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Es gibt in unserem Lande nicht viele Christen, die von ihren Heimstätten gar so weit zu ihrer Pfarrkirche hätten wie die Greisetschläger Einschichtler. Der Greisetschlag ist die einzige Rodung eines breitlehnigen Waldberges und liegt auf einem ziemlich steilen Hange dem Osten zugewendet. Das kleine, waldfreie Bodenstück sieht über vielgestaltige Vorhöhen auf kleine Hügel und weiterhin auf eine große Ebene. Auf einem der Hügel stand die Kirche, welcher die drei Greisetschläger Bergbauernhäuser zugepfarrt waren. Ehemals hatten die Einschichtler den prächtigen, alten Bau von ihren Häusern aus sehen können, aber nun entbehrten sie schon seit Jahren diese Aussicht, die ihnen gar lieb gewesen war. Ein reicher Grundbesitzer, dem die diesseitige Hälfte des Hügels gehörte, ließ dort auf urbarem Grunde Fichten setzen, über die jetzt kaum mehr das alte Turmkreuz emporragte. Der reiche Mann brachte die armen Bergbauern lediglich aus Übermut um den Anblick ihrer Kirche. Er wollte bei seinem Hofe, der vor dem Hügel lag, hoffartshalber einen Naturpark haben, und deshalb machte er dieses Grundstück, auf dem früher viel Brot erbaut worden war, zu einer Wildnis, die ihm und anderen nichts eintrug.
Von denjenigen, welchen es nimmer recht werden wollte, dass der Naturpark gar so üppig vor dem Gotteshause emporwuchs, war die alte Höhschreiterin eine. Heute schien es freilich so, als ob ihr auf dieser Erde bald alles recht werden würde. Sie saß in der großen Stube des Höhschreiterhofes, der mit seiner weißen Giebelwand von dem obersten Teile des Greisetschlages auf die Vorberge und Höhen niederblickte, in ihrem Bette. Und sie wartete so wohlgefasst und so heiter wie gar selten ein Mensch auf ihr zeitliches Ende. Sie hatte freilich all das Ihre so gut bestellt wie selten ein Erdenwandler das Seine. Für sich selbst war ihr in der langen Zeit ihres Lebens nur derjenigen wegen bange gewesen, welche Gott ihrer Obhut anvertraut hatte. Nun konnte sie hoffen, dass dank ihrer selbstlosen Mühe alle, die heute so still und traurig in dem Hause herum gingen, auch ohne sie die rechten Wege finden würden. Sie war immer von all ihnen am meisten bekümmert gewesen, heute war sie aber sogar viel heiterer als ihre jüngsten Enkel, welche still an ihrem Bette saßen. Das Fußende des Bettes war bis nahe an eines der Stubenfenster gerückt, und sie sah immerzu in den hellen Wintertag hinaus. Das Schneelicht tat ihren Augen, die es ja gewohnt waren, gar nicht weh. Sie fühlte überhaupt gar kein körperliches Wehtun, nur eine unendliche Ruhebedürftigkeit.
Aber sie wollte vor dem großen Schlafe nicht mehr schlummern, sondern mit ihren Lieben reden, solange es noch möglich war.
»Drunten auf den Vorbergen taut's ein Bissel«, sagte sie jetzt. »Und weiter unten im Hügelland taut's ganz gewaltig.« Dabei dachte sie: Der Schnee soll nur recht weich werden, damit ihr nicht ausrutscht und fallt, wenn ihr mich zur Kirch' hinunter bringt. Dann sah sie nach dem fernen Naturparke hin, welcher die Kirche verdeckte, und in ihr Gesicht kam der Ausdruck eines Unwillens.
»Es ist und bleibt schad', dass man von unserer Heimat die Kirch' nimmer sehen kann«, sagte sie. »An unserer großen Aussicht das liebst' ist einem ehemals die Kirch' gewesen. Und jetzt hab' ich mich schon abg'funden, nur g'rad mit dem einen nicht. Ich sollt' eigentlich da herunt' nichts mehr wünschen, seit ich die heilig' Wegzehrung bekommen hab', aber die alt' Kirch', bei der ich ja bald liegen werd', hätt' ich doch noch gern' gesehen. Ihr Jungen wisst es ja nicht, wie es einem ehemals g'freut hat, dass sie von da zu sehen war, und wie einem um so eine Freud' sein Lebtag leid sein kann. Dass auf der Kirch' ihr'n Wandlungsturm, der g'rad über dem Hochaltar steht, Glanzziegeln eindeckt sind, das werdet ihr schon bemerkt haben. Wenn die Morgensonn' auf den Turm gefallen ist, da hat er bis da herauf geglänzt, dass ich es euch gar nicht schildern kann, wie! Läuten hört man's ja zu uns herauf nur wunderselten, aber an dem Turm sein'm Glänzen da haben wir es schon ganz genau erkannt, wann unten die Frühmess' war. Wie ja die Sonn' allmonatlich anders zu dem Turm steht, so hat er uns auch die Zeit mit verschiedenartigem Leuchten angezeigt. Zu gewissen Tagen im Sommer, da hat's um die Messzeit wie ein goldener Strauß herauf gefunkelt und im Winter wie ein großer Stern. Und wenn um die Osterzeit viel' große Strahlen von dem Turm ausgangen sind, da hat man's gewusst, dass drunten der Pfarrer das Allerheiligst' aufwandelt, und auf dieses Leuchten haben wir schon immer ganz besonders andächtig gewartet. Da sind denn alle, die da auf dem Greisetschlag gelebt haben, vor die Häuser hinaus gelaufen, sind auf die Knie gefallen und haben gebetet: »Hochgelobt und gebenedeiet …« Es war nicht viel anderes so feierlich da heroben als wie das. Ganz wundersam ist einem dabei gewesen. Es tut mir leid, dass ihr das nicht auch erleben könnt. Das große Leuchten haben wir's geheißen. Ich hätt's gern noch einmal gesehen.«
Nun hatte sich die Alte müde gesprochen.
Draußen war es so, wie sie gesagt hatte.
Der Schnee wurde nass und schwer, und unten auf den Vorbergen und auf dem Hügelgelände brach er die Bäume. Vor der Kirche aber riss er ein großes Stück des Naturparkes nieder.
An dem Morgen, der nun kam, sah der alte, graue Turm nach langen Zeiten wieder einmal den weißen Greisetschlag. Als der Pfarrer an dem Hochaltare das Allerheiligste emporhob, da schien die Sonne auf den Turm.
Und da sahen die sterbenden alte Frau und alle, die um sie herum standen, plötzlich einen hellen Glanz aus der Tiefe emporschießen.
»Das große Leuchten«, sagte sie. »Das ist's. Hochgelobt und gebenedeiet …«. Mit weit offenen Augen trank sie das funkelnde Licht, und dann versank sie, der herrlichsten, größten Freude voll, die sie je gefühlt hatte, in den großen Schlaf.
Ihre Lieben standen erst scheu staunend da. Aber als sie ihr in das lächelnde Angesicht sahen, da hielten sie es für ganz leicht begreiflich, dass ihr der Himmel ein solches Sterben bereitet hatte.