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Es war ein rechtes Weihnachtswetter. Vom Winde gepeitscht stob der Schnee in dichten Flocken durch die verödeten, abenddunkeln Straßen von Bern, gleich als wolle er die Wenigen, welche in Mantel und Pelze vermummt die Stadt hastig durcheilten, recht gründlich belehren, daß man an einem Weihnachts-Feierabend nichts Besseres zu thun habe, als hinter dem prächtig warmen Ofen zu sitzen und es sich im Kreise der Seinigen wohl sein zu lassen.
Herr Siegmund Wagner, der reiche Handelsherr und Mitglied des großen Rates, schien seit Stunden bereits der stürmischen Mahnung Folge geleistet zu haben, und saß jetzt im bequemen Lehnstuhl vor dem mit Kupferstichen, Stiften und anderem Zeichengerät belasteten Tische, warf bei dem hellen Scheine der Lampe einige rasche Konturen auf das feine glänzige Papier, legte wohl noch einen flüchtigen Schatten an, und senkte dann wiederum den Bleistift, um mit dem eigentümlichen Wohlbehagen, welches uns in einem freundlichen, wohlerwärmten Gemach bei recht grimmiger Kälte beschleicht, dem die Gassen durchsausenden Sturm, dem Klappern der Schiefern auf den Dächern, dem Knarren der Wetterfahnen, oder auch dem Wechselgespräch, welches aus dem nebenanliegenden Zimmer durch die geöffnete Thür zu seinen Ohren drang, zu lauschen. In jenem angrenzenden Gemach war es, wo Herr Wagner alle die Kunstschätze und Seltenheiten, deren Sammlung zu vermehren er nicht ermüdete, vereinigt hatte. Dort ruhten auf zierlichen, aus der Wand hervorspringenden Sockeln antike Gebilde von Marmor und Bronze, dort in langen Reihen die schwarzrote, Hetrurische Vase, die kunstlose graue Aschen-Urne der Deutschen, das zierlich geschliffene Deckelglas, der von Elfenbein geschnitzte Becher, um dessen Rand die wilde Schweinsjagd toste. Von reichen Goldrahmen umfunkelt hingen an den Wänden die sorgsam ausgeführten Schildereien der alten Niederländer, die idyllischen Prospekte Geßners, die phantastischen Schöpfungen Fueßlis, – die riesigen über einander geschichteten Mappen bargen die Kupferstiche und Radierungen der berühmtesten Meister, seltene Skizzen und Handzeichnungen: jene kostbare Kollektion, welche unter den Merkwürdigkeiten Berns eine so ausgezeichnete Stelle einnahm, deren Besichtigung der gedruckte Wegweiser, der geschwätzige Lohnbediente jedem Fremden zur Gewissenssache machten.
An dem runden Tisch in der Mitte des Zimmers saß hinter einem großmächtigen, aufgeschlagenen Bande ein in Betrachtung der Bilder vertieftes Paar. Vor ihm lag die vollständige Sammlung der Ridingerschen Kupferstiche, jene gewaltigen Tafeln, bei deren Anschauen der Kunstfreund schwankt, ob er mehr die geniale Auffassung anstaunen solle, oder die endlose Menge der Platten, deren Vollendung mehr als ein Menschenleben zu erheischen scheint; jene Blätter, aus denen ihm die Stimmung einer fernen, verklungenen Zeit unter Hörnerklang und Waldesrauschen entgegen tönt; die Gedächtnistafeln, welche die Heldenthaten der Mächtigen und Großen des verwichenen Jahrhunderts, Veranstaltung überaus solenner Parforce-Jagden, oder allerhöchst eigenhändige Erlegung eines außergewöhnlich starken und sonderbaren Wildes, verherrlichten. Da war einmal der Aufbruch zur Hetze abkonterfeit. Innerhalb des Schloßhofes, längs des mit Tritonen und bauchigten Vasen besetzten Säulenganges, hielten Jäger und Bursche die an den Leinen zerrenden Hunde, und Kavaliere zu Roß sahen zu dem Durchlauchtigsten auf, welcher eben die breite Steintreppe nachlässig hinabstieg, um sich in Begleitung der Favorite zum edlen Waidwerk anzuschicken. Auf einem anderen Blatt sprengte der Fürst mit dreieckigem, betreßtem Hut und hohen Reiterstiefeln über Stock und Block, und sein lautes Tajaut war es, welches die versprengten Jagdjunker, die von der Fährte abgeirrte Meute auf den jagdgerechten Hirsch zurückführte. Ein andermal stimmte er das Triumphlied des Hallalli über den unter den Zähnen der Meute verendenden Sechzehnender an, und auf dem folgenden Bilde brachte er ehrfurchtsvoll einer schlanken Amazone im phantastischen Jagdhabit und mit schwankenden Federn auf dem Hut die Huldigung der waidgerecht gelösten Hesse dar, während die Piköre mit den wiederum gekoppelten Hunden, und die zum Treiben herbeigetriebenen Bauern sich an dem galanten, huldreichen Wesen ihres allergnädigsten Gebieters nicht satt sehen konnten.
Die Beschauer dieser Spiegelbilder vorzeitlicher Regentenlust und Lebens waren jedoch weit entfernt, eine Parallele zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu ziehen, oder den Verfall der guten alten Zeit und ihres Trödelkrams zu bejammern, sondern gaben sich dem ungetrübten Genuß der Kunstwerke hin, und erfreuten sich, das störende Beiwerk der Menschen gänzlich übersehend, allein an den schönen, naturgetreuen Darstellungen aus der Tierwelt.
Es waren die beiden ein kaum achtjähriges Mädchen, dessen sanfte stille Züge sich dereinst auf das anmutigste zu entwickeln verhießen, das einzige Kind des Kaufmanns Wagner, und ein kleiner unansehnlicher Mann von fast widerwärtigem Äußern, welcher bereits die Hälfte der menschlichen Laufbahn durchmessen zu haben schien. Seltsam stach gegen den gewählten Anzug des reichen Kaufmannstöchterchen ihres Gefährten ärmliche, aus groben Stoffen und nach fast bäurischem Schnitt gefertigte Bekleidung ab, welche sich ungeachtet der kleinen Statur und gebeugten Haltung ihres Besitzers dennoch nirgends zur gehörigen Länge ausdehnen wollte; wundersamer noch kontrastierten der schlanke Wuchs, die zarten Glieder, das regelmäßige feine Gesichtchen, die blonden Locken des Kindes mit den starren verwilderten Haaren, den ungeschlachten Zügen des Mannes, welchem die viereckige Stirn, die hervorstehenden Backenknochen, ein unfein geschnittener Mund, so wie das dunkelbraunrot gefärbte Antlitz ein fast unheimliches Aussehen verliehen, und dessen ungewöhnlich große, plumpe Hände ebensowenig als das brummende, polternde Organ besonders geeignet waren, den abschreckenden Eindruck, welchen er bei dem ersten Anblick machte, zu verwischen. Ein mildes, fast träumerisch blickendes Auge war die einzige versöhnende Gabe, welche die Natur dem körperlich Verwahrlosten gewährt hatte, fast wie im Märchen, wo der boshafte Zauber das anmutige Königskind wohl in die widerwärtigsten Gestalten bannen darf, über der Seele Spiegel, den Blick, aber keine Gewalt hat, und ihm dieses Erkennungszeichen eines höhern, edleren Wesens auch während der Stunden der Knechtschaft zu lassen gezwungen ist.
»Wollen wir weiter blättern, Friedli?« fragte die Kleine.
»Thu's Änneli,« erwiderte der Befragte mit dumpfer heiserer Stimme im Dialekt des Oberlandes. »Was steht unter dem Bilde hier? Auf die krausen, wälschen Schriftzüge versteh' ich mich nicht.«
Das Kind las: Die Löwin träget ihre Jungen ein halb Jahr, setzet deren drei, vier bis fünf. Lionne porte ses petits six mois et en met trois, quatre aussi cinq. Das ist dasselbe auf französisch. Leaena catulos per sex– »Du, das versteh ich nicht.«
»Ich auch nicht, schad't auch weiter nichts. Aber die Reime will ich hören, die sind gar hübsch und schnurrig.«
Änneli gehorchte und las skandierend:
In das flache Blatt Papier tritt das Tierhaus tief hinein,
Und man siehet fast mit Schrecken, wie die Gattern aufgezogen,
Denn es scheint, es käm' das Tier gegen uns herausgeflogen.
Geht die Bildungskunst nicht weit? da sie nicht nur durch den Schein
Unsrer Augen Lust vermehrt, sondern selbst die Seele rühret – –
Über Friedli's Gesicht zuckte ein breites Lächeln.
»'S ist gut, 's ist sehr brav,« unterbrach er das Mädchen. »Er versteht's der Riding, die Löwen abzukonterfei'n. Schau, wie die Alte aus dem Gewölb' hervorbricht – und das Junge dort knurrt seinen eignen Schatten an – das wird einmal ein böser Kerl – und wie der andere sich unter die Mutter duckt und heult. Nur der Rubens allein zeichnet den Löwen eben so tapfer. Was kommt nun?«
»Der Auerochs und der Tiger. Ach das sind recht garstige Tiere. Wollen weiter blättern, Friedli?«
»Nicht doch. 'S ist ein gut Blatt. Der Ochs dort hat den Tiger gut gefaßt. Das möcht' ich wohl mit angesehen haben. Was steht darunter?«
Hier zeigt sich die Gerechtigkeit, hier wird die Grausamkeit gestrafft,
Und manch verschlungnes Tier gerochen, der Auer, der halb tugendhafft,
Nie, als bis er gereizt, verletzet, bringt mit nicht ungerechtem Grimm
Durch Vorsicht, Tapferkeit und Stärke den mordbegier'gen Gegner um,
Er drückt die fast gestählten Hörner dem Tiger in die Därmer ein,
Man hört sein Angstgeschrei mit Lust, und sieht mit Anmut seine Pein.
Man merkt an seiner schweren Bratzen, sich ängstlich spreizendem Gewühle,
Auch an dem finstern Feu'r im Aug', daß er sein nahes Sterben fühle.
Sein reger schnell gedrehter Schweif, wird bald erstarren und sich strecken,
Und ein von seiner Mörder-Seele verlaßnes, starres Aas entdecken.
Des starken Siegers stramme Sehnen, die er erzürnt zusammen rafft,
Belebt von regen Nerven-Geistern, gibt allen seinen Muskeln Kraft.
Man sieht wie hier des Schauers Blick sich an der Grausamkeit vergnüge,
Wir sind dem Auerochsen gut, und nehmen Teil an seinem Siege.
