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Fünf Stunden von Münster in Westfalen liegt ein jetzt sehr bescheidenes Dorf, welches noch vor einem halben Jahrhundert ein blühendes Städtchen gewesen ist; denn damals war es der Sommeraufenthalt des geistlichen Landesherrn, des Kurfürsten von Köln und Fürstbischofs von Münster.
Christoph Bernhard von Galen, der kriegerische Bischof, der mit seinem kleinen Heere ebenso große und kriegerische Gelüste befriedigte, wie Karl XII. von Schweden mit dem seinigen; der Frankreich und Holland und Dänemark den Krieg erklärte und ihn glorreich ausfocht, wenn er auch nicht gerade diese Länder eroberte, hatte dort zuerst ein Schloß erbaut, einen großen Garten mit Weihern, Bosquets, Hügeln, dichten Taxuswänden und Hunderten von Hermen darum angelegt. Im daran grenzenden Walde hatte er die schönsten Alleen schlagen lassen und dann eine Mauer umher gezogen, die das reiche Wild ihm sichern mußte. Und so hatte noch zur Zeit des letzten regierenden geistlichen Herrn, des Erzherzogs Maximilian Franz, der großen Maria Theresia jüngstem Sohne, in ununterbrochener Reihe heiteres Wohlleben im Städtchen gewaltet. Die fürstlichen Beamten hatten sich in der Nähe Villen erbaut; das Gefolge des Kurfürsten, wenn er dort weilte, wohnte freilich im Schloß, aber wie viele Andere wollten die Sonne der fürstlichen Nähe nicht missen, ohne geradezu durch ihre Pflicht an ihn gefesselt zu sein; diese mietheten dann für hohe Preise im Städtchen sich niedere Zimmer und machten sie wohnlich mit Dingen, die sie aus der Hauptstadt herbeischleppen ließen.
Maximilian Franz machte während seiner Regierung keinen längern Aufenthalt im Städtchen; nur für die großen Jagden hielt er sich einige Tage dort auf, aber auch für diese kurze Zeit folgte ihm immer ein Schwarm von Edelleuten und Geistlichen, welche Eigenschaften freilich im Bisthum Münster sehr häufig in einer Person vereinigt zu sein pflegten, da der ritterbürtige Adel im Besitze der reichen Pfründen war.
Aber alle die Beflissenheit, ihm zu dienen und ihm zu folgen, vermochte nicht das Herz des Fürsten ihnen zuzuneigen; Maximilian Franz liebte die »Junker« nicht, und was er an Freundlichkeit dem Adel versagte, gewährte er auf das gütigste den Bürgern und ganz besonders den Bauern, die auch diese Gönnerschaft wohl zu schätzen wußten.
Seine Gesinnungen waren, da er kein Hehl daraus machte, so allgemein bekannt, daß ein alter Schulze, den er eines Tages auf seinem Spaziergange nach den Aussichten der Ernte frug, ihm kühn antwortete:
»Es sieht nicht besonders gut aus, Kurfürstliche Durchlaucht, es sind zu viele Junker unter dem Korn.«
Lächelnd frug der Fürst, was das heiße?
»Wir nennen hier auf dem Lande«, sagte der Bauer mit unschuldiger Miene, »die langen Halme so, die den Kopf hoch tragen und nicht beugen, weil nichts drin ist.«
Der Kurfürst lachte so sehr, daß sein ganzer ungeheurer Leibesumfang in zitternde Bewegung gerieth, und gab bei Tafel den neu gelernten Ausdruck aus der Landwirthschaft zum Besten, der natürlich sehr belacht wurde, weil jeder der Anwesenden sich für eine Ausnahme von der Bauernregel, das heißt, Keiner für einen leeren Kopf hielt!
Das ist jetzt Alles vorüber, der Bauer fühlt sich nicht mehr als den Liebling des »Herrn.« Mit bäuerischer Verdrossenheit und westfälischem Phlegma und religiöser Unduldsamkeit gegen Ketzer und Andersgläubige – die letztere Eigenschaft geht in unserm ehemaligen Städtchen und jetzigen Dorfe so weit, daß unter den funfzehnhundert Einwohnern kein einziger Jude leben darf – liegt er dem sauern Tagewerke ob. Aus dem Schlosse ist eine Damastfabrik geworden und seinen Hauptbau und seine rechten Flügel hat man abgebrochen – wie die Wiedertäufer in Münster ihren Feinden Haupt und Hand abschlugen – um daraus einen großen Gestütestall in der nächsten Stadt zu bauen! Aus dem Park mit den schönen Alleen und Durchsichten ist ein »Busch« geworden, in dessen Dickicht man nur noch mit Mühe die Spuren der ehemaligen Anlagen auffinden kann. Die Mauer, die den Park umschloß, ist auch verschwunden und das Wild läßt sich vom Förster selten mehr dort betreffen und genießt seine Freiheit. Aus dem vielbewunderten Schloßgarten ist ein Gemüsefeld, aus den Weihern sind Sümpfe geworden. Bosquet und Hecken hat man rasirt, und die Nachtigalen, die in Menge darin einheimisch waren, sind verstummt wie die schöne große Orgel in der ebenfalls von Christoph Bernhard von Galen erbauten Kirche; letztere, weil die Gemeinde zu arm ist, um sie repariren zu lassen, erstere, weil man ihnen ihre Wohnungen demolirt und sie obdachlos gemacht hat; nun werden wol die glücklichern Vögel ihre Stimmen wo anders ertönen lassen, während die arme Orgel schweigen muß!
Zu dem jetzt so verarmten Dorfe gehört aber, nur ein paar Büchsenschüsse davon entfernt, ein Pachthof, dessen stattliche rothe Dächer einen glänzenden Contrast zu den ärmlichen, meist schornsteinlosen Dächern des Ortes bilden. Dieser Pachthof gehört dem Grafen von K., dessen Wohnsitz, ein schönes Schloß, ein paar Meilen weiter in entgegengesetzter Richtung von Münster liegt. Der Pachthof ist schon seit fünf Generationen in den Händen derselben Familie. Der jetzige Pachter ist ein sehr junger hübscher Mann mit auffallend städtischem Ansehen. Auch seine Frau ist eine zierliche Erscheinung und offenbar, was ihre Kleidung betrifft, die Löwin des Dorfes, welcher am Sonntage alle Bauermädchen den Schnitt ihres nächsten neuen Kleides absehen!
Bernhard und Therese Artmann, so heißt das junge Ehepaar, haben auch noch vor wenig Jahren wahrhaftig nicht daran gedacht, daß ihr Schicksal sie einst für immer in diese ländliche Einsamkeit verschlagen werde. Denn Bernhard, obgleich der Sohn des vorigen Pachters, war als Zweitgeborener nicht zu seinem jetzigen Berufe bestimmt; sein älterer Bruder, der dazu erzogen worden, hatte nach des Vaters Tode die einträgliche Pachtung antreten sollen, Bernhard hingegen in Münster und später in Berlin Medicin studirt. Da starben kurz nacheinander Bruder und Vater, und der Graf ließ Bernhard in Berlin fragen, ob er Lust zur Pachtung habe. Bis zu seinem achtzehnten Jahre war er freilich auf dem Pachthofe gewesen und hatte nur von seinem zehnten Jahre an täglich im nächsten Städtchen, das nur eine kleine Stunde entfernt lag, das Gymnasium besucht. Der Graf meinte aber, er werde die Kenntniß der Landwirtschaft doch von der Geburt her erblich in sich tragen; dann schrieb auch seine einzige Schwester, er möge doch kommen und nicht Ursache sein, daß sie »unter fremden Leuten sein müsse.« Eine alte Tante, eine Art ökonomischen Wunders, seit ihrer Geburt auf dem Hofe ansässig, versprach überdies, ihn mit allen ihren Kenntnissen zu unterstützen und seine Geliebte – denn er hatte in seinem einundzwanzigsten Jahre schon eine Geliebte – redete ihm auch zu, der Wissenschaft, zu deren Erlernung ihm ja doch die reichen Mittel fehlten, Valet zu sagen und seinen Acker zu bauen. Er frug, ob sie ihm nach Westfalen folgen wolle, sie sagte freudig zu.
Therese war keine Berlinerin. Ihr feiner sächsischer Accent verrieth das bald; eine Waise, war sie zu Verwandten nach Berlin gekommen, die ihr das junge Leben, welches sie ihr durch mühsame Arbeit und schwere Pflichten ernst und trübe machten, nur zu verherrlichen meinten, indem sie ihr von Zeit zu Zeit ein neues Kleid schenkten.
»Aber«, frug Therese, nachdem sie so rasch ihr Jawort gegeben, »werden mich deine Landsleute auch unter sich dulden, mich, die Ketzerin, die ›Calvinerin‹, wie du sagst, daß sie noch immer Alle nennen, die dem evangelischen Glauben anhängen?«
Bernhard lachte. »So schönen blauen Augen verzeihen auch meine Landsleute etwas Ketzerthum, Niemand wird dir eine Locke deines schönen braunen Haares krümmen.«
Und Bernhard ging und wurde Pachter.
Einige Monate später holte er seine Braut aus Berlin, und die sonst so fanatischen Bauern ließen auch wirklich dem lieblichen Geschöpf sein Ketzerthum nicht entgelten, wenigstens bemerkte sie nichts davon, und als sie ein Jahr darauf Bernhard einen Sohn schenkte und dieser Sohn zum Kirchenportale hereingetragen wurde, über dem Christoph Bernhard's von Galen edles Wappen noch immer prangt, und dort in feierlicher Taufe die erste Weihe des katholischen Glaubens empfing, vergaßen sie es beinahe ganz, weshalb Therese immer in der Frühmesse fehlte und beinahe jeden Sonntag von ihrem Manne in einem entferntern Städtchen abgeholt wurde, wohin sie der alte Knecht zu ihrer Kirche geleitete.
Bernhard war ein sehr fleißiger, ein sehr intelligenter und dabei ein sehr gesunder Mensch; wie wäre es möglich, mit diesen drei Eigenschaften, sobald der beste Wille von der Welt dazu sich findet, nicht ein guter Landwirth zu werden? Der Graf war stolz auf diesen Pachter und rühmte sich bei seinen Bekannten des Kunststücks, das er vollbracht, indem er aus einem lockern Studenten, welche Benennung übrigens Bernhard nie verdient hatte, einen soliden Landwirth gemacht habe.
Als ihm Bernhard pflichtschuldigst die Geburt seines Söhnchens anzuzeigen kam, weil der Graf sich ihm zum Pathen angetragen, empfing ihn dieser mit bekümmertem Gesicht und sagte traurig? »Ach, Artmann, wären wir erst so weit. Aber«, sagte er nach einer kleinen Pause, durchblitzt von einem Gedanken, »ich will dir Etwas sagen, wenn meine Frau mir auch einen gesunden Sohn schenkt, dann sollst du Pathe sein und kein Anderer.« Da der Graf Artmann von seiner frühesten Kindheit kannte, so hatte er die Gewohnheit, ihn Du zu nennen, beibehalten.
Bernhard blickte den Grafen überrascht an. Herablassung war sonst gerade nicht dessen starke Seite, aber bald errieth er die Wahrheit, daß nämlich der Graf, der wol fühlen mochte, daß sein Hochmuth kein dem Himmel wohlgefälliger Zug sei, da Demuth die erste Eigenschaft eines Christen ist, sich durch diese Herablassung eine besondere Gnade zu erkaufen wähnte. Bernhard sagte deshalb ganz ruhig:
»Wie Sie befehlen, Herr Graf.«
Der Herr Graf ließ nun auch sogleich anspannen und fuhr mit Bernhard, der auf einem seiner Ackergäule hergeritten, auf den Pachthof, besuchte die junge Mutter, der er eine goldene Broche für die Frau »Gevatterin« auf die Bettdecke legte und ging dann mit in die Kirche und hob eigenhändig den Erstgeborenen seines Pachters, einen wunderbar schönen und kräftigen Jungen, aus der Taufe.
Vier Tage später, es fing schon an zu dämmern und Bernhard saß vor dem Bette seiner Frau und besprach mit ihr, welche Kenntnisse sich einst ihr Kind erwerben, welche Laufbahn es ergreifen und Gott weiß noch, was es Alles thun sollte, als ein Reiter auf den Hof gesprengt kam und eilig nach Artmann frug.
Als der Knecht diesen herbeigeholt, sah Bernhard, daß es der Reitknecht des Grafen war, der noch zu so ungewohnter Stunde herauskam.
»Was ist's, Kasimir?« frug er den Reiter, der schwerfällig aus dem Sattel stieg.
