«

Luisabeth wollte gerade einsehen, daß ihr Schwesterlein Lilofe in der Tat ein ganz einziges kleines Geschöpf sei, mit dessen Lieblichkeit auf der Welt kein Kind wetteifern könnte – am wenigsten sie, die Luisabeth, selbst. Da tat sich in der Nische des Zimmers unter der Palme der steinerne Mund des Dieners Daniel auf und sprach in feierlicher Entrüstung: »Fräulein Inden, halten Sie diese Abschreckungstheorie für erzieherisch? Ich halte sie für die erste Maßnahme zur unverantwortlichen Verwüstung eines Ihnen anvertrauten jungen Menschenherzens.«

Bellis Inden nahm selten etwas tragisch; aber die Einrede dieses Mannes, der sich auf das wandelnde Gewissen des Hauses hinausspielte, war denn doch unerhört. »Abschreckungstheorie«, »Verwüstung eines jungen Menschenherzens« –, das waren ja Ausdrücke, die er sich geradezu angelesen haben mußte! Und nun rollte er sie aus der Mitte seines versteinten Gesichts heraus wie Kegelkugeln und erwartete die Wirkung seines Wurfs.

Bellis Inden wandte sich ihm erstaunt zu und schürzte die Lippen – »Oho,« rief sie, »Daniel! Daniel! Hat man Sie etwa zum Wächter über mich bestellt?«

»Nein,« sagte er. »Aber die Angelegenheiten unseres Hauses sind seit länger als dreißig Jahren auch die meinigen, und wenn Sie in solcher Weise an Luisabeth herumarbeiten, blutet mir das Herz.«

Kein Muskel zuckte in dem undurchdringlichen Gesicht und verriet die innere Erregung. Er sagte seine Reden her, als wären sie auswendig gelernt.

Bellis Inden dachte nicht daran, sich mit ihm auf eine sachliche Auseinandersetzung einzulassen. Das Geschütz, das er da aufgefahren hatte, schien ihr überdies zu schwer, und ihr weiblicher Instinkt riet ihr, auszubiegen. Aber ein wortloses Davongehen erschien ihr unwürdig. »So!« sagte sie. »Ahnen Sie denn nicht, daß Sie in diesem Augenblick eine ganz unbeschreiblich komische Rolle spielen?«

»In Ihren Augen jedenfalls,« antwortete Daniel, »nicht aber in denen der Madame Vanderey, wenn sie noch über die Kleinen wachen könnte.«

»Ah! Nun ist es genug. Ich verbiete Ihnen, sich in Angelegenheiten zu mengen, die Sie nichts angehen und von denen Sie nichts, nichts, nichts verstehen!«

Er sah, wie sie sich unter seinem starren Blicke wand, ließ sich die drei Nichts als Lanzen gegen das neunmal gepanzerte Herz werfen und regte sich nicht. Dann sagte er: »Ich werde zu Ihnen nie wieder ein Wort von diesen Dingen reden, aber die Augen und Ohren werde ich mir dennoch nicht verbinden.«

 

Um diese Zeit rückte Luisabeth ganz offensichtlich ab von dem Fräulein.

Sie war nie störrisch, ließ sich waschen und ankleiden und schmücken, und über einem schönen Bande kam eine kindhafte Fröhlichkeit in sie.

Aber dem Fräulein war diese Freude nicht genug. Bei der kleinen Lilofe wären alle Bezeigungen anmutiger und frischer, sagte Bellis Inden. Und als das Kleine kaum laufen konnte, kokettierte es schon mit Kleid und Schleifen, und Fräulein Inden geriet darüber in ein ausgelassenes Glück.

Luisabeth dagegen fand oftmals am Tag eine Gelegenheit, auf den stillen Gartenwegen hinter den dunklen Taxusmauern nach ihrem Freunde Daniel zu suchen. Und bald war es, als wäre dies Suchen und Sichfindenlassen eine schweigende Vereinbarung.

Bellis Inden merkte das natürlich. Dann rief sie eifersüchtig nach Luisabeth. Aber das schmerzliche Gehorchen des Kindes verbarg sich ihr nicht. Und als Herr Vanderey eines Tages sagte, er könne nicht einsehen, warum man der Kleinen das Beisammensein mit Daniel nicht gönnte, ward Fräulein Inden verstimmt, und der Diener Daniel war ihr von Stund an ein noch größeres Ärgernis.