Die nächstfolgende Platte stellte zwei Bären dar, von denen der erste eben das lockere Reisig und die schwachen Stangen durchbrach und in die Fallgrube stürzte, der zweite aber entsetzt und mit mächtigem Sprunge sich der Gefahr entzog. »Der Bären-Fang« lautete die Unterschrift, und die Erläuterung: Weilen der Bär ein sehr starkes, wildes, und wann er verwundet, gar grimmiges Tier ist –
»Dumm' Zeug,« grollte Friedli dazwischen. »Das sind keine Bären. Hat der Bär eine so lange dünne Schnauz' wie ein Windspiel? Was das für Schnack ist! und die Pranken sind auch schlecht. Hier soll's Gelenk sein. Falsch, grundfalsch gezeichnet. Das ist nicht gut, dies Blatt.«
Herr Wagner war leise hinter den Eifernden getreten. »Ei, ei, Friedli, was sprichst Du da? Der Ridinger ist weit und breit als Tiermaler berühmt, und seine Bären gelten bei Künstlern als Musterblätter.«
»'S ist nicht wahr, Herr,« entgegnete der Getadelte barsch. »Kommt nur nach dem hiesigen Bärengarten, und schaut Euch die Tier' an, wie sie klettern und stehen und kopfüber sich vom Baum 'runter schmeißen, und fressen, wenn ich ihnen Apfel und Brot zuwerf'. Schaut sie Euch nur genau an, Herr. Der Riding hat die Tier nicht gesehn, hat sie nach der Bilderfibel gemalt. Die Hund', die Hirsch' und Löwen, die lass' ich gelten – den Bär' mach' ich besser.«
»Nun, nun, ereifere Dich nicht,« antwortete der Ratsherr begütigend, »und lass' die Radierungen für heute ruhen. Am Neujahrstage magst Du weiter bildern. Für jetzt komm. Der Thee wartet auf uns.«
Brummend gleich seinen in Schutz genommenen Lieblingen klappte Friedli den Folianten zusammen, stellte ihn an den wohlbekannten Platz zurück, und folgte der Einladung des Wirtes in das Nebenzimmer.
Den mit blauen und roten Schnörkeln bekritzelten echtchinesischen Tassen, entströmte der Duft des goldgelben Thees. Reich mit Zucker bestreutes Backwerk türmte sich künstlich verschränkt auf den Tellern. Friedli that dem Getränk wie dem Kuchen redlich Bescheid.
»Du hast mir noch nicht erzählt, wie's zu Hause steht?« fragte der Kaufmann.
»Das Büfi wird wohl morgen Junge bekommen!« war Friedli's Antwort.
»Ei, ich frage nicht nach Deiner Katze, sondern nach der Meisterin.«
»Nun, sie brummt,« erwiderte Gottfried lakonisch.
»Ein Junges schenkst Du mir doch vom Büsi, ein recht schönes,« schmeichelte die Kleine, »versprich mir das?«
Die Zusage schien dem Friedli gar schwer vom Herzen zu gehen, und die geheime Beratung, ob ein so gewichtiger Gegenstand wie ein Sprößling von seiner Lieblingskatze wohl zu vergeben sei, währte eine geraume Weile. Zuletzt gewann denn aber doch das Gefühl der Dankbarkeit gegen seinen Wohlthäter und die zu dem freundlichen Kinde gefaßte Neigung die Oberhand, und bewog ihn, ein ziemlich mürrisches Ja zu nicken.
Die Unterhaltung geriet nur allzubald ins Stocken. Wagner, welcher nur wenig Verlangen spürte, sie allein fortzuführen und auch von dem Konversations-Talent seines wortkargen Gastes nicht allzuviel zu erwarten schien, wandte sich zu der angefangenen Zeichnung zurück, während Ännchen einige gedörrte wilde Kastanien vor dem gesättigten Friedli auf den Tisch rollte. Mit den Wünschen des Kindes vertraut, zog Gottfried alsbald ein spitziges Messerchen aus der Tasche, spaltete die Schale der Frucht, und begann aus dem weichen Kern eines jener kleinen durch wunderbare Feinheit und Sauberkeit sich auszeichnenden Meisterwerke, wie sie noch jetzt in einigen Berner Kunstkabinetten aufbewahrt werden, zu schnitzen. Im Zimmer trat eine tiefe Stille ein, Änneli saß dicht zur Seite des Künstlers und lauschte andächtig der bewunderungswürdigen Geschicklichkeit ihres Freundes, der um so staunenswerteren, wenn sie einen Blick auf die unzierlich geformten Finger warf, aus welchen ein so gebrechliches Kunstwerk hervorging – da gellte ein scharfer Klingelzug durch den gewölbten Hausflur, und bald darauf platzte ein ältlicher, kleiner, fixer Mann mit großrändriger Hornbrille auf der Nase, ins Zimmer, warf sich dem Kaufmann wütend um den Hals, und wischte ihm in der Ekstase der Umarmung mit dem Rockärmel den Puder, welcher die spärlichen Haare verschleiern sollte, vom Kopf. Hüstelnd sich der herabwogenden Mehlstaub-Wolke erwehrend, wand sich der über diese leidenschaftliche Bewillkommnung Befremdete aus den Armen des Eintretenden, und gedachte eben zu fragen, welcher überaus freudigen Veranlassung er diese stürmischen Eruptionen zu verdanken habe, als auch schon der Enthusiast ihm zuvorkam, und dem überquellenden Herzen Luft zu machen begann:
»Wagner, stellen Sie sich meinen Glückstreffer vor! Denken Sie sich meine Fortüne – nein. Sie können es nicht ahnen – heute, heute – nein, seit einer Stunde ist der sehnsüchtigste Wunsch meines Lebens in Erfüllung gegangen – was sage ich, in Erfüllung gegangen? Überflügelt, um Sternenweite überflügelt. Liebe Änneli, Herzenskind, ein Glas Zuckerwasser! Ich verschmachte vor lauter herzinniglicher Seligkeit.«
In einem Zuge schlürfte er das Getränk in sich, sank erschöpft auf den Sessel, sprang ebenso rasch wieder empor, stürzte von neuem auf den Ratsherrn zu, krallte, auf den Zehen sich hebend und dehnend, seine beiden Fäuste in die Schultern des hochgewachsenen Mannes, und bestrebte sich, obwohl vergeblich, ihn zu schütteln, gleich als wolle er durch diese körperliche Bewegung die eigene innere versinnlichen. »Denkt Euch, Ratsherr,« schrie er, »ich habe ihn vollständig, seit heute Abend komplett – auch nicht ein einziges Blatt fehlt mir.«
»Wen? ihn?«
»Wen? Welche Frage! Den vollständigen Wenzeslaus Hollar – die ganze Folge vom Jahre 1625 an, ich meine die Jungfrau mit dem Kinde und das Ecce-homo-Blatt, die Arundelische Gallerie, acht und zwanzig Blätter des ornatis muliebris anglicanus, die afrikanischen Zeichnungen u. s. w. u. s. w. bis auf die letzte Radierung vom Februar 1677 – 28. März des Jahres starb er, wie Ihr wißt.«
»Wahrhaftig, das will Etwas sagen.«
»So? Ei! Wahrhaftig? Seid doch nicht so eiskalt, in Teufels Namen, Wagner. Ich glaube fast, Ihr seid auf mein Glück eifersüchtig. Freilich will das Etwas bedeuten. In der ganzen Welt leben nicht drei Menschen, nicht einer, der sich jetzt mit mir messen darf. Den ganzen Wenzel Hollar! – Noch vier Stücke fehlten meiner Sammlung. Und wo finde ich sie? Wo? Denkt Euch, hier! Hier in der Bäckerherberge In Bern sind die Herbergen der Gewerke zugleich die besten Gasthöfe. zu Bern! Hier sehe ich sie vor kaum einer Stunde in einem dunklen Korridor – vergilbt, verräuchert, in miserable Rahmen gepfercht. Ha, nicht wahr, Freund, das habt Ihr Euch nicht träumen lassen, daß Euer Bern solchen Schatz in sich schlösse? Doch hört nur. Ich sitze mit recht schwerem Herzen auf meiner Stube, und blättere in dem Katalog der Pestalozzischen Sammlung, welche übermorgen versteigert werden soll, und bei welcher Ihr mich, in Parenthese gesagt, nicht treiben dürft – manus manum lavat – erwägt das, Ratsherr – und simuliere denn so allerlei, ob der Rembrandsche Uitenbogaerd, der dort vorkommen soll, ein echter sein könne oder nicht. Nein, schrei' ich laut auf, es ist eine Nachradierung! Zehn echte Goldwäger existieren höchstens, und den einen besitze ich, ich! – In der Rage über die Windbeutelei des Erblassers putze ich das Licht aus, tappe nach der Thür, den Gang entlang bis zur Treppenlaterne, glimme die Kerze wieder an, verirre mich in dem winklichten alten Hause, komme bei der Gelegenheit in einen noch früher nie betretenen Gang, schlage die Augen auf – dort hängen sie alle viere neben einander – zersprungenes Glas, geplatzte schwarze Rahmen – es war ein Erbarmen. Mir war nicht anders zu Mut, als donnere eine Lawine hart an mir vorüber. Ich fasse mich, schleiche sachte zurück, schütte ein Pulver, zwei Pulver cremor tartari in das Wasser, um nur mein wütendes Herzklopfen einigermaßen zu beschwichtigen; ich klingle nach dem Wirt. Nach einer höllenbangen Viertelstunde erscheint er. Meine Rechnung, Herr Sprüngli! – »Was Tausend! schon so bald, Herr Orell? Meint' ich doch, Sie würden bis zum kommenden Samstag hier derweilen?« – Briefe von zu Hause – dringende Geschäfte – sehr bedauern – Der Wirt zieht das schwarze Täfelchen ans der Weste, und bekritzelt es mit Hieroglyphen von Franken und Batzen – macht so und so viel. – Ja apropos, Herr Sprüngli, heb' ich gleichgiltig an, was sind denn das für alte Schildereien, die dort im Gange einschmauchen? – »Gott mag's wissen. Noch von Großvaters Vater her hängen sie dort, der hat sie aus der Fremde mit heim gebracht.« – So, so. Da geht mir's doch recht apart und wundersam, Freund Sprüngli. Der eine König vom Morgenland' sieht meinem Ohm, der bei der päpstlichen Garde als Waibel steht, wie aus den Augen geschnitten. Just so 'ne krumme Nase, so 'nen langen statiösen Bart. – Ja, ja, die Natur spielt manchmal so wunderlich.« – Na, hört einmal Sprüngli, was thut man nicht seinen Blutsverwandten zu Liebe? Um des Ohms Feldwaibel willen möcht' ich Euch den Plunder abnehmen und ihn zu Hause einrahmen. Ihr dankt mir's noch, wenn ich Euch den morschen Trödel vom Halse nehme – – »Ei nicht doch. Laßt ihn nur meiner Ahnis halber hängen.