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Vor langer Zeit hauste an der oberen Moldau ein kleines Volk friedliebender, gutherziger Menschen; diese schätzten den kärglichen Erlös blutig schwerer Feldarbeit höher als den noch so lohnenden eines räuberischen Kriegszuges, priesen die Pflege von Geist und Gemüt mehr als den edelsten Betrieb des Waffenhandwerkes und gehorchten einem beseligenden Gesetze der Barmherzigkeit und Nächstenliebe.
Von den ihnen verwandten deutschen Nachbarstämmen förmlich als eine Gemeinschaft von Weisen und Priestern der Menschlichkeit verehrt, hätten sie lange ungestört ein wirksames Beispiel richtiger Lebensart gegeben, wenn nicht ein unvorhergesehener Barbareneinbruch den kleinen, glücklichen Friedensstaat vorzeitig verwüstet haben würde. Da waren die Leiber der Überfallenen schier so bald dahin gestreckt wie die Halme des Feldes beim Hagelschlag.
Einige der Streitbarsten wollten den Fürsten schirmen und verlängerten mit dieser allzu vergeblichen Mühe nur sich und ihm die Qual.
Der edle Herr lag noch in den Zügen, als der Barbarenschwall über die niedergeworfene kleine Heldenschar hinweg getost hatte.
Bei dem Sterbenden knieten die zwei letzten Hinterbleibenden ihres Volkes: das waren Friderun, des Fürsten einzige Tochter, und Astolf, sein Knecht, zwei blutjunge, blühend schöne Menschenkinder, die hinter einem Berge von Leichen mit dem Leben davon kamen. Mit herzzerreißendem Wehgeschrei hatten die beiden jungen Leute den entschlafenden Geist des Fürsten noch für kurze Zeit erweckt.
Der Hinscheidende fand nicht Ursache, sich zu freuen, da er seine Tochter lebend sah. Er griff nach dem Schwert, das vorhin seiner Hand entfiel, vermochte es jedoch nicht mehr zu erheben.
»Töte Du das Kind!« befahl er dann dem weinenden Knechte.
Aber Astolf wand sich neben seinem Herrn auf der Erde und flehte in unsäglichster Seelennot um Erlass des Blutwerkes.
Da sagte der Fürst zu seiner Tochter:
»Der Knecht ist zu weich, Friderun. Töte Dich selbst. Du sollst das Volk nicht überdauern, das zu gut, zu gerecht war in dieser Welt der Rohen und Gewalttätigen. Unser duldsames Blut soll nicht leiden in der Wüste, die hier entstehen will, wo unsere Heimat war. Du findest keine Zuflucht mehr im Lande. Es ragt für Dich kein schirmend Dach, es ersteht für Dich kein starker Mann mehr. Der schwache Knecht hier kann Dich vor der Gier der Barbaren nicht schützen. Stirb mit mir, mein Kind und preise die Götter, dass sie Dir angesichts der drohenden Schande den freien Tod gönnen.«
Nach diesen Worten des Fürsten trieb es nun die sonst geduldige Friderun kaum würdevoller als vorhin der junge Knecht. Sie bat und stritt verzweiflungsvoll um ihr Leben, welches ihr nun trotz Elend und Not so lieb wurde wie noch nie zuvor in den glücklichsten Tagen.
Der Sterbende sah seine Tochter durch ihre sich so gewaltig äußernde Lebenslust nur umso ärger gefährdet. Seine Einsicht behielt die Oberhand über ein Erbarmen, das er für ein falsches hielt, so mächtig es ihn auch bewegte. Mit großer Willenskraft und Strenge befahl er dem Knechte noch einmal:
»Töte sie!«
Auf die arme Friderun machte das wiederholte Begehr ihres Vaters einen Eindruck der ungeheuersten Grausamkeit. Sie verlor bei dieser neuerlichen Steigerung der Todesfurcht die Sinne und schlug auf den Boden hin.
