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Die Jahre zogen durch den Bergwald.
Vor dem nordischen Tann, in dessen Schutz dereinst die Dänen gelandet waren und um dessen Säume das Blut der schottischen Helden geraucht hatte, blühten seit der großen Schlacht zum zwölften Male die Blumen des Frühlings.
Auf den Weiden schritten die friedlichen Herden der bunten Rinder und der kleinen, rauhen Bergschafe.
Jene, die an den sonnigen Hängen und auf den Matten inmitten des Hochwalds grasten, waren dem Hirten Norval zu eigen.
Norval war ein alter Mann geworden, seit er die Ufer des Grenzflusses verlassen hatte, und der Bart wallte ihm weiß wie Schnee über die Brust.
Eines Abends, wie die Wipfel des Waldes im Golde der untergehenden Sonne brannten, saß der lahme Norval auf einem Baumstumpfe und achtete seiner grasenden Herde.
Da schritt sein Weib aus dem Walde und schritt auf den greisen Hirten zu.
Wie er der Frau ansichtig ward, richtete er sich betroffen empor und hob die Hände wie zur Abwehr; denn er erkannte in den Mienen und in der Haltung des Weibes, daß es gekommen sei, ihm die Kunde von dem Tode seines dritten Sohnes zu bringen.
»Wenn ich Ursache habe, deine Rede zu fürchten, so schweig!« rief er ihr entgegen.
Die Frau verlangsamte ihren Schritt noch mehr und sah stille zur Erde.
»Wie sich die Sonne zu färben begann, ist er gestorben!« sagte sie.
Da sank Norval in das Gras des Hanges, in das schon der Tau der sinkenden Nacht fiel. Er starrte mit leeren Augen vor sich hin; dann richtete er sich an der Hand seines Weibes empor und schritt von dannen.
Es war, als habe er die Herde vergessen, die nun ohne Obhut war. Aber seine Gedanken flogen seinem hinkenden Schritt auch nicht voraus und flogen nicht zum letzten Lager seines toten Sohnes – nein, sie durchwanderten verloren die Reihe der Jahre, die vergingen, seit Norval im schottischen Bergland eine neue Heimat gesucht und gefunden hatte. Drei Söhne waren ihm in dieser Zeit gestorben.
Plötzlich blieb er stehen, stützte sich auf seinen Stock und sah der alternden Frau stumm in die Augen. Er legte die Hand flach über den lang herabwallenden Bart, der seinem klugen, stillen Antlitz das Aussehen eines jener Männer verlieh, deren Hirten einst, wie die alten Bücher wissen, am Ufer des Jordan um die fettesten Streifen Grasland miteinander in Streit gerieten. So mochte jener Abram ausgesehen haben, der Friedfertige, als er seinem Vetter Lot entgegentrat und zu ihm sagte: Willst du zur Rechten, so will ich zur Linken.
Norval stand lange sinnend auf seinen Stab gestützt. Dann sah er in seines Weibes Augen und sagte:
»Leid und Tod haben seit unserer Bergfahrt sich zu uns gesellt. Wenn die Erinnerung an jene wilde Sommernacht in allen Menschen ausgelöscht wäre – in allen, Frau –« wiederholte er nach einigem Besinnen, »so wollte ich den Mut haben, wieder dorthin zurückzukehren, wo wir an den Ufern des Flusses mit der Armut unter einem Dache gewohnt haben. Sie ist uns eine bessere Weggesellin gewesen ...«
Über solchen Reden und einer stillen, reuigen Einkehr gelangten sie zu ihrem Blockhause, das sich am Saume des Bergwalds erhob. Ein Bach kam durch einen grünen Anger geflossen und sprang singend unter dem schmalen Stege hindurch, der zu dem Hirtenhause führte.
Nun schritten sie ganz leise, als wollten sie dem toten Kinde den letzten Schlaf nicht stören, und traten vor die offene Tür. Da standen sie plötzlich still und sahen mit verwunderten Augen in das Gemach.
Drinnen kniete ihr jüngster Sohn, der zwölfjährige Ralph, am Lager des toten Bruders. Der war nicht daheim gewesen, wie die Mutter vorhin das Haus verlassen hatte. Er war ein hochgewachsener, stolzer Junge mit wehendem Goldhaar. Dabei war er von einem Ebenmaße des Gliederbaus und einer Schönheit des Antlitzes, wie sonst kein Kind der Hirten dieser Berge sie zu eigen hatte.