« – – Und geb' Euch hier eine neue kolorierte Ansicht von Pissevache, Londner Arbeit, für den ganzen Bettel – – »Nicht doch, nicht doch, lieber Herr Orell, wer wird am heiligen Weihnachtsabend Schacher treiben?« – Ich schwitzte große Tropfen in meiner Höllenangst, daß ein anderer mir zuvorkommen könne. Auch wahr, lieber Sprüngli. Nun, nichts für ungut – es war nur so'n Einfall. Also morgen früh um fünf Uhr den Kaffee, und dabei entrollte ich langsam den englischen Stich. Schaut doch 'mal her, Sprüngli. Ihr war't wohl schon dort? – »Ob ich dort war, Herr? In Martigny hab' ich als Oberkellner gedient, und meine Frau ist nur ein Viertel Weges davon zu Hause. Ei, lieber Herr Orell, das ist ja ein Prachtbildchen; und das Wappen darunter mit der englischen Schrift – –« Dem Earl of Derby dediziert. Ja, ja, das Bild macht sich, kann in jedem Prunkzimmer aufgehängt werden. Rollt's nur wieder zusammen, und legt's bei Seite. – »Nun, lassen Sie 'mal hören, Herr Orell; 's ist zwar 'ne arge Sünde, den heil'gen Sabbath so mit Handel und Wandel zu schänden – aber morgen gehen Sie weiter, und meine Alte freute sich über die Christbescheerung wie'n Kind. Eingeschlagen. Nehmen Sie den alten Ohm Feldwebel mitsamt den anderen Schildereien – und viel Freude damit.« –- Sie waren mein. Seht her, Wagner«, jubelte der Kunsthändler und zog eine mit Bindfaden umschnürte Rolle aus der Rocktasche, schaut: verstäubt, gebräunt, aber echt, echt wie Gold. Ein Auge wie das meinige irrt nie. Werden gebleicht, gepreßt, aufgelegt – so gut als neu. He? Was sagt Ihr dazu? – Hier das presepio mit dem extemporierten Onkel, Jahreszahl 1637. London, Nummer zwei: die Donna espannola, 1643, Nummer drei: Stadt und Fort von Tanger nebst Umgebungen, Kamelen, Heiden, Palmbäumen et caetera – Datum fehlt – kann nur von 1668, höchstens 69 sein. Vier: Die Krone von allen: Niederländische Bauernfamilie am Dreikönigs-Abend – 1630 – vollständige Namensunterschrift. Was sagt Ihr zu diesem famosesten aller Blätter, zu dieser Reinheit, Präzision, zu diesem scharfen Druck?«
»Ein seltener Fund, Herr Orell. Wahrhaftig, eins der ausgezeichnetsten Blätter des Meisters.«
»Betrachtet nur,« tobte der Enthusiast weiter, »dieses göttliche Bauernweib, wie es die Nase in den Steinkrug steckt; staunt den greinenden Bengel an, die Katze, welche mit gekrümmtem Rücken und steil emporgerichtetem Schwanz sich an dem Schemelfuß reibt – ein idealer Kater!«
Friedli hatte während der Rede des Kunstfreundes kaum von seiner Arbeit aufgeblickt. Bei Erwähnung einer Katze erhob er sich phlegmatisch von seinem Sitze, reichte das eben fertig gewordene Figürchen eines auf den Hinterfüßen kauernden Bären seiner kleinen Freundin, blickte auf das vorgewiesene Blatt und schnarchte im rauhen Baß dem verzückten Orell ein: »Schlechte Katz'!« zu.
Zwiefach erschreckt von dem mißtönigen Organ jenes bisher unbeachteten Dritten, welches so unvermutet hinter seiner Schulter laut wurde, und von dem unerwarteten harten Tadel des vergötterten Blattes, prallte der Kunstfreund scheu zurück, musterte mit großen Augen die befremdliche Erscheinung vom Wirbel bis zur Zeh', und hob dann allmählich ermutigt an: »Was? Was? Schlechte Katze? Wenzel Hollar könnte nicht – oho! Aber wer, zum Henker, seid Ihr denn, mein Freund, daß Ihr Euch so verdammt naseweis – Alle Welt, das ist ein Kater, wie er seit der Arche Noah nicht schöner auf seinen vier Pfoten umher schlich,«
»Ist nicht wahr,« entgegnete der plumpe Gottfried. »Das muß ich besser verstehen.«
Verdutzt wandte Orell das Auge von dem bäuerischen Gesellen auf Herrn Wagner, als erwarte er aus dessen Munde die Lösung der Mystifikation oder wenigstens eine Ahndung jener vorlauten Sprache. Der Kaufmann schien sich jedoch an der Verwirrung seines Freundes zu ergötzen, lächelte still vor sich hin, und ergriff dann endlich das kleine aus Kastanienkern geschnitzte Bildwerk, um es dem Kunsthändler auf der flachen Hand zu produzieren.
Ein halbersticktes Ah! entschlüpfte der Brust des Überraschten. Noch einmal warf er einen scheuen Seitenblick auf den Burschen, aus dessen gigantischen Fäusten ein so zierliches Meisterwerk hervorgegangen, bewegte die Lippen, ohne einen Laut hervorzubringen, und ließ die Arme schlaff herunter sinken. Friedli aber griff nach seinem Hute und faßte nach ungeschicktem Kratzfuße die Thürklinke.
»Wo willst Du hin? Schon so früh gehst Du?« riefen Vater und Tochter.
»'S ist schon spät und das Büsi ist allein,« murmelte Friedli dumpf vor sich hin. »Behüt' Euch Gott, Herr Wagner, und Dich, mein lieb' Änneli!« drückte beiden herzhaft die Hand und stolperte die Stiegen hinab.
Orell blickte dem Verschwundenen lange nach »Sagt mir um Gottes willen,« hob er endlich kleinlaut an, »was für ein Teufelskerl war das? Seit wann dürfen denn solche verflixte Wurzelmänner im Berner Lande frank und frei umherspuken, und einem ehrlichen Menschen mit ihrem Währwolfgesicht und fabelhaften Redensarten einen Todesschreck einjagen? Sah doch Der dort aus, als wäre er soeben aus des Fueßli Bilde, wo der Alp auf der schönen Schläferin hockt, gekrochen! Und ich stehe nicht dafür, daß er sich heute Nacht noch in meine Schlafkammer einniste, und mich halbtot tribuliere und ängstige.«
Wagner brach in ein herzliches Gelächter über seinen konsternierten Freund aus. »Wie? Ist es möglich? Sie kennen den Friedli nicht?«
»Orell schüttelte stumm horchend den Kopf. –
»Den Berner Friedli? Den Gottfried Mind kennen Sie noch nicht? Den Katzen-Raphael, wie er in der Kunst wegen seines wunderbaren Talents, Katzen zu malen, genannt wird?«
»Der Katzen-Raph – dies war der Mind?« schrie der Kunsthändler überrascht auf, und fuhr hastig und verwirrt mit dem Kopf und den glanzsprühenden Brillengläsern hinüber und herüber. »Dies also war – – Aber Menschenkind! konntet Ihr mir denn keine verblümte Andeutung zukommen lassen, mit wem ich mich zu zanken die Ehre hätte? Ach, geht, das war perfide! Und ich altes Etcätera kann auch nicht selber darauf verfallen! Der Jubel um meine vier Hollar muß mich geblendet, muß mir den Dampf angethan haben – ei, ei, ei, ei!«
Den Zeigefinger leis' auf den Spaniol der goldnen Dose drückend, und den feinen Duft in einer gleichsam transzendenten Prise einsaugend, stierte er lautlos auf das kleine Schnitzwerk, welches Friedli der Tochter des Kaufmanns geschenkt hatte. »Wagner,« rief er endlich, »ich beschwöre Euch bei der göttlichen Kunst, bei unserer gemeinsamen Leidenschaft, schafft mir den Gnom, den Katzenfriedli wieder. Ich will, ich muß ihn sprechen. Wo hält er sich auf, wie lebt er? Wann kann ich seine Zeichnungen zu sehen bekommen? Ein Plan, ein kolossaler Plan dämmert in meinem Gehirn –«
»Friedli sich zu gewinnen? Ihn nach Zürich zu entführen? Diese Kreuzspinne solle ihre goldnen Fäden für Sie spinnen – war's nicht so?«
Orell starrte verlegen den Wahrsager an, der Ratsherr fuhr gelassen fort; »Rechnung ohne Wirt, mein Guter. Eher möchten Sie den Lengenberg aus seinen Grundfesten reißen, als den Mind seinem Hause, der Meisterin, seiner Katzenfamilie abwendig machen. Wie viel Kunstfreunde haben nicht schon erfolglos um den eigensinnigen Maler geworben! Welche Mühe gab ich mir nicht selber schon, ihn seiner kläglichen Lage zu entreißen – vergebens – Alles vergebens.«
»Wagnerchen, Ihr übertreibt. Sagt mir nur das wo und wie, und laßt mich machen. Es müßte ja mit Hexerei zugehen, wenn ich den Kunstbären nicht beschwatzen sollte.«
»Wohlan, versucht denn Euer Heil; versucht es schon morgen. Seine Meisterin, die Frau Freudenberger versäumt keinen Gottesdienst; und so mögt Ihr denn während der morgenden Frühpredigt die Brautfahrt antreten. Nur in der Abwesenheit jenes eifersüchtigen schatzhütenden Drachen könnte es Euch allenfalls gelingen. Ich zweifle aber. Meine Tochter soll Euch den Weg weisen. Er ist ihr wohlgeneigt, und sie vermag über sein störrisches, menschenfeindliches Gemüt mehr als irgend Einer. Doch wie war mir denn? Ihr wolltet ja in der Frühe schon nach Zürich zurück?«
»Ah bah! redet mir nicht davon. Wo's solch' ein köstliches Wild zu erjagen gilt, soll mich ein wochenlanger Anstand nicht verdrießen.«
»Viel Glück denn. Kann doch niemand sehnlicher als ich wünschen, daß der bedauernswerte Sklave sein eisernes Joch abwerfe. Aber seine Fesseln sind bereits vom Fleisch überwachsen – die bricht nur der Tod.«
Die Kunstfreunde trennten sich. Stillselig berechnete Orell auf dem Kopfkissen den reichen Gewinn des Tages, die Erwerbung jener längst ersehnten Radierungen des Böhmen, die ihm so gut als sichere eines originellen, fortan von ihm abhängigen Künstlers; und noch in seine Träume spielte die abenteuerliche Gestalt des armen Friedli hinüber, aber statt des dürftigen grauen Jäckchens vom faltigen Tatar umwallt, als mächtigen Nekromanten, umtanzt vom phantastischen Reigen der Bären und Katzen und aus dem geschwungenen Zauberstabe einen glitzernden Regen von Goldstücken schüttelnd und auf den Boden verstreuend.
