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Die Schauspieler waren, wie man sich leicht denken kann, mit ihrem Besuch auf dem Schlosse Bruyères sehr zufrieden. Dergleichen Glücksfälle waren ihnen in ihrem Wanderleben nur selten beschieden.
Der Tyrann hatte die von dem Marquis empfangene Summe verteilt, und jedes Mitglied der Gesellschaft klimperte wonnetrunken mit einigen Pistolen auf dem Boden einer Tasche, die nur zu oft gewöhnt war, dem Teufel zur Herberge zu dienen. Zerbine, die von geheimnisvoller, verhaltener Freude strahlte, nahm die Sticheleien ihrer Genossen über die Macht ihrer Reize sehr gut gelaunt hin. Sie triumphierte, und Serafina glaubte vor Wut den Verstand zu verlieren. Leander, dem die empfangene nächtliche Bastonade noch in allen Gliedern lag, schien die allgemeine Heiterkeit nicht zu teilen, obschon er sich zu lächeln zwang. Seine Bewegungen waren sehr eigenartig, und die Stöße des Wagens nötigten ihm zuweilen bezeichnende Grimassen ab. Wenn er glaubte, man beobachte ihn nicht, rieb er sich mit der flachen Hand Schultern und Arme – ein verstohlenes Manöver, das wohl den übrigen Schauspielern, aber nur nicht Scapin entging, dem Leanders Dünkel ganz besonders unerträglich war.
Der Wagen rollte immer weiter, und es dauerte nicht lange, so kam man an das Kreuz eines Kreuzweges. Ein plumpes, von Sonne und Regen rissig gewordenes hölzernes Kreuz mit einem Christusbild stand auf einem kleinen Rasenhügel und bezeichnete die Stelle, an der vier Wege zusammenstießen.
Eine Gruppe von zwei Männern und drei Maultieren hatte an dem Kreuze haltgemacht und schien jemanden zu erwarten, der hier vorbeikommen sollte. Eines der Maultiere schüttelte ungeduldig seinen mit bunten Quasten und Klingeln behangenen Kopf. Obschon die mit Stickerei verzierten Scheuleder es hinderten, seine Blicke rechts und links zu werfen, so hatte es doch die Annäherung des Wagens gemerkt. Die Bewegungen seiner langen Ohren verrieten unruhige Neugier, und seine emporgezogenen Lippen ließen die Zähne sehen.
In der Tat langte jetzt der Wagen der Schauspieler am Kreuzwege an. Zerbine, die im Vorderteil des Wagens saß, warf einen raschen Blick auf die Gruppe der Tiere und Männer, deren Anwesenheit an diesem Orte sie nicht zu überraschen schien.
»Pardieu! das sind schöne Tiere,« sagte der Tyrann, »echte spanische Maultiere, die in einem Tage ihre fünfzehn bis zwanzig Meilen zurücklegen. Wenn wir so beritten wären, dann würden wir bald nach Paris kommen. Aber auf wen zum Teufel warten sie denn? Ohne Zweifel ist es ein für einen vornehmen Herrn bereit gehaltenes Relais.«
»Nein,« hob die komische Alte an, »die Stute ist mit Polstersattel und Decken versehen wie für eine Dame.«
»Dann«, sagte der Tyrann, »handelt es sich um eine Entführung, denn diese beiden Stallmeister in grauer Livree sehen sehr geheimnisvoll aus.«
»Wohl möglich«, antwortete Zerbine mit einem Lächeln von zweideutigem Ausdruck.
»Sollte die betreffende Dame sich in unserer Mitte befinden?« fragte der Scapin. »Einer der beiden Stallmeister kommt auf den Wagen zu, als ob er parlamentieren wollte, ehe er Gewalt gebraucht.«
»Oh, das wird gar nicht nötig sein«, setzte Serafina hinzu, indem sie auf die Soubrette einen verächtlichen Blick warf, den diese mit ruhiger Unverschämtheit aushielt. »Es gibt gutwillige Mädchen, die sich selbst dem Entführer in die Arme werfen.«
»Nicht jede wird entführt, die es wünscht«, entgegnete die Soubrette; »der Wille ist nicht genug, man muß auch Reize besitzen.«
Soweit war die Unterhaltung gekommen, als der Stallmeister den Fuhrmann bedeutete, die Pferde anzuhalten und mit dem Barette in der Hand ehrerbietig fragte, ob Mademoiselle Zerbine in dem Wagen sei. Zerbine steckte, lebhaft und rasch wie eine Natter, ihren kleinen braunen Kopf unter dem Leinwanddache des Wagens hervor und beantwortete die Frage selbst. Dann sprang sie aus dem Wagen auf die Erde.
»Mademoiselle, ich stehe zu Ihren Befehlen«, sagte der Stallmeister in galantem, ehrerbietigem Tone.
Die Soubrette schüttelte ihre Röcke, wandte sich dann zu den Schauspielern und hielt in aller Ruhe und Gelassenheit folgende kleine Anrede:
»Meine teuren Genossen! Verzeihet mir, wenn ich euch jetzt verlasse. Die Gelegenheit zwingt zuweilen den Menschen, sie zu ergreifen, indem sie ihren Schopf auf eine so bequeme Weise darbietet, daß es Torheit wäre, ihn nicht mit allen zehn Fingern festzuhalten, denn läßt man ihn einmal los, so kommt er nie wieder. Fortunas Antlitz, das sich mir bis jetzt nur mürrisch und unfreundlich gezeigt, lächelt mir jetzt anmutig. Ich mache von ihrer ohne Zweifel nur zu bald vorübergehenden Willfährigkeit Gebrauch. In meinem bescheidenen Stande konnte ich höchstens auf Mascarilles oder Scapins Anspruch erheben. Nur Lakaien machten mir den Hof, während die Herren sich um die Liebe von Lucinden, Leonoren und Isabellen bewarben. Jetzt hat sich ein Sterblicher von besserem Geschmacke gefunden, der glaubt, daß außerhalb des Theaters die Soubrette ebensoviel wert ist als die Herrin, und da das Rollenfach der Zerbine keine sehr grausame Tugend verlangt, so bin ich der Meinung gewesen, daß ich jenen galanten Mann, dem meine Abreise sehr unangenehm war, nicht zur Verzweiflung treiben darf. Laßt mich daher meine Koffer aus dem Wagen nehmen und empfangt mein herzliches Lebewohl. Früher oder später sehe ich euch jedenfalls in Paris wieder, denn ich bin Schauspielerin mit Leib und Seele und der Bühne niemals auf lange Zeit untreu geworden.«
Die Männer nahmen Zerbinens Koffer und befestigten sie im Gleichgewichte auf dem Packmaultiere. Mit Hilfe des Stallmeisters, der ihr den Fuß hielt, schwang sich dann die Soubrette so leicht, als ob sie das Voltigieren in einem Kunstreiter-Zirkus gelernt hätte, in den Sattel des andern Maultieres, stieß ihm die Ferse in die Flanke und ritt, ihren Kunstgenossen noch eine Kußhand zuwerfend, davon.