Und der Knabe Ralph sprach mit dem Toten, als ob er noch lebe. »Bruder Waldo,« sagte er, »hörst du mich noch?« Dann ergriff er die Hand, die nun welk war und schon todeskalt werden wollte: »Jetzt seid ihr alle fortgegangen und laßt mich allein. Du hast es oft gehört, mein Bruder, – die Mutter sagt: ein Krieger sein, das ist ein rauhes Handwerk, und Krieger sein führe zu Not und Tod. Ihr seid Hirten gewesen und seid doch gestorben, ehe ihr Männer wurdet. Ist Hirte sein ein besser Handwerk? Nein, ich will kein Hirte werden – ich nicht! Ich will ein Schwert nehmen und mit gegen die Dänen ziehen, wenn sie wieder mit ihren Schiffen kommen. Oh, mein Bruder Waldo –«
Da vernahm er den Seufzer, der im Angesichte ihres toten Kindes über die Lippen der Mutter brach. Und er erschrak.
Vor dem Tode hatte er sich nicht gefürchtet – aber daß er jetzt sein Herz verraten hatte, das machte ihn zag.
Er stand einen Augenblick mit gesenkten Lidern. Dann ging er den Alten entgegen und sah seinen Vater an: »Ich kann nicht, ich mag nicht! Oh, Vater, laß uns die Schafe und Rinder um Geld den Hirten dieser Berge geben! Und dann wollen wir wieder in jenes Land wandern, von dem ihr mir oft sehnsüchtig erzählt habt, daß es schön sei. Wir wollen dorthin gehen, wo die Ritter wohnen und die Burgen mit den runden Türmen über die Wälder ragen ...«
Da neigte der alte Norval die Stirn und schritt an dem Jungen vorüber und streichelte die kalten Wangen des toten Jünglings.
Der goldhaarige Ralph aber ging hinaus und warf sich an dem Ufer des Baches mit finsteren Augen in das Gras.
Am anderen Morgen, ehe die Sonne noch aus der See emporstieg, war er schon von seinem Lager. Der Anger, der ganz im silbernen Glanze lag, zeigte die Spur seiner Füße, die den Tau von Halmen und Blumen gestrichen hatten.
Versonnen schritt er in den jungen Tag und schritt immer weiter gen Süden, wo die Berge sanfte Hügel werden und die Täler weiche Wellen der Erde, in denen die Halmfrucht üppig gedeiht. Er dachte, er wolle einen Tag lang die Gegend durchstreifen und des Abends in das Blockhaus am Bache heimkehren.
Was hinter den Wäldern sei, davon hatte er schon manchen Tag bei seinen Herden heimliche, frohe Träume geträumt. Und nun, da seine Brüder gestorben waren und er selbst zum Jüngling heranwuchs – nun sollte er von früh bis in den Tau des Abends und von Lenz zu Herbst zu der stumpfen Wacht bei dem blökenden Vieh ausersehen sein?
Eine heiße Sehnsucht erfaßte sein jugendliches Herz, auf- und davonzugehen und in den Dienst eines Ritters zu treten.
Wie ein Märchen war, was er sich so im Wandern ersann; denn er hatte vom Kampf der Männer und dem Tagwerk der Ritter und Krieger nur die Mutter daheim am Herdfeuer erzählen hören. Oder er hatte davon die anderen Hirten sagen hören, die viel älter waren als er, und die noch eine Erinnerung hatten an die wilden Tage, in denen die Dänen ins Land fielen. Diese Hirten wären geschickt gewesen, ein Schwert zu führen, und klatschten doch bei ihren Schafen mit der Hirtengeißel ... Oh, er verachtete sie alle!
Aber während er so in tiefen, wunderlichen Gedanken seines Weges schritt und einen hellen Glanz in seine Augen sich träumte, dachte er wieder des Jammers im Hause seines Vaters. Er dachte daran, daß ihn seine Mutter über die Maßen lieb habe und schon in ängstlicher Sorge um ihn gewesen war, wenn er als junges Kind sich in einem unbewachten Augenblick einmal vom Herd entfernt hatte. Oder wenn er hinausgelaufen war, um mit den glitzernden Wellen zu spielen und den pfeilgeschwinden Forellen nachzuschauen.
Und nun wollte er heimlich von dieser Mutter gehen und wollte den alten, lahmen Vater die Bürde seiner Tage allein tragen lassen?