»Töte sie!« befahl der Fürst abermals. »Lasse sie nicht zu einem zweiten Sterben erwachen! Erbarme dich ihrer und meiner, säumiger Knecht, oder sei verflucht!«
Jetzt rutschte der Jüngling auf den Knien dicht vor seinen Herrn hin und bat:
»Lasse sie leben und höre meinen Schwur: Ich will sie schützen.«
Der Fürst sah Astolf lange forschend an, und was er mit dem scharfen Blicke des Sterbenden in der Seele des Jünglings las, das brach ihm plötzlich den starken Willen. Er sprach:
»Du bist gut und treu, Astolf. Und wohl auch stark genug, um einen Schwur zu halten, den ich Dir jetzt abnehmen will. Höre! Du flüchtest mit Friderun in den großen Grenzwald und kämpfst für sie gegen Gefahr und Not, solange es geht. Wenn Du aber siehst, dass Du erliegen musst, so töte zuvor Friderun mit meinem Schwerte, das Du mit Dir trägst. Sie soll ihren letzten Freund nicht überleben. Und ehe sie einem Manne anheimfällt, töte sie, denn ich will, dass mein Geschlecht nicht durch sie fortbesteht. Und sollte Dich selbst Lust ankommen, meine Tochter zum Weib zu nehmen, so töte sie, solange Du Deiner noch Herr bist. Das schwöre mir!«
Astolf leistete den verlangten Eid, indem er dabei die rechte Hand auf das Schwert des Fürsten legte.
Nun senkten sich Trost und Frieden in das Herz des todwunden Mannes. Er starb früher, als es Astolf gelang, die ohnmächtige Friderun zum Bewusstsein zu bringen. Das verwaiste Fürstenkind kam eben zu sich und fing kaum seine Lage zu begreifen an, so wurde es schon von Astolf in schleuniger Flucht mit fortgerissen. Über die Flur ritt ein Barbarenschwarm heran, dem die beiden nur dank der hereingebrochenen finsteren Nacht entrannen.
Die Wanderung durch das verwüstete Land blieb auch weiterhin gefährlich. Hie und da brannten Lagerfeuer, um die es recht wüst herging, und dazwischen schwirrten Truppen, die entweder Beute oder eine passende Raststätte suchten. Gegen Sonnenaufgang brachte Astolf seine Schutzbefohlene aus dem unruherfüllten Gelände in den wilden Grenzwald, welcher vor jedem Besuch der Barbaren gar sicher war. Der junge Sonnenschein malte die furchtbare Wildnis mit tausend Farben; was hier noch vor einer Stunde ein Schrecken schien, wurde jetzt zu einem Wunder, und die zwei jungen Menschenkinder vergaßen alles bei dem Staunen über die erhaben herrliche Natur. Sie sahen sich an einen Ort versetzt, wo sie mit ihrem Herzeleid so fremd waren, dass sie dasselbe nicht in den Vordergrund des Empfindens setzen durften, wenn ihnen daran lag, hier heimisch zu werden.
Sie meinten die Wildnis schon allein deshalb nicht genug preisen zu können, weil hier die vorhin erduldete Angst den Menschen nicht galt. Der Jüngling schilderte es dem Mädchen als ein fröhliches Spiel, mit Hilfe zweier mitgebrachter Wurfspeere und des Schwertes den Lebensunterhalt zu bestreiten. Und wo ihn der Glaube an die eigene Rede gebrach, da waren Hoffnung und Jugendfeuer zur Stelle.
Die junge Fürstentochter hörte dem Knechte mit guter Zuversicht und völliger Hingabe in seinen Willen zu. Es war ihr durchaus nicht unlieb, sich ganz auf ihn angewiesen zu sehen, und sie fühlte um ihr Leben keine Sorge mehr, seit dieses in seiner Hand lag.
Es war Mittagszeit, als sie mühselig ein dichtes Unterholz durchdrungen hatten, welches auf sumpfigem Boden stand und in mächtiger Höhe von den Kronen schütter stehender Riesenföhren überdacht wurde. Ohne die zahlreichen Breschen, die von gestürzten Baumleibern in die junge Wucherung geschlagen waren, und ohne die bis auf das nackte Gestein hinab eingewühlten Wasserläufe hätte kein Mensch durch dieses Revier gelangen können. Und wie die beiden dann einen halbwegs gangbaren, bergigen Hochwald hinan strebten, hoffend, hier einen trockenen Unterschlupf zum Nächtigen zu finden, ward ihnen plötzlich helle Freude beschert: da oben auf dem Kamme des Berges stand eine turmähnliche Felsenmasse, deren oberste, kahle Plattform noch ein gutes Stück über den hohen Baumgipfeln in der Sonne bleichte. Und an der Sonnenseite des steinernen Bergaufsatzes war zwischen so fein wie von Menschenhand geglätteten Felsplatten ein artiges Gemach, gerade schön und groß genug zum Hausen für zwei heimatlose Menschenkinder.