»Viel Glück auf den Weg, Zerbine!« riefen ihr die Schauspieler nach – mit Ausnahme der Serafina, die ihr dieses anscheinende Glück nicht verzeihen konnte.
»Dieser Verlust ist bedauerlich,« sagte der Tyrann, »und gern hätte ich diese ausgezeichnete Soubrette behalten; sie ist aber nun einmal von jeher nur ihren Launen gefolgt. Wir werden jetzt in den betreffenden Stücken die Rollen der Zofen in die der komischen Alten oder der Tugendhüterin neu umwandeln müssen, was freilich weniger angenehm sein wird, als ein kleines Spitzbubengesicht zu sehen. Indessen besitzt Frau Leonarda komisches Talent, und kennt dieses Fach durch und durch. Wir werden uns dennoch aus der Affäre ziehen.«
Der Wagen fuhr mit etwas rascherer Bewegung, als die des Ochsenkarrens gewesen war, weiter. Er passierte jetzt eine Gegend, deren Anblick von dem der Ebenen sehr verschieden war. Auf die weißen Sandflächen waren rötliche Bodenstrecken gefolgt. Steinerne Häuser, die einen gewissen Wohlstand verrieten, zeigten sich hier und da und waren von Gärten umgeben, deren Zäune aus wilden Hagedornhecken bestanden und in denen die Pflaumen reiften. Am Rande der Straße richteten schöne Bäume ihre kräftigen Stämme empor und streckten ihre starken Äste aus, deren vergilbtes Laub das Gras darunter bedeckte oder vom Luftzuge getrieben, vor Isabella und Sigognac hertanzte, die, der gezwungenen Haltung im Wagen müde, zur Abwechslung ein wenig zu Fuße gingen.
»Wie kommt es,« sagte Sigognac zu Isabella, »daß Sie, die Sie doch durch die Bescheidenheit Ihres Verhaltens und die gute Wahl Ihrer Worte und Ausdrücke ganz das Wesen einer jungen Dame von vornehmer Abstammung besitzen, sich auf diese Weise an herumziehende Schauspieler angeschlossen haben, die allerdings ganz wackere Leute sind, aber doch an Bildung und feinem Anstand mit Ihnen nicht auf einer und derselben Stufe stehen?«
»Sie dürfen«, entgegnete Isabella, »wegen der guten Manieren, die man vielleicht an mir bemerkt, nicht glauben, daß ich eine unglückliche Prinzessin oder eine von ihrem Throne gestürzte Königin sei, die sich in die elende Lage versetzt sieht, ihr Brot auf den Brettern zu verdienen. Meine Geschichte ist sehr einfach, und da Sie sich dafür zu interessieren scheinen, so will ich sie Ihnen erzählen. Weit entfernt, zu dem Beruf, dem ich mich gewidmet, durch Schicksalskatastrophen, unerhörtes Unglück oder romantische Abenteuer genötigt worden zu sein, bin ich vielmehr darin geboren und, wie man zu sagen pflegt, ein Kind der Liebe. Der Thespiskarren ist meine Geburtsstätte und mein wanderndes Vaterland. Meine Mutter, die die tragischen Prinzessinnen spielte, war eine sehr schöne Frau. Sie nahm ihre Rollen ernst und wollte selbst außer dem Theater von nichts sprechen hören als von Königinnen, Prinzen, Herzögen und andern Größen. Wenn sie von der Bühne in die Kulissen zurücktrat, schleppte sie den unechten Samt ihrer Gewänder so majestätisch, daß man hätte meinen sollen, es sei eine Woge von Purpur oder die Schleppe eines wirklichen Königsmantels. Mit diesem Stolze verschloß sie den Erklärungen, Bitten und Versprechungen jener Galane, die die Schauspielerinnen fortwährend umflattern wie Schmetterlinge das Licht, hartnäckig ihr Ohr. Diese stolze Sprödigkeit, die bei einer Schauspielerin, die man doch stets im Verdacht leichtfertiger Sitten hat, notwendig wundernehmen mußte, kam zur Kenntnis eines sehr hochgestellten, gewaltigen Prinzen. Er fand Gefallen daran und sagte sich, daß diese Verachtung des Gemeinen ihren Grund nur in einer erhabenen Seele haben könne. Da sein Rang in der Welt dem einer Theaterkönigin völlig gleichstand, so ward er freundlicher und mit weniger strengem Stirnrunzeln empfangen als andere. Er war jung, schön, sprach gut, wurde ungestüm und besaß den großen Vorzug, ein wirklich vornehmer Kavalier zu sein. Was brauche ich Ihnen weiter zu sagen? Diesmal rief die Königin nicht nach ihren Trabanten, und Sie sehen in mir die Frucht dieses Liebesverhältnisses.«
»Daraus«, entgegnete Sigognac galant, »erklärt sich ganz deutlich die unvergleichliche Anmut Ihres Wesens. Fürstliches Blut rinnt in Ihren Adern. Ich habe es geahnt.«
»Dieses Verhältnis«, erzählte Isabella weiter, »dauerte länger, als dergleichen Theaterliebschaften in der Regel zu dauern pflegen. Der Prinz fand bei meiner Mutter eine Treue, die ihren Grund nicht bloß in Stolz, sondern auch in wahrer Liebe hatte und sich niemals verleugnete. Unglücklicherweise kamen politische Angelegenheiten dazwischen, und der Prinz mußte in den Krieg oder auf Gesandtschaftsreisen in ferne Länder. Ein glänzendes Heiratsprojekt, das er solange als möglich hinausschob, wurde von seiner Familie in seinem Namen betrieben. Endlich mußte er sich fügen. Meiner Mutter bot man bedeutende Summen, um ihr diesen notwendig gewordenen Bruch weniger schmerzlich zu machen, um sie vor Not zu schützen und um ihr die Mittel zu meiner Erziehung zu geben. Sie wollte jedoch nichts davon hören. Sie sagte, ohne das Herz könne sie auch die Börse nicht annehmen, und sie wolle lieber, daß der Prinz ihr etwas schuldig sei, als sie ihm, denn sie habe ihm etwas geschenkt, was er ihr niemals zurückgeben könne. »Nichts