»Sie haben bei uns einen jungen Grafen!« sagte lakonisch der Bediente, indem er seinem Pferde, das der Knecht abführte, wohlgefällig nachsah und Letzterm dabei anstatt dem Thiere einen kleinen Schlag mit der Gerte gab.
»Ist es wahr, Kasimir, einen Sohn?«
»Ja, ja, Herr Amtmann, so ist's. Und Sie sollen morgen früh um 10 Uhr da sein und das Kind aus der Taufe heben«, sagte lauernd der rothköpfige Bursche.
»Wirklich?« frug Artmann, nun doch etwas betroffen.
»Ja, ja«, wiederholte Kasimir, »und Sie sind der einzige Pathe und zwar«, setzte er mit boshaftem Lachen hinzu, »weil man doch keine Comtesse zu Ihrer Frau Gevatterin machen mag!«
Artmann biß sich in die Lippen und frug kurz:
»Woher wissen Sie denn das Alles? denn ebenso wenig wie Sie begreifen, daß der Graf seinen Pachter zum Pathen nimmt, ebenso wenig begreife ich, daß der Graf seinen Reitknecht zu seinem Vertrauten macht.«
»Sind Sie mir böse, Herr Artmann? das kommt nur davon, daß Ihnen der Doctor noch in den Knochen liegt! Aber seien Sie ruhig, unser hochgräflicher Herr hat uns nichts vertraut; was ich weiß, weiß ich durch Lisette, die Kammerfrau, die gehört hat, wie der Graf es der Gräfin sagte.«
»Wie geht es der Gräfin?« frug nun Bernhard, um nur etwas Anderes zu sprechen.
»O schlecht! das Kind soll ein großer starker Junge sein, aber die Gräfin ist so schwach, sie konnte ja immer kaum auf den Füßen stehen, und obgleich sie die Nase hoch genug trägt, kann sie doch den Kopf nicht aufrecht halten«, antwortete der Bediente und belachte seinen eigenen Witz.
Bernhard befahl dem aus dem Stall zurückkehrenden Knecht, dem Reitknecht ein Glas Bier zu reichen und kehrte an das Bett seiner Frau zurück, um ihr von seiner neuen Würde und von seiner morgenden kleinen Reise zu erzählen
Therese nahm, wie alle lebhaften und gutmüthigen Frauen, nur die heitere Seite der Sache auf und freute sich; sie sah im Antrage des Grafen eine besondere Zuneigung zu ihrem Manne und zog hundert günstige Schlüsse für ihre beiderseitige Zukunft daraus.
Bernhard ließ sie sprechen, als sie aber fertig war, sagte er ruhig: »Daß er mich zum Pathen gewählt hat, ist nichts als eine Buße, mit der er den Himmel zu bethören meint.«
»Ich verstehe dich nicht«, frug verwundert die Frau.
»Wenn ich noch Student in Berlin wäre, würde ich dir die Sache erklären, indem ich sagte: Diese Pathenschaft ist der Ring, den Polykrates ins Meer warf, um die Götter mit seinem Glücke zu versöhnen.«
Therese lachte. »Nun verstehe ich dich! Aber du thust gewiß dem Grafen Unrecht.«
Bernhard schwieg.
Am andern Morgen ritt Artmann mit dem Reitknecht nach dem Schlosse. Ein kleines Mantelsäckchen, das er hinter sich auf das Pferd geschnallt hatte, enthielt seine Garderobe, denselben tadellosen berliner Frack, in welchem er sich vor einem Jahre hatte trauen lassen.
Kaum angekommen, wies ihm der Verwalter auf seinen Wunsch ein Zimmer an, wo er sich umkleidete, und als er nach einer Viertelstunde heraustrat, konnte gewiß Niemand in dem schönen, schlanken, blonden Manne den Pachter desselben hochgeborenen Herrn sehen, der ihm in ziemlich vernachlässigter Kleidung auf dem Corridor begegnete.
»Ei, wie fein hast du dich gemacht«, sagte etwas spöttisch der Graf.
Bernhard wurde dunkelroth, sagte aber nur, indem er einen kleinen Strauß der schönsten Rosenknospen dem Grafen entgegenhielt:
»Wollen Sie Das der Gräfin vom Pathen Ihres Kindes geben?«
»Meine Frau darf keine Blumen riechen«, antwortete der Graf, indem er nachlässig den Strauß auf den nächsten Stuhl warf.
»So will ich sie meiner Frau wieder mitbringen«, sagte beleidigt Artmann, »die freuen sie mehr als Alles.«
Der Graf bemerkte nicht einmal, daß Bernhard unter »Alles« auch goldene Brochen verstanden haben wollte und daß er den Pachter tief gekränkt, indem er das zarte Geschenk für die »Frau Gevatterin« zurückgewiesen; und was auch der Graf heute sagen und thun mochte, Alles verletzte den gereizten Bernhard, und heute, wo es das erste mal war, daß ihn der Graf auszeichnete und ehrte, fühlte er sich auch zum ersten male von ihm gedemüthigt.
Bei der Tafel, wo nur die nächsten Verwandten des Grafen gegenwärtig waren und Bernhard mit der arglosen Freundlichkeit behandelten, welche auch die hochmütigsten Vornehmen immer gegen Menschen haben, bei denen sie durchaus keine Ansprüche vermuthen, war und blieb Bernhard verstimmt, und selbst als er mit dem Neugeborenen auf dem Arme dastand, der seinen Namen Christoph Bernhard erhielt, dachte er: Daß mir vergönnt ist, dies kleine Kind hier zu halten, soll mir nun eine große Ehre sein, während mein armer süßer Junge sich geehrt fühlen soll, daß ihn der gräfliche Mann an meiner Seite auf den Armen hielt, und mein Junge ist doch viel schöner und größer und kräftiger als dieser gräfliche Sproß!
Das war nun nicht so ganz wahr, denn das gräfliche Kind war wirklich auch ein schönes und gesundes Geschöpf, und natürlich in den Augen aller Bewohner des Schlosses ein vollständiges Wunder!
Nach der Taufe empfahl sich Bernhard dem Grafen, der ihn noch länger zurückhalten wollte, und schützte vor, daß seine Frau noch zu schwach sei, als daß er sie so lange verlassen dürfe.
Therese aber war glücklicherweise gar nicht schwach und empfing freudig ihren Mann, der ihr nun viel Schönes erzählen sollte. Bernhard aber sagte nur kurz: »Es ist gar nichts vorgefallen, was der Rede werth wäre«, und ging wieder hinaus, um mit den Knechten zu rechnen. Therese aber lehnte ihr schönes freundliches Gesicht in die Hand und sagte nach einer Weile lächelnd zu ihrer Schwägerin, einem kränklichen Mädchen, die am Bette saß und strickte: »Wenn wir als Erbfehler die Eitelkeit besitzen, so besitzen die Männer dafür den Hochmuth; was ist nun schlimmer?«
*
Ein Jahr war verflossen. Das Glück auf dem Pachthofe war immer in ungetrübter Blüte geblieben. Therese war noch dieselbe schöne, blühende, glückliche Mutter und Frau, Bernhard der fleißige und erfolgreiche Oekonom; daß seine kränkliche Schwester gestorben, war kein Unglück zu nennen, denn das Mädchen hatte nie Freude am Leben gehabt. Die alte Tante hingegen war noch ebenso rüstig als früher und schaffte so viel und fleißig, daß Therese ihrem Kinde manche Stunde widmen konnte. Und dennoch hatte ein trüber Schleier auf den Bewohnern des Pachthofes gelegen, denn ein schweres Jahr war vorübergezogen und hatte die ohnedem dürftigen Bewohner des Dorfes ganz verarmt. Daß Bernhard auf seiner Pachtung das Korn und die Kartoffeln reichlicher und besser geerntet, gereichte ihm eher zur Qual, denn nun kamen alle die armen Leute zu ihm und sagten: »Ihr und Euer Graf, der ohnedem so gesegnet ist, habt durch die bessere Ernte noch mehr gewonnen, während wir Alle nichts bekommen haben. Sagt ihm das nur. Ihr könnt Beide Etwas hergeben.«
Sagen mochte aber Bernhard gar nichts mehr, denn der Graf, obgleich er nicht geizig war, war doch nichts weniger als großmüthig; nachdem er eine Spende von ein paar hundert Thalern an die Armen der Umgegend hatte verabreichen lassen, meinte er nun, sich losgekauft zu haben und hatte Bernhard jede fernere Unterstützung für die Armen abgeschlagen. Ja, als Bernhard damit nicht gleich zur Thüre hinausging, erlaubte er sich sogar einige sehr übellaunige und unhöfliche Worte in den langen rothen Bart zu murmeln, die aber leider Bernhard sehr gut verstand.
Seitdem hatte der Pachter das Schloß nicht mehr betreten, die Geschäfte machte er ab, indem er den Rentmeister, der in einem Nebenhäuschen wohnte, besuchte. Den Armen aber hatte er sein eigenes Saatkorn, seine eigenen Pflanzkartoffeln beinahe alle gegeben, denn es war Frühling und das schönste Wetter der Welt, Alles Wuchs und gedieh, aber reif war noch kein Körnchen, wovon sich nur ein Vöglein hätte sättigen können.
Schon mehre male hatte die Gräfin Theresen sagen lassen, sie möge doch einmal mit ihrem Kinde auf das Schloß kommen, damit sie es mit dem jungen Grafen vergleiche, ihr sogar den Wagen angeboten, der sie abholen sollte, aber Bernhard hatte das nicht gelitten und immer geantwortet: »Meine Frau kann nicht abkommen.«
Zu Theresen sagte er: »Wenn sie dein Kind sehen will, kann sie herkommen, sie hat nichts zu thun und fährt ohnedem mit dem Jungen alle Tage spazieren.« – Das that denn auch die Gräfin eines Tages, denn der mütterliche Stolz ging bei ihr noch über den gräflichen.
Als die Kalesche mit den vier Mecklenburgern bespannt, wie heutzutage noch immer der westfälische Adel über Land fährt, auf den Pachthof rollte, eilte Therese an den Schlag; kaum aber hatte die Gräfin, die sie heute zum ersten male sah, sie erblickt, so rief sie auch schon mit strahlenden Augen, indem sie auf ihr neben ihr sitzendes Kind zeigte, das eine Wärterin in den Armen hielt:
»Denken Sie, Frau Artmann, er läuft schon!«
Therese beantwortete diese wichtige Nachricht nur mit einem freundlichen Lächeln, worin ein gewisser Stolz nicht zu verkennen war. Deshalb frug die Gräfin denn auch überrascht:
»Läuft am Ende der Ihrige auch schon?«
»Seit acht Wochen«, bemühte sich Therese, mit Mäßigung und Demuth hervorzubringen.
»Seit acht Wochen! Er ist aber auch drei volle Tage älter!«
»Ja wohl!« sagte Artmann, der auch an den Wagen kam, »er wird aber nicht so gepflegt wie der junge Graf.«
»Oho«, rief Therese, scherzhaft böse, »man sollte meinen, ich vernachlässige mein Kind!«
»Wo ist er?«
»Im Garten, aber wollen die Frau Gräfin nicht etwas aussteigen? im Garten ist's so schön!« setzte Therese hinzu, weil sie fürchtete, die Gräfin werde meinen, sie wolle sie in ihr bescheidenes Zimmer führen.
»Ja, ich will aussteigen«, sagte die Gräfin, »aber Sie erlauben mir wol, in Ihr Zimmer zu treten, ich bin noch zu schwach, um das stille Sitzen in freier Luft zu ertragen.«
Der Bediente und Artmann hoben die feine Gestalt der Dame aus dem Wagen. Sie stützte sich sorglos auf ihres Pachters Schulter, indem sie mit nachlässiger Haltung die kleine gepflasterte Strecke durchschritt; hinter ihr trug die Wärterin das Kind, das mit Eleganz gekleidet war, wie ein französischer Prinz.
Auf der Schwelle von Theresens Wohnzimmer, das nach dem Garten zu lag, blieb die Gräfin stehen und sagte überrascht: »Wie hübsch ist es hier!«
Die äußerst einfache Einrichtung war auch ein redendes Zeugniß für Theresens guten Geschmack und ihren häuslichen Sinn, und sicher war ihr Zimmer, dessen Inhalt nicht den zehnten Theil der Einrichtung des Boudoirs der Gräfin gekostet, doch wohnlicher.
Ein grün und grauer Wachsteppich deckte den Boden, ein glattes, hellgrünes Papier die Wände, die Meubles, mit dunkelgrünem Damast überzogen, standen aber alle an der richtigen Stelle, der kleine Schreibtisch war mit zierlichen Nippsachen, Geschenken ihrer berliner Freundinnen, bedeckt, und an den Fenstern, die halb von weißen, halb von grünen wollenen Vorhängen verhüllt waren, standen schöne große Epheugitter und dazwischen Blumentische von Holzrinde mit Rosentöpfen. An den Wänden hingen ein paar gute Kupferstiche und einige Bücherbreter.
