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Während für Keith diese sechs Wochen vor Beginn des Glove Lane-Prozesses voll Unruhe und düsterer Ahnungen waren, bedeuteten sie für Laurence fast die glücklichste Zeit seit seiner Jugend. Von dem Augenblick an, da er seine Wohnung verlassen, um mit dem Mädchen zu leben, erfüllte ihn Friede, ja fast verzückte Freude. Durch keine Willensanstrengung hatte er den Alp, der auf ihm lastete, abschütteln, noch auch durch die Liebe sich Betäubung schaffen können. Sein ganzes Denken schien erstarrt. Nun, da er sah, daß sein Wille das Schicksal doch nicht zwingen konnte, waren Unruhe, Angst und Rastlosigkeit geschwunden. Wie in einem Rausch floß sein Leben dahin, er fühlte nur immer: Was kommen muß, kommt. Aus dieser Erstarrung stürzte sein Geist bisweilen jäh in dunkle Tiefen. Auch am Heiligen Abend kämpfte er gegen diese Gefahr an. Als das Mädchen sich von den Knien erhob, fragte er:
»Was hast du gesehn?«
Sie schmiegte sich an ihn und zog ihn vor dem Kamin auf den Boden nieder; dort saßen sie mit emporgezogenen Knien und verschlungenen Händen, wie zwei Kinder, die einen Blick in eine andre Welt tun wollen.
»Ich sah die heilige Jungfrau. Sie lehnte an der Wand und lächelte. Bald werden wir glücklich sein.«
»Wenn es so weit ist, Wanda,« sagte er plötzlich, »so sterben wir zusammen. Dann hält dort draußen eins das andre warm.«
Sie flüsterte, dicht an ihn gedrängt: »Ja, ja! Wenn du stirbst, kann ich nicht weiterleben.«
Ihre völlige Abhängigkeit von ihm, das Gefühl, er habe sie gerettet, gab ihm selbst festen Halt. Dies und sein stilles Leben in der Abgeschiedenheit der beiden Räume. Nur für eine Stunde des Morgens, von neun bis zehn, kam eine Scheuerfrau, sonst jedoch den ganzen Tag keine Seele. Niemals gingen sie zusammen aus. Er pflegte lange im Bett zu bleiben, während Wanda die Mahlzeiten einkaufen ging. Er lag auf dem Rücken, die Hände hinterm Kopf verschränkt, und sah noch immer ihr Antlitz vor sich, die Bewegungen ihrer schlanken und doch etwas rundlichen, geschmeidigen Gestalt, wie sie vor seinen Augen in die Kleider schlüpfte, sah den Schimmer ihrer sanften Augen, die in ihrem weißen Gesicht so seltsam dunkel schienen, fühlte wieder den Kuß, den sie ihm auf die Lippen gedrückt. Gewöhnlich lag er ganz weltentrückt da, bis sie zurückkam. Gegen Mittag stand er auf, um zu frühstücken, was sie bereitet hatte, und Kaffee zu trinken. Am Nachmittag wanderte er stundenlang allein herum, irgendwo, stets jedoch nur im Osten Londons. Im Osten war das Elend zu Hause, dort hatte er das beruhigende Gefühl, sein Leid sei nur ein winziger Bruchteil des allgemeinen Jammers. Auch zahllose andre Geschöpfe lebten als traurige Schatten dahin, er stand nicht ganz allein. Ging er aber nach Westen, so fühlte er sich entmutigt. Im Westen war alle Welt wie Keith: erfolgreich, entschlossen, makellos, in geordneten Verhältnissen. Gewöhnlich kam er übermüdet heim, saß dann da und sah ihr beim Kochen des bescheidenen Abendessens zu. Die Nächte waren der Liebe geweiht. Ein seltsam entrücktes Dasein, ein Traum, aus dem beide zu erwachen fürchteten. Nicht das leiseste Anzeichen, daß sie die Zerstreuungen mißte, wie sie jenen Mädchen unentbehrlich sind, die auch nur kurze Zeit ein Leben führten wie sie. Nie bat sie ihn, mit ihr auszugehn; nie äußerte sie in Wort, Blick oder Tat etwas anderes als selige Zufriedenheit. Und dennoch wußten beide, daß sie nur auf den Todesstreich des Schicksals warteten. Während dieser Zeit trank er nicht. Von seiner Vierteljahrsrente zahlte er seine Schulden – ihre Ausgaben waren sehr gering. Keith besuchte er niemals, schrieb ihm nie, dachte kaum an ihn. Nur vor jenen Schreckbildern – vor Walenn, der von seiner Hand erwürgt auf dem Boden lag, und jenem kleinen, grauen, gehetzten Wild auf der Anklagebank – verbarg er sich, wie nur ein Mensch, der sich verbergen muß, um dem Ende zu entrinnen. Heimlich aber kaufte er täglich eine Zeitung und durchflog fieberhaft ihre Spalten.