vorher, nichts nachher«, dies war ihr Wahlspruch. Sie setzte deshalb ihr Handwerk als tragische Prinzessin fort, aber mit dem Tod im Herzen, und schleppte sich von nun an bloß ihrem Ende entgegen, das nicht lange auf sich warten ließ. Ich war damals ein kleines Mädchen von sieben oder acht Jahren. Ich spielte die Kinder, die Liebesgötter und andere kleine Rollen, die meinem Alter und meinem Verständnis angemessen waren. Der Tod meiner Mutter bekümmerte mich auf eine Weise, die man bei meinem jugendlichen Alter nicht vorausgesehen hätte. Ich erinnere mich, daß man mich an diesem Tage durch Schläge zwingen mußte, eines der Kinder der Medea zu spielen. Allmählich wurde mein Schmerz durch die Schmeicheleien und das Zureden der Schauspieler und Schauspielerinnen beschwichtigt, die sich überaus freundlich gegen mich zeigten und mir fortwährend diese oder jene Näscherei in mein Körbchen steckten. Der Pedant, der unserer Truppe angehörte und mir damals schon ebenso alt und runzlig vorkam wie gegenwärtig, interessierte sich für mich, unterrichtete mich in der Deklamation und dem Versmaß, in dem Gebärdenspiel, mit einem Worte in allen Geheimnissen einer Kunst, in der er, obschon herumziehender Schauspieler, Meister ist, denn er ist ein studierter Mann und war früher Professor an einer lateinischen Schule, bis er als unverbesserlicher Trunkenbold seines Amtes entsetzt wurde. Mitten unter der anscheinenden Unordnung einer herumziehenden Lebensweise habe ich doch ohne Anfechtung gelebt, denn für meine Kollegen, die mich schon in der Wiege gekannt, war ich eine Schwester oder eine Tochter, und gegen lüsterne Galane wußte ich sehr bald eine kalte, zurückhaltende Miene anzunehmen und sie in gemessener Entfernung zu halten, so daß ich auch außer der Bühne meine Rolle als Naive ohne Heuchelei fortgespielt habe.«
So erzählte Isabella während des Gehens dem entzückten Sigognac die Geschichte ihres Lebens und ihrer Abenteuer.
»Und wie hieß jener vornehme Mann?« fragte er. »Wissen Sie seinen Namen, oder haben Sie ihn vergessen?«
»Es wäre vielleicht für meine Ruhe gefährlich, wenn ich ihn nennen wollte,« antwortete Isabella, »aber er steht fest in meiner Erinnerung eingegraben.«
»Ist vielleicht noch ein Beweis seines Verhältnisses zu Ihrer Mutter vorhanden?« fragte der Baron.
»Ich besitze ein Petschaft mit seinem Wappen«, antwortete Isabella. »Es ist dies das einzige Kleinod, das meine Mutter wegen seiner heraldischen Bedeutung aufbewahrt hatte, und wenn es Ihnen Vergnügen macht, so will ich es Ihnen später einmal zeigen.«
Die Reise ging in nur kleinen Tagemärschen weiter. Ohne nennenswerte Abenteuer gelangte man in die Umgegend von Poitiers.
Die Einnahmen waren nicht sehr ergiebig gewesen, und es traten harte Zeiten für die Truppe ein. Das auf Schloß Bruyères verdiente Geld war erschöpft, ebenso wie das des jungen Barons, dessen Zartgefühl ihn trieb, seine Leidensgefährten, soviel in seinen schwachen Kräften stand, zu unterstützen. Der Wagen, der anfänglich von vier kräftigen Pferden gezogen worden, hatte nur noch eines, und was für eins! Eine elende Schindmähre, die anstatt mit Heu und Hafer mit Faßreifen gefüttert worden zu sein schien, so standen ihr die Rippen hervor. Ihre Beckenknochen drangen fast durch die Haut, und die schlaffen Muskeln ihrer Schenkel bildeten herabhängende schlotternde Falten. Es begann kalt zu werden. Das Pferd schleppte sich und den Wagen mühsam durch den Dampf, den seine Flanken und Nüstern ausströmten. In dem Wagen saßen bloß die drei Frauen. Die Männer gingen zu Fuße, um dem elenden Tier, dem sie ganz bequem zu folgen vermochten, die Last zu erleichtern. Alle waren mit unangenehmen Gedanken beschäftigt, deshalb schwiegen sie und gingen vereinzelt nebeneinander her, indem sie sich, so gut es ging, in ihre kurzen Mäntel wickelten.
Die Gegend, die man passierte, war freilich auch nicht geeignet, schwermütige Gedanken zu bannen. Im Vordergrund krümmten sich die Skelette einiger alter Ulmen. Ihre schwarzen Äste zeichneten sich gegen den gelbgrauen, voll Schnee hängenden Himmel ab, der das Tageslicht nur unvollkommen durchdringen ließ. Die auf der Erde herumhüpfenden Elstern mit ihren fächerförmigen Schwänzen schienen die eigentlichen Bewohner der Gegend zu sein. Beim Anblick des Wagens begannen sie miteinander zu plaudern, als ob sie sich ihre Betrachtungen über die Schauspieler mitteilten, und tanzten vor ihnen herum, ohne mit ihrem Elend auch nur das mindeste Mitleid zu empfinden. Ein scharfer Wind ging, der die dünnen kurzen Mäntel der Schauspieler ihnen so dicht auf den Leib trieb, daß man alle Umrisse desselben sehen konnte, und schlug sie zugleich mit seinen roten Fingern ins Gesicht. Es dauerte nicht lange, so mischten sich auch Schneeflocken mit ins Spiel, die auf und ab wirbelten und sich kreuzten, ohne den Boden zu berühren, oder irgendwo hängen bleiben zu können; so stark war der Wind. Diese Schneeflocken wurden so dicht, daß sie einige Schritte weit vor den geblendeten Fußgängern eine weiße Finsternis bildeten. Durch dieses flimmernde Gewirbel hindurch verloren selbst die nächsten Gegenstände ihr wirkliches Aussehen und waren nicht mehr zu unterscheiden.