Der von den Tönen der Orgel getragene Gesang der Gemeinde, welcher durch die verschneiten Kirchenfenster schallte, war für Herrn Orell das Signal, daß das mißgünstige Auge der Brotherrin Friedli's auf Stundenfrist gebannt sei und er an der Hand seiner kleinen Führerin den Preßgang zum Katzen-Raphael wagen dürfe. Unter dunklen Arkaden, durch enge winklichte Straßen wandelnd, erreichte der Kunsthändler das Haus der Witwe Freudenberger, ein schmales Gebäude mit dicht an einander gereihten Fenstern und runden in Blei gefaßten Scheiben, mit niedrigem gewölbten Thorwege, nischenartigen Sitzen in den Pfeilern, dessen Stockwerke nach Schweizer Bauart eines über das andere in die Straße vorsprangen.
Änneli ging voran und klinkte leise die Thür auf. »Grüß' Dich Gott, Friedli!« – »Adjes! knurrte aus einer Fensterbrüstung, der Gegengruß. – Ich bring' Dir Herrn Orell, den Kunsthändler aus Zürich, der möchte gern etwas von Deinen Bildern kaufen.«
– »Muß warten, bis die Meisterin kommt, der gehört das Ganze.«
– »Ei, Friedli, sei doch nicht wieder so barsch gegen den Fremden. Das ist Dir ein gar lieber, freundlicher Herr, der an schönen Schildereien seine größte Freude hat, und Dir die Ehre anthut, sich expreß Deinetwegen zu bemühen. Sieh' nur, da bring' ich Dir Weck und Äpfel zum Fest mit, und der Vater schickt Dir auch eine neue Weste zum heil'gen Christ. Aber nun sei auch hübsch fromm, und laß sehen, was Du neues gemacht hast.«
»Dank, Änneli, schönen Dank!« antwortete Gottfried, »leg's nur bei Seit'. Die Bilder aber kann ich jetzt nicht vorweisen. Die Thier' haben ihre Ruhe, und die darf ich nicht stören.«
Einem in Porphyr gemeißelten Osirisbilde gleich saß Friedli regungslos hinter dem Zeichentische in dem mit braunbenarbtem Leder ausgeschlagenen Großvaterstuhl. Auf seiner Schulter hockte ein gewaltiger grauer, schwarz gestreifter Kater, und machte es sich auf seiner Höhe so bequem als möglich, indem er den Kopf an das kirschbraune Gesicht seines geduldig harrenden Pflegers lehnte. Die halbwüchsige Kätzchen träumten, über und neben einander im Knäul liegend, auf seinen Knieen, und unter den Blättern, Pinseln und Tuschnäpfen saß auf dem Tisch mit dicht unter sich gezogenen Pfoten und festgeschlossenen Augen deren schnurrende Frau Mama.
Der Kunsthändler war mit einiger Befangenheit auf der Thürschwelle stehen geblieben und ließ nun seine befremdeten Blicke von dem starr und wie verzaubert sitzenden Mind, dessen harte, widerwärtige Züge bei der vollen Beleuchtung der Morgensonne noch abstoßender als am verwichenen Abend beim gedämpften Schimmer der Lampe erschienen, auf die Umgebungen streifen. In der Ecke des Zimmers stand die mächtige, mit blaugedrucktem Kattun verhängte Bettsponde der Frau Freudenberger; hart an Friedli's Tisch, gleichsam Wacht haltend, ihr Sessel mit dem davorgerückten Spinnrade, und von der Wand blickte zwischen Kupferstichen, welche die Terrassen von Versailles und den Hofstaat Ludwigs XIV, versinnlichen sollten, das Bildnis der Meisterin zur Seite ihres seligen Gatten hernieder; letzterer trotz des weitbauschenden Schlafrocks mit sorgfältig gepflegter Frisur und wohleingepuderten ailes de pigeon, wie er in der Linken Palette und Malerstock, in der Rechten den Pinsel hielt; seine süßlich minaudierende Gattin aber als Braut, im idyllischen Theater-Kostüm aus der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, mit schräg aufgesetztem, tellerförmigem Schäferhütchen, Rosabändern an dem schlanken Korsett, kurzen mit Spitzen besetzten Ärmeln, und in den Händen ein Körbchen, in welchem ein Taubenpaar ruhte – beides Werke des verstorbenen Malers Freudenberger. An dem aus gigantischen Kacheln gefügten, mit eisernen Reifen verankerten Ofen stand das Frühstück der zahlreichen Katzenfamilie in Milchtellern aufgetragen, und Bälle mit Fäden, sowie zerzauste Blätter Papier zeugten von den Spielen der jugendlicheren Generation, welche jetzt von der Anstrengung im Schoße ihres Herrn ruhte. Dürftiges Gerät, etliche eingegangene Resedastöcke auf den Fensterbrettern, nebst zwei oder drei Gläsern, in welchen Laubfrösche die kleinen Leitern erklommen, um auf die eingesperrten Fliegen Jagd, zu machen, vollendeten das Amöblement.
Im einförmigen Takt pickte die Wanduhr, hüpfte die Amsel von Stänglein zu Stänglein in dem, gegen etwaige kätzliche Braten-Gelüste, am Gebälk des niedrigen Zimmers hängenden Käfig. Man hörte den Sand, welcher die ausgetretenen Dielen bestreute, unter den Füßen der Ankömmlinge knistern, so still war es im Zimmer.
Der Traum der verwichenen Nacht tauchte wieder an Orells Geist auf. Die bewegungslose Figur des koboldähnlichen Gottfried ward ihm immer unheimlicher, das eiserne Schweigen von Augenblick zu Augenblick drückender. Ihm war zu Mut, als müsse jeden Augenblick der getrimmte Hexenspuk losbrechen, und er selber von ihm ergriffen und in den tollen Wirbel hinein gerissen werden, um, an jeder Hand eine Katze, die verwegensten Beinschwenkungen und Hopstouren aufzuführen.
»Um Gottes willen, Änneli,« flüsterte er ängstlich, »stoß die verrückte Pagode an, damit sie wenigstens mit dem Kopf und den Tatzen wedle. Wirf ihm die Katzen vom Schoß – rühr' Dich, sprich selber ein Wort. Ich halt's nicht aus, wenn's noch lange dauert.«
»Es ist einmal nicht anders,« entgegnete das Kind. »Eh' die Katzen nicht ausgeschlafen haben, rührt er sich so wenig als ein Rolandsbild. Doch versuchen will ich's.«
Das Mädchen wand sich hinter den Sessel des Malers und hielt, von diesem unbemerkt, dem auf dessen Schulter thronenden Kater ein Stück des frisch gebackenen würzig duftenden Wecks unter die Nase. Das Tier schlug augenblicklich die leuchtenden Augen auf, setzte mit raschem Sprung auf die Diele, und krallte sich an das Kleid des Kindes, um des verlockenden Brockens teilhaftig zu werden. Die drei Schoßkinder ermunterten sich gleichfalls, folgten dem Beispiel ihres ehrwürdigen Ahnherrn, rannten dem Milchteller zu, putzten nach eingenommenem Dejeuner mit zierlichem Tätzchen den Bart, und begannen auf der Erde kollernd sich mit Bällen und Lappen zu tummeln. Friedli ward frei und erhob sich schwerfällig aus seinem Großvaterstuhl.
»Das Büsi hat Nächten drei Junge geworfen,« murmelte er, »scheckige, das eine vierfarbig. Willst Du sie schau'n, Änneli? willst eins auslesen?«
»Ja, ja, lieber Friedli, komm. Aber gieb erst Herrn Orell die Bilder.«
Gottfried langte die Mappe aus dem Winkel, schob sie unwirsch auf den Tisch und wandte sich schnell ab, um im Gefolge der Kleinen seiner Lieblingskatze die Wochenvisite abzustatten.
Während sie vor den Verschlag in dem Großvaterwinkel, wie in der Schweiz der Platz hinter dem Ofen benannt wird, traten, und Friedli die blinden Neugebornen mit fast väterlicher Zärtlichkeit eins nach dem andern aus den Kissen hob, streichelte, küßte, behutsam der Mutter wiedergab, und beide sich, wiewohl nicht ohne Schwierigkeiten, über das abzutretende Junge einigten, löste der Kunsthändler mit vor Hast zitternden Händen die Schleifen, welche die Mappe verknüpften, und begann, nachdem er seine Brille angehaucht und sorgsam mit dem Tuche getrocknet, die Musterung jener in ihrer Art unübertroffenen Kunstwerke.
Es waren nur Katzen, Bären und Kindergruppen, die einzigen Wesen, an welchen Friedli mit Liebe hing, welche er in seinen Darstellungen wiederholte, aber in jederzeit anmutig naiver Gruppierung, mit oft wahrhafter Genialität der Komposition und wunderbarer Technik in der Ausführung. Noch war es keinem Maler gelungen, so scharf als Mind die Eigentümlichkeit jener Tiere zu belauschen, die Spiele und Raufereien der Kinder so geistvoll aufzufassen, so naturwahr als er in seinen Blättchen wiederzugeben. Kleine Mädchen, welche das spinnende Kätzchen auf dem Schoß wiegten; die Winterlust der Kinder des Dorfes, wo ein halb Dutzend Buben sich bei Errichtung eines prächtigen Schneemannes tummelten, und die einen dem weißen Riesen die Kohlenaugen einsetzten, während die andern in die verklommenen Hände hauchten; lustige Schlittenfahrten, auf denen des reichen Bauern Sohn sich trutziglich von den Fröhnerkindern über die Eisfläche ziehen ließ, und statt Schellengeläutes die Kuhglocke mit beiden Händen schwenkte; Betteljungen, das frostbraune Gesicht mit Tüchern umwunden, die Füße in strohgefüllte Holzschuhe vergraben, welche ihr zähneklapperndes Lied vor den Thüren absangen; der kleine Dorf-Krösus, der herzhaft in den rotbäckigen Apfel einhieb, während die schüchternen Blicke der fernstehenden minder Begünstigten jeden Bissen zu zählen schienen; der Savoyard mit dem tanzenden Murmeltier; der Kater, welcher mit zusammengekniffenen Augen und krampfhaft gekrümmtem Schwanz der vor ihm liegenden, spröde miauenden Katze seine Liebeserklärungen zusang; die Tigerkatze mit dem weichen glänzenden Samtfell, die mit zierlich gespitztem Zünglein aus der Schüssel schlürfte, und ihr zur Seite das Junge, welches täppisch die Pfote in den Brei tunkte; das leise Beschleichen eines Mäuschens; das Kätzlein, welches pruhstend, mit gekrümmtem Rücken und gesträubten Haaren sich vor dem kläffenden Pudel auf einen Stein flüchtete, das schmeichelnde Anschmiegen der Kleinen an die Alte –: dies waren die Gegenstände, welchen Friedli's Pinsel geweiht war, die Orell jetzt mit glänzenden verklärten Blicken beschaute. Unter heimlichem Schmunzeln, mit süßgespitzter Lippe, nicht anders, als ob er eine überaus feine und seltene Weinsorte auskoste, mit den halberstickten Ausrufungen: Deliziös, süperb, einzig! liebäugelte er mit den einzelnen Blättern, und nur die feste Überzeugung, daß er in kurzer Zeit den Künstler sein nennen werde, daß der ganze Reichtum von dessen Leistungen ihm zufließen müsse, hielt ihn zurück, der bei Kunstliebhabern und Sammlern eben nicht allzuseltenen Gewohnheit zu fröhnen, und ein oder das andere Meisterwerk heimlich in den räumigen Rocktaschen mitwandern zu heißen.