Wenn Herr Vanderey um diese Zeit von seinen Handelsbeziehungen sich schon ganz frei gemacht gehabt hätte, würde ihm die Art, mit welcher in dem kleinen Staate seines Weimarer Hauses Politik gemacht wurde, kaum entgangen sein. Vielleicht hätte es ihm Kurzweil bereitet, die listig gesponnenen Fäden hin und wieder ein wenig zu verwirren, ihre Enden aber in festen Händen zu behalten. Im Novembermonat stellte es sich jedoch heraus, daß die Firma in Amsterdam weder seinen Rat, noch seine Kapitalien entbehren wollte; und so bildete sich ein ursprünglich nicht vorgesehenes Verhältnis tätiger Teilhaberschaft. Das nahm ihn zwar nicht übermäßig in Anspruch, schuf ihm aber Befriedigung und führte ihn auf Reisen, oft genug sogar über See.

Der Kampf um die Kinder schwelte indessen gleich der Glut unter der Asche weiter. Der alte Diener Daniel schalt auf das welsche Wesen, das sich um die Kleinen zu schaffen machte. Im übrigen führte er in dem stillen Haus ein beschauliches Dasein und hatte seine vornehmste Pflicht längst in der Erziehungsbeihilfe für die kleine Luisabeth erkannt. Die fand sich mit inniger kindlicher Hingabe zu ihm.

Bellis Inden ließ es an der nötigen Pflege natürlich nicht fehlen. Aber schon im nächsten Jahre kam es zutage, daß Luisabeth sich nicht nur dem Fräulein entfremdet hatte, sondern auch dem fröhlichen Sonnenkinde Lilofe. Sie vertrieb sich die Zeit im Spiele, so oft es anging, mit Daniel. Sie erbat sich von dem Fräulein die Erlaubnis, mit ihrem alten Freund in die Stadt zu gehen oder im Parke zu spazieren oder – wenn es Winter war – Schlitten zu fahren. Dann war sie in ihrer Art froh, war helläugig und blühend. Aber in der Gemeinschaft des Schwesterchens war sie wie umgewandelt. Hatte ihr Fräulein Inden nicht tausendmal gesagt, dies Schwesterchen sei schöner, lustiger und liebenswerter?

Nun standen ihre jungen vier Jahre diesem bevorzugten kleinen Dinge gegenüber, das eine so große Macht über die Menschen hatte, und waren hilflos. Wenn Lilofes verwöhnte Lieblichkeit forderte, mußte ihr die ältere Luisabeth zu Willen sein, oder es gab Geschrei und Tränen. Und Bellis Inden war närrisch genug, dies Verhältnis als einen Sieg ihrer Erziehungskunst anzusehen, den sie auch dem vergilbten Herrn Daniel recht offensichtlich kundtat.

Darüber vergingen die Jahre.

Luisabeth saß in der Schule und war ein kluges Mädchen – der Diener Daniel sagte: »Diese Klugheit und tüchtige Art hat sie von mir.«

Um diese Zeit ward Fräulein Inden sehr nachdenklich. Sie hatte die geistige Regsamkeit Lilofes gerühmt seit den frühesten Tagen. Nun aber, da zwischen Spiel und Lachen und die vielen bunten Kinderkleider der Ernst des Lebens gesäet werden mußte, nun rettete sich Lilofe vor diesem Ernst zu Bellis Inden und sagte: »Och, Fräulein, es ist so furchtbar schwer und ist zu dumm, auf der Tafel diese ewigen Striche zu machen! Och, ich bin noch so klein – bitte, schreiben Sie mir die Seite voll!«

Dann gab Bellis Inden mit verlogener Entrüstung im Gesicht nach. Aber die Kleine erriet das Lachen, das in den Winkeln des Mundes lauerte, und blieb Siegerin.

Wenn es kam, daß sich Fräulein Inden einmal nicht erweichen ließ, dann fand Lilofe den Weg in das Zimmer Luisabeths und schmeichelte und log: sonst hätte sie immer alles selbst geschrieben und gerechnet, aber heute hätte sie so schlimmes Kopfweh ...

»Nein,« sagte Luisabeth, »Daniel meint, jeder muß selbst tun, was seine Pflicht ist.«

»Och,« maulte die Kleine, »dieser Daniel, dieser steinerne Gast mit den gefrorenen Augen – es geht ihn ja garnichts an!«

»Was sagst Du da, Lilofe?« staunte Luisabeth.

»Nun ja, so redet doch Fräulein immer von Daniel, und denn darf ich das doch auch sagen!«

Danach kam Lilofe mit der leeren Schiefertafel und noch viel schlimmerem Kopfweh zu Bellis Inden. Die sprang mit ihr durch den Garten und beteuerte ihr, daß das Kopfweh nun ganz sicher verschwunden sei.

»Wirklich, es ist weg!« sagte Lilofe. »Aber wenn wir wieder im Zimmer sind und ich soll schreiben, dann tut's gleich wieder weh. Wollen wir wetten?«

* * *


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