»Es scheint,« sagte der Pedant, der, um sich ein wenig zu schützen, hinter dem Wagen herging, »die Köchin da oben im Himmel rupft die Gänse und schüttet auf uns die Federn aus ihrer Schürze. Das Fleisch der Gänse wäre mir lieber. Ich wäre imstande, es ohne Zitronen und Gewürz zu verzehren.«
»Sogar ohne Salz«, entgegnete der Tyrann.
Sigognac hatte sich ebenfalls hinter den Wagen geflüchtet, und der Pedant sagte zu ihm:
»Das ist ein fürchterliches Wetter, Herr Baron, und ich bedaure, daß Sie unser armseliges Los geteilt haben. Es sind dies aber nur kurze Übergänge, und obschon wir nicht schnell vorwärtskommen, so nähern wir uns doch Paris immer mehr.«
»Ich bin nicht im Schoße der Verweichlichung herangewachsen,« antwortete Sigognac, »und ich bin nicht der Mann, der sich durch einige Schneeflocken erschrecken läßt. Ich beklage bloß diese armen Frauen, die trotz der Schwäche ihres Geschlechtes genötigt sind, Anstrengungen und Entbehrungen zu ertragen wie alte Soldaten.«
»Oh, die sind längst daran gewöhnt, und was Frauen von vornehmem Stande oder auch nur Bürgersweibern schwer zu tragen wäre, kommt ihnen nicht sonderlich sauer an.«
Der Sturm wurde immer stärker. Von dem Winde getrieben, jagte der Schnee in weißen Wolken an der Erde hin und blieb nicht eher liegen, als bis er durch eine Steinmauer, einen Heckenzaun, eine Böschung oder sonst ein Hindernis festgehalten wurde. Dort türmte er sich mit ungeheuerer Schnelligkeit empor, bis er auf der anderen Seite des zeitweiligen Dammes hinabstürzte. Zuweilen bildete er einen förmlichen Strudel und stieg wirbelnd wie eine Wasserhose zum Himmel auf, um in Massen, die der Sturm sofort zerstreute, wieder herabzufallen. Es bedurfte nur weniger Minuten, um Isabella, Serafina und Leonarda, obschon sie sich in den Hintergrund des Wagens unter das Leinwanddach hinter eine Barrikade von Koffern und Kisten geflüchtet hatten, vollständig weiß zu pudern.
Gegen Schnee und Wind kämpfend, vermochte das Pferd nur mit Mühe weiterzugehen. Es keuchte, seine Flanken arbeiteten, und seine Hufe rutschten bei jedem Tritte aus. Der Tyrann faßte es am Zügel, ging neben ihm her und unterstützte es ein wenig durch seine kräftige Hand. Der Pedant, Sigognac und Scapin schoben am Rade, und Leander knallte mit der Peitsche, um das arme Tier anzutreiben, es zu schlagen, wäre nutzlose Grausamkeit gewesen. Matamor war ein wenig zurückgeblieben, denn er war infolge seiner einzigartigen Magerkeit so leicht, daß der Wind es ihm fast unmöglich machte, vorwärts zu kommen, obschon er, um sich schwerer zu machen, in jede Hand einen Stein genommen und sich die Taschen mit Kieseln gefüllt hatte.
Dieser Schneesturm wurde, anstatt sich zu legen, immer toller und endlich so heftig, daß die Schauspieler, obschon sie nichts sehnlicher wünschten, als das nächste Dorf zu erreichen, sich genötigt sahen, den Wagen anzuhalten und ihn gegen den Wind zu drehen. Der arme Gaul konnte nicht mehr weiter, seine Beine wurden immer steifer, und dabei wurde seine dampfende, von Schweiß gebadete Haut von fortwährendem Frostschauer geschüttelt. Hätte man ihn zu noch weiteren Anstrengungen gezwungen, wäre er tot niedergestürzt. Schon perlte ein Blutstropfen in seine durch den Druck auf die Brust weit aufgeblähten Nüstern, und ein glasiger Schimmer umflorte den Augapfel.
Das Furchtbare der Finsternis ist nicht schwer zu begreifen. Im Dunkel wohnt alles, was schrecklich ist, der weiße Schrecken dagegen ist weniger begreiflich. Dennoch kann man sich kaum etwas Gräßlicheres denken als die Lage unserer Schauspieler, bleich vor Hunger, blau vor Kälte, vom Schnee geblendet, verirrt auf offener Landstraße mitten in diesem schwindelnden Strudel von Eiskörnern, die von allen Seiten auf sie herabhagelten. Alle hatten sich unter das Leinwanddach des Wagens verkrochen, um den Sturm vorübergehen zu lassen, und drängten sich einer an den andern, um sich gegenseitig zu wärmen. Endlich legte sich der Orkan, und der in der Luft schwebende Schnee konnte ruhiger auf den Boden herabfallen. Soweit das Auge reichte, verschwand das Gefilde unter einem mit Silberflimmern besäten Leichentuche.
»Wo ist denn der Matamor?« fragte Blasius. »Sollte ihn etwa der Wind auf den Mond entführt haben?«
»In der Tat,« setzte der Tyrann hinzu, »ich sehe ihn auch nicht. Vielleicht hat er sich auf dem Boden des Wagens hinter eine Dekoration verkrochen. Heda, Matamor, schüttle deine Ohren, wenn du schläfst, und antworte, wenn man dich ruft!«
Matamor aber gab keinen Laut von sich, und keine Gestalt bewegte sich unter dem Haufen alter Leinwand.
»Heda, Matamor!« brüllte der Tyrann mit seiner tiefsten tragischen Stimme und so gewaltig, daß die Siebenschläfer mit ihrem Hunde in der Höhle davon hätten erwachen müssen.