»Wie hübsch!« wiederholte die Gräfin noch ein mal und ging zum Canapé, ließ sich matt darauf nieder und befahl der Wärterin, ihr das Kind zu reichen, das sie sogleich auf den Boden stellte, um es seine neue Kunst zeigen zu lassen.
Das gräfliche Kind machte einige schwankende Schrittchen, weinte aber dann und seine Mutter nahm es auf den Schoos.
Da ertönte auf dem Gange ein helles Glöckchen.
»Was ist das?« frug die Gräfin.
Therese lachte! »O, weiter nichts als mein kleiner Clemens. Weil nicht immer Jemand Zeit hat, auf ihn zu achten und ich doch von dem kleinen Manne wissen muß, wo er ist, habe ich ihm eine kleine helle Schafschelle umgebunden, da kann ich ihn immer gleich finden, wenn er sich verlaufen hat.«
Die Gräfin schlug erschrocken die Hände zusammen.
»Welche Grausamkeit! das arme Kind! Wenn mein Mann hört, wie hart Sie seinen kleinen Pathen behandeln!«
In diesem Augenblicke öffnete Therese ihrem Kinde die Thüre und hörte darüber nicht die Vorwürfe der Dame.
Auf der Schwelle erschien nun ein prächtiges Kind. Nicht viel größer und auch nicht viel stärker als der gräfliche Sproß, aber wie viel gesünder und lebhafter und selbständiger!
Wie ein zweijähriges Kind durchrannte er das Zimmer auf den kleinen Grafen zu und streckte sein Aermchen nach ihm aus und streichelte seine Händchen, indem er immer mit schmeichelndem Tone: »Ei, ei« rief.
Therese weidete sich an dem Anblick, die Gräfin aber, indem sie ihre schmale durchsichtige Hand auf den blonden Lockenkopf des Pachterssohnes legte, sagte zu seiner Mutter mit Thränen in den Augen:
»Geben Sie mir das Kind mit, ich will es mit dem meinigen erziehen!«
Therese wurde blaß nur bei dem Gedanken, lachte dann aber hell auf. »Wie Sie mich mit Ihrem Scherz erschreckt haben, gnädige Gräfin!«
»Kein Scherz! Welch ein Glück für meinen kleinen Bernhard, einen solchen muntern Gespielen zu haben, und Sie haben ja doch hier so viel zu thun, daß Sie ihn nicht recht beaufsichtigen können.«
»Meinen Sie, weil er die Schelle trägt? O Frau Gräfin, ich denke jede Minute des Tages an das Kind, es ist mein höchstes Glück, und mich von ihm zu trennen würde mir geradezu den Tod bringen.«
»Dann kann natürlich auch nicht die Rede davon sein. Aber finden Sie nicht, daß die Kinder sich ähnlich sehen, dieselben blauen Augen, dieselben blonden Löckchen, dasselbe Stutznäschen, nur ist der Ihrige stärker.«
Und schöner, dachte Therese; und das war er auch, ihr kleiner Sohn überstrahlte das blasse Kind der Gräfin.
Therese frug nun die Gräfin, ob sie keine Erfrischung zu nehmen wünsche.
Mit der Sorglosigkeit, die ihr eigen war, sagte die bleiche Frau, indem sie ihr Gesicht mit halbgeschlossenen Augen auf die Hand stützte und, schon ermüdet, das Kind zu halten, es seiner Wärterin zurückgab: »Was haben Sie denn, was Sie mir geben können? Lassen Sie hören!«
Therese wurde dunkelroth, hielt aber an sich und sagte: »Befehlen Sie nur!«
»Haben Sie vielleicht Himbeersaft?«
»Ja wohl, soll ich Ihnen ein Glas frisches Wasser dazu bringen?«
»Oder was noch besser wäre, aber das haben Sie wol nicht –«
»Wenn Sie mir es sagen?«
»Schwarzen Thee? Haben Sie schwarzen Thee, aber nur keinen grünen, denn davon bekäme ich ein Nervenfieber.«
»Meine Verwandten haben mir aus Berlin noch kürzlich sehr guten schwarzen Thee geschickt.«
»So bitte ich um eine Tasse.«
Therese ging nun hinaus, um gleich darauf mit einer Serviette wiederzukommen, die sie auf dem runden Tische vor der Gräfin ausbreitete, und dann auf einem der Stühle, den sie zunächst dem Canapé rückte, Platz zu nehmen und sich bescheiden mit einer weiblichen Arbeit zu beschäftigen, während die Gräfin, in Gedanken versunken, dem Spielen der beiden Kinder zusah, die unter Aufsicht der Wärterin in einer Ecke des Zimmers mit einigen Holzklötzchen spielten und zuweilen hell dabei auflachten.
Die Gräfin Agnes war durchaus keine hochmüthige und stolze Frau und hielt sich selbst für äußerst bescheiden und anspruchslos; aber sie war das einzige Kind eines reichen Ehepaars, der letzte Sproß eines alten gräflichen Hauses, dessen Güter auch alle ihrem Manne einst zufallen sollten, und verwöhnt und verzogen in einer Weise, daß sie im Stande war, ihre Umgebung geradezu zu mishandeln, ohne auch nur die leiseste Ahnung davon zu haben. Von Kindheit an kränklich, hatte sie nie einen Tadel vernommen, und auch noch jetzt, wenn ihre Mutter sie besuchte, behandelte diese sie wie ein krankes Kind. Man hatte bei der Gräfin systematisch den krassesten Egoismus ausgebildet, der aber eigentlich nicht in ihrem Charakter wurzelte, denn sobald sie Jemand aufmerksam gemacht haben würde, daß es Opfer seien, was sie täglich und stündlich von den Andern verlangte, so würde sie erschrocken darauf verzichtet haben; aber weil von jeher ihre ganze Umgebung – sie hatte nur das Schloß ihres Vaters verlassen, um das Schloß ihres Gemahls zu beziehen – sie für die Hauptperson gehalten und als solche behandelt, hatte sie sich angewöhnt, eine solche Behandlung, als sich von selbst verstehend, zu verlangen.
Seitdem sie Mutter geworden, war, umgekehrt wie bei andern Frauen, die Sache noch viel schlimmer geworden, denn für ihr Kind, mit dem sie als die zärtlichste Mutter sich übrigens ganz identificirte, verlangte sie naiv von Jedermann auch das größte Opfer, weil sie selbst sich bereit fühlte, es zu bringen, ohne doch je in dem Falle zu sein, es zu thun; denn um ihrer wirklich sehr schwachen Gesundheit willen wurde jede mütterliche Beschwerde von ihr fern gehalten. Das Kind durfte nicht bei ihr schlafen, sie durfte es nicht nähren, nicht einmal auf dem Arme tragen; nur seine Gesellschaft war ihr in den Tagesstunden vergönnt, und dieses einzige Glück ließ sie sich auch um keine Minute verkürzen.
Sie ahnte jetzt nicht, daß es unhöflich von ihr war, neben Therese zu sitzen und, in Gedanken versunken, keine Silbe mit ihr zu sprechen.
Nach einer kleinen Weile brachte Theresens Dienstmädchen den Thee und was dazu gehörte, die Gräfin sprach noch immer nicht, sondern beobachtete mit neugieriger Verwunderung Theresens Geschicklichkeit bei der Zubereitung des Thees.
Endlich sagte sie: »Wie gut Sie das verstehen.«
Therese erröthete wieder, aber sie antwortete nur: »Das Compliment hat mir bisher nur mein Mann gemacht.«
»Trinken Sie zusammen Thee?«
»Im Winter jeden Abend, und nachher ist er so gut, mir einige Stunden lang vorzulesen.«
Die Gräfin legte sich zurück und sagte nach einer Weile mit einen sonderbaren Tone, dem Etwas wie ein Seufzer voranging:
»Sie sind wirklich eine glückliche, eine wahrhaft beneidenswerthe Frau! Ich war weit entfernt, mir Ihre Existenz hier so harmonisch, so ideal zu denken.«
»Ach, ideal ist sie auch nicht, gnädige Gräfin, und wenn meine alte Tante mir nicht so freundlich die schwersten Sorgen abnähme, ich fände selten Zeit, hier in meinem traulichen Zimmer zu sitzen und müßte mich den ganzen Tag in Küche und Keller, im Kuhstall und in der Milchkammer umhertreiben.«
»Also dahin kommen Sie doch?«
»O, Frau Gräfin, viel mehr als ich hier herkomme!«
Die Gräfin betrachtete mit einem Blicke des aufrichtigsten Mitleids ihre schöne Wirthin.
»Meinem Manne mußte es im Anfange doch noch schwerer werden«, fuhr Therese plaudernd fort, »denn zwischen seinem jetzigen und seinem frühern Leben ist ein noch viel größerer Contrast. Ich hatte doch immer die Arbeiten einer Haushaltung, wenn auch nur einer kleinen, geleitet. Er aber hatte nur der Wissenschaft gelebt, um hier dann ganz in dem durchaus materiellen Treiben einer großen Oekonomie aufzugehen!«
»Freilich«, sagte die Gräfin sinnend, »das ist noch viel ärger. Wo ist Ihr Mann?«
»Ich weiß es nicht, Frau Gräfin, soll ich ihn suchen?«
»Nein, nein«, sagte etwas ängstlich die Dame, denn sie wußte nicht, ob ihr Mann es billigen werde, wenn sie hier mit seinem Pachter Thee trinke. Mit der Frau war das etwas Anderes, das ging allein sie selbst an und sie war, wie gesagt, nicht bewußt hochmüthig, sondern fand wirkliches Gefallen an der jungen Frau und freute sich an deren Bekanntschaft und nahm sich vor, recht freundlich und herablassend gegen dieselbe zu sein.
Als sie fortfuhr, nahm sie auch wirklich die Zuneigung Theresens mit, die schon nach einer halben Stunde Zusammenseins mit weiblichem Takt die Gräfin durchschaute und das Unabsichtliche ihres so oft beleidigenden Benehmens richtig würdigte.
»Nun, wie gefällt dir Ihre hochgräfliche Gnaden?« frug Bernhard spöttisch seine Frau, nachdem er die Dame wieder in den Wagen gehoben, und während in der Allee, die zum Hofe führte, nur noch der Staub, den die vier Mecklenburger in die Höhe warfen, zu sehen war.
»O gut.«
»Gut? Diese Frau, die wegen ihres Hochmuths und ihres Uebermuths förmlich berühmt ist, selbst unter ihres Gleichen?«
»Sie verdient das nicht. Sie ist nur sehr verwöhnt und verzogen. Du hättest hören sollen, wie sie mir vorklagte, daß ihre Aeltern, ihr Gemahl und ihr Arzt sie durchaus noch diesen Sommer nach Ostende zu gehen bewegen wollten; weil sie aber verlangten, sie solle ihr Kind bei seiner Großmutter lassen, da ihm die Reise leicht schaden könne, so werde sie nicht gehen. Wie liebt sie ihr Kind! Wie kann Jemand, der so tiefes Gefühl besitzt, hochmüthig sein? Das können nur oberflächliche Menschen.«
»Sie liebt das Kind nur, weil es ihr Kind, ihr Fleisch und Blut, ein Theil von ihr selbst ist; o, ich kenne diese Art von Aelternliebe«, sagte Bernhard.
*
Man hatte die Gräfin wirklich überredet, nach Ostende zu reisen und ihr vergöttertes Kind so lange unter der Hut ihrer Mutter zurückzulassen. Der Graf hingegen begleitete seine Gemahlin in das Seebad.
Im Anfange bekam die Trennung Mutter und Kind gleich wohl, die Gräfin erfreute sich einer ganz ungestörten Ruhe, und das Kind genoß, weniger von der ängstlichen Mutter bewacht, mehr Freiheit und gedieh und entwickelte sich sichtbar. Da, ganz plötzlich, die Gräfin war vielleicht drei Wochen abwesend, erkrankte der kleine Bernhard, der Arzt erklärte, das Gehirn sei afficirt, und man ließ den Grafen von Ostende kommen, der nur unter einem Vorwande seine Gemahlin zu verlassen wagte, und ihr keine Silbe von der Krankheit des Kindes mittheilte. Aber schon als der Vater ankam, war das Kind rettungslos, und nach drei Tagen, war es eine Leiche.