Seine Augen glitten über den Sand zu seinen Füßen, und seine Stirne neigte sich so tief, daß die goldene Fülle seines weichen Haares ihm über die Schläfen fiel. Im maigrünen Laubdache des Waldes schlugen die Vögel – er vernahm es kaum; so verloren schritt er seine einsamen Wege, und so tief war der Zwiespalt seiner jungen Seele: die Furcht, seine armen Eltern noch mehr zu betrüben, rang mit der heißen Sehnsucht seines Herzens, Burgen und Ritter zu sehen und in den Dienst eines reisigen Mannes treten zu können.
Plötzlich hörte er den klingenden Fall eines Quells, der aus einem moosgrünen Waldsteine rann.
Er ging hinzu, beugte sich über das Wasser und schlürfte gierig den Trank.
Ein fußbreites Bächlein lief aus dem Spiegel des Quells in den Wald. Diesem Bache ging Ralph Norval nach. Und wie er seine Augen aufhob, sah er sich im tiefen Tann einem Mann in grauer Kutte gegenüber.
Der schien ihn schon eine Zeit beobachtet zu haben; denn er stand regungslos auf dem weichen Grunde und war in seinem seltsamen Kleid, in seinem verwilderten Bart und ungeschorenen Haar wie ein Waldstamm anzusehen, dessen Krone der Blitz gefällt hat.
Der Junge erschrak.
»Wer bist du?« fragte er mit staunendem Blick.
»Ich bin der Eremit.«
Und der Einsiedler in der grauen Kutte schritt langsam über das Moos und redete freundlich zu ihm:
»Es ist weithin keine Straße, auf der du hierher gelangen konntest. Hast du dich verirrt? Wanderst du schon lange allein und hilflos im Bergwald?« Er schien gar nicht auf eine Antwort zu warten, sondern fuhr erstaunt fort: »Du wirst hungrig sein. Ich will dir von meinem harten Brot geben. Es ist auch noch ein wenig Fleisch in der Höhle, gestern erlegt und am Spieße gebraten.«
Der junge Hirte sah den fremden Mann schweigend an – seine Stimme war klar, und sein Wort war gut. Aber sein Aussehen war wild und war wie eines Ebers, der durch den Bergwald bricht.
»Hast du Waffen?« fragte der Junge endlich und faßte Zutrauen zu dem Klausner. Es war, als wäre er immer noch in seinen Träumen befangen.
Der Alte lächelte: »Fragst du so aus Furcht, oder möchtest du damit ein Abenteuer bestehen?« Er bekam keine Antwort; aber er sah auch keine Bangnis an dem Jungen. »Ja,« fuhr er dann fort, »einen Speer hab' ich und auch ein Schwert.«
Die Augen des Jungen wurden hell.
»Ein Schwert? Wo ist es?«
»Drinnen in meiner Höhle.«
Da sprang Ralph Norval über den Bach und ging zu dem Einsiedler. Der fragte ihn nach seinem Namen und nach seinem Wohnplatze.
Ehe das Eichhorn dreimal am Stamm auf- und niederlief, kannte der Klausner die Sehnsucht seines jungen Freundes. Er trug Brot und Fleisch aus der Höhle und setzte sich neben den Knaben ins Moos.
»Eines Hirten Sohn bist du?« fragte der Siedler erstaunt, wie er Ralph mit einem Becher voll Wasser vom Bache zurückkommen sah und die schlanke Biegsamkeit seines Leibes von neuem erkannte. »Eines Hirten Sohn? Das Haar fällt dir um Stirn und Schläfen wie einem Edelknaben, und es möchte scheinen, du habest im Dienste schöner Burgfrauen gestanden.«
Das Gesicht des Knaben ward über diesen Worten glücklich.
»Ei,« rief er, »das hat mir noch keiner gesagt! Ach, ich habe eine Burg noch nicht einmal aus der Ferne gesehen und wüßte nicht, wie ich mich im Dienste edler Frauen zu bewegen hätte.«
Der Klausner lächelte, und Ralph Norval fuhr fort: »Ja, und von Krieg und Kampfesspiel hat mir meine Mutter hinter dem Herd erzählt, als seien das Märchen. Aber, das muß ich dir schon sagen, Mann: wenn ich aussehe wie ein Edelknabe, der den schönen Burgfrauen die Sammetschleppe trägt, so mag das daher kommen, weil mir im Winter meine Mutter immer von derlei Dingen berichten mußte. Und im Sommer, wenn ich einsam und träge bei den Herden war, lag ich auf dem Rücken im Grase, hatte die Augen geschlossen und träumte: ringsumher wüchsen Türme und Mauern einer Herrenburg; Ritter ritten auf stolzen Pferden mit bunten und goldgestickten Schabracken daher, um im Kampfspiel ihre Kräfte zu messen. Ich selber aber durfte dabei sein, wenn ich auch nur ein Knabe war, und durfte den Frauen dienen oder den Rittern Schildknappe sein – träumt' ich,« setzte er kleinlaut hinzu. »Ach, ich will nicht mehr zu Vater und Mutter heimkehren! Ich will Herrendienst nehmen, Mann, oder ich will sonst etwas finden, das mich froh macht. Zeig mir einen Weg, Klausner – nur fort muß er führen aus dieser trägen Stille der Berghut! Dort ist der Tod – drei Brüder sind mir schon gestorben ...«
Der Knabe öffnete den Mund, um weiter zu reden. Aber der Einsiedler erhob abwehrend die Hand.