»Wir haben ihn nicht gesehen,« sagten die Schauspielerinnen, »und da die Schneewirbel uns blendeten, so waren wir nicht durch seine Abwesenheit beunruhigt. Wir glaubten, er folge einige Schritte hinter dem Wagen drein.«
»Zum Teufel,« sagte Blasius, »das ist aber sonderbar! Es wird ihm doch kein Unfall zugestoßen sein!«
»Jedenfalls«, meinte Sigognac, »hat er, während der Sturm am heftigsten tobte, hinter einem Baumstamme Schutz gesucht, und wird uns nun wohl bald einholen.«
Man beschloß, einige Minuten zu warten, und dann den Verschwundenen zu suchen. Es war aber nichts auf der Straße zu erblicken, und auf diesem weißen Hintergrunde hätte sich trotz der einbrechenden Dämmerung eine menschliche Gestalt selbst in ziemlich großer Entfernung leicht wahrnehmen lassen. Die Nacht, die in den kurzen Dezembertagen so rasch kommt, war da, aber ohne vollständige Finsternis herbeizuführen. Der Widerschein des Schnees milderte das Dunkel des Himmels, und in seltsam verkehrter Weise sah es aus, als ginge der Lichtschein von der Erde aus. Der Horizont zeichnete sich in weißen Linien ab und verlor sich erst in weiter Ferne. Die wie mit Mehl bestreuten Bäume sahen aus wie jene Pflanzengebilde, mit denen der Frost die Fensterscheiben bedeckt, und von Zeit zu Zeit sanken von einem Aste herab wehende Schneeflocken auf die dunkle Schattendecke wie silberner Besatz auf Sargdecken. Es war ein trauriges Schauspiel. Ein Hund begann in der Ferne zu heulen, wie um der Verödung der Landschaft eine Stimme zu leihen. Es scheint in der Tat zuweilen, als ob die Natur, ihres Stummseins überdrüssig, ihre geheimen Schmerzen den Klagen des Windes oder dem Gewinsel eines Tieres anvertraute.
Das anfangs ferne Gebell hatte sich genähert, und endlich sah man mitten in der Ebene, auf dem Schnee sitzend, einen großen schwarzen Hund, der die Schnauze zum Himmel gerichtet, ein klägliches Geheul und Gewinsel ausstieß.
»Es muß unserem armen Kameraden etwas zugestoßen sein«, rief der Tyrann. »Dieses verwünschte Tier heult wie um einen Toten.«
Die Damen machten, von bangen Ahnungen ergriffen, fromm das Zeichen des Kreuzes, und die gute Isabella murmelte den Anfang eines Gebetes.
»Wir müssen ihn unverweilt suchen«, sagte Blasius. »Wir müssen die Laterne anzünden, deren Licht ihm als Führer und Leitstern dienen wird, wenn er, wie ich vermute, von dem rechten Wege abgeirrt ist und jetzt querfeldein läuft, was bei einem solchen Schneewetter, wo alles einerlei aussieht, sehr leicht geschehen kann.«
Man schlug Licht an, und das im Bauche der Laterne angezündete Stümpfchen warf bald durch die dünnen Hornscheiben einen Schein, der lebhaft genug war, um von weitem bemerkt zu werden.
Der Tyrann, Blasius und Sigognac machten sich auf, um zu suchen. Scapin und Leander blieben zurück, um den Wagen zu bewachen und die Frauen zu beruhigen, die das Abenteuer allmählich zu beunruhigen begann. Um die Szene noch schauerlicher zu machen, heulte der schwarze Hund immer noch fort, und der Wind rollte mit dumpfem Dröhnen über das Gefilde mit seinem luftigen Wagen, als ob er wandernde Geister mit sich führte.
Der Orkan hatte den Schnee so hin und her gepeitscht, daß jede Spur verwischt oder doch wenigstens unsicher geworden war. Übrigens machte die Nacht das Suchen sehr schwierig, und wenn Blasius die Laterne dem Erdboden näherte, so fand er in dem weißen Staube wohl den großen Fuß des Tyrannen abgedrückt, aber nicht die Spur des Matamor, der, wenn er hier gewesen wäre, höchstens die einer Vogelkralle zurückgelassen hätte.
So legten die drei beinahe eine Viertelmeile zurück, hoben von Zeit zu Zeit die Laterne, um das Auge des verirrten Komödianten darauf zu ziehen, und schrien mit der ganzen Kraft ihrer Lungen: »Matamor! Matamor! Matamor!«
Auf diesen Ruf antwortete nur das Schweigen, oder ein scheuer Vogel flatterte krächzend davon, um sich tiefer in die Nacht zu verlieren. Zuweilen begann auch eine von dem Licht geblendete Ohreule kläglich zu miauen. Endlich glaubte Sigognac, der ein sehr scharfes Auge besaß, durch das Dunkel hindurch am Fuße eines Baumes eine seltsam steife, unbewegliche, phantastische Gestalt zu erkennen. Er machte seine Begleiter darauf aufmerksam, und sie lenkten sofort mit ihm ihre Schritte eiligst nach dieser Richtung.
Es war in der Tat der arme Matamor. Sein Rücken lehnte an dem Baum, und seine langen auf dem Boden ausgestreckten Beine verschwanden halb unter dem aufgetürmten Schnee. Sein riesig langes Rapier, das er niemals ablegte, bildete zu dem obern Teil seines Körpers einen seltsamen Winkel, der unter andern Umständen lächerlich gewesen wäre. Er bewegte sich beim Nahen seiner Kameraden sowenig wie eine Baumwurzel. Dadurch beunruhigt, ließ Blasius den Strahl seiner Laterne auf das Gesicht des Matamor fallen und hätte sie beinahe fallen gelassen, so entsetzlich war der Anblick, der sich ihm darbot.
Das also beleuchtete Gesicht besaß von der Farbe des Lebens nichts mehr. Es war weiß wie Wachs. Die von den knotigen Fingern des Todes zusammengedrückte Nase glänzte wie ein Fischknochen. Die Haut war über die Schläfe straff angespannt. Schneeflocken hingen in den Augenbrauen und Wimpern, und die großen erweiterten Augen sahen aus wie Glaskugeln. An jeder Spitze des Schnurrbartes funkelte ein Eiszapfen, dessen Gewicht das Haar niederzog. Das Siegel ewigen Schweigens verschloß die Lippen, die so viele lustige Rodomontaden entsendet hatten, und der durch die Magerkeit gemeißelte Totenkopf zeigte sich schon durch dieses bleiche Gesicht hindurch, in das die Gewohnheit des Grimassierens furchtbar komische Falten geschnitten hatte, die selbst der Kadaver noch bewahrte; denn es ist eines der Leiden des Komödianten, daß bei ihm selbst der Tod nicht seinen Ernst bewahren kann.