Der Eingang der seltsamen Höhle war wie im Einverständnis mit der Baukunst des Menschen um vieles niedriger und schmäler als ihr Inneres. Die dunkelnde Hinterwand bedeckte über und über ein Teppich aus kurzem, mattglänzendem Moos. Zu der seltenen Höhle führten artige Stufen empor, nämlich drei fast mannshohe Steinblöcke, vor denen sich die kristallhellen Wasser eines Weihers spiegelten.
Astolf und Friderun glaubten allen Ernstes, ein vorsorglicher Gott hätte dieses Naturwunder eigens für sie geschaffen. Voll herzlicher Dankbarkeit ergriffen sie von diesem Wohnorte Besitz und richteten sich hier so gut als möglich ein.
Für den ärgsten Hunger gab es Beeren genug in der Runde, und aus den Quellenbecken übersprudelte der köstlichste Trank. Astolf sorgte sogleich für mehr. Er schlug mit einem Kiesel auf dem stählernen Einsatz des Schwertknaufes Feuer; den Zünder lieferte ein Kleiderfetzen, und dann gab es zum Abendbrot schon gebratene Schwämme.
Während der Knecht einen ordentlichen Holzvorrat zum Unterhalt der auf den obersten Stufen brennenden Flamme besorgte, war das Fürstenkind als Hausmutter beschäftigt, indem es aus Moos ein Nachtlager machte, worauf es sich hernach prächtig schlief bis zum anderen Morgen.
Am nächsten Tage stellte es sich heraus, dass ein baldiger Jagdgang Astolfs unvermeidlich sei. Dann war es der einzige Kummer des Jünglings, das Mädchen für Stunden allein lassen zu müssen. Und Friderun hatte ihre Sorgen um die glückliche Heimkehr des Schützers. Einen der Speere ließ er ihr zurück, damit sie sich vor etwaigen Angriffen wilder Tiere schützen könne. So sehr sie die Einsamkeit fürchtete, verging ihr dann doch die Zeit bei dem Bestaunen von tausend kleinen und großen Dingen der unberührten Urwaldnatur. Trotz Astolfs Verbot wagte sie sich ziemlich weit von der Höhle fort und wurde dabei mutiger von Stunde zu Stunde. Ein Bär, der ihr begegnete, staunte sie nicht minder an als sie ihn, dann ging er seines Weges. Etliche Rehe waren ihr auch voller Neugier zugekommen. Die Tiere hier hatten noch nicht die entsetzliche Furcht vor den Menschen, sie kannten ihn nicht wie denjenigen draußen im offenen Lande. Es währte gar nicht lange, da brachte Astolf auch schon den feisten Damhirsch geschleppt. Jetzt gab es weder Not noch Harm, und die beiden Leute gewöhnten sich wunderschnell in das veränderte Leben. Sie fürchteten nicht einmal, dass ihnen in Zukunft dieses Dasein zu eintönig werden könnte. Noch weniger waren sie auf solche Wandlungen bedacht, welche nicht durch gemeine Not oder Gefahr bedingt werden. Sie erfuhren an sich und aneinander unversehens Dinge, von deren Möglichkeit sie bisher keine Ahnung hatten.
Es war noch lange nicht Herbst im Tann, da kam ein Tag, wo Astolf von der Jagd heimkehrend Friderun in Tränen fand.
Nach dem Grund ihrer Erregung befragt, gab sie zur Antwort:
»Ich sehnte mich nach Dir.«
»Sonst war' nichts?« fragte er. »Nun, da bin ich ja, Friderun!«
»Ja, da bist Du«, entgegnete sie traurig lächelnd. »Aber ich sehne mich nach Dir, auch wenn Du da bist. Und ich weiß, Du wirst meine Sehnsucht nicht stillen. Du willst nur sorgen für meinen schlechtesten Teil. Meine Seele willst Du darben lassen lebelang.«
Er schüttelte den Kopf und sagte:
»Ich verstehe Dich nicht«, obgleich er sie ganz gut verstand, denn er sehnte sich seit Kurzem nicht minder nach ihr, als sie sich nach ihm.
Sie hatten schier allzugleich die Zaubermacht der Liebe kennen gelernt. Aber Astolf gedachte seines Schwures.