»Wieviel Geschwister hast du noch daheim?«
»Geschwister?« fragte Norval erstaunt. »Gar keine! Ich bin doch der Jüngste, und mein Vater ist ein alter Mann mit schneeweißem Barte. Schön und gut ist er; aber er ist lahm. Darum ist er niemals mit in den Kampf gegen die Dänen gezogen, und droben auf unseren Weiden ist keiner zu finden, der einen Feind auf dem Schlachtfeld erschlagen hat ... Du hast ein Schwert? Zeig es mir!«
Der Einsiedler erhob sich und führte seinen jungen Gast in die Höhle des Waldsteins.
Um die Türe, die keines Menschen Hand geschlagen hatte, wuchsen Moos und Flechten. In einem Winkel befand sich eine Streu aus Nadeln und Laub.
»Das ist dein Lager für die Nacht?« fragte Ralph Norval verwundert.
»Ja,« sagte der Eremit.
»Das ist hart und arm. Du wirst krank werden auf der feuchten, kalten Erde.«
Der Einsiedler zog die Achseln: »Ich habe nichts mehr vor als zu sterben.«
»Zu sterben?« entgegnete der Knabe mit weitgeöffneten Augen. »Das klingt traurig. Und ich möchte leben, Eremit, leben und stark sein und einen glänzenden Harnisch tragen. Verstehst du das nicht?«
Der alte Mann griff in das Dunkel an der Felswand seiner Höhle und nahm ein kurzes, rostiges Schwert herab.
Der Knabe streckte beide Hände danach aus. »Bist du auch ein Krieger gewesen, und hast du mit diesem Schwert in der Hand gegen den Feind gestanden?«
»Hab' ich!« nickte der Klausner.
Da jauchzte Norvals Sohn und riß das Gewaffen aus der Scheide. Er sprang damit hinaus ins Licht und schwang es – zum erstenmal umspannte seine Hand den Griff eines Schwertes, dessen Klinge vom Blute des Feindes befleckt gewesen war. Er stand dem Manne gegenüber, der mit diesem Schwerte den Feind gefällt hatte. Es war dem Knaben, als würden in dieser Stunde alle Märchen wahr.
»Oh, alter Mann,« rief er, »warum bist du nie durch die Wälder jenseits des Berges gezogen, bis hinauf gen Norden, damit ich dich gesehen und dich viel früher lieben gelernt hätte? Ich will bei dir bleiben!«
»Nein,« sagte der Eremit. »Das kann nicht sein. Ich habe gelobt, mein Leben in Entbehrung und Einsamkeit zu beschließen; denn ich habe mich einer großen Sünde schuldig gemacht. Ich will dir von meinem Leben erzählen, und ich will dir auch von Krieg und Kriegshandwerk berichten, so oft du wiederkommst. Aber du darfst deine alten Eltern nicht heimlich verlassen; denn sie würden sich um ihr letztes Kind in das Grab härmen.«
»Ach, du bist ein alter Mann!«
Aber der Einsiedler erhob bedächtig den Finger: »Wenn du der Geschichte meines Lebens aufmerksam zugehört hast, so wirst du klüger geworden sein und wirst wissen, warum ich schon an diesem Tage, an dem sich unsere Wege zum ersten Male kreuzten, das alles berichtet habe.«
So sprach der Eremit und ging ein Stück vom Eingange der Höhle bis zu einer Stelle, an der er sich eine Moosbank errichtet hatte. Nicht weit davon, unter hohen Bergfichten, waren Steinplatten zu einem Altar übereinander geschichtet. Die Reste verbrannten Holzes lagen oben darauf.