Die Wahl des für Änneli bestimmten Kätzchens war entschieden. Gottfried trat an den Tisch, entfaltete die großblumichte Weste, sein Weihnachtsgeschenk, brach augenscheinlich durch die grellbunte Farbe des Stoffs geschmeichelt, in ein nicht allzu anmutiges Gelächter aus, schnappte dann aber kurz ab, wandte sich mit seinem gewöhnlichen Phlegma dem Arbeitssessel zu, und nahm, ohne sich ferner um die Anwesenden zu kümmern, gleichmütig eine angefangene Zeichnung vor.
Nach einigem Hüsteln und Räuspern begann der Kunsthändler die intendierte Werbung, unwillkürlich in einen feierlichen altfränkischen Kanzleistil verfallend, just als ob die gewöhnliche Sprache nicht hinreiche, um ihm den günstigen Erfolg der Unterhandlung zu sichern.
»Man hält sich demnach schon eine geraume Zeit in diesem Freudenberger'schen Hause auf, mon cher Friedli?«
»Zwanzig Jahr – wohl drüber schon!« war die Erwiderung.
»Hm! So! Ei! Zwanzig Jahre! Hm! Ein nicht unbeträchtlicher Zeitraum schier. Zweifelsohne wird man auch nach Verdiensten honoriert, und hat bei sattsam bekannter Applikation Gelegenheit gefunden, sich ein gewisses Sort zu basieren – zweifelsohne – –«
Mind schien den Sinn der Frage nicht gefaßt zu haben, stierte den Züricher mit großen Augen an, und wandte sich dann wieder, ohne ihm Rede gestanden zu haben, zu dem vorliegenden Blatt.
»Womit ich sagen will,« fuhr Orell fort, in peinlicher Erwartung die Hände reibend, »oder vielmehr und besser gesagt, wie ich verhoffe, daß das Honorar in richtigem Verhältnis zu den Müheleistungen stehe – daß der Lohn – daß die verwitwete Frau Freudenberger seine nicht unlöblichen Produktionen, Mosje Mind, auf konvenable Art salariere – daß – noch nicht klar genug? daß – – Nun ins Geiers Namen, platzte er ungeduldig heraus, wie viel zahlt Ihm denn die Meisterin für jedes Blatt?«
»Sieben Batzen die Woche,« entgegnete Friedli brummisch und verdrossen.
»Ei, ei, ei! Sieben Batzen! Was Er sagt, Mosje Gottfried Mind! Eine nicht so ganz unbeträchtliche Remuneration, angesehen, daß jetzt infolge der Zeitläufe der Kunsthandel darnieder liege. Hm! Indessen, nichts desto weniger – es könnte der Fall eintreten – es wäre nicht undenkbar, daß man sich in pekuniärer Hinsicht verbesserte. Man brauchte beispielsweise nur acceptablen Vorschlägen Gehör zu schenken, sich nur zu entschließen, nach Zürich in unser Haus zu ziehen, für die Firma Fueßli u. Orell zu arbeiten, um das Doppelte – Dreifache vielleicht gar zu erhalten. He?«
»Ich mag nicht!« schnarchte Friedli grob.
»Wobei Ihm unbenommen sein würde,« fuhr Orell schneller und dringender fort, so viel von Seinen scharmanten Kätzlein mitzubringen, als in Seinem Belieben stände – Laubfrösche – Bären, ausgestopfte mein' ich –- alle möglichen Sorten von Bestien – Schatzkind, so sprich doch nur ein Sterbenswort! Heische, was Du willst, Du sollst es ja kriegen. Aber komm nur nach Zürich – ich will Dich in Samt und Seide wickeln – ich will – ich werde –«
»Mag nicht fort!« grunzte der übellaunige Künstler wilder.
»Ei so hol' doch der Henker den eigensinnigen, boshaften Zwerg!« brummte der Kunsthändler halblaut. Änneli, sprich Du ein Wort, vielleicht hört er auf Dich. Ich weiß nicht mehr, wie ich dem verrückten Kerl beikommen soll.«
Das Aufreißen der Thür, das Hereinrauschen der schwarz und weiß ausgeschlagenen Kirchengängerin, Witwe Freudenberger, ersparte dem Kinde die ohnehin vergebliche Schmeichelbitte.
Die unzählige Male bereits von Künstlern und Kunstfreunden gemachten Versuche, den talentvollen Friedli seiner gedrückten Lage und dem Despotismus seiner kargen Brotherrin zu entziehen, ließ die letztere augenblicklich den Zweck des fremden Besuchs erraten.
Einer vom Sturm erschütterten Vogelstange gleich, schnellte sich die lange, hagere Gestalt der Meisterin nach dem ersten Knix wieder empor, rückte mit weitausgreifenden Schritten auf den ertappten Defraudanten los, und befragte ihn mit stechenden Augen und fatal gekniffenen Mundwinkeln nach der Veranlassung, welcher sie das Vergnügen seines Besuchs zu verdanken habe.
»Dem Verlangen, der Sehnsucht«, erwiderte der Züricher mit zierlich gekrümmtem Rückgrat, »der hochgeschätzten Madam Freudenberger, Gattin jenes überaus vortrefflichen, für die Kunst zu früh dahingeschiedenen Meisters, mündlich mein ehrfurchtsvollstes Kompliment abzustatten, nachdem ich bereits so glücklich war, in der gelungenen Nachbildung« – auf das an der Wand hängende Porträt deutend –- »die auf den dankbarsten Gegenstand verwandten Talente des Malers anzustaunen.«
Die blassen schmalen Lippen der Geschmeichelten wagten ein grämliches Lächeln zu erzwingen.
»Nächstdem aber«, setzte Orell voreiligerweise hinzu, »darf ich nicht in Abrede stellen, daß es die Begierde, einige der Zeichnungen der famosen Meisterwerke Gottfried Minds zu acquirieren, war, welche mich bewogen –«
Offenbar verdarb der Nachsatz den günstigen Eindruck, welchen der Vordersatz auf das herbe Gemüt der Frau Freudenberger zu äußern begann. »Was Kunst, was Meister!« erwiderte die gereizte Dame mit scharfkantiger Stimme. »Von Kunst und Meisterwerken kann seit dem Hinscheiden meines seligen Eheherrn nicht mehr die Rede sein. Was aber das Gezeichne des Friedli anbelangt, so muß ich dem Herrn nur glattweg von der Zunge sagen, daß ich ihm wenig Dank weiß, wenn er einen störrischen, faulen Buben, den man aus Gottes Erbarmen ins Haus genommen, und mit dem man nichts als seine liebe Not hat, durch dergleichen unzeitige Komplimente und Redensarten vollends den Kopf verdrehen will. Einem sonstigen Belieben nach besagten Versuchen könnte durch Übersendung derselben nach dem Gasthofe mit beigefügten Preisen vollkommen genügt werden. Für jetzt aber müßte ich recht bestimmt bitten – – –«
Eine Demonstration mit der knöchernen Hand nach der Thür löste die Zweifel über die Willensmeinung der Meisterin. Orell säumte keinen Augenblick, diesem unverblümten Winke Folge zu leisten, und nachdem er sich noch einmal vor der Hausthür umgewandt hatte, um drei bedeutende Kreuze hinter der Eigentümerin zu schlagen, den Heimweg polternd und schellend anzutreten.
Zänkische Frauen, deren leicht erregte Leidenschaftlichkeit sich durch bitterzornige Worte, unaufhaltsam dahinströmend gleich dem Waldesbach nach Regengüssen, Luft macht, verdienen unläugbar das Prädikat der Liebenswürdigen, und solchen allezeit explosionsfertigen Mundfeuerwerkerinnen im Leben zu begegnen, gehört mit zu dessen vergnüglichsten Lusten. Weniger dürfte Letzteres von der zweiten Klasse der Zankteufel gelten, von denjenigen, welche ihre Galle bedächtig und kunstgerecht zu destillieren verstehen, die mit ihrem Groll umspringen, wie der Prosektor mit dem Pudel, wenn er den Köter bei lebendigem Leibe anatomiert, und dann wieder sorgfältig auskuriert, bloß um den Geheilten von neuem auf den Seziertisch bringen zu können; von den zähen Kankern, welche den Faden der Bosheit und des Haders mit aller ersinnlichen Zierlichkeit ein ganzes Erdenleben zu spinnen wissen. In dieser letzten Spezies der Quälgeister nahm aber Frau Freudenberger eine eminente Stelle ein.
Mit gewissenhafter Pünktlichkeit legte sie die pelzverbrämten Klapphandschuhe und das goldgleißende Gesangbuch in das bestimmte Fach der Nußbaum-Kommode, begab sich ins Nebengemach, um ihren Kirchenputz gegen die Werkeltagskleidung zu vertauschen, glättete sorgsam mit flacher Hand jede Falte des schwarzen Serge-Rocks aus, eh' sie ihn der Truhe vertraute, setzte sich sodann auf dem Sessel, dem Zeichentisch gegenüber, behaglich zurecht, überzählte die abzunehmenden Maschen des Strickstrumpfs, und begann endlich mit schrillender, nach Bedürfnis des Effekts gesteigerter Stimme ihre pflegemütterliche Ermahnung.