Bernhard, der am Todestage seines Pathen hinüber geritten war, sah zufällig den Grafen, aber Keiner erkannte den Andern. Der Graf erkannte Bernhard nicht, weil er überhaupt Niemand sah, und Bernhard kannte ihn nicht, so verändert war sein Gutsherr, der dennoch so viel Fassung behielt den Schloßbewohnern zu befehlen, den Todesfall möglichst geheim zu halten, damit nicht ein Gerücht zu der Gräfin dringe, die vielleicht schon unterwegs war; und wirklich kam ein Brief vom Badearzte, der schrieb, die Gräfin habe die Rückreise angetreten, weil sie, von schmerzlichen Ahnungen ergriffen, behauptet, ihrem Kinde sei etwas zugestoßen. Niemand begleite sie als ihre Kammerfrau, aber die habe ihm, dem Arzte, bei der Abreise mitgetheilt, die Gräfin sei in einer solchen Aufregung, daß sie für ihre Besinnung fürchte.
Was war zu thun? Der Graf empfing den Brief am Sarge feines Kindes, und morgen sollte die unglückliche Mutter eintreffen! Und so kam es, daß bei der nun folgenden Beisetzung der Leiche in die Familiengruft der so zärtliche Vater kaum an seinen gestorbenen Liebling, sondern nur daran dachte, wie er seiner Gemahlin diesen Todesfall verberge, bis sie kräftiger sei, einen so furchtbaren Schlag zu ertragen. Da hörte er hinter sich ein unterdrücktes Schluchzen, er wandte sich unwillkürlich, um zu sehen, wer seinem Kinde diese Theilnahme zolle; sein Auge fiel auf Bernhard, der seinem Pathen die letzte Ehre zu erweisen herübergekommen und der nun weinte, wie ein Mann es nicht gern thut.
Als die Beisetzung vorüber war, trat der Graf zu ihm, nahm seine Hand und sagte gerührt: »Artmann, ich danke dir.«
»Ich muß wahr sein, Herr Graf!« stotterte der bleiche Bernhard, »nicht das Mitgefühl allein hat mich so ergriffen – sondern vorhin, als wir Alle an den Sarg traten, war es mir gerade, als sehe ich darin mein eigenes Kind vor mir liegen! Diese Aehnlichkeit ist es, die mich so erschüttert hat!«
»Dein Kind«, rief der Graf, dem diese Worte wie ein Wink von oben waren, »dein Kind gleicht dem meinen? O rasch – rasch zu deinem Hofe, lasse mich dein Kind sehen!«
Und eine Viertelstunde darauf fuhr der Graf wirklich mit Bernhard im raschesten Trabe davon.
Therese war im höchsten Grade erstaunt, als sie den Grafen mit ihrem Manne bei sich eintreten sah. Er grüßte sie kaum und frug nur eilig: »Wo ist Ihr Kind?«
»Im Nebenzimmer.«
»So holen Sie es, ich bitte Sie, und du, Artmann, bringe mir aus der Wagentasche ein Päckchen, das ich dort eingesteckt.«
Das Kind kam auf dem Arme der Mutter, der Graf betrachtete den Knaben so lange und aufmerksam, als wolle er des Kindes Seele mit den Augen verschlingen, bis Therese ganz ängstlich wurde.
»Er ist größer, starker und blühender – aber das haben sie ja Alles meiner Frau von ihrem Kinde geschrieben – er gleicht ihm außerordentlich, es ist offenbar – es ist ein Wink von oben.«
Der Graf bedachte nicht, daß der Tod seines einzigen Kindes ein viel deutlicherer Wink gewesen – er nahm Artmann, der eben hereintrat, das Päckchen aus der Hand und sagte zu Therese:
»Ich bitte Sie, ziehen Sie dem Kinde diese Kleider meines Bernhard an und bringen Sie mir ihn dann, ich möchte sehen, ob es möglich ist, sich zu täuschen und ihn für mein verstorbenes Kind zu halten.«
Therese wagte dem todtblassen Manne, den die Thränen am Reden hinderten, nicht zu widersprechen, obgleich sie seine Zumuthung nicht begriff, trug ihr Kind ins Nebenzimmer und zog ihm das feine brüsseler Batisthemdchen, die gestickten Höschen, das himmelblaue Kasimirkittelchen und das schwarzsammtne Jäckchen in möglichster Eile an und schnürte die bunten russischen Stiefelchen an seine runden Füße, dann scheitelte sie halb absichtslos die kurzen blonden Löckchen ihres Kindes in derselben Art, wie sie gesehen, daß der kleine Bernhard seine Löckchen trug und führte so ihr Kind zum Grafen zurück.
Als sie eintrat, stürzte der unglückliche Vater auf ihr Kind zu, hob es hoch auf und rief: »Ja du bist so wie er; der barmherzige Gott hat dich mir gesandt und Jedermann soll dich hinfür für mein Kind halten.«
Das Kind, das nur ein paar Wochen mehr als ein Jahr zählte und das natürlich noch nicht sprechen konnte, streckte ganz erschrocken die Arme nach seiner Mutter aus, die ebenso erschrocken in ihres Mannes blasses Gesicht sah. Endlich sagte Artmann vorwurfsvoll! »Herr Graf!«
»Haltet mich nicht für wahnsinnig! Ich sage euch im Ernst! ihr müßt mir euer Kind mitgeben, damit ich es der Gräfin als ihr eigenes zeigen kann, sie würde die Nachricht seines Todes nicht ertragen.«
»Eher das Leben!« riefen aus einem Munde Bernhard und seine Frau.
Der Graf sah sie verwundert an. »Es versteht sich von selbst, daß ich zu jedem Opfer bereit bin.«
Bernhard fuhr auf, aber Therese legte ihm die Hand auf den Mund und sagte: »Stille, laß mich reden!«
»Herr Graf, das Kind ist unser höchstes Glück, wir können es nicht missen, um keinen Preis der Welt!«
»Um keinen Preis der Welt?« frug verwundert der Graf, der hier eigentlich an gar keinen Widerstand gedacht. – »Nun wohl«, sagte er nach einer Pause, »ich will das Kind nicht für immer, nur auf ein halbes Jahr – bis dahin, hoffe ich, wird die Gesundheit meiner Frau so gestärkt sein, daß sie die Wahrheit ertragen kann und will sie sich, wenn sie Alles erfahren, von dem Kinde nicht trennen, könnt ihr ja auf das Schloß ziehen, ich gebe euch die Rentmeisterstelle.«
»Nein«, sagte Bernhard kalt, »keinen Tag gebe ich das Kind fort.«
»Ist die Gräfin kränker?« frug Therese nun mit weichem Mitgefühl, ihr Kind, das sich vom Grafen zu ihr geflüchtet, fest an sich drückend.
»So krank und von den Seebädern und bangen Ahnungen so sehr aufgeregt, daß ihre Kammerjungfer gesagt hat, sie fürchte für ihren Verstand! Und wenn sie morgen ankommt und ihr Kind nur noch unter der Erde finden kann –«
Therese trat, das Kind auf dem Arme, zu ihrem Manne und sagte mit zitternder Stimme:
»Wenn sie stirbt, sind wir ihre Mörder. Gib das Kind mit – wenn es die Mutter nicht für das ihrige erkennt, haben wir keine Schuld, erkennt sie es dafür, so mag sie sich einige Wochen an ihm erfreuen; dann will ich kommen und ihr die Wahrheit sagen und sie wird sie ertragen mit Gottes Hülfe und wird nur mein Kind, das mir Gott schenkte und Gott ließ, zurückgeben. Bernhard – lade kein Verbrechen auf unsere Seelen!«
Bernhard sagte nur trotzig, indem er sich abwandte: – »Du hast diesen Betrug zu verantworten, Therese, denn ein Betrug bleibt es immer! Aber thue, was du willst.«
Der Graf aber nahm seinen eigenen Mantel ab und schlug ihn um das Kind und bat Therese, ihm ihr Mädchen mitzugeben, von dem das Kind auch willig sich hinaustragen ließ; aber als es schon auf dem Flur war, eilte ihm Therese nach, preßte es unter strömenden Thränen an ihr Herz und meinte, diese Trennung nicht überleben zu können.
Der Graf nahm ihre Hand und sagte leise: »Bald holen Sie sich ihn wieder.«
Und er machte das weinende Kind von ihr los, stieg mit ihm in den Wagen und fuhr rasch davon.
Therese kehrte gebrochenen Herzens in ihr Zimmer zurück und tief in ihrem Innern rief eine Stimme: »Du hast dein Kind verloren, für immer, für ewig!« und als sich die Märtyrerin der Menschenliebe an ihres Gatten Brust werfen wollte, um da Trost zu suchen und zu finden, wandte er sich von ihr ab und verließ das Zimmer – Therese aber durchlebte an jenem Abend und in der darauf folgenden Nacht alle jene Schmerzen, die das Schicksal der Gräfin bestimmt hatte, denn die Ahnung ihres Innern rief immerfort: »Du hast dein Kind auf ewig verloren!«
*
Auf dem Schlosse war Alles in Bewegung. Die junge Gräfin wurde erwartet, und die alte Gräfin, ihre Mutter, war eben abgereist, weil sie sich nicht stark genug fühlte, ihrer Tochter gegenüber den Tod des geliebten Enkels zu verbergen, obgleich sie auch vollkommen die fromme Lüge des Schwiegersohnes billigte.
Ein Befehl des Herrn hatte sämmtliche Schloßbewohner, vom Rentmeister bis zum Kuhjungen, in dem Saale versammelt. Mitten unter ihnen, aber doch durch einen ehrerbietigen Kreis von ihnen getrennt, stand Graf Clemens, bleich, mit zusammengezogenen Brauen und ließ forschend seine Blicke auf die Umgebung schweifen, um zu sehen, ob auch kein Einziger fehle. Endlich sagte er mit scharfer Stimme:
»Ich habe euch Alle hierher rufen lassen, um euch einen gemessenen Befehl zu ertheilen. In einer Stunde wird die Gräfin vielleicht eintreffen, und sie darf nicht den Tod – unsers« – hier stockte die scharfe Rede etwas – »unsers Kindes erfahren. Der Sohn des Pachters Artmann wird ihr entgegengebracht werden. Gelingt es nun mit Gottes Hülfe, und sie hält wirklich den kleinen Clemens für unsern Bernhard, so darf ihr Niemand, nicht heute und nicht später, den Irrthum benehmen. Wer dies mein Verbot überschreitet und absichtlich oder unabsichtlich der Gräfin die Wahrheit auch nur ahnen läßt, wird – nicht etwa des Dienstes entlassen, die Angst davor wird keinen vorsichtig machen, der es nicht schon ist, nein, sondern wer den Tausch verräth, wird – das schwöre ich bei meiner gräflichen Ehre – von mir eigenhändig niedergeschossen wie ein toller Hund! Wer aber schweigt, nicht blos gegen die Gräfin, sondern auch gegen Jeden außerhalb des Schlosses, erhält den vierten Theil seines Gehalts am Schlusse des Jahres als Zulage. Nun geht!«
Und wortlos, auch ohne nur zu flüstern, verließen Alle, einer nach dem andern, den Saal: der Graf aber bestieg sein Pferd, um seiner Frau entgegen zu reiten, obwol diese Begegnung ganz den Stempel des Zufälligen tragen sollte, da er der Gräfin nichts vom Briefe des Badearztes verrathen durfte.
Vielleicht war Graf Clemens, seitdem er lebte, noch nicht in solcher Gemüthsbewegung gewesen wie jetzt, und es war nicht der schnelle Trab seines schlanken englischen Pferdes, was sein Herz so hoch schlagen ließ. Denn!er liebte wirklich seine Frau, vielleicht nur weil sie in ihrer apathischen und doch reizbar nervösen Gemüthsstimmung den vollsten Gegensatz zu seinem heftigen, eigensinnigen und harten Wesen bildete. Die Gräfin Agnes war nicht schön, denn sie war zu blaß, zu mager und zu kränklichen Ansehens, um trotz regelmäßiger Gesichtsbildung, schöner blonder Haare und der weißesten Zähne dafür zu gelten, überdem trugen ihre Züge den Stempel einer Apathie, die ihren großen blauen Augen alles Leben raubte, jener Apathie, die man bei Menschen, die viel erlebt haben, Blasirtheit nennt. Blasirt konnte man aber die Gräfin nicht nennen, denn sie hatte nichts erlebt, keine Schicksale und keine Leidenschaften. Der dankbaren Liebe zu ihren Aeltern war das Gefühl, das sie für ihren Gemahl hegte, sehr ähnlich, und kein anderer Mann hatte je selbst nur ihre Phantasie in Anspruch genommen. Wie ruhig sie ihm sich geschenkt, hatte Clemens auch wohl bemerkt, und vielleicht, bei seinem hauptsächlich in Widersprüchen wurzelnden Charakter, hatte gerade dies ein lebhaftes Gefühl für sie in ihm erweckt. Ebenso klar sah er auch, daß die Liebe zu ihrem Kinde den Stempel des Leidenschaftlichen trug, sah wohl, wie jeden Morgen beim ersten Anblick des kleinen Bernhard die bleichen Wangen seiner Frau sich hoch rötheten und ihre matten Augen erglänzten, sah wohl, daß dies Kind allein den Schlüssel zu ihrem innersten Herzen besitze, und der ganze Reiz ihres Lebens geworden. Darum glaubte er auch und Jeder, der Gräfin Agnes kannte, mußte es mit ihm glauben, sie werde den Tod dieses vergötterten Kindes mit dem Leben oder mit ihrer Vernunft bezahlen.