»Was ist das?« fragte Ralph Norval. »Ist das dein Herd?«
»Nein,« antwortete der Alte, »das ist mein Altar. Hier opfere ich Sühnopfer – ein Waldgetier, das ich erlegte. Und ich faste an dem Opfertage, wie ich gelobt habe. Hier bet' ich auch – eine Stunde in jeder Nacht ...«
»Das ist lange.«
»Bei Regen und Schnee, im Sternenlicht und im Sturmwind.«
Sie ließen sich nebeneinander auf dem Mooshügel nieder.
Das Erstaunen des Knaben wuchs, je länger er dem Alten zuhörte. Der hatte die Arme in den Ellbogen auf die Schenkel gestützt und die Hände zwischen den Knien ineinanderliegen. So schaute er lange sinnend vor sich hin. Dann begann er:
»Ich hatte siebenmal gegen die Iren im Felde gelegen, Knabe. Da überkam mich die Sehnsucht nach fremdem Land und Volk, und ich dachte: Ich will ausziehen und mir im Handel Reichtümer erwerben. Darum steckte ich das Schlachtschwert in die Scheide, damit es roste, gab das Kriegshandwerk auf und ging zu Schiffe. Viele Jahre war ich in fernen Ländern, in denen weder Schnee noch Reif die Fluren deckt. Ich war auch in Jerusalem und Damaskus, wo sie einen Stahl schleifen – blau wie das Gewölbe des Himmels. Und wer ihn schwingt, der glaubt das feine Klingen edlen Silbers zu vernehmen.«
In die Augen Ralphs kam wieder der helle Glanz. Er wollte aufspringen und das rostige Schwert von neuem durch die Luft schlagen. Aber der Einsiedler wehrte ihm und fuhr fort:
»Wie ich so viel an Gold und Reichtümern gewonnen hatte, daß ich glaubte, genug zu besitzen, um daheim ein gutes Leben führen zu können, begab ich mich abermals zu Schiff. Es war ein großer Segler, der lag im Hafen von Messina ...«
Der alte Mann ward immer stärker von einem heftigen Schmerze gepackt, und es gelang ihm nicht, seine Qual dem Knaben zu verbergen.
»Warum sprichst du nicht weiter?« fragte Norval.
Da raffte sich der Greis zusammen: »Wir waren schon acht Tage bei stillem Winde auf dem Meere geschwommen. Da fing der Kapitän einen Streit mit mir an und forderte endlich, daß wir uns auf dem Hinterdecke seines Seglers in Waffen gegenüberstehen wollten. Die Klinge sollte entscheiden, wer von uns beiden recht habe. Wir fochten, und der Seemann fiel. Wie er in seinem Blute lag und der letzte Hauch des Lebens aus ihm ging, nannte er mir seinen Namen und seine Heimat ... Allmächtiger Gott, – Knabe, ... er war mein Bruder! Mein einziger Bruder! ... Wir hatten nichts mehr zu tun, als uns zu vergeben. Dann starb er. Er war der Glücklichere; denn tausend Tode hab ich seitdem gelitten. In die Tiefe dieses Waldes bin ich geflohen, wie das Schiff das Gestade meiner Heimat angelaufen hatte. Ein Ausgestoßener, ein Brudermörder, will ich ferne von den Menschen und ihren Freuden sein. Und manchmal, wenn der Sturm der Wetternächte um meines Berges Höhlung saust, daß die Felsen zu wanken scheinen, dann ist es, als verwirrten sich meine Gedanken, als fiele langsam eine tiefe Nacht auf die Klarheit meines Geistes. Dann rede ich mit den Stürmen, und aus dem dumpfen Brausen der Wälder versuche ich die Stimme des Gemordeten zu vernehmen, versuche ich die verzeihende Stimme jenes Weibes zu hören, das uns beiden Mutter gewesen ist ...«
Die Worte des alten Mannes klangen dumpf, und seine Augen waren voll tiefer Kümmernis.
