Gustaf af Geijerstam
Gefährliche Mächte
Gustaf af Geijerstam

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Neunzehntes Kapitel

Stockholm, April 1902.

Liebe Tora!

Es ist mir dieser Tage etwas recht Seltsames passiert, das ich Dir doch erzählen muß. Die Scheidung zwischen Ake Hjälm und Frau Liese kommt nicht zustande. Daß ich Deine Fragen in bezug hierauf nicht eher beantwortet habe, kommt daher, daß ich mich nicht dazu berechtigt fühlte. Ich war ja selber als Rechtsanwalt dabei beschäftigt. Denke Dir – ich sollte andern zu etwas verhelfen, was ich selber mir nicht verschaffen kann, da ja das schwedische Gesetz zur Scheidung den Willen, die Zustimmung beider Teile verlangt –, grade wie zur Eheschließung. Da waren nun zwei Willen, die auf dem Weg der Uneinigkeit so weit gekommen waren, daß sie sich schon an den Rechtsanwalt gewendet hatten, der sich denn auch beeilte, den Betreffenden ihr Verhalten vorzuschreiben. Ake Hjälm sollte die Osterferien zu einem Ausflug nach Kopenhagen benützen . . . da plötzlich schlägt der Wind um, die Sonne leuchtet wieder durch die Wolken – und in einem langen, übrigens recht eigenartigen Brief teilt er mir mit, daß die ganze Geschichte eingestellt sei und daß sie sich inniger als je zusammengefunden hätten . . . Jetzt aber kommt das Lustige bei der Sache: während die beiden so zerrissen, aufgewühlt und unglücklich waren, und solange die Entzweiung zwischen ihnen dauerte, hatte sich jedes von ihnen seine Vertrauten angeschafft. Es muß dabei nicht bei einem oder zweien geblieben sein, soviel aus dem Brief hervorgeht. Alle Menschen scheinen eingeweiht in die Sache, und der einzige, der pflichtgemäß Verschwiegenheit bewahrt hat, ist der Rechtsanwalt. Jetzt schreibt mir Hjälm und bittet mich in heller Verzweiflung, die Geschichte doch so weit wie möglich zu verbreiten, das heißt, daß die Scheidung nicht zustande kommt. Vermutlich fühlen sich die guten Freunde, die sich auf einen Skandal gefreut hatten, betrogen, weil sie um einen Gesprächsstoff gekommen sind. Und die Versöhnung überall so geradezu zu annoncieren mag ja wohl auch nicht so besonders erhebend sein. Hjälm hat darum auch über Ostern Urlaub genommen, damit die Enttäuschung Zeit hat, sich während seiner Abwesenheit auszutoben. Vor ein paar Wochen hat er seine Reise nach Kopenhagen angetreten, bloß mit dem Unterschied, daß seine Frau mitging. Ich war selber auf dem Bahnhof und kann bezeugen, daß sie aussahen wie zwei Neuvermählte.

Leider lebe ich selber jetzt viel zu einsam, als daß ich Hjälm und seiner Frau den Dienst erweisen könnte, den sie von mir verlangen. Darum sende ich die Neuigkeit nach Florenz, in der Hoffnung, daß sie auf diesem Umweg möglichst bald nach Schweden zurückgelangen möge. Die Welt ist ja, wie man neuerdings entdeckt hat, so klein!

Ich möchte doch noch hinzufügen, daß ich den beiden diese Lösung gönne. Weder er noch sie eignet sich für den schweren Weg der Einsamkeit, und je weniger Bande hier in unserer Welt reißen, desto besser. Zerschlagen ist leicht, Ganzmachen ist schwer.

Erinnerst Du Dich noch an den alten Björken, von dem wir, Du und ich, in unserem guten Sommer oft redeten? Er ist diesen Winter gestorben, und ich dank' es Dir, daß ich ihn noch gesehen habe vor seinem Tod. Ich habe seither oft an ihn gedacht. Er ist mir wie mein eigner und unserer ganzen zerrissenen Gesellschaft Antipode. Und ich stelle darum die Erinnerung an ihn auch auf einen ganz einsamen Ehrenplatz, wo nichts sie stören kann.

Wie wird sich sein schöner Traum weiter entwickeln, nun er selber tot und nicht mehr da ist? Das frag' ich mich oft. Und doch ist es mir so gleichgültig. Der Wert seiner Lebenstat liegt viel höher.

Was mich selber betrifft, so hat sich nichts geändert. Ich kann bei allem, was in meinem einstigen Heim geschieht, nichts tun. Weißt du noch die Zeit, als ich glaubte, ich hätte dir ein neues Glück zu danken? Seitdem ist in mir vieles anders geworden; und das schwerste für mich war, daß ich mir schließlich selber sagen mußte, der größte Freundschaftsbeweis, den Du mir gegeben hast, war, daß Du meine Blindheit durchschautest und das, was Du wußtest, doch verschwiegst. Jetzt habe ich gelernt, daß es so war, und es kostet mich jetzt auch nichts mehr, es zuzugeben.