Friderun weinte immerfort, und endlich rief sie voll Leidenschaft und Unduldsamkeit aus:
»Du musst alles begreifen lernen, was ich für Dich fühle, musst meine Gefühle erwidern. Ich will entweder im völligen Verständnis mit Dir leben oder Dich fliehen. Deine Gleichmut ist mir unerträglich, Deine knechtige Unterwürfigkeit ist mir schändender Hohn, Dein sanftes Lächeln erfriert mich.«
Dem Jüngling ward so weh wie noch nie zuvor. Er hätte ihr allzu gerne alles, was sie wollte, zugestanden, doch hielt er sich mit aller Gewalt an sein dem Fürsten gegebenes Wort und sprach:
»Wenn Du an meinen Schwur denkst wie ich, kannst Du wieder guten Mutes werden.«
In den Augen Frideruns lohte es wild auf, sie stampfe mit den Füßen und rief:
»Dein Schwur war Wahnsinn. In dem Feuer meiner Liebe machen tausend solcher Schwüre ein Aschenstäubchen aus. Die Liebe dauert immer, sie verklingt nicht im Augenblick wie das Wort meines Vaters, der keine Stunde weit in die Zukunft sah. Es war frevelnde Anmaßung des Fürsten gegen die Natur, jenen Schwur abzunehmen.«
Astolf schüttelte nur wieder den Kopf uns sagte:
»Dein Vater hat wohl auf Grund tiefer Erfahrung gesprochen. Er hat dereinst geliebt wie Du … – und ich«, wollte er sagen, aber er verschluckte das verräterischen Wörtchen und sagte stattdessen: »Wenn er unrecht hatte, so steht das Rechten hierüber nicht mir, dem Knechte zu. Ich muss meinen Schwur halten, ob's nun zu Leid oder Freud führt.«
Jetzt blieb Friderun still, aber nicht so, als wenn ihr etwas von Astolfs Worten einleuchtete. Es war ein gar arges Stillschweigen. Dem Jüngling war nicht anders, als wenn ihm das Herz an tausend bohrenden Messerspitzen steckte. Und doch dauerte er sich selbst gar nicht vor lauter Erbarmen für das arme Fürstenkind. Aber er blieb standhaft und wollte eher alles erleiden als den Schwur brechen. Friderun machte ihm in der nun folgenden Zeit das Ausharren schwer genug. Er empfing für seine aufopferungsfreudige Dienstbeflissenheit keinen versöhnlichen Blick mehr und konnte es mit der erdenklichen Mühe nicht dahin bringen, dass sich die Unduldsame besser in ihr Geschick fügte. Und unglücklicher Weise wuchs dabei seine Liebe zu dem Mädchen immer mehr.
Eines Abends, als sie sich lange stumm am Feuer gegenüber gesessen hatten, redete sie ihn plötzlich ganz unvermittelt an:
»Jetzt bin ich so weit, Astolf, dass ich nur mehr eines von Dir hören will. Sage mir genau, wie Du mich liebst.«
Astolf erschrak in das tiefste Herz darüber, dass sie so etwas von ihm verlangte. Er scheute sich ebenso sehr, sie zu belügen, als ihr die Wahrheit zu sagen. Es schien ihm beides gleich grausam gegen Friderun und sich selbst. Aber heilsamer für sie und gedeihlicher für die Erfüllung des Schwures hielt er es doch, wenn er ihr seine Liebe verleugnete. Mit blutendem Herzen brachte er das Unerhörte zustande. Ohne den Blick zu ihr zu erheben, sprach er mit bebenden Lippen:
»Ich darf nur die Herrin an Dir lieben.«
Sie entgegnete:
»Ich frage Dich, was Du tust, nicht was Du darfst.«
Da sagte er:
»Ich kann Dich nimmer so lieben wie du mich.«
Jetzt fuhr Friderun wild, schier rasend empor und tat einen Schrei, bei welchem alles in ihr zu zerreißen schien. Dann fiel sie ohnmächtig nieder.
Der Jammer des Jünglings war unbeschreiblich. Er meinte sie um jeden Preis der Welt mit den süßesten Liebesworten wecken zu müssen, doch wie sein Blick auf das Fürstenschwert fiel, fand er Stärke, den Schwur zu halten.
