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Jedermann, der kein Philosoph ist, dürfte der Ansicht sein, daß sein Ruf durch Entehrung des Familiennamens nicht minder leide als durch eigene Schmach. In gefahrvoller Lage trieb der Instinkt Keith stets zu energischem Handeln. Aber wie konnte man diesen Schlag parieren, mochte er nun durch Aufdeckung des Verbrechens oder durch Larrys Geständnis erfolgen? Wie Mehltau eine Rose befällt und niemand weiß woher, so würde diese schmutzige Skandalgeschichte auf ihn zurückfallen. Keine Abwehr möglich! Nicht einmal eine Abschwächung! Bruder eines Mörders, der am Galgen endet, oder eines Zuchthäuslers! Seine Tochter die Nichte eines Mörders! Seine verstorbene Mutter – eines Mörders Mutter! Und dieses Warten, Tag um Tag, Woche um Woche, in steter Ungewißheit, ob der Schlag fallen werde! Eine entsetzlich harte Strafe, die einen aufrechten Mann täglich grausamer und ungerechter dünkte.
Die Voruntersuchung hatte ergeben, daß der Ermordete am Abend vor seinem Tode viel getrunken hatte, ferner, daß der Beschuldigte ein gänzlich mittelloser Vagabund war; dazu kam noch, daß der Torbogen in der Glove Lane eine Zeitlang sein Lieblingsnachtquartier gewesen. Die Verhandlung wurde für den Januar anberaumt. Trotz böser Ahnungen war Keith diesmal bei der Verhandlung vor dem Polizeigericht anwesend. Larry war es nicht, zu Keiths großer Erleichterung. Aber der Schutzmann, der ihn damals bei der Besichtigung des Torbogens angesprochen und später in des Mädchens Wohnung so erschreckt hatte, gab als Hauptzeuge an, daß sich der Beschuldigte häufig in der Glove Lane herumgetrieben. Keith hielt sich den Zylinder vors Gesicht, hatte aber dennoch das unangenehme Gefühl, der Mann habe ihn erkannt.
Daß er jenen Menschen unter Mordverdacht belassen hatte, beunruhigte sein Gewissen wenig oder gar nicht. Er war ehrlich überzeugt, die Indizien seien für einen Schuldspruch nicht ausreichend; auch brachte er für die Qualen eines eingesperrten Vagabunden kein rechtes Mitgefühl auf. Der Strolch hatte sein Schicksal verdient, schon dafür, daß er einen Leichenraub begangen; und jedenfalls war eine solche Vogelscheuche im Gefängnis besser aufgehoben, als wenn der Vagabund im Dezember unter einem Torbogen schlief. Gefühlsduselei lag Keith fern und sein Gerechtigkeitssinn fand es ganz in Ordnung, ja notwendig, daß die Schwachen und Haltlosen sich der Herrschaft der Starken und Wohlbestallten beugten.
Zu den Weihnachtsferien kam seine Tochter aus dem Pensionat heim. Es war nicht leicht, von ihren lustigen Augen und rosigen Wangen aufzublicken und diesen Schatten über seinem ruhigen, geordneten Leben hangen zu sehn, wie in einem hellen Raum das Auge einen dunklen Fleck, etwa ein Spinngewebe, an der Zimmerdecke gewahrt.
Am Nachmittag des Heiligen Abends ging er auf Wunsch seiner Tochter mit ihr in eine Kirche in Soho, wo das Weihnachtsoratorium von Bach aufgeführt wurde. Auf dem Heimweg gerieten sie zufällig durch eine Seitengasse in die Borrow Street. Hu! Wie er jenen schrecklichen Augenblick wiedererlebte, als das Mädchen sich im Dunkel an ihn gedrückt und entsetzt geflüstert hatte: ›O! Wer ist da?‹ Immer wieder diese Geschichte – diese grauenhafte Geschichte! Nach der Verhandlung würde er noch einen Versuch machen, die beiden fortzuschaffen. Und er hängte sich in seine kleine Tochter ein und zog sie eilends fort aus dieser Gasse, wo dunkle Schatten durch die Winterluft huschten.
Doch am Abend, als sie zu Bett gegangen war, konnte er seine Unruhe nicht länger bezwingen. Wochenlang hatte er Larry nicht gesehn. Was trieb der Kerl nur? Welch verzweifelte Pläne heckte er aus? War er sehr elend? Oder versuchte er, sich durch Ausschweifungen zu betäuben? Und das alte Beschützergefühl erwachte in ihm von neuem, die warme Bruderliebe von längst vergangnen Christabenden her; damals ließen sie beide des Nachts Strümpfe draußen hängen, die von einem Weihnachtsmann gefüllt wurden, der sie Abend für Abend sorgsam zudeckte und vor dem Einschlafen liebevoll küßte.