Wir beide. Du und ich, wissen ja – in unserer Zeit können Menschen selten einander wirklich geistig helfen; die Freundschaft in all ihren Gestalten und Formen ist – ich möchte sagen ein abgedroschenes Wort geworden, das man mit der Jugend von sich abtut. Es gibt eine Naturkraft, die man in der Sprache der Wissenschaft als vis inertiae, die Kraft der Trägheit, bezeichnet. Es ist das Gesetz, das die Körper daran hindert, in Bewegung zu geraten, wenn nicht eine ganz besondere Kraft sie vorwärts treibt. Es ist das, was man das Gesetz des Stillstandes, der Hemmung nennt. Kein Gesetz, scheint mir, wirkt mit größerer Energie oder – wenn Du so willst – mit mehr Mangel an Energie auf das Verhältnis der Menschen zueinander, als dies. Es verhindert uns, die Gefühle zu zeigen, die wir in Wirklichkeit haben. Es hält uns zurück von guten Gedanken und von guten Taten. Es versenkt unsere Seelen in Ruhe, eine Ruhe, die in Gleichgültigkeit und Härte übergeht. In anderen und in uns selber begegnen wir dieser Lebensmacht; und das Wunderbare bei Dir ist, daß Du nie etwas davon empfunden zu haben scheinst. Dich müde zu machen – das ist dem Leben nicht geglückt. Du hast Dich lebendig erhalten. Darum kannst Du auch anderen geben. Und weil Du nicht gibst wie ein Verschwender, sondern wie ein warmer Mensch, der sich vor der Befleckung durch die Vielen zu bewahren weiß, hast Du es verstanden. Dir Geltung zu verschaffen, ohne daß Du es selber merktest.

Daß ich Dir das alles jetzt sage, der ich sonst just nicht von guten Worten überfließe, weder Dir noch anderen gegenüber, das kommt davon, daß ich gerade jetzt so lebendig die große Dankesschuld fühle, von der ich vorhin sprach. Glaub' mir, ich verstehe, was es heißen will, einen Freund in der Irre gehen sehen und dennoch stützen, helfen, beispringen, und – während man das tut, schweigen können über alles, was man selber weiß und sieht! Das verstehen bloß wenige, und noch weniger gibt es, die das durchführen können.

Es ist schade drum, Tora, daß alles, was Du für mich getan hast, so geringe Frucht trägt! Der Fehler liegt nicht an Dir, und nicht um des Resultats willen hast Du gehandelt, wie Du es tatest. Das weiß ich wohl. Wir Menschen gehen so nebeneinander hin, die vis inertiae spielt noch nicht einmal immer die schlimmste Rolle. Manchmal kommen Kräfte hinzu, die ganz rege genug sind. Diese Kräfte wachsen in uns oder in einem von den unseren auf, und eines schönen Tages stürzt das Haus, das wir uns erbaut haben, uns über dem Kopf zusammen, und man muß noch froh sein, wenn man mit dem nackten Leben davonkommt!

Jeder hat ja eine Zeit, in der er alles fordert vom Leben und von sich selber. Dann kommt eine andere, in der man glücklich ist, wenn man sich selber vergessen und nur noch an andere denken kann. Aber für alles Menschliche gibt es eine äußerste Grenze. Das ist, wenn die Stimmen des Lebens schweigen und verstummen, und das große Schweigen einsetzt. Man nennt das im allgemeinen leere Mystik, und treibt damit – wie mit so vielem anderen – Humbug. Ich habe doch angefangen mich zu fragen: wie kommt es, daß man gerade in unserer Zeit sein Ideal in den begrabenen Religionen des Ostens sucht, ganz wie damals – bei den Dekadenten des alten Griechenlands und Roms? Liegt die Religion selber in Todeszuckungen? Oder hat der Menschengeist die Kost des positiven Wissens zu mager und trocken gefunden und möchte sich jetzt selber erneuen, Kraft gewinnen im Schaffen einer neuen Religion, die den Lebensglauben gibt? Ist's nicht der Glaube, den wir im Innersten suchen? Die Gewißheit des Glaubens?

Eins fang' ich an einzusehen, und das ist, daß unsere ganze Gesellschaft anders geworden ist, wenn auch die Formen noch dieselben sind. Die Art und Weise des Denkens ist eine andere geworden, der Glaube ist ein anderer, der Blick der Menschen aufs Leben ist ein neuer. Es nützt nichts, noch länger die Augen zu schließen vor dem, was lebendige Wirklichkeit ist. Schweden ist gar nicht so alt, wie die Leute glauben. Seine Ehre ist alt, ja. Aber ist nicht unsere Kultur relativ jung? Und liegt darin nicht eine Stärke? Früher kam es mir so vor, als stagniere alles, und diese Stagnation war eingetreten in der Stunde, da die Gesellschaft zu denen, die sie einst gefürchtet hatte, also sprach: »Um was streitet ihr eigentlich mit uns? Opfert uns euren Willen und eure Überzeugung! Opfert das, was ihr gewollt und geträumt habt! So werdet ihr Platz übergenug auch für euch finden. Wollt ihr lernen, was das Bestehende erhält, so lernt, daß der Unglaube keine Gefahr für die menschliche Gesellschaft bedeutet. Mangel an Glaube erzeugt Stillstand, und der Mangel an Wille ist verwandt mit dem Glaubensmangel. Kultiviert eure Skepsis, ihr Herren und Damen, die ihr dichtet, philosophiert oder Kunstwerke schafft, und laßt uns Freunde sein!«