Als sie nach Langem zu sich kam, sprach sie nur:
»Das hättest Du mir nicht sagen sollen, Astolf!«
Dabei sah sie ihn mit einem Blick voll Hass und Rachsucht an. Aber sie tobte nicht mehr.
Ihr erwachender Hass erfüllte den Jüngling mit Entsetzen. Er fiel vor ihr auf die Knie und bat:
»Hasse mich nicht. Erbarme Dich meiner!«
»Hast Du Dich wohl meiner erbarmt?« fragte sie. »Vielleicht als Du den Fürsten um mein Leben flehtest? Siehe, dafür hast Du mich des Lebens bald müde gemacht, das ich damals so sehr liebte. Hättest Du mich doch erschlagen. Jetzt lässt Du mich eines um viel ärgeren Todes sterben. Nein, Astolf, Du sollst mir nimmer erbarmen.«
Nach diesen Worten trat sie aus der Höhle in den Mondenschein hinaus.
Astolf ging ihr, von einer bangen Ahnung befallen, nach und fragte:
»Wohin willst Du?«
Sie sah ihn groß an und entgegnete:
»Soll ich wohl so mit Dir weiterleben? Verlangst Du das? Willst Du mich dazu zwingen? Du darfst mich nur mit des Vaters Schwert treffen, sobald es Dein Schwur erheischt – mehr darfst Du nicht. So folge mir denn als mein Knecht und sei der Erfüllung Deines Schwures gewahr!«
Sie ging ihm zwei Tage lang voraus, ohne zu rasten. Von dem Willen befeuert, sich an ihm zu rächen, achtete sie der Erschöpfung ihrer Leibeskräfte kaum.
Am dritten Morgen kamen sie in ein breites, wohlgerodetes Tal. Hier lagerte ein auf dem Kriegszuge befindlicher deutscher Stamm. Friderun schritt auf das größte Lagerzelt zu, welches reichen Schilderschmuck als dasjenige des Heerführers bezeichnete.
In dem Zelte ging es eben hoch her, der Fürst hielt mit seinen vornehmsten Kriegern ein Gelage. Die Versammelten verstummten bei dem Anblicke der schönen Jungfrau und des ihr mit Schwert und Speer folgenden Knechtes. Sie machten ihr ehrerbietig Platz auf ihrem Gange zum Fürsten.
Der Letztere, ein junger, prächtiger Recke, trat ihr grüßend entgegen und fragte um den Grund ihres Kommens.
Sie erwiderte:
»Ich bin die Tochter eines Fürsten, den die Barbaren erschlugen, und suche eine Heimat, denn meines Vaters Reich ist verwüstet, unser Volk vertilgt bis auf mich und diesen Knecht. Mich Deiner Gnade und Deinem Willen zu unterwerfen, ist nicht ratsam, leicht könnte da ein Zweifel an mir aufkommen. Gib mich einem Deiner Edlen zur Frau, und ich will Dir dankbar und ihm gehorsam sein. Die Wahl des Mannes sei Dein, ich bin mit ihr bedingungslos zufrieden.«
Der junge Fürst und seine Krieger staunten, und Astolf durchschaute nun Frideruns Racheplan. Sie wollte ihn zwingen, sie zu töten.
Ein langer Blick in das Gesicht Frideruns machte dem jungen Heerführer ordentlich warm. Er sprach mit leuchtenden Augen:
»Deine Bitte wird erfüllt.«
Dann befahl er die im Heerzuge befindlichen Frauen zu holen, damit sich diese dem Fürstenkinde bis zur Hochzeit beistellten.
Die Frauen kamen und führten Friderun ab in ein Zelt, vor dessen Eingang sich dann Astolf als Wacht aufstellte. Eines Blickes hatte ihn das Mädchen nicht mehr gewürdigt, als es mit den Frauen an ihm vorüber schritt. Auf der langen, belebten Lagerstraße blieben viele Krieger bei ihm stehen und fragten ihn bald neugierig, bald teilnahmsvoll um dies und jenes. Der Fürst schickte ihm Wein und Fleisch, aber Harm und Herzeleid ließen ihn zu keinem Genusse kommen.
Als es Nacht wurde und der Jüngling sein Gesicht nicht mehr den Gaffern ausgesetzt fühlte, ließ er endlich einmal den lang verhaltenen Tränen ihren Lauf.