Der Tyrann, der noch einige Hoffnung hegte, versuchte die Hand des Matamor zu schütteln, der schon steife Arm fiel aber herab wie der hölzerne Arm einer Marionette, wenn man den Faden losläßt. Der arme Teufel hatte den Schauplatz des Lebens mit dem des Jenseits vertauscht. Der Tyrann wollte indessen immer noch nicht glauben, daß der Matamor tot sei, und fragte Blasius, ob er seine Korkflasche bei sich habe. Der Pedant trennte sich von diesem kostbaren Möbel niemals. Es waren noch einige Tropfen Wein darin, und er setzte die Mündung zwischen die violetten Lippen des Matamor. Seine Zähne blieben aber hartnäckig geschlossen, und die stärkende geistige Flüssigkeit quoll in roten Tropfen wieder zu den Mundwinkeln heraus. Der Lebenshauch hatte auf immer dieses gebrechliche Gefäß verlassen, denn der schwächste Atemzug würde in dieser kalten Luft einen sichtbaren Dampf erzeugt haben.
»Quält seine arme Hülle nicht«, sagte Sigognac. »Seht ihr nicht, daß er tot ist?«
»Leider ja,« antwortete Blasius, »er ist so tot wie Cheops unter der großen Pyramide. Ohne Zweifel hat er sich, durch das Schneegestöber erschöpft, und weil er nicht gegen die Wut des Sturmes ankämpfen konnte, an diesem Baume niedergesetzt, und da er nicht zwei Lot Fleisch auf den Knochen hatte, so ist ihm das Mark sehr bald gefroren. Um in Paris Eindruck zu machen, hat er sich täglich auf schmälere Kost gesetzt und war durch das Fasten magerer geworden als ein Windhund nach der Jagd. Armer Matamor, nun bist du auf immer geschützt gegen die Nasenstüber, Fußtritte und Stockschläge, die du deinen Rollen gemäß geduldig hinnehmen mußtest! Niemand wird dir künftig noch ins Gesicht lachen.«
»Was sollen wir aber mit ihm machen?« fragte der Tyrann. »Wir können ihn doch nicht hier am Rande dieses Grabens liegen lassen, damit Wölfe, Hunde und Vögel ihn zerreißen, obschon er eine armselige Beute ist, die kaum den Würmern zum Frühstück dienen würde.«
»Nein, das dürfen wir nicht«, sagte Blasius. »Er war ein guter und redlicher Kamerad, und da er nicht sehr schwer ist, so wirst du ihn beim Kopfe, und ich werde ihn bei den Füßen nehmen, um ihn bis an den Wagen zu tragen. Morgen, sobald es Tag ist, begraben wir ihn auf möglichst anständige Art, denn die Kirche verweigert uns Schauspielern die Gunst, in geweihter Erde des Kirchhofes zu ruhen. Wir müssen, nachdem wir unser Leben lang den Leuten die Zeit vertrieben haben, auf dem Schindanger verfaulen wie krepierte Hunde oder gestürzte Pferde. Sie, Herr Baron, werden uns voranschreiten und die Laterne tragen.«
Sigognac erklärte sich durch Kopfnicken mit dieser Anordnung einverstanden. Die beiden Schauspieler bückten sich, strichen den Schnee, der schon wie ein vorzeitiges Leichentuch den Matamor bedeckte, hinweg, hoben den leichten Körper, der weniger wog als der eines Kindes, auf und folgten dem Baron, der ihnen mit seiner Laterne voranleuchtete.
Glücklicherweise passierte zu dieser Stunde niemand weiter diesen Weg, denn diese unheimliche, von dem rötlichen Schein der Laterne beleuchtete Gruppe, die lange, mißgestaltete Schatten auf den weißen Schnee hinter sich warf, wäre für den Wanderer ein Entsetzen und Grauen erregendes Schauspiel gewesen, und hätte ihn ohne Zweifel sofort auf den Gedanken gebracht, daß es sich hier um ein Verbrechen oder um Zauberei handle.
Der schwarze Hund hatte, als ob seine Verkünderrolle beendet wäre, aufgehört zu heulen. Ein kirchhofähnliches Schweigen herrschte weit und breit.
Scapin, Leander und die übrigen Schauspieler hatten gesehen, wie das kleine rote Licht sich an Sigognacs Hand schaukelte und die in dessen Nähe befindlichen Gegenstände bald sichtbar machte, bald wieder in der Finsternis verschwinden ließ. Durch diesen unsichern Schein bald sichtbar, bald unsichtbar gemacht, gewann die Gruppe des Tyrannen und des Pedanten ein rätselhaft unheimliches Ansehen. Scapin und Leander gingen daher, von Unruhe und Neugier bewogen, dem Zuge entgegen.
»Nun, was gibt's?« sagte Scapin, als er seine Kameraden erreichte. »Ist der Matamor krank, daß ihr ihn tragt, als ob er sein Rapier verschluckt hätte?«
»Krank ist er nicht,« antwortete Blasius, »sondern er erfreut sich im Gegenteil nun einer unerschütterlichen Gesundheit. Gicht, Fieber, Katarrh oder wie die Krankheiten sonst heißen mögen, haben keine Gewalt mehr über ihn. Er ist auf immer von einem Übel geheilt, gegen das noch kein Arzt ein Mittel gefunden – ich meine vom Leben, das nie anders als mit dem Tode endet.«
»Er ist also tot!« rief Scapin im Tone schmerzlicher Überraschung, indem er sich auf das Gesicht der Leiche herabneigte.
»Ja, sehr tot, so tot, wie der Mensch nur sein kann, wenn es nämlich Abstufungen in diesem Zustande gibt, denn zu der natürlichen Kälte des Todes gesellt er die Kälte des Frostes«, antwortete Blasius in einem unsicheren Tone, der mehr Gemütsbewegung verriet, als seine Worte eigentlich zu erkennen gaben.
»Er hat gelebt! wie der Vertraute des Fürsten im letzten Monologe eines Trauerspiels zu sagen pflegt«, setzte der Tyrann hinzu. »Löst uns aber ein wenig ab, wenn ich bitten darf. Jetzt seid ihr an der Reihe. Wir tragen den guten Kameraden schon lange ohne Hoffnung auf Lohn oder Trinkgeld.« Scapin trat an die Stelle des Tyrannen, Leander an die des Pedanten, obschon diese Verrichtung durchaus nicht nach ihrem Geschmacke war, und dann setzte der Zug sich wieder in Bewegung. Binnen wenigen Minuten hatte man den mitten auf der Straße stehenden Wagen wieder erreicht.