Der Graf war im scharfen Trabe wol eine halbe, Meile geritten, als aufwirbelnder Staub ihm die Nähe eines Wagens verkündete. Er hielt die Zügel seines Pferdes an, um genauer zu sehen, und als er mit der Hand die Augen beschattete, dünkte es ihm wirklich, als wehe der bekannte blaue Reiseschleier seiner Frau aus dem entgegenkommenden Wagen auf.
Als er sie mit Gewißheit erkannte, schnürte sich seine Brust auf eine Weise zusammen, daß er nicht mehr Athem holen konnte. Wenn sie nun den Betrug durchschaute, das fremde Kind nicht für das ihrige erkannte, war es dann nicht zehn mal schlimmer, als wenn er ihr offen und schonend den gemeinsamen Verlust mittheilte? Je näher sie kam, je mehr schwankte er, ob er den so fest beschlossenen Plan durchführen solle, und als er am Schlage hielt und sie ihm die Hand entgegenstreckte, hatte er ihn ganz und gar aufgegeben.
Als sie aber mit feuchten Augen und zitternder Stimme frug: »Wie geht es dem Kinde?« konnte er nichts Anderes hervorbringen als: »Gut, vortrefflich!«
Sie warf sich zurück im Wagen, sie faltete die Hände, und die Augen zum Himmel erhebend, rief sie leidenschaftlich: »Guter Gott, ich danke dir! Wie sieht er aus? Ist er stärker geworden? Läuft er viel? Spricht er etwas?«
»Er sieht so gut aus«, stotterte der Graf, indem er den Hals seines erhitzten Pferdes strich, »daß du ihn gar nicht wiedererkennen würdest. Als mir ihn deine Mama entgegenbrachte, habe ich ihn nur daran und an den Kleidern erkannt. Er hat sich unendlich zu seinem Vortheil verändert – und läuft wie ein Hirsch!«
»O mein Gott! wäre er nur hier; diese Viertelstunde wird mir fürchterlich lang werden!«
»Aber«, frug der Gemahl, »warum kommst du über Hals und Kopf, warum wartetest du nicht ab, bis ich dich holte? Morgen wollte ich abreisen.«
»Verzeihe, aber mich überfiel eine tödtliche Angst wegen des Kindes; ich träumte fortwährend entsetzliche Dinge. – Wie geht es der Mama?«
»Sie ist heute Morgen abgereist, weil dein Vater schrieb, er habe einen heftigen Katarrh – du kennst ihre Aengstlichkeit.«
Der Graf stieg nun vom Pferde, gab es dem Bedienten und setzte sich zu seiner Frau in den Wagen, die sich in stillseliger Erwartung an seine Schulter lehnte und mit sehnsüchtigem Auge nach der Gegend blickte, wo das Schloß, welches ihren größten Schatz, ihr Kind barg, hinter Bäumen lag.
Wer den Grafen beobachtet hätte, als der Wagen auf den Schloßhof fuhr, würde über seine todtenblassen Züge erschrocken sein. – Aller Augen aber waren auf die Gräfin gerichtet, die mit den Blicken ihr Kind suchte.
»Da man dich nicht erwartet«, sagte ihr Gemahl, »wird dir die Wärterin das Kind nicht entgegenbringen, überdem habe ich ihr bei dem heftig wehenden Winde verboten, heute auszugehen.«
Die junge Mutter flog die breite Schloßtreppe hinauf, daß ihr Gemahl ihr kaum folgen konnte. Als sie droben die Thüre des Zimmers aufstieß – es war vielleicht zum ersten male in ihrem Leben, daß sie selbst eine Thürklinke berührte – saß das Kind Theresens gerade auf dem Schoose der Wärterin und wurde gespeist.
Die Gräfin warf sich daneben auf die Knie, sah ihm ins Gesicht – und sagte dann halb traurig und halb froh: »Er sieht ganz anders aus, du hast Recht, ich hätte ihn auf der Straße nicht wiedererkannt – aber schöner, viel schöner ist er geworden«, und sein Händchen zum Munde führend, frug sie mit unaussprechlicher Zärtlichkeit: »Kennst du mich noch, mein süßes Kind?«
Statt aller Antwort schrie der kleine Junge, weil die Liebkosung der Gräfin ihn am Essen hinderte.
»Er ist so hungerig«, sagte die Wärterin, indem sie den Grafen ansah, »später wird er freundlicher sein, denn er kennt Sie gewiß noch.«
Die glückliche Mutter blieb nun ruhig kniend neben dem Kinde liegen und wartete ab, bis seine Mahlzeit geendigt war. Dann nahm sie ihn auf den Schoos, und da sie ewiges Zuckerzeug aus der Tasche zog und es ihm anbot, sagte der Kleine auch wirklich, weil er nur von Theresen solche Näschereien empfangen hatte: »Mama, Mama!«
Die Gräfin drückte ihn ans Herz und blickte strahlenden Auges nach dem Gemahl, der in der Fensterbrüstung stand und, wie sie nun zu ihrer großen Verwunderung gewahrte, nicht nach ihr und dem Kinde, wie er sonst zu thun pflegte, sondern hinab nach dem Schloßhofe blickte und ihr den Rücken zukehrte.
»Clemens«, rief sie laut, »freue dich mit mir an unserm wundervollen Kinde!«
Aber der Graf, den alle Fassung verlassen, antwortete nicht, sondern verließ rasch, ohne ihr das Gesicht zuzukehren, das Zimmer. Sie frug verwundert die Wärterin, die am andern Fenster stand, was unten im Hofe vorgehe?
»O das Reitpferd –« stotterte die Frau, die auch in die neue Rolle sich noch nicht recht finden konnte.
Die Gräfin aber sagte mit dem Lächeln der glücklichen Mutter, indem sie Theresens Kind fest an ihr Herz drückte: »So sind die Männer, über ein Pferd vergessen sie ihr Kind! Aber ich – ich vergesse dich nicht, und nie mehr, das schwöre ich bei allen Heiligen, soll man mich auch nur auf einen Tag von dir trennen!«
Graf Clemens aber war nicht bei seinem Pferde, wie die Wärterin in ängstlichem Eifer log, sondern hatte sich in seinem Zimmer eingeschlossen und dort ging der sonst so harte und gefühllose Mann händeringend auf und ab und frug mit leise zitternder Stimme sich selbst: »Werde ich die Kraft haben, dies zu ertragen? Zu sehen, wie Agnes das fremde Kind in glücklicher Liebe auf den Händen trägt, während ich weiß, daß unser Liebling drunten in der kalten Gruft vermodert?« – Endlich machte seine schmerzbeladene Brust sich Luft in dem brünstigen Gebete, daß der Himmel ihnen ein zweites Kind schenken und dadurch seinem Herzen auch wieder Vaterfreude verleihen möge!
*
Sechs Wochen waren verflossen, seitdem der kleine Clemens Artmann Bernhard hieß und im gräflichen Schlosse als einziges Kind von der Gräfin und der ganzen Dienerschaft gehegt und auf den Händen getragen wurde.
Bernhard und Therese waren nicht auf dem Schlosse gewesen, aber Therese hatte ihr Mädchen, die mit im Geheimnisse war, weil sie damals das Kind fortgebracht, öfter zur Wärterin geschickt, um den Knaben zu sehen, in der Frühe des Morgens, wenn die Gräfin noch schlief; und dann hatte die betrübte Mutter ihr krankes Herz gelabt an der Kunde, wie wohl und blühend ihr Liebling sei – obgleich es auch wieder ihr Herz zerriß, als sie erfuhr, daß ihr Kind jetzt wirklich die Gräfin Agnes »Mama« nenne! Bernhard, anstatt sie zu trösten, machte ihr Vorwürfe, daß sie ihr Kind hergegeben, und erklärte ihr eines Abends, er werde die Pachtung kündigen am Schluß des Jahres, sein Inventar verkaufen und mit ihr und dem Kinde im nächsten Frühjahre nach Amerika ziehen.
Therese schwieg. Wenn sie nur ihr Kind wieder gehabt hätte! Aber nach einer Weile sagte sie entschlossen zu Bernhard:
»Morgen gehe ich auf das Schloß und hole das Kind!«
»Glaubst du, sie würden dir es geben?« frug Bernhard spöttisch.
»Ich gehe zur Gräfin und sage ihr Alles.«
»Als wenn so eine vornehme Dame zu sprechen wäre!«
»Ich mache Lärm!«
»Dann wirft man dich zum Schlosse hinaus und ich schieße dafür den Grafen todt – komme dann ins Zuchthaus –«
»Um Gotteswillen, hör' auf! Aber wie willst du denn das Kind wiederbekommen?«
»Durch die Gerichte! Wenn ich den Pacht gekündigt, zeige ich den Gerichten an, daß der Graf mir mein Kind, das ich ihm nur auf einige Wochen mitgab, nicht zurückgeben will –«
»Die Gerichte werden dir nicht glauben.«
»Ich habe zwei Zeugen, deine Magd und den rothen Kasimir, dem ich dafür, daß er die reine Wahrheit für einen Pachter einem Grafen gegenüber aussagt, die Ueberfahrt nach Amerika bezahlen werde, denn er ist livree- und europamüde.«
»Der Graf wird ihn erschießen – er hat sein Ehrenwort gegeben, erzählte die Wärterin meiner Betty –«
»Deshalb wird er vorher nach der Stadt gehen und den Schutz der Gerichte in Anspruch nehmen. Er ist ein Trotzkopf und diese Drohung des Grafen hat ihm vielleicht Lust gemacht, ihn zu verrathen – wir haben Alles besprochen, obgleich ich erst die Klage in einem halben Jahre eingeben kann, weil eher nicht der Kündigungstermin einfällt. Ich mag nicht sein Pachter mehr sein, wenn ich ihn einmal eingeklagt habe. Darum Geduld bis dahin!«
»Ein halbes Jahr sollte ich noch ohne mein Kind sein?«
»Geh und hole dir es früher!«
Am andern Morgen kleidete sich Therese noch sorgfältiger als gewöhnlich, befahl dem Knecht ein Pferd vor den kleinen Korbwagen zu spannen und sie nach dem Schlosse zu fahren.
Es war schon beinahe Mittag, als sie dort ankam, und der Rentmeister, vor dessen Thür sie abstieg, bemerkte zu seinem Bedauern, wie bleich und mager die hübsche blühende Frau seit wenigen Wochen geworden – die Ursache errieth er nur zu gut, aber er wagte nicht, mit ihr darüber zu sprechen und sie sagte auch nichts, sondern bat ihn nur, sie bei dem Grafen zu melden, den sie in wichtiger Angelegenheit allein zu sprechen wünsche.
Es dauerte eine volle Viertelstunde, ehe der Rentmeister wieder kam, um sie schweigend hinüber ins Schloß und bis an des Grafen Cabinet zu geleiten, das der Graf, sobald sie eingetreten war, abschloß.
Er war nicht allein, neben ihm stand ein hoher Mann in geistlicher Tracht, ein Oheim der Gräfin Agnes.
Graf Clemens ging der zitternden Therese freundlich entgegen und bot ihr einen Sessel an, während er selbst und sein Verwandter in der Fensternische stehen blieben.
»Sie wollen Ihr Kind, Frau Artmann, ist's nicht so?« frug nun der Graf.
»So ist's – ich kann seine Entfernung nicht länger ertragen – meine Gesundheit leidet darunter.«
»Lassen Sie mir ihn ein einziges Jahr und fodern Sie dafür was Sie wollen!«
»Ein Jahr! Und am Schlusse des Jahres würden Sie gerade so sprechen!«
»Wenn uns der Himmel bis dahin wieder ein Kind schenkt, gewiß nicht –«
»Nein, nein, um keinen Preis der Welt verkaufe ich die Gegenwart meines Kindes! Nicht um eine Million!«
Der Geistliche, den der Graf anblickte, näherte sich nun Theresen und sagte mit sanfter Stimme: »Sie sind zwar nicht mein Beichtkind –«
»Ich bin Niemandes Beichtkind!« antwortete Therese, härter, als sie es sonst in ähnlichen Fällen gethan haben würde; »ich bin eine evangelische Christin.«
Der Geistliche sah den Grafen verwundert an; der Letztere hatte diesen Umstand ganz vergessen und ihn aufgefodert, den Vermittler zu machen!