Auf diesem Weg entstand, so schien es mir, etwas, das aussah wie Versöhnung und Friede. Die Gedanken schienen wie zu Ende gedacht, alle waren einig, und die Luft ringsum war schwer und schwül. Alles stand still, nichts regte sich. Der Dichter war eine Art Gedankenkaleidoskop geworden, in das jeder Beliebige gucken konnte, wenn er bezahlte. Man konnte die Maschine nach Belieben drehen und neue Farbenzusammenstellungen, neue, verblüffende Mosaiken erzeugen. Wer die Maschine mit dem größten Glück oder der größten Kunstfertigkeit drehte, dessen war der Preis. Es war ein unschuldiges Spiel, unschuldig, wie ein Zeitvertreib sein soll. Denn es änderte im wesentlichen nichts. Weder im Herzen der Menschen, noch sonstwo. Der Unglaube herrschte über uns, ein Unglaube, gegen den auch ein Hofprediger nichts einzuwenden gehabt hätte.

Wenn aber die Luft sehr schwül ist und es lang genug gewährt hat, ist da nicht das Gewitter nah? Und reinigt nicht das Gewitter die Luft, ob auch der Blitz herniederfährt?

Alt und lebenssatt, wie es in den Märchen heißt, sitz' ich jetzt hier. Eben geht irgendwo hinter dem Mälar die Sonne unter, funkelt auf dem Turm der Riddarholmskirche und der Deutschen Kirche, fließt unten vor meinen Fenstern wie Gold im Wasser und verschwindet im nächsten Augenblick; nur ein roter Schimmer, der Sturm für morgen kündet, bleibt zurück. Dann – wenn der Sturm kommt, treibt das Wasser aus den Schären herein, hebt die Eisblöcke, die den Strom hemmen, eilt der Flut von Westen her entgegen; die Wasser steigen hoch empor, und einst zerbricht die kämpfende Frühlingsflut den Winter mit Donnern und Tosen und nicht allzu reinlichem Zusammenrauschen von Wassermassen, die miteinander meerwärts stürzen. Dann ist hier Frühling, ein Frühling, der spät kommt dies Jahr, wie oft bei uns im Norden . . .

Ich aber weiß, ich gehöre nicht mehr zum Frühling, und eigentlich ist es mehr als ich verdiene, daß ich noch sein Nahen zu fühlen vermag. Ich gehöre zu der großen Schar von Männern, die sich selber verzehrt haben in fruchtloser Verzweiflung. Wie auch mein äußeres Leben sich gestaltet – ich bleibe doch immer der gleiche. Das weiß ich wohl, Tora. Das braucht mir kein anderer zu sagen. Die Verzweiflung hat mich heimatlos umhergetrieben und mich gezeichnet. Was ich jetzt sehe, das sah ich schon vor zwanzig Jahren, und vermochte doch nie in Willen umzusetzen, was mein Gedanke sah.

Komm heim zu mir, komm bald, und dann sage mir, ob Du glaubst, ich täusche mich. Dein italienischer Junge soll mir willkommen sein. Ich werde nach Kräften versuchen, ihn als guter alter Onkel zu verziehen. Und jedenfalls wünsche ich Dir, daß Du mit Deinem Jungen mehr Glück hast, als ich mit dem meinen.

Dein alter    
Oskar Steinert.

P. S. Beim Durchlesen des Briefes finde ich, daß ich ganz vergessen habe. Dir zu sagen, daß ich jetzt in der Südstadt wohne. Ich wollte gern möglichst weit fort sein und keine Bekannten mehr sehen. Und seit ich hier bin, habe ich gemerkt, daß ich auch noch aus anderen Gründen mich hier wohl fühle. Fast alle Menschen, denen ich begegne, sind Arbeitsmenschen, keine, die ausgehen, um ihre Kleider zu zeigen. Es tut mir wohl, sie um mich zu sehen, und wäre ich nicht so nahe der Grenze, von der ich vorhin sprach, so könnten am Ende die alten schriftstellerischen Träume aufs neue erwachen, trotzdem ich Jurist bin. Wie bin ich eigentlich dazu gekommen, Rechtsanwalt zu werden? Das ist für mich ein Rätsel – – wie schließlich überhaupt alles.

D. O.

 


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