Ralph Norval sah ihn nach diesem Berichte erstaunt an. Dann fragte er: »Deinen Bruder hast du erschlagen? Ja, kanntest denn du deinen eigenen Bruder nicht? Wie könnt' es kommen, daß ich meinen Bruder im Zweikampf erschlüge?«
Der Einsiedler sah starren Auges auf den Waldgrund: »Es war eine wilde Zeit, Knabe! Mein Bruder war als Kind aus dem Hause gegangen und zeit seines Lebens seefahrend. Ich aber hatte im Kampfe gelegen von Jugend an – was wußt' ich von meinen Brüdern? Und wie ich das Schwert in die Scheide gesteckt hatte, ward ich ein Krämer im Morgenland; mein Bruder dagegen trieb auf seinem Segelschiff vor gutem Winde. Das Leben der Seefahrer bringt es so mit sich, daß selten einer dieser Männer das Heimatland wieder betritt. Und wäre er daheim gewesen, um seine Eltern vor dem Tode zu sehen, – so war ich selber doch tausend Meilen von der Stätte des Vaterhauses. Und kein Traum konnte so wunderlich spielen wie jenes Schicksal, das mich als wandermüden Mann auf sein Schiff führte.«
»Gibt es noch glücklosere Menschen als dich?« fragte der Hirtenknabe. Aber ohne die Antwort zu erwarten, fuhr er fort: »Lebten deine Eltern noch, als das große Leid über dich kam?«
»Nein, sie waren tot. Der gütige Himmel hatte ihre Augen geschlossen, ehe ihr Sohn seines Bruders Blut vergoß.«
Ralph Norval sann einen Augenblick; dann sagte er: »Das ist ein großes Unglück.«
»Es ist das, was die Menschen Schicksal nennen,« antwortete der Klausner.
»Schicksal? Dann ist es auch Schicksal, wenn alte Eltern in wenigen Jahren drei blühende Söhne dahinsterben sehen. Kann man ihnen deswegen gram sein?«
Der Einsiedler schüttelte wehmütig den Kopf.
»Gewiß nicht,« sagte der Knabe, »sondern man wird tiefes Mitleid mit ihnen haben. So geht es mir mit dir, mein alter Einsiedler. Ich habe dich nun erst recht liebgewonnen, und ich habe Mitleid mit dir, seit ich dein Schicksal kenne. Manchmal ist das Schicksal grausam, und keiner weiß, warum. Gelehrte Männer könnten darüber wohl besser reden als ich.«
»Deine Worte sind klug, mein Sohn,« sagte der Eremit und erhob sich. »Ich will dir künftig gerne noch mehr erzählen; und ich kann dir auch Lehrer sein, wenn du lernen willst, wie man ein Schwert führt. Ich will dir von Kampf und Sieg berichten, so oft du zu mir kommst. Aber du mußt mir versprechen, nicht heimlich von deinen trauernden Eltern zu gehen. Du weißt, warum.«
Der junge Norval legte seine Hand fröhlich und tapfer in die dargebotene Rechte des Greises.
»Ich werde jeden Tag zu dir kommen,« sagte er, »oder so oft ich nicht bei den Herden sein muß; denn ich fühle, wie deine Klugheit mein Herz stark macht. Ich will dir in allem gehorsam sein, teurer Greis.«
Die goldenen Säulen des Sonnenlichtes, die unter den Lücken des dichten Laubdaches standen, begannen sich zu neigen.
Da schritt der junge Norval wieder nordwärts und gelangte zur Hutung seines Vaters, wie der letzte purpurne Schein am Abendhimmel verglomm.
Die Alten saßen am Herdfeuer in der Hütte, wie Ralph Norval eintrat. Es war völlig Nacht geworden. Sie erkannten das fremde Licht aber dennoch, das aus den Augen ihres Sohnes schien. Der erwartete Worte des Unmutes, weil er sich den ganzen Tag über nicht um die Herden gekümmert hatte, und ging schweigend zum Nachtmahle.
Aber sein Vater setzte sich auf den Schemel ihm gegenüber und sprach so sanft zu ihm, wie dies vorher nie der Fall gewesen war.
Fast erstaunt blickte Ralph den alten Mann an. Hatte ihn die Trauer so milde gemacht? Oder war er des Glaubens, das tiefe Leid um den gestorbenen Bruder habe seinen Jüngsten an diesem Tag in die Einsamkeit gescheucht?
Die Mutter wirkte noch am Herde. Dann setzte sie sich auf den Backsteinrand und legte die Hände in den Schoß. Es war, als warte sie, daß Ralph über den Tag berichte.