Isabella und Serafina waren trotz der Kälte aus dem Wagen gestiegen, aus dem nur noch die darin zusammengekauerte komische Alte mit ihren großen runden Uhuaugen herausschaute. Beim Anblick des blassen, steifen Matamor, dessen Gesicht nur jene unbewegliche Maske trug, durch die die Seele nicht mehr hindurchblickt, stießen die Schauspielerinnen einen Schrei des Entsetzens und des Schmerzes aus.
Was sollte man nun beginnen? Die Situation war ziemlich kritisch. Das Dorf, in dem man übernachten wollte, war noch eine oder zwei Stunden entfernt, und wenn man es erreichte, waren alle Häuser sicherlich schon längst geschlossen und die Bewohner zu Bett. Andererseits aber konnte man auch nicht mitten auf dem Wege im tiefen Schnee ohne Holz, um Feuer anzuzünden, ohne Lebensmittel, um sich zu stärken, in der unheimlichen Gesellschaft eines Leichnams liegen bleiben und den Tag erwarten, der zu dieser Jahreszeit erst sehr spät beginnt.
Man beschloß daher wieder aufzubrechen. Eine Stunde Ruhe und eine Metze Hafer, die Scapin dem alten Gaule gespendet, hatte diesem wieder ein wenig frische Kraft gegeben, so daß er wohl imstande schien, den noch übrigen Weg zurückzulegen. Der Matamor wurde in den hintersten Raum des Wagens gelegt und mit einer Kulisse zugedeckt. Die Schauspielerinnen setzten sich nicht ohne einen gewissen Schauer des Grauens in den vorderen Raum des Wagens, denn der Tod macht aus dem Freunde, mit dem man soeben noch traulich plauderte, ein Gespenst.
Die Männer gingen zu Fuß. Scapin leuchtete mit der Laterne, in die man ein frisches Talglicht gesteckt, und der Tyrann führte das Pferd am Zügel, damit es nicht stolpere. Man kam nicht schnell vorwärts, denn der Weg war schlecht, dennoch aber begann man nach Verlauf von zwei Stunden am Fuße einer ziemlich steilen Anhöhe die ersten Häuser des Dorfes zu unterscheiden.
Der Schnee hatte den Dächern weiße Hemden angezogen, so daß sie sich trotz der Nacht deutlich gegen den düstern Hintergrund des Himmels abhoben. Als die Hunde das Eisenwerk des Wagens klirren hörten, schlugen sie an, und ihr Gebell erweckte andere in den weiterhin vereinzelt liegenden Meierhöfen. Als der Wagen das Dorf erreichte, war es daher so ziemlich wach. Mehrere mit ihren Nachtmützen bedeckte Köpfe zeigten sich hier und da an den Fenstern oder an den halbgeöffneten Türen, was dem Pedanten gestattete, die notwendigen Erkundigungen wegen eines Nachtlagers einzuziehen. Man bezeichnete ihm den Gasthof oder wenigstens ein Haus, das dessen Stelle vertrat, denn der Ort war nur selten von Reisenden besucht, die gewöhnlich nicht hier übernachteten. Dieses Gasthaus befand sich am andern Ende des Dorfes, und der arme Gaul mußte noch seine letzten Kräfte anstrengen. Er witterte jedoch den Stall und marschierte so flink, daß seine Hufe durch den Schnee hindurch Funken aus den Kieseln schlugen. Man konnte sich übrigens nicht irren. Ein grüner Busch hing über der Tür, und Scapin überzeugte sich, die Laterne emporhebend, von dem Vorhandensein dieses einladenden Symbols.
Der Tyrann trommelte mit seinen dicken Fäusten an der Tür, und es dauerte nicht lange, so ließ sich von innen das Klappern von Holzpantoffeln hören, die eine Treppe herunterkamen. Ein Strahl rötlichen Lichtes drang durch die Ritzen des Holzes. Die Tür öffnete sich, und eine alte Frau, die mit ihrer hagern Hand die flackernde Flamme eines Talglichtes schützte, zeigte sich in dem ganzen Schrecken eines durchaus nicht eleganten Nachtkleides. Da ihre beiden Hände anderweit beschäftigt waren, so hielt sie den Rand ihres Hemdes von grober Leinwand zwischen den Zähnen oder vielmehr zwischen dem Zahnfleisch, wahrscheinlich in der keuschen Absicht, Reize, vor denen die Böcke des Blocksberges entsetzt die Flucht ergriffen hätten, den lüsternen Blicken der nächtlichen Gäste zu entziehen. Sie führte die Schauspieler in die Küche, setzte das Licht auf den Tisch und schürte die Asche des Herdes, um die darin schlummernden Funken zu wecken, mit deren Hilfe bald eine Handvoll Reiser knisternd emporloderte. Dann ging sie wieder in ihr Zimmer hinauf, um einen Rock und eine Jacke anzuziehen. Ein großer dicker Bengel, der sich mit seinen schmierigen Händen die Augen rieb, öffnete das Hoftor, ließ den Wagen hereinfahren, spannte das Pferd ab und führte es in den Stall.
»Wir können aber doch den armen Matamor nicht im Wagen liegen lassen wie einen erlegten Damhirsch«, sagte Blasius. »Wie leicht wäre es möglich, daß die Hofhunde sich über ihn hermachen. Er hat die heilige Taufe empfangen, und deshalb muß er seine Totenwache bekommen wie ein guter Christ, der er auch wirklich war.«
Man holte die Leiche des Komödianten, legte sie auf den Tisch und bedeckte sie ehrerbietig mit einem Mantel. Unter dem dünnen Stoffe traten die hagern Formen und das spitzige Profil des Gesichtes vielleicht abschreckender hervor, als wenn man die Leiche unverhüllt gelassen hätte.