In dem furchtbaren Seelenkampfe schwebte ihm anstatt der geringsten lichten Hoffnung nur immer dasselbe Schreckensbild vor: die von seinem Schwerte fallende, ihn verfluchende Friderun. Er bereitete sich mit aller Selbstüberwindung auf das grausige Werk vor, welches nun der Schwur bald zu erfordern schien. Was er in dieser Nacht litt, war unbeschreiblich.
Am frühen Morgen riefen die Herolde den jungen Tag als den Hochzeitstag des Fürsten aus. Astolf wurde davon auf eine fast unbegreifliche Art erregt. Er hielt es für sicher, dass der junge Held in Liebe zu Friderun entbrannt war. Und da gönnte er jenem plötzlich diese Liebe nicht, so deutlich deren Schicksal vor seinen Augen lag. Je mehr er sich vorstellen wollte, dass er zu dieser Neigung selbst kein Recht habe, desto weniger gönnte er sie dem anderen. Trotz der klaren Einsicht, dass die jetzige Lage alle Eifersucht grundlos machte, konnte er sich nicht helfen, und seine Selbstermahnungen blieben nutzlos. Das furchtbare Neidgefühl war einmal da und griff wie eine Feuersbrunst um sich.
Friderun staunte ein wenig, als ihr die Frauen den Entschluss des Fürsten mitteilten, aber worauf sie sich freute, das war der tötenden Schwerthieb von Astolfs Hand.
Um die Mittagsstunde hatten die Frauen die Braut geschmückt, und die Hornisten bliesen zum Beginn des Festes.
Neben Astolf wurde der Zeltvorhang auseinander geschlagen, und an der Spitze der Frauen kam Friderun geschritten. Sie trug das Antlitz stolz erhoben. Kein Mensch hätte es ihr angesehen, dass sie sich statt zur Hochzeit zum Tode führen ließ.
Ihr wie im Fieber brennender Blick suchte Astolf und fand ihn. Sie meinte es in seinem zuckenden Gesichte zu lesen, dass er zu dem Schwerthiebe entschlossen war. Jetzt hielt er noch die im Sonnenschein blitzende Waffe aufrecht zwischen den gefalteten Händen und ließ wie im letzten Stoßgebet um eine wunderbare Abwendung dessen, was unvermeidlich schien, Friderun an sich vorüber gehen.
Eine Spanne Zeit war ja noch bis zu dem Augenblicke, wo Friderun dem Fürsten die Treue schwur. Und doch, ehe dies geschah, musste der Schwertstreich fallen. Astolf ging dem Zuge der Frauen nach.
Er sah mit starren Augen zu, wie der Fürst, von seinen besten Kriegern umgeben, Friderun entgegen trat. Jetzt schlug seine Eifersucht ihre hellsten Flammen. Friderun war ihm mit dem Rücken zugekehrt, als sie des Fürsten Gruß erwiderte. Nun hatte es für Astolf einen unwiderstehlichen Reiz, zu wissen, welche Miene das Mädchen in diesen Augenblicken machte. Er dachte: Wenn sie dem Fürsten zugelächelt hätte, wenn ihr bei dem Anblick seiner strahlenden Schönheit eine Ahnung aufgedämmert hätte, dass sie als sein Weib glücklich werden konnte!
Astolf fühlte sich von unbesiegbarer Macht dazu gedrängt, ihr sogleich in das Gesicht zu schauen. Er ging schnell vorwärts, und da sah er sie richtig lächeln, so wie er sich das eben voll eines ihm ganz neuen Argwohnes vorgestellt hatte.
In Wirklichkeit lächelte sie entsagungsvoll, schmerzlich, aber Astolfs verblendete Augen betrachteten das schon für einen ersten und letzten Liebesgruß, der dem fürstlichen Helden galt. Von Friderun blickte er wieder auf den Fürsten, der ihm vor Verlangen nach ihr zu glühen schien. Und was dem Knechte nun geschah, das hätte er nie für möglich gehalten. Sein vorhin noch grenzenloses Grausen vor der Erfüllung des Schwures verwandelte sich jetzt in eine seltsame Lust, den Schwerthieb zu führen. Aber zugleich mit dieser entsetzlichen Lust empfand er auch ihre Sündhaftigkeit.
Er lernte in diesen Augenblicken die wilde Mordgier kennen, erlag aber der niederen Leidenschaft nicht, dazu war er zu stark, zu stolz. Die Zeit, wo Astolf seinen Schwur einlösen sollten, war plötzlich da.
