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Es war am Tage des großen Rennens in Kempton Park, bei dem der ›Ambler‹, als Favorit getippt, am Start stehengeblieben war. George Pendyce hatte eben den Schlüssel in die Tür des Zimmers gesteckt, das er in Mrs. Bellews Nähe gemietet hatte, als ein Mann rasch mit ein paar Schritten neben ihn trat und ihn ansprach:
»Mr. George Pendyce, nicht wahr?«
George wandte sich um.
»Ja. Was wünschen Sie?«
Der Mann reichte George einen länglichen Brief.
»Von den Herren Frost und Tuckett.«
George öffnete ihn und las die Anschrift auf einem Blatt Papier:
›An den Gerichtshof für Ehescheidungen.‹
›Das ergebenste Gesuch von Jaspar Bellew – –‹
George hob die Augen, und ihr unheimlich regungsloser, gleichgültiger, weder erzürnter noch erstaunter Ausdruck veranlaßte den Boten, den Blick zu senken, als hätte er einen Mann geschlagen, der schon am Boden lag.
»Danke! Guten Abend!«
Er schloß die Tür auf und las das Schriftstück durch. Es enthielt einige genaue Einzelheiten und endete mit einem Anspruch auf Schadenersatz – und George lächelte.
Hätte er dieses Schriftstück vor drei Monaten erhalten, er würde es ganz anders aufgenommen haben. Vor drei Monaten hätte er in heller Wut erkannt, daß er in die Falle gegangen war. Und er hätte gefolgert: ›Ich habe sie in Bedrängnis gebracht; ich habe mich selbst in Bedrängnis gebracht; nie hätte ich geglaubt, daß es so weit kommen würde. Es ist teuflisch! Ich muß mit jemandem reden – ich muß es verhindern. Es muß einen Ausweg geben!‹ Da er nur wenig Phantasie besaß, hätten seine Gedanken mit ihren Schwingen gegen diesen Käfig geschlagen, und sofort hätte er irgend etwas unternommen. Aber heute? Und jetzt?
Er zündete eine Zigarette an und setzte sich aufs Sofa. Die vorherrschende Empfindung in seiner Seele war ein seltsames Hoffen, eine Art von Galgenhumor. Nun würde er sie sofort aufsuchen müssen, noch heute abend; da hatte er eine Entschuldigung – mußte nicht hier drinnen warten – warten, daß sie zufällig kommen mochte.
Er stand auf, trank etwas Whisky, ging dann zum Sofa zurück und setzte sich wieder hin.
›Wenn sie bis acht Uhr nicht hier ist‹, dachte er, ›will ich zu ihr hinübergehen.‹
Ihm gegenüber hing ein großer Spiegel, und er wandte sich ab, um nicht hineinsehen zu müssen. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck finsterer Entschlossenheit, als ob er bei sich dachte: ›Ich will ihnen allen zeigen, daß ich noch nicht geschlagen bin.‹
Beim Knarren eines Türschlüssels erhob er sich langsam vom Sofa, und sein Gesicht nahm wieder die gewohnte Maske an. Helen trat wie sonst herein, warf ihren Theatermantel hin und stand mit entblößten Schultern vor ihm. Er blickte ihr ins Gesicht; ob sie etwas wußte?
»Ich hielt es für das beste, herzukommen«, begann sie. »Ich nehme an, du hast das interessante Schriftstück auch erhalten?«
George nickte. Einen Augenblick herrschte Schweigen.
»Es ist wirklich beinahe komisch. Mir tut's nur deinetwegen leid, George.«
Auch George lachte, aber es war ein anderes Lachen.
»Ich will alles tun, was ich vermag«, erklärte er.
Mrs. Bellew trat ganz dicht an ihn heran.
»Ich hab' von dem Kempton-Rennen gelesen. So ein gräßliches Pech! Du hast gewiß sehr viel verloren? Armer Kerl! Ein Unglück kommt selten allein!«
George schlug die Augen nieder.
»Laß nur! Alles andere ist mir gleich, wenn ich dich habe!«.
Er fühlte, wie ihre Arme sich um seinen Nacken schlossen, aber sie waren kalt wie Marmor; er begegnete ihren Augen, und in ihnen lag Überlegenheit und Mitleid.
Ihr Wagen, der in die Hauptstraße einbog, nahm das Rennen mit den übrigen Droschken auf, die, als ginge es ums Leben, dem Osten zujagten – vorüber am Hydepark, wo die Bäume neubelaubt ihre Röcklein schwangen, wie Ballettänzerinnen im Winde – vorüber am ›Stoiker-Klub‹ und anderen Klubs, ratternd, klirrend, um die Führung wetteifernd, die Omnibusse überholend, die in dem Halbdunkel recht behaglich anmuteten mit ihren Lampen und den still einander gegenübersitzenden Menschenreihen.
Bei Blafard nahm ihr der schlanke, dunkle, junge Kellner mit behutsamen Händen den Mantel von den Schultern; der kleine Weinkellner lächelte unter dem Leid in seinen Augen.