Es zerfiel diese der chronologischen Ordnung gemäß in 3 Theile. Der erste handelte von Friedli's Vater, dem armen aus Ober-Ungarn eingewanderten Formschneider, welcher zu Worblaufen in der Papier-Manufaktur des Herrn Gruner habe dienen und schnitzen und hungern müssen; von den Jugendjahren des verwahrlosten Buben, und wie dieser trotz den Gaißen faul und müßig auf den Bergen herumgeschlendert sei; von seinem Aufenthalt in der Pestalozzischen Anstalt zu Neuenhoff im Kanton Aargau, wie täppisch er sich dort bei jeglicher Unterweisung angestellt habe, und nur mit Müh' und Not seinen einfältigen Namen zu kritzeln gelernt. Der zweite Teil der Rede sprach von Gottfrieds Aufnahme im Freudenbergerschen Hause; wie ihr in Gott ruhender Eheherr sich des herumvagierenden Lumpen erbarmt, ihm liebreichen Unterricht in der Zeichenkunst und im Kolorieren mit Lavis-Farben erteilt, und ihn gleichsam erst zu einer Art von Menschen gestutzt habe. Die letzte Abteilung datierte von dem Tode ihres Gatten an, und verbreitete sich weitläufig über das jammervolle Los einer bedrängten, ohne einen Anhalt in der Welt stehenden Witwe, welche ungeachtet ihrer erbärmlichen Lage ihr Kreuz geduldig, wie es einer guten Christin zieme, trage, und einen bettelhaften Schalk zu Gottes alleiniger Ehre noch fernerhin speise und kleide, und wie eine leibhaftige Mutter an ihm handle, trotzdem, daß Undank ihr alleiniger Lohn, und der faule Landstreicher nichts thue als lungern und sich mästen, als mit den Katzen spielen und zum Fenster hinaus gaffen, sein Brot mit Sünden essen und darauf simulieren, wie er wieder auf und davon laufen könne.
Der Gedanke, wie möglich es sei, daß sich die letztere Anschuldigung verwirkliche, und die Grüße des dadurch erwachsenden Verlustes drängte sich der Meisterin mit voller Gewalt auf, wandelte ihre leidenschaftliche Stimmung in eine elegische, das schneidende Dur ihrer Stimme in ein tremulierendes Moll, und löste das Donnerwetter in einen voll und dicht herabklatschenden Thränenregen auf.
»Was keift Ihr, Meisterin? Was greint Ihr? Bleib' ich denn nicht im Haus?« Dies war die einzige Erwiderung des Ausgescholtenen, nach welcher er wiederum in seine gewöhnliche, mürrische Schweigsamkeit versank.
Einem sprachgewandteren, lebenskundigeren Gegner als Friedli wäre es ein Leichtes gewesen, jene ebenso unwahren als hämischen Anschuldigungen von sich abzuwälzen, und nur allzugegründete Gegenklagen anzustellen: Der unbeholfene, der Welt völlig entfremdete Mind hingegen hatte keine Ahnung von dem einträglichen Wucher, den die Witwe mit seinen weltberühmt gewordenen Zeichnungen trieb. Ihm war es völlig unbekannt, daß sein Pinsel für die hartherzige, zänkische, geizige Brotherrin, welche ihm nur den kläglichsten Lohn, die armseligste Kost und Bekleidung zugestand, ein goldschöpferischer sei, für sie, welche, nur mit giftigen Worten verschwenderisch, ihm sogar die nächtliche Ruhe verkümmerte, und ihm zur Schlafstelle ein dürftiges, selbst für den Verkrüppelten zu kurzes Kinderbett anwies. Der leicht Täuschbare wußte nicht, wie grausam er um sein Leben bestohlen werde: waren doch die Bilder eines freieren, reicheren sogar seinen Träumen fremd geblieben. Seine Stube, der Ledersessel, den er in einer Reihe von zwanzig Jahren kaum verlassen hatte, dies war seine Welt; die herrschsüchtige Meisterin galt ihm als leitendes, unerbittliches Fatum; er kannte keine anderen Freudenhimmel als die Besuche bei dem Kaufmann Wagner; er liebte Niemanden als dessen Tochter und seine Schoßtiere.
Tag um Tag entschwanden dem Berner Friedli in frostiger, nebelgrauer Einförmigkeit. Kein Ereignis erschütterte diese stagnierende Existenz, kein Wechsel als nur der der Jahreszeiten machte sich ihm fühlbar. So mochte er seit jenem Weihnachtsfeste um acht Jahre gealtert sein.
Es war ein sonnigheller Apriltag, der letzten des Monats einer. Das Fensterkreuz und runde Blei der Scheiben schattete sich, von der Frühsonne beglänzt, auf den mit Sand bestreuten Dielen ab, und durch die geöffneten oberen Flügel drang eine laue, würzige Frühlingsluft ins Zimmer. Die Meisterin rumorte in der Küche. Friedli trat ans Fenster und drückte ein sauberes Velinblatt an das Glas, um die Umrisse einer neuen Zeichnung nach einer bereits fertigen zu ziehen. Bald aber ließ er Stift und Papier sinken, um träumerisch den vorüberziehenden Gestalten, dem bewegten, wechselnden Treiben des Volkes nachzustarren.
In dem jungen Grün der Weinspaliere, welche die Wände der Häuser bekleideten, schrieen die Sperlinge. Neugierigschlaue Mädchengesichter blickten hinter duftenden Geraniumsträuchern und blühendem Goldlack aus den gegenüberstehenden Häusern auf die Gasse. Auf der von der Sonne beschienenen Seite plauderten Wärterinnen, die sanft schlummernden Säuglinge im Arm, und zu ihren Füßen ruhten im Knäul sich sonnende Hunde, welche dann und wann mit geschlossenen Augen die Nasen emporreckten und dann wieder in ihre behagliche Lage zurücksanken. Ein frühzeitiger, goldgelber Schmetterling gaukelte durch die Straße, und ein Mützenwerfender Haufe Buben verfolgte schreiend und jubelnd den verirrten. Um die Ecke schwenkte der lange, weitläuftige Zug der Chorknaben, einem verstreut fliegenden Dohlenschwarm vergleichbar, hielt im Halbkreise vor dem Hause und begann sein Lied abzuhaspeln. Mit mächtiger Schwingung der Faust gab der im Mittelpunkt stehende Sigrist den Takt an, wandte die rotglimmende Nase heftig von der Rechten zur Linken, gleich als wolle er mit diesem glühenden Exstirpator das ringsum in unbändiger Fülle aufschießende Unkraut der Mißtöne ausreuten, und begrub dann wieder das fest angedrückte Kinn in die weiße Halsbinde, um, mit gründlichem Baß einfallend, dem einreißenden Unwesen zu steuern.
Mit künstlerischem Auge maß Friedli den Taktpaukenden Chorführer und dessen jugendliche Singakademie, deren rotbäckige Gesichtchen der dreieckige Riesenhut ohne den Anhaltpunkt der breitabstehenden Ohren begraben hätte, wie sie, trauernden Spitzmäusen gleich, den brummenden Kater umdrängte, ihre durchlöcherten Ellenbogen mit den schwarzen Mäntelchen verschleierte, und dann vereinzelt in die Thüren der Bürger schoß, um das Kreuzer-Honorar für ihre Melodieen einzukassieren – da schlorrte der Pantoffel der Meisterin in das Zimmer:
»Was stehst Du? Was gaffst Du?« zankte sie auf Gottfried ein. »Lungerst Du wieder am Fenster? Hast heute noch nichts gemacht. Sitz' her und arbeit'!«
»'S Änneli kommt!« erwiderte auf seinen Platz zurückschleichend der Friedli.
Die Witwe würgte mühsam den Verdruß über die unwillkommene Störung hinunter, jagte scheltend und strafend einem spielenden Kätzchen den herabgerollten Wollenknäul des Strickzeugs ab, und senkte sich maulend in ihren Lehnstuhl. Mit freundlichem Grüßen trat die Erwartete ein und überbrachte Friedli eine Einladung auf den Abend.
Änneli war zur reizenden Jungfrau erblüht, zu einer jener stillfrommen Schönheiten, bei deren Anblick man leise und unwillkürlich ausruft: Du Engelsgesicht! Nur ihr Herz allein war nicht gealtert, und rein und sorglos und freudig wie das des achtjährigen Kindes geblieben. Ihre innige Anhänglichkeit an Friedli hatte den Wechsel der Jahre überdauert, und wohl war der treue Gefährte der Kindheit ihrem Herzen nur noch näher getreten, seit sie dessen hilflose Lage verstehen lernte, seit sie erkannt hatte, daß sie die einzige sei, deren Huld und Freundseligkeit sein farbloses Leben verschöne. Der allmähliche Übergang zur Jungfrau der fast täglich wieder erschauten Kleinen war Gottfrieds Augen entgangen; sie war ihm noch immer das heitere, unbefangene Kind, dem er mit einem gemalten oder geschnitzten Figürchen die herzlichste Freude bereiten konnte, das mit dem lebhaftesten Anteil den Berichten von dem Befinden seiner tierischen Lieblinge lauschte. Änneli's feine, schmächtige, elfenartige Gestalt mochte wohl Friedli's Irrtum begünstigen; doch selbst wenn er die Umwandlung gewahr worden wäre, so hätte er, der in allen Lebensverhältnissen Neuling blieb und nie über die engen Schranken seiner Umgebung hinaussah, in diesem seltsamen Bunde dennoch eben nichts Befremdliches zu finden vermocht.
Oftmals zwar deutete Änneli's Vater mild warnend darauf hin, wie so mancher Fessel das Kind spotten darf, während die erwachsene Jungfrau sich ihr zu unterwerfen gezwungen ist, wie hart und lieblos die Welt jegliches Thun, welches sich von dem alltäglichen Geleise entferne, zu richten pflege. Und soll auch ich den Ärmsten verlassen? war des Mädchens wehmütig-klagende Erwiderung. Hat ihn doch niemand lieb, wenn ich's nicht bin. – Wagner vermochte nicht der Tochter, seinem einzigen Kinde, dem Spiegelbilde der Gattin, welcher dessen Geburt das Leben gekostet hatte, die fromme Bitte zu verweigern, und so ließ er es denn noch ferner, wenn auch mit heimlichem Widerstreben geschehen, daß sie dem Glücklosen als tröstende, wohlthätige Fee nahe. Das mißgünstige Grollen der Meisterin aber brach teils an der Scheu vor dem Namen des begüterten, einflußreichen Ratsherrn, des niemals abdingenden Kunstliebhabers, teils an dem unerwarteten, trotzigen Widerstände ihres Pflegebefohlenen bei dem ersten ihrerseits gewagten Versuche, ihn dem Wagnerschen Hause und seiner Änneli abwendig zu machen.
Die Sonne neigte sich allmählich den Bergen zu. Die mit Linden und Kastanienbäumen bepflanzte Plateforme, auf welcher der uralte Münster ruht, begann sich mit Spaziergängern zu füllen, welche die Milde der Luft aus den dumpfigen Stuben lockte, oder welche von auswärtigen Wanderungen heimkehrten und in den Händen Schlüsselblumen oder blühende Kirschbaumstengel mit Trophäen aus dem neuerdings eröffneten Frühlings-Feldzuge heimtrugen.