»Wir haben dich heute nicht gesehen,« begann der Vater. »Die Hirten meinten, du seist vor Tau und Tag von Hause fortgegangen.«
»Oh, Vater,« antwortete Ralph mit leuchtenden Augen, »ich habe einen wunderlichen Fund getan!«
»Einen Fund? So laß ihn sehen!«
»Das kann nicht sein; denn es ist ein Mensch. Ich ging südwärts durch die Wälder und dachte der Trübsal nach, die über unsere Hütte gekommen ist. Ich dachte auch daran, was nun mit mir werden solle. Da stand ich plötzlich einem alten Manne gegenüber – einem Einsiedler, der in einer Höhle des Bergwalds lebt. Vor der Höhle unter hohen Fichten opfert er, wie ihr mir erzählt habt, daß die Heiden in unseren Wäldern einst ihren Göttern geopfert hätten. Er ist aber kein Heide, sondern – – –«
»Er ist ein unseliger Mann, der seinen Verstand verloren hat,« warf der alte Norval ein. »So lebt er noch?«
»Er ist wohl sehr alt. Und ihr kennt ihn? Warum hab' ich nie erfahren, daß er in der Nähe ist? Es ist kaum eine halbe Tagereise bis zu seiner Höhle.«
»Warum soll man von einem Narren reden?« antwortete Norval. »Viele kennen ihn. Aber keiner weiß mehr von ihm, als daß er nicht immer bei klarem Verstande sei.«
Ralph sah seinen Vater mit weiten Augen an: »Bei – klarem – Verstande ... Ja, so hat er mir selbst erzählt. Manchmal, sagte er, verwirrten sich seine Gedanken. Das mag wohl daher kommen, weil er in so großer Armut und Ferne von allen Menschen lebt. Aber was er heute zu mir geredet hat, das ist gut und klug gewesen.«
Die Mutter trat gegen den Tisch und betrachtete den Jungen mit heimlicher Sorge. Dann sagte sie: »Es weiß gar niemand, woher er gekommen ist. Viele meinen, er müsse die Menschen fliehen; denn er habe eine schwere Schuld. Sonst spräche er wohl einmal zu jemandem von seinem Leben.«
»Das mag auch richtig sein,« fiel der alte Norval ein, »er spricht zu keinem Menschen über seine Vergangenheit. So sagt man wenigstens. Das mag aber auch daher kommen, weil niemand an der verlorenen Klause des wunderlichen Mannes vorübergeht. Es ist kein Weg dort.«
»Und wenn er noch keinem seine Geschichte erzählt hat – ich hab' sie doch aus seinem Munde erfahren. Und ich weiß ganz genau, woher er gekommen ist und warum er in dieser tiefen Einsamkeit des Bergwalds haust.«
In den Augen der beiden Alten spiegelte sich das Erstaunen. Der Knabe legte sein schwarzes Brot zur Seite und berichtete nun mit klingender Stimme, was ihm der Klausner gesagt hatte.
Wortlos hörten die Eltern zu. Wie er schwieg, schritt der Greis langsam und in tiefem Nachdenken durch das niedere Gemach. Er war trotz seines Alters ein so hoher Mann, daß er mit seinem Haupthaar beinahe die schweren, rauchschwarzen Balken der Decke streifte.
Nach einer Weile begann er und sprach wieder mit jener Milde von vorhin: »Wenn dich dieser Einsiedler in manchem unterrichten will, was wir dich nicht lehren können, und wenn du ihn ehrst, wie du gesagt hast, so sollst du nur zu ihm gehen, so oft du magst und so oft dich die Arbeit um die Herden nicht daheim fordert. Ich weiß, du hast eine wunderliche Sehnsucht in deinem Herzen. Eine Sehnsucht nach Fernen, die du nicht kennst; oder eine Sehnsucht nach anderen Menschen und ritterlichem Treiben, nach Waffenhandwerk und Kampfspiel. Das kommt vielleicht daher, weil du unsere Hütte und diesen Anger nie verlassen hast, so lange du lebst.«
Ralph war aufgesprungen und stand, schön und schlank wie ein Edelknabe, der im Waffendienste groß geworden ist, mit leuchtenden Augen vor dem alten Manne.
»Vater!« rief er in überwallender Freude.
Aber der Greis mahnte zur Ruhe. »Hör mich weiter! Vielleicht vergißt du alles, was dein Herz jetzt unruhig macht, wenn du häufiger bei dem Klausner bist. Vielleicht erkennst du dann, daß deine Sehnsucht Dingen gilt, für die du in deinem jungen Alter noch gar keine richtige Wertschätzung hast.«
»Oh,« rief Ralph, »wie bin ich euch dankbar für euere Güte! Aber ihr werdet sehen, daß meine Sehnsucht nur noch heißer wird. Und mein Leben wird hinfort fröhlicher sein. Denn ich habe eine tiefe Furcht – nicht vor schnaubenden Rossen und klirrenden Schwertern, sondern vor der Stille und Tatenlosigkeit, in der unsere Hirten dahingehen. Mir ist, das Mark in meinen Armen müßte mir vertrocknen, wenn ich mein Leben hinter den Schafen und Rindern verbringen sollte.«
»Hm,« begann der alte Norval wieder, »wenn du dann deinen fremden Drang nicht zähmen kannst, der außer in dir in keinem Hirten dieser Berge ist, so wird sich wohl auch ein Weg zu einem neuen Leben für dich finden.«
Mit Rührung und Dankbarkeit vernahm der Knabe diese Rede seines Vaters. Sie war so sanft, wie vordem nur seine Mutter zu ihm gesprochen hatte.