Der Jüngling aber stand und kämpfte die böse Rachgier nieder und war voll Empörung und Schrecken über sich selbst.
»Jetzt will ich sie ja aus Eifersucht erschlagen!« schrie es in ihm. »Nicht um meinen Schwur zu halten, nein, aus Eifersucht. Ich will ja morden, ganz gemein morden!« Und dann wurde eine noch stärkere Stimme in ihm laut: »Du darfst es nicht! Werde meineidig, ehrlos, trage jedes Schicksal der Elenden, doch morde nicht!« Mit dem letzten Aufgebote seines früher so starken Willens sagte er sich: »Du musst Dich schnell des sündigen Rachegefühles entledigen. Und dann führe, alleinig vom Geiste des Schwures beseelt, den Streich.« Die Zeit drängte. Friderun sah sich nach Astolf um. Sie mahnte ihn mit funkelnden Blicken. Astolf fühlte es, sie forderte mit übermenschlicher Beharrlichkeit ihre Genugtuung; sie wartete nicht mit Angst, sondern mit Wollust auf den Tod von seiner Hand. Da hatte er den Beweis, dass sie in ihrer leidenschaftsvollen Liebe zu ihm nicht irre geworden war. Friderun sah sich zum zweiten Male um. Astolf stand noch immer und fragte sich: »Darf ich denn? Bin ich dessen schon würdig? Habe ich mich der sündigen Eifersucht schon entledigt?« Seine Pein hatte ihr höchstes Ziel erreicht. Die Fürstentochter kehrte sich zum dritten Male nach ihm. Aber da tat sie einen Schrei. Und alle die anwesenden Menschen schrien auch. Alles schrie. Nur Astolf nicht. Der stand ganz still und sah auf die große, leuchtende Lilie, deren grünen Stängel er in den gefalteten Händen hielt. Des alten Fürsten Schwert war nicht mehr da, die erbarmende Gottheit hatte es in des armen Knechtes Hand zu einer weißen, leuchtenden Lilie verwandelt. Die Menschen in der Runde lagen vor dem Jüngling auf den Knien. Auch Friderun war vor ihm hingefallen und rief: »Gott hat gesprochen. Verzeihe mir, Astolf, verzeihe!«
Er nickte ihr voll Milde zu. Die Lilie warf einen leuchtenden Schimmer auf sein verhärmtes Gesicht.
»Höre!« fuhr Friderun fort, »das Wunder hat meine Leidenschaft ausgelöscht. Was soll jetzt geschehen? Aus Deinem Munde spricht jetzt der Wille Gottes.« Da legte der Knecht Frideruns Hand in diejenige des jungen Fürsten und sprach: »Du sollst ihn lieben dafür, weil Du ihn betrügen wolltest. Und mich lasset in Frieden gehen, für mich hat Gott gewählt.« Sie folgten seinen Worten. Astolf ging in den Urwald zurück und führte dort in der Höhle des hohen Steines ein ruhseliges Einsiedlerleben. Nach Jahren kamen drei von einem fürstlichen Gefolge begleitete Kinder zu ihm, zwei Jungen und ein Mädchen. Dieselben entboten ihm die freundlichsten Grüße von ihrer Mutter Friderun und sagten: »Mutter sprach, wir sollen Dir für unser Leben danken.«
Die Freude Astolfs war unbeschreiblich, und er entließ die Kinder mit heißen Segenswünschen. Wieder vergingen Jahre, da kamen Frideruns Enkel zu ihm. Es wurde Sitte, dass alle Nachkommen dieser Fürstentochter in einem bestimmten Jugendalter zu dem Einsiedler gingen. Sie entboten ihm ihrer Väter Grüße und dankten ihm für ihr Leben. Auch schmückten sie seine Höhle mit Blumen. Da hatte er eine helle Freude. Friderun war schon lange tot, und ihre Nachkommen gingen noch immer zu ihm. Er wurde uralt. Man weiß nicht, wann er starb, noch wer ihn begrub, deshalb wird angenommen, dass er einmal, ohne erst zu sterben, in den Himmel ging. Die Sitte, seine Höhle mit Blumen zu schmücken, hat sich noch lange erhalten, als er hier nicht mehr zu finden war. Am Weiher vor dem Höhleneingange aber wachsen bis zum heutigen Tag weiße Lilien!