Auf einer der Bänke unfern des jähen Abhanges, in dessen Tiefe die Aar vorbeistrudelte, saßen Friedli und dessen junge Freundin in stillherzlichem Genuß des herrlichen Abends versunken. In dem frischen Grün der Blätter und unter den aufspringenden Blütentrauben der Kastanien wiegte sich eine Nachtigall und vermischte ihren Gesang mit dem Rauschen des über die Zacken herabdonnernden Stromes, dessen Gicht von der Abendsonne vergoldet weit umher sprühte. Jenseits des Wassers wogte, so weit das Auge reichte, ein Blütenmeer über die fernhin ausgebreiteten Gärten, Die Glut der Sonne zog sich allmählich auf die Gipfel der Berge zurück, und aus den blauen duftigen Schatten, welche ihren Fuß und Gürtel nach und nach verhüllten, glommen einzelne Hirtenfeuer.
Beim Anblick der fernen, heller und heller leuchtenden Flammen fühlte Friedli sich wunderbar bewegt. Alle die Erinnerungen an seine Kindheit, an die einzige Zeit seiner Freiheit, seines Glückes, erwachten übermächtig. Er sah sich wieder als den dürftigen Hirtenbuben, wie er dem deutschen Maler Legel, welcher Motive sammelnd die Gegend durchstreifte, anfangs in blöder Entfernung nachgeschlichen, wo er dann schüchtern sich an ihn gedrängt, und mit starrer Verwunderung den ihm völlig neuen Zauberkünsten des Pinsels und Griffels gelauscht habe; wie ihm dann der gutherzige Künstler gar manches von trefflichen Werken, die er selbst oder ältere Meister erschaffen, vorgewiesen, und damit die unwiderstehliche Lust, ein gleiches hervorzubringen, erweckte.
Das Angedenken an jene glücklichen Tage durchzuckte ihn schmerzlicher denn je. Zum erstenmale schien er sich mit tiefer Wehmut klar bewußt zu werden, daß er doch nur recht verlassen und unterdrückt und unglücklich sei, und es war, als ob diese Empfindung sein wortarmes, »erschlossenes Wesen überwältige. Noch nie war Friedli so beredt gewesen, noch niemals waren ihm die Worte in so gefügigen Wendungen von den Lippen geflossen.
Mehr noch als der lebendige Vortrag, die erhöhte Stimme des Sprechenden, einer lauteren, als man sie wohl an öffentlichen Orten zu hören gewohnt ist, hatten die linkischen Bewegungen, die groteske Bildung Friedli's welche dem stillen, sanften Liebreiz des Mädchens als Folie zu dienen schienen, die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf sich gelenkt. Kopfschüttelnd oder mit spöttischen Mienen zogen die Meisten an der seltsamen Gruppe vorüber, von den Besprochenen teils unbemerkt, teils unbeachtet.
Schon seit geraumer Zeit umschlich der Kunsthändler Orell, den seine Geschäfte nach Bern zurückgeführt hatten, das Paar, im innerlichen Kampf, ob er einen neuen Versuch wagen solle, den Maler für sich zu gewinnen, schoß aus seiner funkelnden Brille giftige Blitze auf den Gegenstand seiner Sehnsucht, so oft er der schnöden Abfertigung gedachte, und tauchte dann wieder, den enormen Gewinn überrechnend, gedankenschwer den Zeigefinger in die goldene Spanioldose. Säbelklirrend strich ein junger, hochgewachsener Mann in blitzender Reiter-Uniform an den Beiden vorüber. Ein großer, flockhäriger Windhund folgte ihm mit gesenktem Kopf und Schweif auf der Ferse. Mit geringschätzigen Blicken musterte er das unscheinbare Gewand, die gebückte Haltung des Berner Friedli, und verneigte sich dann um so ehrfurchtsvoller, die Hand an das Kaskett legend, vor der Jungfrau. Verlegen errötend erwiderte Änneli den Gruß.
»Kennst Du den Mann mit dem schwarzen Bart und den Silberlitzen am Rock und dem großen Hund?« fragte Gottfried. »Wer ist's««
»Nur sein Name ist mir bekannt. Junker Ulrich von Bubenberg, des Schultheißen Neffe ist's. An meinem Fenster reitet er des Tages wohl dreimal vorüber. Sonst ist mir er fremd.«
»Wer an solch einem breitmäuligen, kläffenden, zerrenden, zuschnappenden, wilden Tier wie'n Windhund sein Wohlgefallen findet,« grollte Friedli, »der mag wohl selber ein so breitmäulig, kläffend, zerrend, wildes Wesen an sich haben. Ich mag solche großsprecherischen, spornklappernden, rauflustigen Burschen nicht wohl leiden. Mir wird nicht heimlich bei dem vorlauten, wüsten Volk. Laß Dich nicht mit ihm ein, Änneli. Laß ihn ziehen; und schau wie der Schnee auf dem Hochgebirg' rosig flammt, als erglüht' er vor Freude, weil er Gottes Herrlichkeit erschau'n darf. Ach, dort oben ist's prächtig! Das waren noch schöne Tage, als ich auf den Höh'n frei herumstreifen durft'. Wie oft Hab' ich dort vor der Sennhütte auf der grünen Matt unter all' den würzigen, duftenden Blumen gesessen, wenn die glockenläutenden Küh rings umher werdeten und die Gaißen von Zacken zu Zacken sprangen, und ich die Tier' in Holz nachschnitzte. Dann Hub der Hirt wohl hell und freudig an zu jodeln, daß der Sang durch die Schlüfte zog, schwächer und schwächer, bis er auf der nächsten Alp den Sennbub ermunterte, und der ihm in der nämlichen Sangesweis' antwortete, und die Klänge in den Lüften leis' verschwammen. Drunten zu Füßen aber lag die große herrliche Welt mit den silberfunkelnden Flüssen und den dunkeln, stummen Waldungen und weißen Dörfern. Ach du schöne, schöne, stille Alp!«
Mit diesem Ausruf erhob er sich von der Bank, breitete die Arme nach den Bergen aus und heftete stumm die sehnsüchtigen Blicke nach dem verglimmenden Abendrot der Spitzen. Plötzlich aber fiel er zurück; die Arme sanken »schlaff hernieder, und mit den kaum vernehmlichen Worten: »Änneli, mir wird's vor den Augen so schwarz, ich kann nichts mehr sehen!« neigte er ohnmächtig sein Haupt auf die Schulter des erschrockenen Mädchens,
Der unwillkürliche Aufschrei Änneli's versammelte in kurzer Zeit einen dichten Kreis von Gaffern. Orell und der Herr von Bubenberg drängten sich dienstbeflissen aus dem Haufen und befreiten die Jungfrau aus ihrer peinlichen Lage. Ihre schüchterne Bitte, den Erkrankten nach dem Hause ihres Vaters zu geleiten, schien jedoch dem Offizier ebenso unerwünscht als dem Kunsthändler zu kommen, und es bedurfte eines zweiten fragenden Blickes auf den Junker, eines erneuten Gesuchs an den Züricher, um beide zu vermögen, daß sie dem ans seiner Ohnmacht allmählich Erwachten thätlichen Beistand leisteten und ihn nach der nahegelegenen Wohnung des Kaufmann Wagner zurückführten.
Jenes wohl nur widerstrebenden Herzens an Mind geübte Werk der Barmherzigkeit hatte dem Junker den Zutritt in das Wagnersche Haus eröffnet. Die flüchtigen Huldigungen, welche er bisher dem lieblichen Mädchen dargebracht hatte, begannen allmählich einen ernsteren, ausschließlichen Charakter anzunehmen, und zuletzt in leidenschaftliche Zuneigung überzugehen. Er war der erste Mann, welcher sich Änneli in Liebe zuneigte. Die körperliche Schöne, das gewandte, lebenskräftige Äußere ihres Verehrers, sein chevaleresker Anstand, vielleicht auch das Neue der Situation verfehlten nicht, in dem kindlich unbefangenen Gemüt des geschmeichelten Mädchens jenes Wohlwollen, welches sie sich als Liebe deutete, zu erwecken. Mit heimlicher Wonne vernahm sie das Geständnis seiner Leidenschaft, und nur allzu deutlich verriet die schüchtern gestammelte Entgegnung, welchen Anklang diese Stimme in ihrem Herzen gefunden hatte. Des Edelmanns geschichtlicher Name, welcher Berns Gründung bereits überdauert hatte und den achtbarsten Geschlechtern der Schweiz zugezählt wurde, seine Familienverbindungen, sein anererbter Reichtum verliehen ihm alle Ansprüche, um auch in den Augen des Vaters seiner Geliebten für einen annehmlichen Freier zu gelten, und so währte es denn nur kurze Zeit, bis die Kunde von der Verlobung des Junkers von Bubenberg und des Fräuleins Annette Wagner zur Neuigkeit des Tages wurde, und zuletzt auch in den dumpfen Kreis, in welchem Mind sich bewegte, Eingang fand.
Es war augenscheinlich, daß jenes seltsame Verhältnis zwischen dem alternden, ärmlichen Künstler und der mit allen Vorzügen der Natur und des Glückes begabten Braut nunmehr zum Bruch kommen, daß ihre Lebensbahnen sich von diesem Moment an weiter und weiter von einander entfernen mußten. Ein neues Leben, ein seit dem Tode der Mutter Änneli's ungewohntes, begann im Hause des Ratsherrn. Festlichkeiten und Gastmähler verkündeten in den so lange verödeten Gemächern den Bund zweier angesehener Patrizier- Familien; mannigfache Vorbereitungen zu der nahen Vermählung füllten die übrige Zeit, Änneli stand in dem Mittelpunkt des geräuschvollen Treibens und fühlte sich, kaum aus dem Traum der Kindheit erwacht, plötzlich von den Wirren der Welt befangen und betäubt. Oft zwar gedachte sie noch des armen Friedli mit herzlichem Wohlwollen, und sandte ihm freundliche Grüße zu und manche Gabe, von welcher sie ahnen durfte, daß sie seine trübe Einsamkeit erhellen könne; ihr selbst wurde es während der schnell voüberrauschenden Monate nicht möglich, sich von den neuen, sich stets vervielfältigenden Banden, wenn auch nur auf Augenblicke, los zu machen, zu dem Freunde ihrer Kindheit zu eilen, ihn von der Nähe ihres Glückes zu unterrichten. Der Verlobte aber wahrte sich, das Angedenken des Verlassenen, dessen er als eines mit dem Fluche des Lächerlichen Behafteten nur mit Widerwillen gedachte, zu beleben, und selbst der Ratsherr bemerkte nicht ohne geheimes Wohlgefallen, daß jenes Bild in der Seele seiner Tochter zu verblassen begann.