Therese weidete sich etwas an der offenbaren Verlegenheit der beiden Männer, sagte aber dann mit der ihr eigenen Gutmüthigkeit: »Sagen Sie aber nur in Gottes Namen, was Sie sagen wollten, hochwürdiger Herr, denn Sie sind auch in meinen Augen ein Priester Gottes – bin ich doch in einer katholischen Kirche von einem katholischen Priester mit einem katholischen Manne getraut – mein Kind ist auch dort getauft – ich bin bereit zu hören, und zwar aufmerksam und andächtig zu hören, was Sie mir sagen werden.«
»Nun wohl«, sagte der Geistliche, aber etwas weniger zuversichtlich, als er begonnen, »sagen Sie mir ernstlich und ehrlich, verlangen Sie Ihr Kind zurück, weil Sie glauben, daß sein Aufenthalt hier im Schlosse es irgendwie geistig oder körperlich schädigen könne?«
»Ob das der Fall sein kann, weiß Gott allein, aber ich glaube und fürchte es nicht, sonst würde ich es auch nicht auf einen einzigen Tag hergegeben haben.«
»Nun wohl, ich sehe, Sie antworten mir ganz offen – beantworten Sie mir also auch noch eine Frage auf dieselbe Weise?«
»Fragen Sie!«
»Sie verlangen also Ihr Kind nur zurück, um die Sehnsucht Ihres eigenen Mutterherzens nach ihm zu stillen?«
»Ja, und die Sehnsucht meines Mannes, dessen gewohnte Heiterkeit seit der Entfernung des Kindes ganz verschwunden und der mir allein die Schuld seiner Schmerzen vorwirft, denn er würde nicht sein Kind hergegeben haben! Aber ich, gerade weil ich mein Kind mehr noch liebte, als er, konnte mir auch die Gefühle der Gräfin vergegenwärtigen und hatte deshalb mehr Mitleid mit ihr!«
»Das Bewußtsein einer so edeln That und die Ueberzeugung von dem Glücke der Gräfin muß Ihnen auch eine Befriedigung gewähren!«
»Das thut es auch – diese Ueberzeugung ist meine einzige Freude, und das Bewußtsein, der Menschenliebe ein solches Opfer gebracht zu haben, mein einziger Trost – aber das sind Alles nur Sandkörner gegen das Gewicht meines Schmerzes und meiner Sehnsucht.«
»So will ich Ihnen einen Rath geben! Vergrößern Sie Ihre Wohlthaten, dehnen Sie sie so weit aus, daß sie Ihrem mütterlichen Schmerze die Wage halten«, sagte der Geistliche, indem er abwechselnd auf den Grafen und auf Therese blickte.
»Wie meinen Sie das? Ich verstehe Sie nicht! Ich thue für die Armen, was meine Verhältnisse mir erlauben und vielleicht noch mehr!«
»So lassen Sie meinen Neffen hier, der so großes Interesse an Ihrer Opferfähigkeit hat, für Sie eintreten. Lassen Sie ihn den Armen vergelten, was Sie für seine Frau thun – das ist nicht mehr als billig, und Sie können auf diese Weise eine Wohlthäterin werden, wie es sonst nur einer Frau mit fürstlichem Vermögen vergönnt ist – gebieten Sie über seine Kasse für die Armen.«
Therese stand auf – bleich, zitternd an allen Gliedern, und dem Geistlichen nahe tretend, legte sie ihre bebende Hand auf seinen Arm, indem sie ihre thränenden Augen zu ihm erhob.
»Sagen Sie mir noch ein mal, was ich thun soll – mit einem male kann's mein armer Kopf nicht fassen!«
Der Geistliche nahm ihre kalte Hand zwischen seine beiden und sagte in mildem Tone, selbst ergriffen von der Aufregung der Frau, die er zur Märtyrerin der Barmherzigkeit stempelte:
»Sagen Sie zu meinem Neffen: Gib mir für meine Armen, auf daß sie leben können, und ich will dir mein Kind noch lassen, auf daß deine Frau leben kann.«
»O Gott!« sagte Therese händeringend. »Es gibt so viel Arme bei uns – beinahe das ganze Dorf – und diese Aussicht – o Gott, der Winter ist vor der Thür, ich darf sie nicht verhungern lassen, während ich sie retten kann.« Und sich zum Grafen wendend, frug sie:
»Wie lange wollen Sie noch mein Kind?«
Der Graf hatte, im Fall Therese sich bereit zeige, auf den Vorschlag des Geistlichen einzugehen, ihren Knaben noch für drei Jahre fodern wollen – wagte aber jetzt dem sichtbaren, furchtbaren Schmerz der Mutter gegenüber diese lange Zeit nicht auszusprechen.
Als er noch immer beklommen schwieg, sagte Therese, plötzlich sich entschlossen aufrichtend: »Ich will Ihnen das Kind noch auf ein Jahr lassen, aber dann kaufen Sie die beiden stehengebliebenen Flügel des alten Schlosses und geben es als Armenhaus der Gemeinde nebst den Gründen, die dazu gehören, und die hinreichen, der mäßigen Zahl, die darin Platz findet, Brot und Kartoffeln zu gewähren.«
Der Graf sagte sogleich, ohne sich zu besinnen: »Ich nehme Ihren Vorschlag an.«
Der Geistliche blickte ihn um dieser Bereitwilligkeit wegen betroffen an, aber dem Grafen schien die Foderung nicht so groß, wie seinem Oheim, weil er wohl wußte, daß, wenn er die letzten Trümmer des abgetragenen Schlosses mit dem Garten zu einem so wohlthätigen Zweck ankaufe, die Regierung ihm einen äußerst niedern Preis stellen werde.
Als der Graf nichts weiter hinzusetzte, wandte sich Therese und sagte mit leiser Stimme: »So habe ich jetzt und während der Dauer eines ganzen Jahres nichts mehr in diesem Schlosse zu thun!«
Sie wollte gehen, aber an der Thüre wandte sie sich um, und lebhaft auf den Geistlichen zugehend, sagte sie mit leuchtenden Augen:
»Sie nehmen von hier die Ueberzeugung mit, mein ewiges Glück auf Kosten meines irdischen Glücks gegründet zu haben; ich danke Ihnen dafür von ganzem Herzen!«
»Nun«, sagte gerührt der Geistliche, »in einem Jahre wird Ihr irdisches Glück wieder hergestellt sein!«
»Wenn ich es erlebe!« sagte Therese mit einem Lächeln, das dem Manne durch die Seele schnitt.
Er wandte sich zu seinem Neffen und frug bittend:
»Kann denn die Mutter nicht zuweilen ihr Kind sehen?«
Therese wäre beinahe vor ihrem Fürsprecher auf die Knie gefallen, als der Graf mit der höflichen Kälte eines vornehmen Mannes sagte:
»Es ist unmöglich, das könnte meiner Frau Alles verrathen.«
»Aber«, frug nun Therese schüchtern, »die Frau Gräfin gehen so früh zu Bett – könnte ich nicht wenigstens des Abends dann im Schlaf mein Kind sehen?«
»Seitdem sie zurück von Ostende ist, muß trotz dem ausdrücklichen Verbot der Aerzte das kleine Bett dicht vor dem ihrigen stehen, und da Ihr Kind«, setzte der Graf mit bitterm Lächeln hinzu, »viel ruhiger schläft, als das unsere es gethan, so möchte ich meiner Frau diese Freude nicht verwehren!«
Therese ging, nachdem sie noch dem geistlichen Herrn einen dankenden Blick für seine Verwendung zugeworfen. Unten bestieg sie ihren kleinen bescheidenen Wagen, und mit sehnsüchtigem Blick nach den hohen Scheiben, hinter denen sie ihres Herzens Liebling wußte, fuhr sie von dannen.
*
Sechs Wochen darauf verkündete der Pfarrer von der Kanzel, der hochgeborene Herr Graf von K. wolle in nicht genug zu würdigendem christlichen Sinne das alte Schloß nebst Garten und Feldern, das ihm die Verwaltung der königlichen Domänen verkauft, als Armenhaus der Gemeinde schenken, zum Dank möge nun hinfort die Gemeinde jeden Sonntag für ihren Wohlthäter beten.
Unten saß Bernhard in seinem Stuhle, und ein unendlich bitteres Lächeln glitt über sein blasses Gesicht!
Als er bei dem Nachhausekommen Therese die Nachricht mittheilte, sagte sie mit einem Anflug von Glück in ihren sonst so trüben Zügen:
»Gott sei Dank! Das freut mich, daß er Wort hält.«
»O jetzt wird er noch Wort halten«, sagte spöttisch Bernhard.
»Wie meinst du das?«
»Nun, er wird dir noch manches Jahr abkaufen wollen, und darf doch deshalb nicht gleich vom Anfang an im Handel unehrlich sein.«
»Bernhard – Bernhard! Sprich nicht so! Sage selbst, konnte ich Nein sagen, verdiente ich dann auch nur den Namen einer Christin?«
»Seit wann ist Christenthum mit Märtyrerthum synonym?«
»Seit je«, sagte die Frau feierlich, »seit je! Wer den Namen des Herrn trägt, muß auch wie er für die Menschen sich zum Opfer bringen können!«
Bernhard schwieg – wie er bei allen Mittheilungen seiner Frau über ihre Zusammenkunft mit dem Grafen geschwiegen hatte, denn obgleich er ihre Seelengröße einsah und würdigte, verdroß ihn doch die ganze Uebereinkunft im Innersten der Seele, und selbst des Geistlichen Mitwirkung, der freilich im Interesse des Grafen, aber doch durchaus nach seiner priesterlichen Ueberzeugung gehandelt hatte, hielt er für eine bloße Intrigue zu Gunsten der vornehmen Dame.
Therese führte ein stilles und freudenloses Leben. Bleich und schweigsam saß sie in ihrem Zimmer; den Leuten, die nach ihrem Kind frugen, und denen sie gesagt, es sei bei ihren Verwandten in Berlin, antwortete sie nur durch ein schmerzliches Lächeln. Um die Landwirthschaft kümmerte sie sich gar nicht mehr, glücklicherweise besorgte die alte Tante das Nothwendigste. Für Arme gab es wenig zu thun, denn des Grafen Wohlthat hatte goldene Früchte getragen, überall wurde er gerühmt, die Zeitungen verkündeten sein Lob, und der König schickte ihm sogar einen Orden!
Ein Vierteljahr war qualvoll für die arme Mutter verflossen, da erhielt sie vom Grafen einen Brief; er schrieb:
»Seitdem ich auf Ihr edles und großmüthiges Fürwort hin den Armen der Gegend ein Asyl beschafft, kommen von allen Seiten Anfoderungen an meine Opferfähigkeit, besonders aber drängt mich der Geistliche Ihres Orts, der alten merkwürdigen Kirche eine neue Orgel zu schenken, damit man dort, wie er sagt, würdiger für mich beten könne – wem diese Gebete im Himmel zu statten kommen, wissen Sie am besten.
Wollen Sie, großmüthige und reiche Frau dem im Vergleich mit Ihnen so armen Manne das große Capital, das Sie ihm geliehen, noch ein halbes Jahr länger in Obhut und Genuß lassen, so bin ich bereit, auch dies Opfer zu bringen.
Gewähren Sie bald eine Antwort Ihrem
dankbaren
Grafen K.«Therese reichte, ohne ein Wort zu sagen, den Brief ihrem Manne, der, als er ihn gelesen, nach seiner Weise lachte:
»Diesen Brief kann man als Supplement zum Macchiavell drucken lassen!« rief er aus. »Der Graf gibt dir die Ehre, aber nur dir verständlich, denn er spricht klüglich nur von deinem Fürwort – unser Kind nennt er ein einem armen Manne geliehenes Capital, hütet sich aber wohl, deutlich zu sagen, daß er selbst der Schuldner ist!«
»Was soll ich thun?«
»Ihm abschreiben – denn sonst müßte ich im nächsten Herbst allein nach Amerika gehen.«
»So bleibst du wirklich dabei und willst am Neujahr kündigen?«
»Gewiß, oder noch besser, ich thue es jetzt schon als Antwort auf diesen Brief.«
»Wenn du nicht anders willst, so bin ich natürlich bereit, dir zu folgen, aber nicht ohne das Kind; sage ihm das.«
Sogleich setzte sich Bernhard an den Schreibtisch seiner Frau, schrieb dem Grafen in ihrem Namen und kündigte ihm dabei in seinem Namen den Pachtvertrag.