Als die Wirtin wieder eintrat, prallte sie entsetzt bei dem Anblicke dieses Toten zurück, den sie für einen Ermordeten hielt, während sie natürlich zugleich in den Schauspielern die Mörder zu sehen glaubte. Ihre alten zitternden Hände ausstreckend, bat sie den Tyrannen, den sie für den Anführer der Bande hielt, sie nicht auch zu ermorden, wogegen sie ihm unverbrüchliches Schweigen versprach, selbst wenn sie deswegen auf die Folter gespannt werden sollte. Isabella beruhigte sie und teilte ihr das Geschehene in wenigen Worten mit. Nun holte die Alte sofort noch zwei Lichter, und setzte sie zu beiden Seiten des Toten, indem sie sich zugleich erbot, mit Dame Leonarda zu wachen, denn sie hatte diesen traurigen Dienst in ihrem Dorfe schon oft verrichtet, und wußte, was es dabei zu tun gab.
Nachdem diese Anordnungen getroffen waren, zogen sich die Komödianten in ein anderes Zimmer zurück, wo sie, erschüttert durch den Verlust des wackern Matamor, nur eine sehr unbedeutende Abendmahlzeit zu sich nahmen.
Isabella und Serafina legten sich auf eine Matratze in dem Nebengemache. Die Männer streckten sich auf die Strohbündel, die der Stallbursche für sie hereinbrachte. Alle schliefen schlecht, und ihr Schlaf war fortwährend von bösen Träumen unterbrochen. Deshalb waren sie frühzeitig wieder auf den Beinen, denn es galt auch zum Begräbnis des Matamor zu schreiten.
In Ermangelung eines Tuches hatten Leonarda und die Wirtin den Toten in ein Stück von einer alten Dekoration, die einen Wald vorstellte, gewickelt. Es war dies das eines Schauspielers würdige Leichentuch, gleich dem Kriegsmantel für einen Feldherrn. Ein auf zwei Stangen gelegtes Brett, das von dem Tyrannen, Blasius, Scapin und Leander getragen wurde, bildete die Bahre. Ein weites schwarzsamtenes, mit Sternen und Halbmonden von Flimmergold besetztes Gewand, das für die Rollen des Oberpriesters oder des Zauberers bestimmt war, vertrat in ziemlich anständiger Weise die Stelle des Bahrtuches. Der Zug bewegte sich durch eine ins Freie hinausführende Hintertür, um den Blicken und Bemerkungen der Neugierigen auszuweichen und um einen herrenlosen Platz zu gewinnen, der, wie die Witwe erklärte, dem Matamor zur Begräbnisstätte dienen konnte, ohne daß jemand etwas dagegen einwenden würde. Man pflegte hierher die an einer Krankheit verendeten Tiere zu werfen, und der Ort war deshalb kaum würdig, eine nach dem Ebenbilde Gottes geformte menschliche Hülle aufzunehmen. Die Gesetze der Kirche lauteten aber einmal fest und bestimmt, und der exkommunizierte Komödiant konnte nicht in geweihtem Boden ruhen, er mußte denn dem Theater, seinen Werken und seinem Pompe entsagt haben, was bei dem Matamor nicht der Fall war.
Der Morgen mit seinen grauen Augen begann zu erwachen, und der Leichenzug ging im Schnee den Abhang der Anhöhe hinunter. Ein kalter Schein lag über der Ebene und stach gegen die bleiche Färbung des Himmels ab. Verwundert durch den seltsamen Anblick des Zuges, dem weder Kreuz noch Priester voranschritt, und der die Richtung nicht nach dem Kirchhofe nahm, blieben einige Bauern, die dürres Holz aufzulesen gingen, stehen und betrachteten die Schauspieler, in denen sie Ketzer, Zauberer oder Hugenotten vermuteten, mit mißtrauischen Blicken, wagten aber nicht, etwas zu sagen. Endlich gelangte man an einen ziemlich freien Platz, und der Stallknecht, der Spaten und Spitzhacke trug, um das Grab zu graben, sagte, man täte gut, hier haltzumachen.
Die Schauspieler setzten die Leiche auf die Erde nieder, und der Knecht begann rüstig den Boden aufzuhacken, indem er die schwarzen Schollen zwischen den Schnee warf. Es war ein ergreifendes Schauspiel, denn den Lebenden scheint es, als müßten die armen Verstorbenen, obschon diese nichts mehr fühlen, unter diesem Frost in ihrer ersten Grabesnacht um so mehr Kälte leiden.
Der Tyrann löste den Knecht ab, und das Grab wurde immer tiefer. Schon war der schwarze Rachen weit genug, um den schmalen Leichnam mit einem einzigen Bissen zu verschlingen, als die mittlerweile in größerer Anzahl herbeigekommenen Bauerlümmel anfingen »Ketzer! Ketzer!« zu schreien und Miene machten, sich an den Schauspielern zu vergreifen. Es wurden sogar einige Steine geworfen, die zum Glück niemand trafen. Empört über das Benehmen dieses Gesindels riß Sigognac den Degen aus der Scheide, stürzte sich auf die Schimpfenden, bearbeitete sie mit der flachen Klinge und drohte ihnen mit der Spitze. Auf den Lärm, der dadurch entstand, sprang der Tyrann aus dem Grabe heraus, ergriff einen der Stöcke der Tragbahre und ließ ihn auf den Rücken derer tanzen, die der ungestüme Angriff des Barons zu Boden geworfen hatte. Das Gesindel stob schreiend und fluchend auseinander, und man konnte das Begräbnis des Matamors zu Ende bringen.
Als die ersten Schaufeln Erde auf die tote Hülle des Komödianten hinabrollten, stieß der tiefbewegte Pedant, der eine Träne, die wie eine Perle des Herzens von seiner roten Nasenspitze in das Grab herabfiel, nicht zurückhalten konnte, mit schmerzerfüllter Stimme die Worte aus:
»Ach, armer Matamor!«
Dies war die ganze Gedächtnisrede, die dem Verstorbenen gehalten wurde.
Binnen wenigen Minuten war das Grab zugeschaufelt. Der Tyrann streute Schnee darüber, um die Stelle zu verbergen, denn er fürchtete, man könnte der Leiche irgendeinen Schimpf antun. Nachdem diese Arbeit beendet war, sagte er:
»Verlassen wir nun rasch diesen Ort. Wir haben hier nichts mehr zu tun und wollen daher in die Herberge zurückkehren. Dort wollen wir sofort unsern Wagen anspannen und unsere Reise weiter fortsetzen, denn diese Bauernlümmel könnten leicht in größerer Anzahl wiederkommen.«
Dieser Rat war gut und wurde befolgt. Eine Stunde später war die Zeche im Wirtshaus bezahlt, und der Wagen setzte sich wieder in Bewegung.
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