Sterne funkelten über der Themse, der Himmel war frostklar und tiefdunkel. Noch schwiegen die Glocken. Und von einem starken Impuls getrieben, legte Keith abermals den Pelz an, zog eine Autokappe tief ins Gesicht und machte sich auf den Weg.
Dann nahm er einen Wagen in die Fitzroy Street. Larrys Fenster waren unbeleuchtet, in einem hing ein Karton mit der Aufschrift: ›Zu vermieten!‹ Fort! War Larry am Ende für immer verschwunden? Aber wie nur – ohne Geld? Und das Mädchen? Glockenklänge hallten durch die stille, frostige Luft. Heiliger Abend! Da dachte Keith: ›Wenn ich nur diese unglückselige Sache los wäre! Unerhört, daß man für die Schuld eines andern so leiden muß!‹
Er schlug einen Weg ein, der ihn zur Borrow Street führte, die ganz einsam lag. Entschlossen blieb er vor dem Haus des Mädchens auf dem gegenüberliegenden Gehsteig stehn, den Blick fest auf ihr Fenster gerichtet. Er gewahrte einen Lichtschein. Die Vorhänge schlössen nicht ganz dicht, so daß ein Strahl durchschimmerte. Keith überquerte den Fahrdamm, blickte rasch die Gasse hinauf und hinab und spähte dann vorsichtig ins Zimmer.
Nur etwa zwanzig Sekunden stand er dort, aber solche Momentbilder haften oft länger im Gedächtnis als Dinge, die man stunden-, ja tagelang gesehn. Das elektrische Licht war nicht angezündet, doch auf einem kleinen Tisch in der Mitte des Zimmers standen vier brennende Kerzen; das Mädchen kniete im Nachtgewand davor. Sie hielt die Arme über der Brust gekreuzt; das Kerzenlicht bestrahlte ihr helles, kurzgeschnittenes Haar, das Profil von Wange und Kinn und den vorgebeugten weißen Nacken. Einen Augenblick lang glaubte Keith, sie sei allein; dann sah er hinter ihr seinen Bruder im Pyjama, mit gekreuzten Armen an der Wand lehnen und ihr zusehn. Der Ausdruck in Larrys Gesicht war so seltsam, daß dieses Bild Keith unauslöschlich im Gedächtnis blieb und er es sich später jederzeit vergegenwärtigen konnte – nie und nimmer vermochte ein Mensch, der auch nicht im entferntesten daran dachte, daß jemand ihn beobachte, sein innerstes Wesen so zu enthüllen. Larrys ganzes Herz und Gefühl sprach aus seinem Antlitz. Sehnsucht, Spott, Liebe, Verzweiflung! Seine tiefe Leidenschaft für dieses Mädchen, seine Seelenqual, Angst und Hoffnung, Gut und Böse schienen wie verklärt und prägten sich Keith unvergeßlich ein. Der Kerzenschein beleuchtete von unten her sein Gesicht, das ein höchst sonderbares Lächeln verzerrte; seine Augen – dunkler und sehnsüchtiger, als es Menschenaugen sonst wohl sind – schienen das weißgekleidete Mädchen anzuflehn und gleichzeitig zu verspotten. Ihrer selbst nicht bewußt, lag sie unbeweglich auf den Knien, wie eine marmorne Heiligenstatue. Larrys Lippen schienen zu flüstern: ›Bitt' für uns! So ist's recht! Bitt' für uns!‹ Da sah Keith sie die Arme ausbreiten und das Gesicht mit verzücktem Blick erheben, während Laurence auf sie zustürzte. Was hatte sie hinter den Kerzenflammen erblickt? Wohl etwas ganz Unerwartetes, denn gerade das macht Visionen so überwältigend. Nichts Seltsameres hätte Keith in diesem schmutzigen, verrufnen Winkel sehen können. Plötzlich aber wich er zurück in heftiger Angst, beim Spionieren ertappt zu werden, und eilte davon.
Laurence lebte also bei ihr! Im gegebenen Augenblick konnte er ihn dort finden.
Ehe er in sein Haus ging, lehnte er volle fünf Minuten an dem Geländer der Terrasse, blickte zum kalten Sternenhimmel empor und auf die Themse hinab, die durch die Schatten der Bäume in schwarze Tümpel zerteilt schien, überrieselt vom schwachen Schimmer der Uferlaternen. Und irgendwie, irgendwo in seinem Innern, halb unbewußt, empfand er leises Weh. Über die Mauern hinweg, die Sehen, Hören und Denken um ihn zogen, hatte er etwas geschaut, was ihm unerreichbar blieb. Doch die Nacht war kalt, die Glocken schwiegen, schon hatte es zwölf geschlagen. Er trat ins Haus und schlich hinauf.