Aber schon am folgenden Tage erhielt Therese wieder einen Brief vom Grafen, des Inhalts, daß, wenn sie seinen Wunsch gewähren wolle, er außer dem besprochenen Geschenk für die Kirche auch bereit sei, dem Gehalt des Schullehrers ihres Dorfes zweihundert Thaler zuzulegen, da ihm der Pfarrer gesagt, daß die Besoldung so gering sei, daß man bisher nie einen tüchtigen befähigten Lehrer dafür habe erhalten können und die Kinder deshalb sehr vernachlässigt in ihrem Wissen seien; die künftige Generation werde sie dann segnen, hatte der Graf hinzugesetzt.
»Oder ihn«, sagte Bernhard, der trotz Theresens heroischem Zureden auf seinem Willen beharrte, im Herbst Europa zu verlassen, obgleich er selbst vom Grafen keine Antwort auf seine Kündigung erhalten hatte. Therese schrieb deshalb diesmal dem Grafen selbst, sie könne nicht einwilligen, da sie ihrem Manne mit dem Kinde folgen werde.
Nun schrieb der Graf zum dritten mal an sie, und zwar, daß er bereit sei, auch noch ein Krankenhaus der Gemeinde zu schenken, wenn sie noch eine halbjährige Frist zulegen wolle, und zwar ein Krankenhaus mit einer Dotation für sechs Kranke.
Die arme Therese! Wie unglücklich machte sie dieser Brief, dieser dritte und letzte Vorschlag! – Konnte sie ihn zurückweisen, ohne eine ewige Sünde an den Alten und Kranken des Dorfes zu begehen? Sie klagte Bernhard ihr Leid; aber der war wie immer grausam genug, ihr nicht mit seinem Rathe beistehen zu wollen. Er sagte nur: »Mach' es, wie du willst – aber ich gehe im Herbste nach Amerika!«
Therese entschied sich nach langem Kampfe. Auch noch dies Opfer entschloß sie sich zu bringen, weil sich die Stimme ihres Gewissens nicht anders beschwichtigen ließ; daß Bernhard ohne sie nach Amerika gehen werde, glaubte sie glücklicherweise nicht!
Als sie Bernhard das Resultat ihrer Ueberlegungen mittheilte, schwieg er. Das war überhaupt das größte Unglück, welches das Scheiden des Kindes aus dem Pachthofe begleitete – die früher so innige Harmonie zwischen seinen Aeltern war verschwunden, um – nicht Zank und Streit – sondern einem kalten Nebeneinanderleben Platz zu machen. Wie schmerzhaft empfand das Therese, deren verwaistes Mutterherz doppelt der Liebe des Gatten bedurft hätte, aber Bernhard grollte ihr, daß sie sein Kind dem Grafen, den er haßte, hingegeben.
Und als die arme Frau damals vom Schlosse gekommen war und ihm gesagt hatte, sie habe sich und ihn auf ein Jahr ihres Kindes beraubt, um der Armen willen, da wußte er freilich dem Heroismus seiner Frau nichts entgegenzusetzen, er war auch zu gewissenhaft, ihr noch ferner Vorwürfe zu machen, aber er grollte immer fort, und den Verlust des Kindes, den er schmerzlich empfand, ließ er seiner Frau entgelten, die doch noch mehr darunter litt.
Die Winterabende, die sie sonst so behaglich verbracht, gingen wie die Tage in melancholischem Schweigen vorüber. Therese, deren weiches weibliches Gemüth nach einem Halt suchte, den ihr sonst die Liebe ihres Mannes in so reichem Maße gewährt, gab sich einer gewissen religiösen Schwärmerei hin, die sonst gar nicht ihrem gesunden Sinne entsprach. Sie ging wenig ober gar nicht aus, denn Jedermann, den sie sah, erzählte ihr noch immer mit verwunderungsvollem Staunen von der plötzlich erwachten Wohlthätigkeitsliebe des Grafen, zu welcher der Bau einer neuen Orgel, die Installirung eines größtentheils von ihm besoldeten Schulmeisters und das Krankenhaus, das im Bau begriffen, neue Beiträge lieferten. Die einzige Nachricht von ihrem Liebling erhielt die arme Mutter noch immer durch ihr treues Dienstmädchen, dem das Mitleid der Wärterin bereitwillig den Anblick des Kindes gönnte.
So kam der Frühling. Die neue Orgel sollte am nächsten Sonntage zum ersten male ertönen, und das ganze Dorf war in gespannter Erwartung, denn der Herr Graf hatte versprochen, zusammt der Frau Gräfin dem Hochamt beizuwohnen.
Mit Tagesanbruch schon rannten die weißgekleideten Festspalierkinder mit hochgeschürzten Röckchen durch die schmutzigen Gassen; der Weg aus dem Hause des Pastors nach dem des Küsters war fortwährend belebt mit Ornamente und Leuchter tragenden »Kirchenvätern«, denn so hieß der Ausschuß frommer Bürger, die für das »leibliche Wohl« des Gotteshauses sorgten.
Therese hatte sich in ein großes Tuch gewickelt und stand an einem Baume des Kirchhofs gelehnt, um die Frau ankommen zu sehen, in deren Augen sie das Glück lesen wollte, das ihr Kind ihr bereitete.
Die Glocken läuteten, sogar einige Böller waren gelöst worden; die Kinder, an ihrer Spitze der Schulmeister, bildeten die eine Seite des Spaliers, auf der andern Seite war die sämmtliche Bauerschaft, angeführt vom regierenden Bürgermeister, Alles gegenwärtig, die Wohlthäter des Dorfes, Ihre hochgräflichen Gnaden, zu empfangen.
Endlich kamen sie! Die vierspännige Carrosse brauste daher, bis sie am Spalier angekommen war, wo sie stille hielt, damit der Graf die Rede des Bürgermeisters vernehmen und beantworten könne.
Als der Wagen an der Kirchthüre hielt, stellte sich Therese auf einen Grabstein, um zu sehen, wer im Wagen sei. Es war gut, daß Niemand sie gewahrte, sonst würde am Ende die arme Frau um ihrer Neugierde willen noch gescholten worden sein, und als von einer Ketzerin würde man es gar noch als eine doppelte Profanation angesehen haben. So aber blickte Niemand nach ihr und alle Augen waren auf die »Wohlthäter der Gemeinde« gerichtet, den Graf und die Gräfin, die allein im Wagen saßen.
Ein Gedanke schoß wie wie ein Blitz durch den Kopf der unglücklichen Mutter. Ihr Kind war also jetzt allein im Schlosse! Welche Gelegenheit, es endlich einmal wiederzusehen und an ihr Herz zu drücken! Sie hatte ja nicht versprochen, dies zu unterlassen, Niemand wurde dadurch gekränkt und die Wärterin, die eine gutmüthige Frau war, verschwieg sicher ihr Kommen. Aber schnell mußte es geschehen, denn das Hochamt dauerte nur eine Stunde, und dann trugen natürlich die vier Renner das gräfliche Paar mit Blitzesschnelle wieder nach Hause.
Athemlos flog sie nach dem Pachthofe, um den Knecht zu bitten, ein paar junge feurige Ackerpferde, die ihr Mann erst kürzlich gekauft, einzuspannnen und sie nach dem Schlosse zu fahren.
Als sie nach Hause kam, war Niemand da – selbst nicht ihr treues Mädchen, ja sogar die alte Tante war zur Kirche, um den »Aufzug«, wie sie es nannten, zu sehen. Was sollte sie thun? Sie konnte den Knecht, der freilich gutmüthig genug war, um ihretwillen die Kirche und ihre Sehenswürdigkeiten zu verlassen, nicht von dort holen und auch nicht von dort holen lassen, denn er saß neben ihrem Manne und dann wäre dieser unfehlbar mitgekommen und hätte vielleicht ihr Unternehmen verhindert!
Sie ging zum Stalle. Wie um sie zu grüßen, blickten die jungen Pferde sich nach ihr um. Konnte sie nicht selbst fahren? Wie oft im ersten Jahre ihrer Ehe hatte im Scherze ihr Mann ihr die Zügel gelassen, um ihr Talent zu erproben; und hingen nicht die Geschirre neben den Pferden, hatte sie nicht oft dem Knechte zugeschaut, wie er sie ihnen um den glänzenden Hals gehängt?
Sie entschloß sich rasch, und indem sie ihre zierliche Gestalt auf die Zehen erhob, nahm sie das Lederzeug vom Nagel und warf es den Thieren, die freudig wieherten, über. Dann zog sie eins nach dem andern in den Schober, wo das kleine Wägelchen stand; Alles gelang ihr vortrefflich; sie nahm die Peitsche, und ohne das Haus wieder zu betreten, denn sie fürchtete Jemand zu begegnen, schwang sie sich auf den Sitz, und rasselnd flog der kleine Wagen über den gepflasterten Hof, durch die Straßen des Dorfes, an der Kirche vorbei, in welche alle Menschen sich gedrängt hatten, hinaus auf die Chaussée, die nach dem Schlosse führte. Es waren zwei gute Meilen zurückzulegen, aber was kümmerte das die muthige Frau?
Ihre kleine zarte Hand peitschte unbarmherzig auf die kräftigen Pferde, die bald im Galopp mit dem leichten Wagen davonflogen. So jagte die kühne Frau an mehren Landleuten auf der Chaussée, die kopfschüttelnd dem kühnen Beginnen der wohlbekannten schönen Pachterin zusahen, vorüber.
*
Als Bernhard der Erste aus der Kirche kam, war er sehr verwundert, sein Haus offen und leer zu finden. Seine Tante und die Magd, die bald nach ihm sich einstellten, wußten ihm nicht zu sagen, wo Therese sei.
Noch höher wuchs sein Staunen, als der Knecht ihm meldete, daß die Pferde und der Wagen fehle. Bernhard dachte sich aber bald den Zusammenhang; nur glaubte er nicht, daß Therese selbst gefahren, sondern er hoffte, daß sie irgend Jemand gefunden, der sich zu ihrem Kutscher hergegeben. Ein eintretender Bauer belehrte ihn aber, daß er vor einer Stunde seiner Frau auf der Chaussée begegnet, wie sie in rasender Eile an ihm vorübergesaust. Die Richtung, die sie genommen, bestätigte ihn in seiner Vermuthung, und er ließ nun schnell einen seiner Gäule satteln, um ihr, die er schon wieder auf dem Rückwege glaubte, entgegenzureiten, denn er war sehr besorgt, da er die Gefahr mit so jungen Pferden als Mann viel besser würdigte, wie seine kühne Frau.
Es läutete Mittag, als er aus dem Dorfe hinausritt, und sein Herz schlug zum ersten male seit langer Zeit mit Sehnsucht der armen Frau entgegen, mit welcher er um diese Zeit sich immer zum einfachen Mahle gesetzt, und die er so lange vernachlässigt. Er mochte etwa eine halbe Stunde vom Dorfe entfernt sein, als ihm auf der Chaussée unweit eines ländlichen Gasthauses ein ihm wohlbekannter Müller begegnete. Als der Mann Artmann's ansichtig wurde, lenkte er vom Fußpfade ab und winkte ihm zu halten.
Der Müller kam nun dicht zu ihm heran und Bernhard erschrak über dessen ernstes, trauriges Gesicht.
»Reitet nicht weiter, Artmann, kehrt um und verfügt Euch nach Hause, ich will Euch begleiten.«
»Was ist's – sagt es mir«, frug Bernhard, dem die fürchterlichsten Ahnungen die Kehle zuschnürten und ihm nicht mehr als diese wenigen Worte hervorzubringen gestatteten.
»Geht nicht nach jenem Krug – dort gibt's einen schrecklichen Anblick! Kehrt um!«
»Ich will auch nicht dahin, ich will meiner Frau entgegen –«
»Eurer Frau? Die trefft Ihr nicht, die ist schon zu Hause, kehrt mit mir um, dann werdet Ihr sie finden.«
»Nein, ich kehre nicht um!«
»Wenn ich Euch aber sage, daß es zu Eurem Besten ist!«
»Sagt mir die Wahrheit – ist meiner Frau vielleicht etwas zugestoßen?«
»Ich will Euch Alles sagen, wenn wir in Eurem Hause sind!«
Bernhard's Blut gerann – es mußte etwas Fürchterliches geschehen sein, daß der sonst nicht weichmüthige Mann es ihm nicht hier auf offener Straße zu sagen wagte!