Dasselbe rotbeschattete Licht fiel auf ihre Schultern und Arme; dieselben Blumen in Gelb und Grün standen in denselben blauen Vasen. Auf der Speisekarte gab es dieselben Speisen. Dasselbe müßige Auge lugte durch den Spalt an der Ecke des roten Vorhanges mit seinem stumpf-verwunderten Hinstarren.
Oft während des Mahles blickte George ihr verstohlen ins Gesicht, und der Ausdruck verwirrte ihn, so sorglos schien er. Und im Gegensatz zu ihrer Stimmung der letzten Tage, die unfroh und kalt gewesen, war sie jetzt von sprühendster Laune.
Die Leute sahen von den andern kleinen Tischen herüber, die jetzt alle besetzt waren, da die Saison begonnen hatte. Helens Lachen wirkte so ansteckend, und George fühlte etwas wie Ekel in sich aufsteigen. Was ging in dieser Frau vor, daß sie lachen konnte, während ihm selbst das Herz schwer war? Aber er sagte nichts; er wagte es nicht einmal, sie anzusehen, aus Furcht, seine Augen könnten seine Empfindungen verraten.
›Wir sollten unsere Bilanz aufstellen‹, dachte er; ›sollten den Dingen ins Gesicht sehen. Irgend etwas muß geschehen; und da sitzt sie und lacht und benimmt sich, daß die Leute sie anstarren!‹ Aber was konnte man da tun, wo alles wie Flugsand war!
Die anderen kleinen Tische wurden allmählich leer.
»George«, begann Helen, »führe mich irgendwo hin, wo wir tanzen können.«
George sah sie verständnislos an.
»Liebes Kind, wie kann ich das? So etwas gibt es nicht!«
»Bring mich in deinen Boheme-Kreis!«
»Das ist unmöglich!«
»Warum? Wen kümmert's, wohin wir gehen und was wir tun?«
»Mich!«
»Ach, mein guter George, du und deinesgleichen, ihr seid ja nur zur Hälfte lebendig!«
Trotzig entgegnete George:
»Wofür hältst du mich? Für einen Schuft?«
Aber nicht Ärger, sondern Angst war dabei in seiner Seele.
»Also gut; dann fahren wir nach dem East End. Ich beschwöre dich, tun wir irgend etwas Ungehöriges!«
Sie nahmen einen Wagen und fuhren nach dem Osten. Es war das erste Mal, daß beide in jenes fremde Gebiet kamen.
»Mach deinen Mantel zu, Liebste; du nimmst dich hier sonderbar aus!«
Mrs. Bellew lachte.
»Du wirst mit sechzig Jahren genau wie dein Vater sein, George!«
Und sie machte den Mantel noch weiter auf. Um eine Drehorgel an der Straßenecke tanzten hellgekleidete Mädchen.
Sie gebot dem Kutscher, anzuhalten.
»Wir wollen den Kindern da zusehen!«
»Du wirst uns nur lächerlich machen!«
Mrs. Bellew legte die Hand an den Türgriff.
»Ich habe die größte Lust, auszusteigen und mit ihnen zu tanzen.«
»Du bist heute abend nicht bei Sinnen«, sagte George. »Bleib sitzen!«
Er streckte den Arm aus und hielt sie zurück. Die Vorübergehenden sahen voll Neugier dem kleinen Auftritt zu. Die Menschen begannen sich anzusammeln.
»Weiter!« rief George dem Kutscher zu.
Die Menge brach in Hochrufe aus, der Kutscher gab seinem Pferd die Peitsche; und fort ging's weiter nach dem Osten.
Die Uhr schlug Mitternacht, als der Wagen endlich bei der alten Kirche am Chelsea Embankment haltmachte. Seit einer Stunde hatten sie kaum ein Wort geredet.
Und während dieser ganzen Stunde dachte George:
›Das ist die Frau, um derentwillen ich alles aufgegeben habe. Das ist die Frau, an die ich gefesselt bin. Das ist die Frau, von der ich mich nicht losreißen kann. Könnte ich's, dann würde ich nie wieder zu ihr zurückkommen. Aber ich kann ohne sie nicht leben. Ich muß fortfahren, zu leiden, wenn sie bei mir ist, zu leiden, wenn sie fern von mir ist. Und Gott weiß, wie das alles enden soll!‹
Er faßte im Dunkeln nach ihrer Hand; sie war kalt und leblos wie Stein. Er bemühte sich, ihr ins Gesicht zu sehen; aber er vermochte nichts zu lesen in diesen grünlichen Augen, die vor sich hinstarrten, wie die einer Katze im Dunkeln.
Als der Wagen davongefahren war, blickten sie beim Licht einer Straßenlaterne einander ins Gesicht. Und George dachte:
› So soll ich jetzt von ihr gehen? Und was dann?‹
Sie schob den Schlüssel in die Haustür und wandte sich zu ihm herum. In der stillen, menschenleeren Straße, wo der Wind um die Ecken der großen Häuser fegte und pfiff und das Laternenlicht aufflackern ließ, wirkten ihr Gesicht und ihre Gestalt so wundersam fremd, starr, sphinxartig. Nur ihre Augen, die sich auf seine hefteten, schienen lebendig.
»Gute Nacht«, murmelte er.
Mit einer raschen Bewegung zog sie ihn an sich.
»Nimm von mir, was du nehmen kannst, George!« sagte sie.