Im Hause der Frau Freudenberger sah es im Gegensatz zu dem Wagnerschen trüber und unheimlicher denn je aus. Seit jenem Abende hatten sich bei Friedli alle Vorboten der durch übermäßige Arbeit, durch den jammervollen Druck genährten Brustwassersucht eingestellt. Unfähig zu jedem Geschäft saß er matt, in dumpfes Brüten versenkt, und abgestorben gegen die Außenwelt auf seinem Lehnstuhl, und weder das Schmeicheln seiner getreuen Lieblingstiere, noch das keifende Geklage der Malerswitwe schien den nach und nach Dahinwelkenden sonderlich mehr aufregen zu können. Bei der Kunde von Änneli's Brautstand loderte die Lebensflamme noch einmal flackernd auf, um dann nur desto tiefer einzusinken. Es war ein recht bittrer Schmerz, welcher ihn bei dieser Nachricht durchzuckte. Nicht das Leid, daß sie fortan einem andern angehören solle, war es, welches ihn überwältigte – nur das deutliche Bewußtsein, daß er fortan nicht mehr ans ihre stillbeglückende Nähe zählen dürfe, daß sie für ihn auf immer verloren sei, daß mit ihrem Scheiden der letzte, ja der einzige Stern, welcher an seinem düstern Horizont geglänzt habe, erloschen sei. So vergingen dem langsam Hinschwindenden der Frühling, der Sommer in recht trostloser Dämmerung,
Schon strichen die herbstlichen Stürme durch die blätterlosen Kronen der Bäume, als Änneli am Arm ihres Bräutigams die Stadt durchstreifte. Ihr Weg führte sie in die Nähe des Freudenbergerschen Hauses,
»Laß uns eintreten,« bat das Mädchen, »Wie oft habe ich mir nicht schon die bittersten Vorwürfe gemacht, daß ich so undankbar gegen den guten Friedli, dem meine Jugend so manche freudige Stunde verdankt, gewesen bin, daß ich in meinem Liebesglück des Armen so selten gedachte. Und jetzt soll er leiden, sagen sie. Komm zu ihm, wir sind nur wenige Schritte von seiner Wohnung.«
»Wozu das, mein Anneli? Ich will Dir nicht verschweigen, daß es mir eine recht peinliche Erinnerung ist, Dich jemals an der Seite jenes mißgestalteten Zwerges erblickt zu haben, Zeuge gewesen zu sein, wie Du Dein liebes Engelsantlitz jener häßlichen braunen Fratze zuwandtest, so achtsam dem widrigen, nur von Bären und Katzen brummenden Pinsler lauschtest. War es doch, als habe ein seltsamer Zauber Dich umstrickt, als Du Dich dem Unleidlichen in aller Holdseligkeit zuneigtest. Und jetzt, wo der unheimliche Bann gelöst ist, wo Du aus dem wüsten Traum, welcher Deine Kindheit verdüsterte, erwacht bist, jetzt, Geliebte, möchtest Du den unser helles Glück verstörenden wieder herauf beschwören?«
»Wie magst Du nur so harte Worte sprechen, Uly, so ungerecht gegen den harmlosen Friedli sein. Er war so gut, hat nie eine andere Freude gekannt, als mir Freude zu schaffen. Wie so oft habe ich als kleines Mädchen die schönsten Zeichnungen, an denen er tagelang gearbeitet, im kindischen Übermut zerrissen. Er aber zeichnete unermüdlich von neuem – es war das Einzige, was er mir zu bieten hatte – und war glücklich, wenn ich dann freudig in die Hände klatschte und über die saubern Bildchen aufjubelte. Und nun schmähst Du ihn verstörend und unheimlich, weil er arm und unschön und unglücklich ist. O mein Uly, sei gut. Es gilt nicht, jenes trauliche kindliche Verhältnis wieder anzuknüpfen, nur in das Leben des an allem Verarmten einen hellen Sonnenstrahl zu senken. Es ist ja so leicht den Menschen zu beglücken, so schön die hervorquellende Thräne zu trocknen, so grausam auch mit dem flüchtigen Worte des Trostes zu kargen.«
Mit heimlichem Widerstreben folgte der Patrizier der voraneilenden Jungfrau. Friedli saß mit müde gesenktem Haupt in dem Armstuhl und streichelte leis' das Samtfell der auf dem Schoße ruhenden schön getigerten Katze, deren Bild seine Zeichnungen so häufig wiederholen. Auf seinen Wangen war eine fahle Blässe an die Stelle des frühern dunkeln Rots getreten, und das matte, erloschene Auge lag tief in der Höhle. Ein kaum merkliches Lächeln überflog seine Lippe, als er die Eintretenden gewahrte.
»So kommst Du doch noch einmal, Änneli,« flüsterte er, »das ist gut, das ist schön von Dir. Ich glaubte schon, Du habest mich ganz vergessen.«
Tief ergriffen von dem leidenden Aussehen des Siechen trat die Jungfrau näher. »Mein armer Friedli, ich hab' es nicht geahnt, daß Du so krank wärst – und Du hast die Apfelsinen, die ich Dir sandte, nicht gekostet? Dort liegen sie noch alle unberührt – Du mochtest sie ja sonst so gern. Sieh nur, Friedli, ich bin so glücklich, dort steht mein Bräutigam – Du Ärmster, was kann ich denn für Dich thun?«
»Grüß Euch Gott, Junker,« erwiderte Mind mit klangloser Stimme, »Und Du bist glücklich, Änneli? Du hast es wohl verdient, Du gutes, frommes Kind. Nun, mir geht's ja ganz wohl – bald hab' ich's überstanden – recht bald,«
Leise Thränen des Mitgefühls rannen über die Wange des Mädchens, Unangenehm berührt von der geahnten, peinliche Szene, hielt sich der Junker von Bubenberg in der Entfernung, mit frostigen ablehnenden Worten den weitschweifigen, altmodischen Komplimenten der durch den vornehmen Besuch geschmeichelten Witwe begegnend – da sprang die Thür auf, und herein stürmte der große Windhund des Offiziers, welcher seines Herrn Spur bis hierher gefolgt war. Mit mächtigen Sätzen stäubten die harmlos spielenden Katzen und Kätzchen vor dem wütend hereinbrechenden Erbfeind ihres Geschlechts auseinander, und flüchtete» sich auf Schrank und Bett – nur die zu spät aus ihrem sanften Traum erwachte Schoßkatze Friedli's versah es. Ein pfeilschneller, weitausgreifender Sprung des Hundes, ein zermalmender Biß – und ehe noch der dräuende Junker, der entsetzt aufschreiende Mind einschreiten konnten, lag das schöne Samtpfötli blutend und zum Tode wund auf der Diele.
Schluchzend und unter heißen Thränen hob Friedli mit zitternden Händen den Liebling auf, legte den zuckenden in den Schoß, und trocknete unter den zärtlichsten Schmeichelworten und Liebkosungen das hervorquellende Blut von dem getigerten seidenweichen Fell der Sterbenden. Es war vergebens – noch einmal schlug das Tier die Augen auf, blickte seinen liebevollen Pfleger wie schmerzlich bittend an, winselte kläglich, und verschied.
Im Zimmer entstand eine ängstliche Pause; man vernahm nur das Ticken der Wanduhr, das krampfhafte Schluchzen des trostlosen Mind, Zwischen Unmut und Verlegenheit schwankend zog der Junker die Börse, und schob ein Goldstück auf den Tisch. »Es ist mir verdrießlich, Friedli, daß es so gekommen ist,« sprach er, »wahrlich recht fatal. Hier nimm dies zur Entschädigung.«
Da überflog eine dunkle Zornröte die noch eben bleichen Wangen des hart Verletzten, und das Gold dem Geber vor die Füße schleudernd, schrie er mit heiserer Stimme: »Behalt Dein Blutgeld, Du Schalk, ich mag's nicht!«
Hastig zuckte die Hand des Offiziers nach seiner Waffe, doch ebenso schnell ließ sie vom Säbelgriff. »Elende Mißgeburt!« murmelte er verächtlich, und hierauf mit erhöhter Stimme: »Änneli, komm, laß uns gehen, – Annette, hörtest Du nicht? – Ich gehe.«
Die Angeredete schwieg. Tief erschüttert von dem Anblick des dahinwelkenden Freundes ihrer Kindheit, dem das grausame Schicksal vorbehalten war, auch noch das Letzte, woran sein Herz gehangen hatte, vor seinem Ende sich entrissen zu sehen, kniete die Jungfrau an Friedli's Sessel, barg ihr Antlitz in den Händen, und weinte bitterlich. Von dem roh zürnenden Verlobten, welcher so herbes Weh auf das Haupt des Verlassenen gehäuft hatte und dessen Thräne mit der hochmütig hingeworfenen Münze aufzuwiegen wähnte, von dem lieblosen Verächter der Armut, des Unglücks, wandte sich Annettens Herz scheu und schmerzlichtief verletzt. Ein Blick in jenes rauhe Gemüt, welches sein unedles Fühlen zum erstenmale unverschleiert zur Schau trug, genügte, um es ihr für immer zu entfremden, um in ihrem Innern die Überzeugung zu reifen, daß die Hand, welche sie erfaßt, nimmer zum Glücke führen könne, um die unwiderrufliche Entscheidung zu begründen, daß jene Verbindung gelöst werden müsse.
Und noch einmal rief Junker Ulrich mit kaum zurückgedrängtem Ingrimm: »Fräulein Annette, ich fordere Sie zur Heimkehr auf. Werden Sie mich begleiten?« – Keine Antwort.
»Fräulein Wagner, Sie haben die Wahl zwischen mir und jenem blödsinnigen Bettler. Entscheiden Sie sich –- auf der Stelle – augenblicklich –«
Lautlos und mit abgewandtem Antlitz gab ihm die Jungfrau das verneinende Zeichen, und unter wilden Verwünschungen stürzte der Wütende aus dem Gemach.
Vier Tage später stand in dem Zimmer der Witwe ein schlichter, gelber Sarg, Ein schwarzes auf den Deckel gemaltes Kreuz, und ein am Kopfende aufgehängter Kranz von Herbstblumen waren dessen einzige Zierden. Er umschloß Friedli's Leiche. Die gewaltsame Aufregung der verwichenen Tage hatte sein Ende beschleunigt, ein Stickfluß dem Leben am 17. November 1814 ein Ende gemacht. Nur Wagner und Orell folgten der Bahre. Ein einfacher Stein, mit Angabe des Geburtsjahres und Todestages, bezeichnet die Stelle, wo Gottfried Mind von seiner freudenleeren, mühseligen Pilgerfahrt ruht.