Mit einem male schrie Bernhard, dessen scharfes Auge die Trümmer seines Wagens vor dem Wirthshaus entdeckt hatte, auf:
»Meine Frau liegt todt in jenem Hause!«
»So ist's!« sagte nun lakonisch der Müller; »wenn Ihr es wißt, so hilft kein Leugnen!«
Ohne weiter Etwas zu hören, sprengte Bernhard voran, am Wirthshaus sprang er vom Pferde und ließ es allein weiterlaufen, um stürmisch die Hausthüre zu öffnen. Der Wirth, der ihm auf dem Flur entgegen kam, wollte ihn verhindern, weiterzugehen, aber Bernhard schob ihn bei Seite und riß die Thür eines Saales auf, in dem er, wie ihm eine Ahnung sagte, die todte Märtyrerin finden werde.
Sie lag wirklich da! Auf das Gastbett hatte man sie getragen und die Tochter des Wirthes war beschäftigt, das Blut von dem schönen leblosen Gesicht zu waschen.
Laut weinend stürzte Bernhard zur Seite des Bettes nieder.
»Therese, Therese, verzeihe mir! Nur noch einmal schlage deine süßen blauen Augen auf, um mir zu sagen, daß du mir nicht grollst, daß ich in frevlem Starrsinn dich mit deinem armen Herzen so allein gelassen! Therese, o Therese!«
Aber sie schlug die Augen nicht mehr auf, nur ein unbeschreiblicher Zug um den Mund deutete an, daß sie trotz ihrem entsetzlichen Tode schmerzlos geschieden.
Ihre Pferde, die nur im Schritt oder höchstens im leichten Trab zu fahren gewohnt waren, hatten, von ihr mit athemloser Eile getrieben und gejagt, in tollem Rennen den Wagen an einem Steinpfeiler zerschellt. Therese, vom Wagen geschleudert, hatte wahrscheinlich schon im ersten Augenblicke sich tödtlich verletzt, indem sie mit dem Kopfe aufschlug, denn an demselben befand sich eine breite Wunde, aus der ein Strom von Blut gequollen war. Die Pferde, ganz scheu geworden, waren mit den Trümmern des Wagens weiter gerannt, und erst lange nachdem man sie eingefangen, fand man am Wege die Leiche, die man eben in den Krug gebracht hatte, als Bernhard ankam.
*
Es war vier Uhr, die gewöhnliche Speisestunde im Schlosse, und der Graf mit seiner Gemahlin saß bei der Tafel; zwischen ihnen auf einem hohen Stühlchen Theresen's Kind, das erst seit einigen Tagen die Ehre genoß, mit seinen Aeltern zu speisen. Die Gräfin schob dem Kinde einige Süßigkeiten in den Mund, während der Graf lächelnd zusah, denn es gab jetzt schon Stunden, wo er ganz vergaß, daß der kleine Bernhard eigentlich nicht des Pachters Namen, sondern seinen eigenen, Clemens, trug, und nicht sein Kind, sondern des Pachters Kind war!
Da hörte man im Vorzimmer auffallend rasche und schwere Schritte erschallen, die beiden Lakaien, die bei Tafel aufwarteten, sahen sich verwundert an, als die Thüre aufgerissen wurde und bleich, mit entstellten Zügen und lose flatterndem Halstuch Bernhard Artmann auf der Schwelle erschien.
Indem er die Drei am Tische abwechselnd mit irren, stieren Blicken ansah, blieb er wie ein Gespenst am Eingange stehen. Der Graf, von dessen Wangen auch alle Farbe wich, erhob sich, und ihm entgegentretend, frug er mit schwankender Stimme:
»Was willst du, Artmann?«
»Mein Kind!« sagte Bernhard drohend.
Der Graf wandte mit wiedereroberter Fassung sich um und bedeutete durch einen Wink die Gräfin, sich zu entfernen. Bernhard sah mit verschränkten Armen ruhig zu, wie sich die erschrockene Frau erhob und sich von einem der Bedienten ihre Mantille umhängen ließ; als aber auf ihren Befehl einer der Bedienten das Kind vom Stuhle nehmen wollte, um es ihr nachzutragen, stürzte Bernhard wie rasend hinzu, faßte den Lakaien an der Brust, schleuderte ihn weit von sich und rief:
»Wer das Kind wegbringen will, den erwürge ich. Niemand soll mehr mein Kind anrühren!«
Der Graf blickte nach seiner Frau, die noch immer zitternd dastand, und indem er mit dem Finger auf die Stirn deutete, gab er ihr ein Zeichen, daß Bernhard verrückt geworden und sagte dann: »Geh Agnes, ich will allein mit Artmann reden, und lasse nur das Kind, hier unter meinem Schutze ist es sicher.«
Nur widerstrebend gehorchte die bebende Frau, weil sie Bernhard wirklich für wahnsinnig und es für heilige Pflicht hielt, ihre Gesundheit selbst zu schonen, da sie neuen Mutterhoffnungen entgegenging. Als sie draußen war, sagte der Graf zu feinem Pachter:
»Geh jetzt nach Hause, Bernhard, denn es würde mir leid thun, gegen einen alten Jugendfreund wie du bist, meinen Leuten zu befehlen, Gewalt zu gebrauchen.«
»Das heißt«, sagte Bernhard, »Sie wollen mich die Treppe hinunterwerfen lassen, weil ich mein eigenes einziges Kind holen will?«
»Ueber das Kind habe ich mit deiner Frau gesprochen –«
»So sprich auch jetzt mit ihr«, sagte Bernhard mit gräßlichem Spott.
»Wo ist sie?«
»Im Tönniskrug.«
»Warum hast du sie dort gelassen?«
»Weil sie todt ist!«
Der Graf fuhr zusammen, als habe ihn eine Viper gestochen.
»Todt? Unmöglich! Ich habe sie noch heute Morgen auf dem Kirchhofe stehen gesehen, als wir in eure Kirche fuhren!«
»Eben deshalb! Weil sie euch in unsere Kirche fahren sah, wollte die Arme die Zeit benutzen und ihr Kind sehen – und spannte selbst ein und fuhr, um euren gräflichen Rossen zuvorzukommen, so rasend darauf los und peitschte die Pferde, bis – o Gott – o Gott, sei mir barmherzig!«
Er barg sein Gesicht in seine Hände und weinte wie ein Kind; der Graf, der tief erschüttert war, trat neben ihn und die Hand auf seine Schulter legend, sagte er leise: »Soll meine Frau auch sterben, weil die deinige starb – soll die fromme Lüge, die ich jetzt tief beklage, uns Beide zu Witwern machen? Bernhard, laß mir das Kind, bis meine Frau ihrem zweiten Kinde das Leben geschenkt hat – in einem halben Jahre kannst du, bei meiner Ehre, es hier abholen.«
»Nein, nein!« rief plötzlich Bernhard, sich wild die Haare aus der Stirn schüttelnd, »nein, ich lasse es nicht – ich will nicht einsam verzweifeln, während Ihr hier glücklich seid auf meine Kosten.«
»Und ich, Bernhard, gebe auch nicht nach«, sagte der Graf nun wieder eiskalt, indem er einen Bedienten rief und ihm befahl, das Kind wegzubringen, und als Bernhard es verhindern wollte, ihn selbst mit eisernem Griff am Arme hielt.
»Noch ein mal, Artmann, zwinge mich nicht zum Aeußersten.«
Bernhard wollte den Griff des Hausherrn abschütteln, aber als dies der noch gegenwärtige Diener sah, wollte er seinem Herrn zu Hülfe eilen. Der Graf winkte ihm aber zurückzubleiben und sagte dann wieder weicher:
»Geh Artmann, geh jetzt!«
Was sollte Bernhard thun? Er hob nur die Hände zum Himmel und rief bitter anklagend:
»Und du siehst zu und duldest, daß man mir hier so begegnet?«
Der Graf führte ihn mit sanfter Gewalt zur Thüre, schloß sie hinter ihm ab, und sagte beim Hinausgehen laut zu seinem Diener:
»Der arme Artmann ist verrückt geworden.«
*
An Theresens Zimmer, das wir im Anfange unserer Erzählung geschildert haben, stand an der Stelle, die sonst das Sopha einnahm, der Sarg der jungen Frau. Er war noch offen, und im weißen Kleide, das ihr die alte sorgsame Tante angezogen hatte, sah sie aus wie eine Braut.
Bernhard verließ, seitdem er vom Schlosse zurückgekehrt, die Leiche nicht, und spendete ihr alle Liebe, die er in der letzten Zeit der lebenden Frau versagt hatte.
Auch jetzt saß er vor der Leiche und hielt eine ihrer kalten Hände in den seinen, als es leise an die Thüre pochte und Jan Kortenstiel, einer der Kirchenvorsteher oder »Kirchenväter«, eintrat. Als er die Leiche gewahrte, blieb er an der Thüre stehen, aber Bernhard winkte ihn herbei und frug apathisch:
»Was wollt Ihr, Jan, sagt es mir und setzt Euch.«
Aber der Bauer folgte der letzten Auffoderung nicht, sondern versetzte, indem er die Mütze zwischen den Fingern drehte:
»Ihr habt ein Grab für sie bestellt, ist's nicht so?«
»Gewiß! Und morgen wird sie beerdigt.«
»Auf unserm Kirchhof?«
»Gewiß!«
»Bernhard«, sagte nun der alte Bauer, indem er seine Mütze immer heftiger drehte, »gebt den Gedanken auf und laßt doch lieber Eure Frau im nächsten Städtchen begraben – da sind ja so viele Calviner!«
»Wollt Ihr sie etwa nicht hier begraben lassen?« rief Bernhard, indem er aufsprang und vor den »Kirchenvater« trat.
»Nein«, sagte lakonisch der Bauer, »wir wollen es nicht – nicht um Euch zu kränken, sondern des Beispiels halber – es ist noch Keiner bei uns verscharrt, unser Kirchhof ist noch rein!«
Bernhard faßte den alten Mann und sagte mit lauter, vor Wuth bebender Stimme:
»Wahnsinniges Volk! Eure Wohlthäterin, die für euch gestorben, der ihr ein Armenhaus, eine Kirchenorgel, ein Krankenhaus und eure Kinder einen guten Unterricht verdanken, der gönnt ihr nicht ein Grab auf eurem Boden, damit er nicht verunreinigt werde!«
Der Bauer sah ihn erschrocken an, denn indem Bernhard das Verdienst aller Wohlthaten, die der Graf im letzten Jahre dem Dorfe erwiesen, für seine Frau in Anspruch nahm, gab er ihm den sichern Beweis, daß er verrückt geworden, und den Abend erzählte er Jedem, der es hören wollte im Wirthshause: »Artmann's Bernhard is unwies worn!«
Bernhard aber sprach zu sich selbst: »So mußte es kommen! Mich will man die Treppe hinunterwerfen in dem Hause, das meinem Kinde sein Glück verdankt; und meiner Frau versagt das Dorf, dessen Wohlthäterin sie für ewige Zeiten war, ein Grab bei seinen Gräbern.«
Am folgenden Tage fuhr Bernhard selbst die Leiche seiner Frau nach dem nächsten Städtchen, wo sie im Schoose der kleinen Gemeinde ihrer Glaubensbrüder aufgenommen wurde.
Er selbst verließ den Pachthof, verkaufte Alles und bereitete sich zur Ueberfahrt nach Amerika – – allein wollte er aber das Weltmeer nicht durchschiffen und früher, viel früher, als die vom Grafen ihm abgedrungenen sechs Monate abgelaufen waren, brachte ihm eines Abends der Graf selbst sein Kind auf die niedere Kammer, die er fürs Erste im Dorfwirthshaus bezogen.
»Wir sind quitt«, sagte der Graf. »Gestern Nacht ist meine Frau gestorben, nachdem sie ein todtes Kind geboren. Seit jenem Schrecken, den du ihr verursacht hast, als du damals dein Kind zu fodern kamst, war sie leidend – ich war schuld am Tode deiner Frau, du bist es am Tode der meinigen! Hier ist dein Kind!«
Bernhard hörte nichts! Jubelnd hob er sein letztes Glück auf und preßte es an sein Herz, bis das Kind schrie und sich nach dem »Papa« umsah, aber der war verschwunden, und acht Tage später bestieg Bernhard einen Wagen, der ihn nach Bremen zum Schiffe bringen sollte, hinter ihm die alte Tante, die anfangs so gegen Amerika gescholten hatte, und nun doch mitging, um des mutterlosen Kindes willen, das sie doch nicht dem »Mannsvolk« überlassen wollte, denn da würde ja das »Thereschen« aus dem Grabe kommen und übers Weltmeer wandern müssen, um ihr Kind zu behüten, wie alle Mütter in Westfalen sie nach dem Tode noch hüten, wenn ihre kleinen Kinder verlassen sind – und »Thereschen« sollte die ewige Ruhe haben, sagte die alte Frau! »Das hatte sie doch verdient!«
*