Am andern Tage begruben sie den jungen Toten.
Dann ging eine stille Zeit durch die Hütte. Aber in dem Verhalten des Greises zu dem heranwachsenden Sohne änderte sich nichts. Er blieb milder denn je, und es schien, als wollten die halbverwaisten Eltern dem Knaben und seinem fremden Drange nichts in den Weg legen. Der freie Wille und das Herz mit dem wunderlichen Sehnen sollten sich in diesem letzten Kinde nach Gefallen entwickeln.
Manchmal in diesem Sommer zog der junge Norval durch die Wälder gen Süden bis zur Höhle des Klausners. Dann ging er immer früh vor Tage aus der Hütte; denn er hatte fast fünf Stunden zu wandern, ehe er die Siedelei erreichte.
Eines Tages reinigte er auf der Moosbank unter den Bergfichten die Klinge des Schlachtschwerts vom Roste, der sich in der feuchten Felsenkammer darübergeschlagen hatte. Er lernte um diese Zeit von dem Klausner, wie man Schwert und Schild führe, wie man angreife und sich verteidige.
Auf dem Heimwege träumte er dann davon, daß es herrlich sein müsse, ein Roß zwischen den Schenkeln zu haben und unter dem Rufe der Schlachtdrommeten gegen den anstürmenden Feind zu reiten.
Die Blütenwinde des Sommers verwehten vor den rauhen Stürmen des späten Jahres. Der Herbst wich dem Winter. Und als der Frühling wieder im Anzuge war und die Geschwader der wilden Schwäne in den Lüften nordwärts strichen, da hatte Ralph Norval die größte Freude seines Lebens: sein Vater tauschte gegen etliche Stücke seiner Herde ein Roß ein; dessen sollte sich der Knabe bedienen, so oft es ihn zur Einsiedelei des Bergwalds zog.
Darum weckte den Klausner eines Tages Hufschlag aus seinem nachdenklichen Sinnen. Er saß vor seiner Höhle und ließ das erste warme Sonnenlicht des Jahres über seine Hände rinnen.
Ralph Norval sprang lachend aus dem Sattel. Seine Augen leuchteten vor Lust, und es war, als ginge eine sonderliche Freude aus diesen Knabenaugen in das Herz des Alten.
Die mutigen Worte des goldhaarigen Jungen waren wie wehender Wind, der einen schlummernden Funken der Asche zu neuer Glut entfacht: der alte Mann schien seine Jahre zu vergessen, sobald der junge Hirte bei ihm weilte. Er entblößte seine Arme, um dem Knaben zu zeigen, daß sie noch kräftig genug seien, ein gutes Schwert zu schwingen. Er tat die härene Kutte auseinander und wies die Narben seiner Brust, die in sieben Kämpfen aus mancher Wunde geblutet hatten.
Und während das Roß graste, berichtete der Klausner Kriegsgeschichten und schnitt in den grünen, weichen Waldgrund die Bilder der Heerhaufen, wie sie in den mancherlei Kämpfen gestanden hatten: in der Linie, im Viereck, im Dreieck oder der festgefügten Phalanx.
Alles, was ein Mensch wissen konnte von der Kriegskunst jener Tage, da Schotten und Sachsen vereint mit gegen die Sarazenen gestanden hatten, um das Grab Christi zu gewinnen – alles was ein Mensch wissen konnte von der Kriegführung der Tapferen, die vor dreizehn Jahren droben vor dem wilden Kliff die Dänen heimgeschickt hatten – alles kannte der fromme Klausner.
Es war ein seltsamer Lehrer und war ein seltsamer Brauch, einen Jüngling in der Kunst der Kriegführung zu unterrichten.
Aber der Eifer dieses Jünglings, der gern ein Ritter oder Kriegsmann sein wollte, ließ nicht nach – wie der greise Hirte Norval gemeint hatte. Er wuchs vielmehr mit jeder neuen Einkehr in der Waldklause. Und der Alte schien unerschöpflich in seiner Weisheit, wie der Jüngling unersättlich in seinem Drange zu lernen.